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Eine Buchreihe, so unsterblich wie Vampire selbst
Seit mehr als dreitausend Jahren hat Santo Notte überall auf der Welt gekämpft. Er hat viel gesehen, erlebt und noch mehr erdulden müssen. Doch als er in New York auf Petronella Stone trifft, weiß er, dass diese Frau seine Seelengefährtin und gleichsam sein größtes Abenteuer ist. Aber ihrer beider Anziehung wird auf eine harte Probe gestellt, als Santo erkennen muss, dass seine inneren Dämonen Pet in Gefahr bringen. Und um eine gemeinsame Zukunft zu haben, muss er seine Vergangenheit hinter sich lassen. Für immer ...
"Diese Welt und ihre Bewohner bereiten so unglaublich viel Spaß und machen ziemlich abhängig!" FRESH FICTION
Band 29 der ARGENEAUS von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Lynsay Sands
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Seitenzahl: 536
Titel
Zu diesem Buch
Prolog
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Die Autorin
Die Romane von Lynsay Sands bei LYX
Impressum
LYNSAY SANDS
Vampir & Vorurteil
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander
Santo Notte ist beinah dreitausend Jahre alt, groß, gut gebaut und ein Vampir weniger Worte. Er hat einige Schlachten geschlagen und auch schon viel erleben müssen. Die Gefangenschaft bei einem wahnsinnigen Doktor, der schreckliche Experimente an ihm vorgenommen hatte, ließ ihn traumatisiert zurück. Santo konnte jedoch entkommen und ist nun auf der Jagd! Seine Familie und er sind dem Doktor dicht auf den Fersen und können ihn in Albany, New York aufspüren. Sie vermuten ihn in einer ganz bestimmten Wohnung, in deren Nähe sie sich niederlassen, und treffen dabei auf die – ziemlich misstrauische – Geschichtsprofessorin Petronella Stone. Santo fällt aus allen Wolken, denn: Pet ist seine Seelengefährtin … und sie weiß sogar um die Existenz der Unsterblichen. Von jetzt an sollte es also ein Kinderspiel für Santo sein, das Herz seiner Auserwählten zu erobern. Doch weit gefehlt! Sehr schlechte Erfahrungen haben Pet argwöhnisch werden lassen, aber Santo gibt nicht auf, sie für sich zu gewinnen. Je näher er ihr kommt, desto gewaltiger knistert es zwischen ihnen. Da wird Santo von seiner Vergangenheit eingeholt – und er muss sich seinen inneren Dämonen stellen, um mit Pet eine Zukunft haben zu können …
»Neun-eins-eins. Welchen Notfall möchten Sie melden?«
»Hi … also, ähm … ich weiß nicht so recht, ob ich besser bei Ihnen oder bei der Polizei anrufen soll.«
»Geht es um einen Notfall?«
»Schon möglich, aber ich bin mir nicht sicher.«
»Sag mir einfach, was passiert ist, Junge. Ist jemand krank oder verletzt?« Als der Junge nicht sofort reagierte, hakte die Telefonistin nach: »Streiten sich deine Eltern vielleicht? Macht dir das Angst? Werden sie gewalttätig?«
»Nein, nein, es geht um unseren Nachbarn. Na ja, eigentlich nicht um unseren Nachbarn, sondern um seinen Cousin, der bei ihm zu Besuch ist. Er … na ja … er ist krank … glaube ich.«
»Das glaubst du?«
»Nein. Er ist krank. Wirklich. Und ich glaube, dass er gefährlich sein könnte. Ich habe Angst, dass er Mr Purdy etwas antut.«
»Mr Purdy?«
»Unser Nachbar.«
»Aha. Und du glaubst, dass dieser Cousin, der bei ihm zu Besuch ist, krank und gefährlich sein könnte?«, hakte die Telefonistin nach, deren zweifelnder Tonfall nicht zu überhören war. »Wenn das der Fall sein sollte, warum hat Mr Purdy uns dann nicht selbst angerufen? Warum rufst du an seiner Stelle an?«
»Ich glaube, dass sein Cousin das nicht zulässt.«
Es folgte eine lange Pause, schließlich seufzte die Telefonistin und fragte: »Welche Krankheit ist das denn, die ihn gefährlich macht, Junge?«
»Er … ähm … also ich glaube, er leidet am Renfield-Syndrom.«
»An was?«
»Am Renfield-Syndrom«, wiederholte die Jungenstimme zögerlich.
»Was soll das sein?«
»Das ist … also …« Der Junge unterbrach sich kurz. Als er weiterredete, war seiner Stimme anzuhören, dass er wohl nicht erwartete, nach seiner Antwort von seiner Gesprächspartnerin noch ernstgenommen zu werden. »Das ist so was wie eine Persönlichkeitsstörung bei Vampiren. Dann …«
»Bei Vampiren?«, ging die Telefonistin der Notrufzentrale dazwischen. »Du willst mir erzählen, dass dein Nachbar ein Vampir ist?«
»Nein, nein! Ich glaube, dass der Cousin, der bei ihm zu Besuch ist, ein Vampir ist. Das Renfield-Syndrom ist …«
»Schätzchen, so etwas wie Vampire gibt es nicht«, fiel die Frau dem Jungen ins Wort.
»Aber er …«
»Kein Aber, Junge. Du solltest mit diesem Unsinn aufhören und die Leitung frei machen. Wenn du aus Jux und Dollerei den Notruf wählst, kannst du dir damit eine Menge Ärger einhandeln. Es gibt Leute, die in diesem Moment ernsthaft in Not sein könnten und nicht durchkommen, weil du die Leitung blockierst. Jemand könnte in diesem Augenblick sterben, nur weil du meinst, du müsstest uns einen Streich spielen.«
»Das ist kein Streich«, beharrte der Junge völlig ernst. »Ich glaube wirklich, dass er ein Vampir ist. Er hat Fangzähne und …«
»… und ich glaube wirklich, du solltest aufhören, dir Horrorfilme anzusehen, und stattdessen ins Bett gehen. Ich notiere deine Nummer, Junge, und wenn du noch mal anrufst, werde ich die Polizei zu dir nach Hause schicken. Für so was kann man ins Gefängnis gesteckt werden. Ruf nicht noch einmal hier an.«
Dann wurde die Verbindung getrennt, und es war nur noch das Freizeichen zu hören …
»Du hast auf mich geschossen!«
»Tjaaaa«, erwiderte Pet gedehnt. »Tut mir leid, Kleiner, aber das war ein Versehen. Ich habe auf die Mutanten gefeuert, und auf einmal war dein fetter Hintern im Weg.«
»Ach ja? Gut, dann ist das hier auch bloß ein Versehen«, gab Parker zurück und richtete seine Waffe auf ihre Spielfigur.
»Jetzt hör schon auf!«, rief Pet erschrocken und brachte ihre Spielfigur schnell hinter einer Baumgruppe in Sicherheit, um dem Kugelhagel ihres Mitspielers zu entkommen. »Es war wirklich ein Versehen«, beharrte sie. »Himmel, ich dachte, wir stehen beide auf der gleichen Seite.«
»Du hast zuerst auf mich geschossen«, stellte Parker klar und ließ seine Figur hinter ihrer herlaufen.
»Das war freundlicher Beschuss! Außerdem schaffst du es ohne mich sowieso nicht auf den nächsten Level, Parker. Du musst …« Ein lautes Kreischen von unten ließ sie aufhorchen, dann legte sie den Controller aus der Hand und sah zur Schlafzimmertür.
»Sitzt Oksana vor dem Fernseher oder …?«, begann sie, kam aber nicht weiter, da der schrille Aufschrei jäh endete und die Haushälterin zu rufen begann: »Einbrecher! Einbrecher!«
»Verdammt!« Pet sprang vom Boden auf und rannte zur Tür. Dort blieb sie stehen, zögerte kurz und öffnete sie einen Spaltbreit, um zu lauschen, was da unten vor sich ging. Sie verzog irritiert den Mund, als sie für einen Moment eine tiefe Stimme vernahm, die ihr fremd war. Dann herrschte Schweigen.
Pet griff nach ihrem Handy und drehte sich zu Parker um, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Vielmehr nutzte ihr acht Jahre alter Neffe die Gelegenheit, auf ihre Figur im Videospiel zu schießen, obwohl sie gar nicht mehr mitspielte.
»Parker!«, zischte sie ihm verängstigt zu, während sie den Notruf wählte. »Hör auf damit! Wir haben hier ein Problem! Oder hast du nicht gehört, dass Oksana ›Einbrecher‹ gerufen hat?«
»Das macht sie ständig«, gab Parker unbeeindruckt zurück. »Oksana vergisst, die Haustür zuzumachen, wenn sie nach der Post sieht, die Zeitung reinholt oder die Veranda fegt. Von den Nachbarn bis zu den Paketboten glaubt jeder, dass irgendetwas nicht stimmt, wenn die Tür offen steht, also kommen sie rein, um nachzusehen. Und dann kreischt sie jedes Mal los, dass ein Einbrecher im Haus ist. Gestern hat sie das sogar gemacht, als die Katze von Mr Purdy hereingekommen ist. Das ist eine Marotte von ihr.«
»Oh.« Pet atmete erleichtert auf. Sie hatte noch nicht auf ›Wählen‹ gedrückt, löschte die Nummer des Notrufs, die sie eingetippt hatte, jedoch nicht. Immerhin war bislang von Oksana nichts mehr zu hören gewesen.
Pat überlegte, ob sie nach ihr rufen und sich erkundigen sollte, ob alles in Ordnung sei, oder ob sie besser niemanden darauf aufmerksam machen sollte, dass sie und Parker auch noch im Haus waren. Vielleicht sollte sie bis zum Ende des Flurs schleichen, um von dort einen Blick nach unten zu werfen, damit sie sehen konnte, wer sich an der Haustür befand. In diesem Augenblick hörte sie jemanden flüstern, dann folgte eine volltönende Männerstimme: »Hallo? Ich bin ein Nachbar!«
»Das ist kein Nachbar.«
Pet machte vor Schreck einen Satz, als Parker urplötzlich neben ihr stand und mit ernster Miene diese Worte sprach. Sie presste eine Hand auf ihre Brust, weil ihr Herz wie wild raste. Für ein paar Sekunden kniff sie die Augen zu, dann atmete sie tief durch, ehe sie fragte: »Woher weißt du das?«
»Weil niemand in der Nachbarschaft einen solchen Akzent hat. Jedenfalls kenne ich keinen, der so redet«, fügte er nachdenklich hinzu.
Pet war kein Akzent aufgefallen, schließlich hatte der Unbekannte nur wenige Worte gesprochen. Wie hatte Parker da einen Akzent heraushören können? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Dieser Junge war einfach … irgendwie anders. Hochintelligent und anders. Sie nahm ihre Hand von der Brust und fragte: »Und wenn es irgendein neuer Nachbar ist?«
»Könnte natürlich sein«, räumte Parker zweifelnd ein.
»Aber«, fügte Pet hinzu und sprach ihre eigenen Bedenken laut aus, »es ist eher unwahrscheinlich, dass Oksana einen Nachbarn für jemanden hält, der ins Haus einbricht.«
Parker zog die Augenbrauen hoch. »Du hast doch gehört, was ich dir über Mr Purdys Katze gesagt habe, oder nicht?«
Pet reagierte nur mit einer finsteren Miene und verlagerte das Gewicht auf das andere Bein, während sie intensiv lauschte, ob Oksana etwas sagte. Als nur weiter Schweigen herrschte, sah sie auf ihr Handy und zögerte. Sie wollte nicht die Polizei alarmieren, wenn es tatsächlich nur ein neuer Nachbar war, der nach dem Rechten sah. Seufzend fragte sie: »Hast du hier oben ein Telefon?«
»Ja, ich habe zu Weihnachten ein Handy bekommen.«
»Ein Handy?«, wiederholte sie ungläubig. »Du bist doch gerade mal acht! Wer zum Teufel kauft einem Achtjährigen ein Handy?«
»Mom und Dad«, konterte er grinsend.
»Ja, klar«, stöhnte sie. »Also gut. Dann schnapp dir dein Handy und bleib hier oben. Ich gehe nach unten und sehe nach, was da los ist. Aber wenn ich ›Spidey, komm runter‹ rufe, dann schließt du dich ein, versteckst dich und rufst die Polizei an. Okay?«
»Spidey?« Er verzog den Mund. »Ist das dein Ernst?«
Pet verdrehte die Augen. »Wenn sie wissen, dass dein Name Parker Peters ist, werden sie glauben, dass es nur ein Spitzname ist. Verstehst du? Parker Peters? Peter Parker? Spiderman?«
»Das hatte ich schon kapiert«, gab er abfällig zurück. »Es ist bloß so kindisch und irgendwie peinlich.«
»Willst du damit sagen, dass ich peinlich bin? Vor einer Stunde war ich noch deine Lieblingstante, und jetzt bin ich auf einmal peinlich?«, fragte sie erstaunt, bis ihr einfiel, dass dies der falsche Moment für eine solche Diskussion war. »Auch egal«, murmelte sie. »Hör zu, Schatz, das ist wirklich eine ernste Sache. Dann alarmierst du eben die Polizei, wenn ich dich ›Peter‹ rufe, okay?« Sie wartete, bis er zustimmend nickte, und öffnete darauf die Tür noch einen Spalt breiter. »Du bleibst auf jeden Fall hier«, flüsterte sie ihm noch zu, ehe sie das Zimmer verließ.
Für sieben Uhr an einem Abend Anfang Juni war der Flur überraschend düster, obwohl die Sonne doch erst so gegen neun Uhr unterging. Dennoch reichte das Licht aus, so dass sie sehen konnte, wohin sie trat. Auf halber Strecke zur Treppe am entgegengesetzten Ende des Korridors rief auf einmal eine Stimme: »Hallo?«
Diesmal war es eine Frau, aber es war nicht Oksanas Stimme. Pet nahm eine Kristallvase von einem Tisch an der Flurwand und hielt sie hinter ihrem Rücken versteckt. Dann ging sie zum Geländer, um von dort nach unten zur Haustür zu sehen.
Sie stutzte, als sie die Gruppe sah, die den großzügigen Eingangsbereich bevölkerte. Vier Männer und eine Frau standen um Oksana herum, die neben diesen riesigen Gestalten winzig klein wirkte. Dabei war sie noch ein paar Zentimeter größer als Pet, die es nicht ganz auf eins sechzig brachte. Ihr fiel auf, dass die ganze Gruppe zu ihr nach oben sah. Dann wanderte Pets Blick weiter zu dem Paar, das neben Oksana stand.
Unwillkürlich entspannte sie sich, als sie die beiden wiedererkannte. Marguerite und Julius Notte. Die zwei hatten sich auf der Veranda mit Pets Schwester Quinn unterhalten, als sie am Nachmittag angekommen war. Danach waren sie noch lange genug geblieben, um sich vorzustellen, ehe sie sich auf den Weg zu den Caprellis gemacht hatten, bei denen sie sich für die nächsten Wochen einquartieren würden. Sie würden auf das Haus aufpassen, während das ältere Ehepaar nach Texas verreist war, um die dort lebende Tochter zu besuchen.
Pet wandte sich den anderen drei Männern zu, deren Anblick sie wirklich in Erstaunen versetzte. Jeder von ihnen war auffallend groß, aber während zwei von ihnen einfach nur groß und muskulös waren, konnte man den Dritten einfach nur als Riesen bezeichnen, der locker doppelt so viel Raum beanspruchte wie jeder andere. Er war mit Abstand der größte Mann, den Pet je gesehen hatte, und das wollte schon was heißen. Bei ihrem Job hatte sie es mit allen möglichen hünenhaften Kerlen zu tun, doch keiner von ihnen reichte an diesen Typ heran. Allein diese Schultern! Großer Gott! Sie hatte mal gehört, dass Schwarz eigentlich schlanker machen sollte, doch dieses schwarze T-Shirt betonte nur umso mehr, wie breit und muskulös die Schultern waren, über die sich der Stoff spannte. Die schwarze Jeans dagegen ließ seine Hüften auffallend schmal erscheinen. Ihr Blick wanderte weiter bis hin zu den ebenfalls schwarzen Doc Martens und von dort zurück bis zu seinem Schädel, der kahl rasiert war. Auf dem Weg nach oben entging ihr nicht, dass er an jedem einzelnen Finger mindestens einen Ring trug. Wären sie nicht alle silbern gewesen, hätte man sie auf den ersten Blick für einen Totschläger halten können. Insgesamt machte der Kerl jedenfalls den Eindruck, dass man ihm besser nicht nachts über den Weg laufen sollte.
»Hallo, Petronella. Wie schön dich wiederzusehen.«
Pet zwang sich, wieder Marguerite anzusehen. Dabei hätte sie fast laut geseufzt, weil es so deprimierend war. Ganz ehrlich – diese Frau verkörperte alles, was sie selbst nicht war, aber schon immer nur zu gern gewesen wäre. Marguerite war groß, kurvig und einfach nur wunderschön mit ihrem langen, welligen rotbraunen Haar und ihrer makellosen hellen Haut. Marguerite trug ein schönes Sommerkleid und dazu Sandalen, was ihre Weiblichkeit nur umso stärker hervorhob, während sich Pet in T-Shirt und Shorts wie der letzte Penner vorkam.
Ihr wurde klar, dass sie alle auf eine Reaktion von ihr warteten, also zwang sie sich zu einem Lächeln und sagte leise: »Hallo zusammen.«
»Wir sind nur vorbeigekommen, um dir unsere Neffen und ihren Freund vorzustellen. Die Jungs haben auf dem Rückweg von der Ostküste einen Zwischenstopp hier eingelegt und spontan entschieden, eine Weile bei uns zu bleiben. Wir wollten nicht, dass du in Sorge gerätst, wenn du sie kommen oder gehen siehst«, erklärte Marguerite und ließ ein Schmunzeln folgen. »Allerdings haben wir bei unserem Eintreffen gesehen, dass die Haustür weit offen stand. Als wir niemanden sehen konnten, haben wir uns gedacht, wir sehen besser nach dem Rechten. Nur dürften wir dabei der armen Haushälterin deiner Schwester einen gehörigen Schrecken eingejagt haben.«
»Oh«, machte Pet und sah zu Oksana. Verwundert stellte sie fest, dass die Frau einfach dastand und ins Nichts starrte. Jedoch war es auch möglich, dass sie aus dem Seitenfenster sah und nach ihrem Ehemann Ausschau hielt, der sie um sieben Uhr abholen sollte, überlegte Pet und wandte sich wieder Marguerite zu. Sie hielt kurz inne, als ihr die Augen der Frau auffielen. Als sie Marguerite und Julius am Nachmittag kennengelernt hatte, da hatten die beiden Sonnenbrillen getragen. Jetzt hingegen nicht, und so konnte sie die silbernen Sprenkel in Marguerites blauen und Julius’ schwarzen Augen erkennen. Es sah so aus, als hätte man ihnen Glitzer in die Augen gestreut.
»Kennst du diese Leute?«
Pet drehte sich um und wunderte sich, dass Parker neben ihr stand. Der Junge sah irritiert die Gruppe an, die unten um Oksana herum stand. Sie fasste ihren Neffen am Arm und gab ihm einen Stoß, damit er dorthin zurückkehrte, wo er hergekommen war. »Du sollst doch in deinem Zimmer warten.«
Er blieb unbeirrt stehen und erklärte: »Die wohnen nicht hier in der Straße.«
»Deine Mutter hat mich mit ihnen bekanntgemacht, als ich hergekommen bin. Sie hüten das Haus der Cabellies«, erklärte sie, während sie weiter versuchte, ihn zurück in sein Zimmer zu bugsieren.
»Caprellis«, korrigierte er sie im gleichen Moment wie Marguerite.
»Zwei Dumme, ein Gedanke«, sagte die Frau amüsiert und lächelte noch etwas strahlender. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Parker. Deine Mutter und deine Tante haben heute Nachmittag so mit dir angegeben, dass dir eigentlich die Ohren geklungen haben müssten.«
Parker schüttelte verneinend den Kopf, dann fragte er: »Wer sind Sie?«
»Marguerite Argeneau Notte«, antwortete sie und stellte die anderen vor: »Das ist mein Neffe Zanipolo Notte …« Dabei deutete sie auf den großen, muskulösen und durchtrainiert wirkenden Mann rechts von ihr, der seine schwarzen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Dann zeigte sie auf den Mann daneben. »Justin Bricker, ein Freund der Familie.«
Pet betrachtete sein kurz geschnittenes dunkelbraunes Haar, das attraktive Gesicht und die leuchtend grünen Augen … auch sie mit diesen silbernen Sprenkeln.
»Und unser Neffe Santo Notto«, fügte Marguerite hinzu und lächelte dabei den kahlköpfigen Riesen an.
Pet warf auch einen Blick auf die Augen dieses Mannes, die so schwarz waren wie die von Julius Notte, nur dass das silberne Leuchten bei ihm viel ausgeprägter war und sich sogar noch zu verstärken schien, als sie ihn beobachtete.
»Und das ist natürlich mein Ehemann Julius.« Marguerite legte ihre Hand auf den Arm des Mannes zu ihrer Linken, der als Einziger nicht in Schwarz gekleidet war. Während die drei anderen Jeans, T-Shirts und Doc Martens in einheitlichem Schwarz trugen, dass es fast schon etwas Uniformmäßiges an sich hatte, war Julius immer noch in dunkelblauer Jeans und das weiße T-Shirt gekleidet, die Pet schon früher an diesem Tag an ihm gesehen hatte.
Justin Bricker und Zanipolo waren beide ein wenig über eins achtzig, während die beiden anderen Männer mindestens zwei Meter groß sein mussten. Die zwei etwas Kleineren waren zudem nicht annähernd so muskulös wie Santo, auch wenn ihre Körper einen durchtrainierten Eindruck machten. Julius bewegte sich irgendwo dazwischen.
»Wo sind denn die Caprellis?«, wollte Parker mit einem Mal wissen und klang dabei auffallend misstrauisch.
»In Texas.« Die Antwort kam von dem Hünen, den Marguerite als Santo vorgestellt hatte. Seine tiefe Stimme versetzte Pets Körper regelrecht in Schwingungen, aber sie hatte ohnehin ein Faible für diese Tonlage.
»Sie wollen ihre Tochter besuchen«, führte Marguerite aus, die damit Pets Blick wenn auch nur mit Mühe von dem großen Mann auf sich zurücklenken konnte. »Soweit ich weiß, ist sie letztes Jahr dorthin umgezogen, und sie und die Enkel fehlen den beiden so sehr, dass sie sie unbedingt wiedersehen wollten. Sie haben ihr Haus auf der Haustausch-Seite angeboten, und wir haben es dort entdeckt und uns sofort dafür beworben.«
Prompt entspannte sich Parker und begann zu grinsen. »Ich war es, der sie auf der Haustausch-Seite angemeldet hatte«, verkündete er fröhlich und lief zielstrebig nach unten.
Innerlich fluchend wollte Pet hinter ihm hereilen, doch in diesem Augenblick fiel ihr auf, dass sie immer noch die Vase in der Hand hielt. Von schlechtem Gewissen heimgesucht, stellte sie den Gegenstand auf dem Tisch in der Diele ab, lief los, und bekam den Jungen an den Schultern zu fassen. Sie zog ihn zurück, bis er mit ihr zusammenstieß, doch er schien nicht mitzubekommen, dass das Manöver seinem Schutz dienen sollte.
»Ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell funktionieren würde«, sagte er. »Dann kommen Sie also aus Texas.«
»Aus Italien«, entgegnete Santo. Unwillkürlich wanderte Pets Blick zu ihm zurück. Mit seinen hohen, ausgeprägten Wangenknochen und diesen vollen, sinnlichen Lippen sah er wirklich ausgesprochen attraktiv aus.
Sie vermied es, wieder in seine Augen zu sehen, und hielt stattdessen den Blick vor sich auf ihren Neffen gerichtet, der soeben fragte: »Italien?« Sie hörte abermals Misstrauen aus seiner Stimme heraus und hielt seine Schultern fester umfasst.
»Da war dieses Paar in Texas, das nach Italien reisen wollte«, erklärte Marguerite beiläufig. »Und wir wollten eigentlich nach New York, also haben wir einen Dreiertausch daraus gemacht. Die Caprellis sind jetzt in Texas, das Paar aus Texas ist bei uns daheim in Italien, und wir sind jetzt hier.«
»Oh«, machte Parker erstaunt. »Ich wusste gar nicht, dass man auch so tauschen kann. Aber das ist cool.«
»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Aber ich kann deine Sorge um die Caprellis gut verstehen, und ich weiß sie auch zu schätzen. Sie hatten auf uns gewartet, um uns den Schlüssel zu übergeben. Sie machen einen sehr netten Eindruck.«
»Ja, sie sind auch nett«, bestätigte er.
»Sind alle eure Nachbarn so nett?«, wollte Marguerite wissen.
Parker nickte. »Ja, aber die Caprellis und Mr Purdy sind die freundlichsten von allen.«
»Mr Purdy?«, hakte sie interessiert nach. »Und wo wohnt der?«
»Er ist unser Nachbar zur anderen Seite«, erklärte Parker, der jetzt viel ruhiger, wenn nicht sogar aufreizend ruhig redete, wie Pet irritiert feststellte. Prüfend sah sie den Jungen an, dann Marguerite, die Parker auf eine ganz eigenartige Weise anschaute, so als wäre sie dabei hochgradig konzentriert. Das Gleiche galt für die Männer, wie Pet erkennen musste. Es war so seltsam, dass sie ihren Neffen am liebsten über die Schulter geworfen und ihn im Eiltempo in sein Zimmer zurückverfrachtet hätte, damit er vor diesen Leuten sicher war.
»Ach«, erklärte Oksana plötzlich. »Da ist mein Mann. Zeit zu gehen.«
Pet wunderte sich über diese Äußerung der Haushälterin und sah, wie die ihre Handtasche vom Beistelltisch im Flur nahm.
»Wir sollten jetzt wohl auch wieder gehen, nachdem wir die Jungs vorgestellt haben«, verkündete Marguerite, während Santo der Haushälterin die Tür aufhielt, damit sie gehen konnte. »Wie gesagt, wir wollten euch nur wissen lassen, wer in nächster Zeit in eurer Nachbarschaft so aus und ein geht.«
Pets Blick wanderte von dem alten Ford Truck, der in die Auffahrt eingebogen war, zu den Besuchern, die nun Oksana nach draußen folgten.
»Vergesst nicht abzuschließen«, rief Marguerite, während sie vor den Männern her die Veranda überquerte. »Das ist zwar eine ruhige Gegend, aber es könnte trotzdem ein bisschen riskant sein, wenn man die Tür weit offen stehen lässt.«
»Ja, und gute Nacht«, sagte Pet, bezweifelte aber, dass irgendeiner von ihnen das überhaupt gehört hatte. Ihre Worte waren auffallend kraftlos gewesen. Sie beobachtete, wie Oksana in den Truck einstieg, der sich daraufhin wieder in Bewegung setzte, und sah Marguerite und den Männern hinterher, die außer Sichtweite gerieten, als sie hinter der Hecke verschwanden, die zwischen dem Haus ihrer Schwester und dem der Caprellis verlief.
»Komm schon«, sagte Parker und ging zurück nach oben, kaum dass sie die Haustür zugedrückt und verriegelt hatte. »Das Spiel läuft immer noch, und wir sind inzwischen wahrscheinlich beide tot. Wir müssen von da aus weitermachen, wo der Spielstand zum letzten Mal gespeichert wurde.«
»Willst du wirklich, dass ich mit dir spiele? Ich meine, wenn ich so langweilig bin …«, konterte Pet, die an dem zuvor gemachten Kommentar immer noch zu knabbern hatte.
»Na, außer dir ist ja niemand hier, der mit mir spielen könnte«, sagte er und blieb stehen, um sie anzugrinsen.
»Als ich kam, hast du mich umarmt und gesagt, ich sei deine Lieblingstante«, hielt sie ihm aufgebracht vor Augen. »Und jetzt bin ich auf einmal langweilig. Weißt du eigentlich, was du willst?«
»Du bist beides«, antwortete er lässig. »Du bist meine einzige Tante, und damit bist du automatisch meine Lieblingstante, ganz egal, ob du langweilig bist oder nicht.«
Pet kniff die Augen ein wenig zusammen. »Seit wann bist du denn so ein Klugscheißer?«
Er zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und ging die Treppe hoch.
»Aber Dad gibt dir die Schuld daran«, fügte er an.
Abrupt blieb sie stehen und drehte den Kopf zu ihm um. »Was?«
Parker nickte. »Er meint, ich wäre zu oft deinem ›schädlichen Einfluss‹ ausgesetzt, was dazu geführt hat, dass ich mich so verhalte, wie ich es tue. So seine Worte«, ergänzte er.
Verärgert presste sie die Lippen zusammen. Ihre Schwester war mit einem arroganten Arschgesicht verheiratet. Pet hatte den Kerl noch nie leiden können, und es war ihr bis heute ein Rätsel, wie Quinn sich mit ihm auf eine Ehe einlassen konnte.
Andererseits würde es dann auch keinen Parker geben, und Pet liebte den kleinen Besserwisser über alles, und folglich … Sie verpasste ihm einen Schubser, damit er weiter die Treppe raufging, und raunte ihm zu: »Diesmal werde ich dir in den Hintern ballern. Aber dann mit voller Absicht.«
»Versuchen kannst du’s ja«, zog Parker sie auf und stürmte die restlichen Stufen hoch.
Pet folgte ihm gemächlich, wobei das Lächeln von ihren Lippen verschwand und ihr Blick zurück zur Haustür wanderte. Gleichzeitig kreisten ihre besorgten Gedanken um die neuen Nachbarn auf Zeit, die sich im Haus nebenan einquartiert hatten … diese Nachbarn mit den seltsam schimmernden Augen.
»Das ist also der Junge, der die Neun-eins-eins gewählt hat«, sagte Bricker zu Santo, als sie einer nach dem anderen die im Landhausstil eingerichtete Küche im Haus der Caprellis betraten.
»Ist das ein Problem?«, fragte Santo, dem Brickers nachdenkliche Miene nicht entging.
»Nein.« Bricker setzte sich an den Esstisch. »Ich habe ihn gelesen, als Marguerite ihn zu den Nachbarn befragt hat, und er ist eindeutig sehr um diesen Mr Purdy besorgt.«
»Si.« Santo lehnte sich gegen den hellen Küchentresen und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann meinte er lächelnd an seine Tante gerichtet: »Das war schlau von dir, ihn so etwas zu fragen.«
»Ja«, stimmte Bricker ihm zu, während sich Zani zu ihm setzte. »Das hat Parker dazu veranlasst, über seine Sorge um den alten Mann nachzudenken. Er hat die Polizei eindeutig nicht zum Spaß angerufen.«
»Das hatten wir euch ja bereits gesagt, als ihr hier eingetroffen seid«, machte Marguerite ihm klar und stellte den Wasserkessel auf die Herdplatte.
»Schon, aber ihr hattet da noch nicht mit ihm reden können«, entgegnete Bricker. »Und mit Purdy hattet ihr auch noch nicht gesprochen, also konntet ihr euch nicht absolut sicher sein.«
»Ich sagte euch ja, dass der Junge in der Schule war, als wir hier ankamen«, betonte Marguerite, die etwas gereizt klang, da unterschwellig an ihr Kritik geübt wurde. Sie ging zum Tisch und nahm gegenüber von Bricker und Zani Platz. »Wir wären rübergegangen, gleich nachdem er aus der Schule gekommen war, aber wir hatten noch auf euch gewartet. Wir wollten nicht, dass ihr ein verlassenes Haus vorfindet.«
»Und wir haben es bei Purdy versucht«, ergänzte Julius, der sich hinter Marguerite stellte und ihre Schultern sanft massierte. »Wir hatten gehofft, die Sache auf diesem Weg aus der Welt zu schaffen, aber es hat uns niemand die Tür geöffnet. Leider konnten wir nicht einfach einbrechen, um uns selbst ein Bild von diesem Cousin zu machen. In diesem Viertel sind erstaunlich viele Leute tagsüber nicht daheim. Außerdem haben die Caprellis zu der Zeit in ihrem Garten gearbeitet, also hätten sie auf jeden Fall einen Einbruchsversuch mitbekommen. Mit ihnen zu reden ist ja schließlich mit einer der Gründe, wieso wir hier sind.«
»Und wir haben von den Caprellis genug erfahren, um weitere Nachforschungen anstellen zu können«, fügte Marguerite mit Nachdruck an.
»Und was habt ihr erfahren?«, fragte Santo mit ernster Miene. Er, Bricker und Zani hatten bei ihrer Ankunft keine Gelegenheit gehabt, diese Dinge zu erfahren. Garrett Mortimer, der Kopf der unsterblichen Vollstrecker, hatte sie gebeten, nach Erledigung des Auftrags in New Brunswick auf dem Weg nach Toronto einen Zwischenstopp in Albany einzulegen. Hier hatten Marguerite und Julius ihnen den Mitschnitt des Anrufs vorgespielt, und dann waren sie auch schon aufgebrochen, um Parker kennenzulernen. Und seine Tante, ging es Santo durch den Kopf. Als er das Bild ihrer zierlichen Figur vor seinem geistigen Auge sah, musste er unwillkürlich lächeln.
»Die Caprellis sind ein nettes Rentnerehepaar, das gern seine Nachbarschaft im Auge behält«, erklärte Marguerite. »Von den beiden wissen wir, dass die Peters beide als Ärzte arbeiten und dass Parker ihr einziges Kind ist. Der Junge besucht eine Schule für hochbegabte Kinder, er ist sehr hilfsbereit und respektvoll, und vor allem neigt er nicht dazu, irgendwem Streiche zu spielen. Wir haben auch erfahren, dass den beiden einige sonderbare Dinge aufgefallen sind, was Mr Purdy betrifft.«
»Und was sind das für sonderbare Dinge?«, wollte Zani wissen und beugte sich auf seinem Stuhl vor.
»Nun, zum einen haben sie den Herrn seit fast einer Woche nicht mehr gesehen, obwohl er normalerweise jeden Tag morgens und nachmittags in seinem Garten anzutreffen ist«, führte Marguerite aus. »Die Caprellis haben außerdem beobachtet, dass immer wieder fremde Leute in sein Haus gehen, vorzugsweise mitten in der Nacht, was anscheinend für den Mann eher untypisch ist. Die beiden waren eigentlich schon im Begriff, zu Mr Purdy zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen, aber dazu kam es nicht mehr, weil wir kurz zuvor eingetroffen waren.«
»Vermutlich auch besser so«, meinte Santo. Wenn es sich bei Mr Purdys Besucher tatsächlich um einen Abtrünnigen handelte, konnte er jedem gefährlich werden, der ihn zur Rede stellen wollte. Zumindest jedem Sterblichen.
»Der Meinung sind wir auch«, stimmte Julius ihm leise zu. »Wir kamen zu dem Schluss, dass die Sorge der Caprellis um Mr Purdy und ihre Überzeugung, Parker würde niemals jemandem einen Streich spielen, Grund genug sind, den Dingen auf den Grund zu gehen. Wir haben mit Mortimer gesprochen, und er war der gleichen Meinung.«
»Also habt ihr die Caprellis nach Texas geschickt und seid stattdessen hier eingezogen«, folgerte Bricker amüsiert.
»Richtig.« Marguerite lächelte zufrieden. »Der Rat hat ihre Flugtickets bezahlt und sie in der Suite eines Hotels ganz in der Nähe ihrer Tochter untergebracht.«
Bricker nickte, zog aber dann irritiert die Augenbrauen hoch. »Aber warum brauchen wir hier ein Basislager? Warum stürmen wir nicht das Haus und schaffen auf der Stelle Ordnung?«
Santo fiel auf, wie Marguerite ihn kurz ansah, und reagierte mit Argwohn.
Es war sein Onkel, der diese Frage beantwortete: »Weil Mortimer sich genauer mit Max Purdy beschäftigt hat. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor, und nach kurzer Recherche fiel ihm wieder ein, woher er ihn kannte. Purdy ist ein Cousin zweiten Grades von Dr Dressler.«
Santo versteifte sich, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. In seinen Ohren nahm er ein Rauschen wahr, da das Blut mit einem Mal nur so durch seine Adern jagte. Während er die unterschiedlichen Gefühle in den Griff zu bekommen versuchte, die da auf ihn einstürmten, redete sein Onkel weiter.
»Mortimer will, dass wir sehr behutsam vorgehen. Dressler ist eine Zielperson von höchster Priorität, und es darf niemandem ein Fehler unterlaufen, der dazu führt, dass der Mann uns noch einmal entwischt. Er zieht so viele Leute zusammen, wie er erübrigen kann, damit sie uns bei dieser Aktion unterstützen. In der Zwischenzeit sollen wir das Haus rund um die Uhr beobachten und herausfinden, ob es sich bei diesem Besucher um Dressler handelt.«
Es folgte ein Moment der Stille, und Santo wurde bewusst, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Er wusste, dass sie eine Reaktion von ihm erwarteten. Er konnte ihre Anspannung spüren, und ihm war klar, dass sie ihm den Weg versperren würden, wenn er versuchen sollte, aus dem Zimmer zu rennen. Ohne jeden Zweifel fürchteten sie, er könnte auf der Stelle ins Haus von Mr Purdy stürmen und alles auf den Kopf stellen, um Dressler zu fassen zu bekommen. Eigentlich hätte Santo genau das Gleiche von sich erwartet, und es wäre ganz sicher auch so abgelaufen, wären da nicht die Reise nach Punta Cana und die Therapie gewesen, zu der er sich bereit erklärt hatte. Doch nachdem nun der erste Schock abgeebbt war, verspürte er eine ungewohnte innere Ruhe.
Da ihm klar war, dass die anderen so lange auf dem Sprung sein würden, wie keinerlei Reaktion von ihm kam, nickte er knapp und murmelte: »Klingt vernünftig.«
Fast hätte er gelacht, als er sah, wie die anderen erleichtert aufatmeten, doch das Bedürfnis verging ihm schlagartig, als ihm bewusst wurde, was deren Verhalten in Wahrheit offenbarte: Seine Familie war offensichtlich in Sorge um ihn gewesen, und es gefiel ihm gar nicht, wenn er für andere ein Grund zur Sorge war.
»Okay«, meinte Bricker, räusperte sich und fragte: »Wäre es nicht einfacher gewesen, Purdys Haus von dem Haus aus zu beobachten, in dem der Junge wohnt? Da hätten wir völlig freie Sicht auf das ganze Gebäude gehabt.«
»Richtig«, pflichtete Marguerite ihm bei, wandte dann jedoch ein: »Aber das hätte bedeutet, den Jungen, seine Eltern, diese Pet und die Haushälterin ständig kontrollieren zu müssen. Die Eltern sind zwar im Moment nicht zu Hause, aber die Mutter wird am Wochenende zurückkommen. Wann der Vater wieder da sein wird, können wir nicht sagen. Das kann schon morgen sein. Dieser Fall hier könnte sich über Wochen hinziehen, und so etwas würde im Haus der Peters für zu viele Situationen sorgen, in denen etwas schiefgehen kann.«
Bricker sah zwischen Santo und Zani hin und her, dann sagte er an das Ehepaar gewandt: »Ihr hättet doch die Peters genauso gut für längere Zeit wegschicken können.«
»Die Eltern sind Ärzte, Bricker«, betonte Marguerite mit besonderem Nachdruck. »Mr Peters ist Onkologe und Mrs Peters Chirurgin. Diese Leute haben Patienten und OP-Termine und …« Sie verstummte kurz und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Sache, ein nettes Rentnerehepaar eine Reise unternehmen zu lassen, die ohnehin geplant war. Aber es ist etwas ganz anderes, das Leben von zwei Ärzten auf den Kopf zu stellen, die beide wichtige Positionen bekleiden und dafür sorgen, dass Sterbliche gesund und am Leben erhalten bleiben.«
Santo gab einen zustimmenden Laut von sich, dann stieß er sich vom Tresen ab und ging aus der Küche. Er folgte dem langen Flur bis zur Vorderseite des Hauses und betrat das letzte Zimmer auf der linken Seite, wo sich eine Sitzecke befand. Santo ging zum Fenster und zog die Gardinen zurück, um einen Blick nach draußen werfen zu können. Dieses Haus stand näher an der Straße als das Peters-Haus, sodass er freie Sicht auf die Vorderseite des mit Holz verkleideten Gebäudes hatte, das Mr Purdy gehörte. Er betrachtete das Haus und stellte fest, dass an allen Fenstern, die er von seiner Position aus sehen konnte, die Vorhänge zugezogen waren. Der Garten vor dem Haus war verwaist. Als er sich wieder umdrehte, stellte sich heraus, dass die anderen ihm alle gefolgt waren.
Mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen grinste er ihnen zu, nickte kurz und ging an ihnen vorbei bis ans andere Ende des Flurs, um das letzte Zimmer auf der gleichen Seite zu betreten, das sich genau gegenüber der Küche befand. Dort befand sich das Esszimmer, und auch dort gab es ein Fenster zum Nachbargrundstück. Der Blick über den Rasen endete aber jäh an der Außenwand der Garage nebenan.
»Auf dem hinteren Teil dieses Grundstücks gibt es ein Baumhaus«, teilte Marguerite ihm mit, als sie sich zu ihm stellte.
Santo drehte sich zu ihr um und folgte mit seinem Blick der Richtung, in die ihr Zeigefinger wies. So sah er schließlich die große Eiche, in deren Baumkrone eine Holzkonstruktion zu erkennen war.
»Das Baumhaus ist schon etwas älter«, fuhr sie fort. »Aber Julius hat es sich gründlich angesehen und ist der Ansicht, dass es noch immer sehr stabil ist und dass man von dort sehr gute Sicht auf die Rückseite von Purdys Haus hat.«
»Ein Baumhaus?«, fragte Bricker erschrocken, als er sich zu ihnen ans Fenster stellte. »Ich würde mal annehmen, dass das keine Klimaanlage hat.«
»Und auch keinen Stromanschluss oder irgendwelches Mobiliar«, meinte Julius kopfschüttelnd, als er, gefolgt von Zanipolo, ins Zimmer trat. »Himmel, Justin, das ist ein Baumhaus für Kinder, kein Vier-Sterne-Hotel.«
»Ich werde von dem Baumhaus aus das Grundstück beobachten«, erbot sich Santo, gerade als Bricker wieder zum Reden und damit zweifellos auch zum nächsten Protest ansetzen wollte.
»Hast du eigentlich Petronella gelesen, Santo?«, wollte Marguerite unvermittelt wissen.
»Du meinst die Tante?«, gab er überrascht zurück und verzog bei diesem Namen den Mund. Den hatte er seit mindestens hundert Jahren nicht mehr gehört, er musste völlig aus der Mode gekommen sein. Der Grund dafür war ihm nicht klar, aber er hatte auch keinen persönlichen Bezug zu dem Namen.
»Ja, die Tante«, bestätigte Marguerite. »Sie ist die Zwillingsschwester von Parkers Mutter. Hast du sie gelesen?«
»Nein«, musste er zugeben. Dass er das nicht getan hatte, überraschte ihn, denn normalerweise hätte er das gemacht. Doch der Anblick der Frau hatte ihn so abgelenkt, dass es ihm völlig entfallen war. Sie war ein verdammt süßes kleines Ding. Kaum größer als eins fünfzig, gertenschlank, dazu lange schwarze Haare. Der Name Petronella hätte ihn nie auf eine asiatische Herkunft schließen lassen. Aber das Gleiche galt auch für Parker Peters.
Der Gedanke an den Jungen erinnerte ihn daran, wie sehr Pet um seinen Schutz bemüht war. Ihm war nicht entgangen, dass sie ihn an den Schultern festgehalten hatte, damit er in ihrer Nähe blieb. Es war ihm sogar so vorgekommen, als hätte sie den Jungen am liebsten hinter sich geschoben, um sich selbst zwischen ihn und die Welt zu stellen. Oder zwischen ihn und Santos Begleitung, was ihm gar nicht gefiel, weil es ihn befürchten ließ, dass er selbst derjenige war, der ihr Angst einjagte. Er wusste, es lag an seiner Größe, dass die meisten Leute so auf ihn reagierten. Jedenfalls missfiel ihm die Vorstellung, sie könnte vor ihm Angst haben.
Ein Seufzen holte ihn aus seinen Gedanken, und er sah fragend zu Marguerite, von der dieser Laut gekommen war.
»Wenn du ihr das nächste Mal begegnest, solltest du sie lesen«, empfahl sie ihm.
»Weiß sie irgendwas, was für uns von Nutzen sein könnte?«
Marguerite zögerte kurz, dann sagte sie: »Ich habe nichts finden können, was den Fall angeht, aber du könntest auf etwas stoßen, das ich übersehen habe. Ich finde, du solltest wirklich versuchen, sie auch noch zu lesen.«
Santo nickte und nahm sich vor, Petronella beim nächsten Mal zu lesen. Vorausgesetzt, es gab überhaupt ein nächstes Mal.
Pet stand wie versteinert in der Tür und starrte die Gestalt draußen vor dem Fenster an, bis ihr Neffe auf einmal zu kreischen begann und sich im Bett aufsetzte. Nachdem er die Katze geschnappt hatte und sie beschützend an sich drückte, hatte Pet den ersten Schreck überwunden und setzte sich in Bewegung. Sie stieß die Tür weit auf, rannte zum Bett und hob Parker mitsamt Katze und Decke hoch, dann machte sie auch schon kehrt und stürmte aus dem Zimmer.
Ihr Handy steckte im Ladegerät, das im Badezimmer an eine Steckdose angeschlossen war. Gleichzeitig war das Badezimmer der einzige Raum im Haus mit einem Türschloss. Also rannte Pet mit Parker dorthin, setzte ihn ab und griff nach dem Handy.
»Wähl den Notruf«, wies sie den Jungen eindringlich an und hielt ihm das Telefon hin, während sie zurück zur Tür wollte. »Ich werde …«
»Nein!«, schrie Parker auf, drückte die Katze noch fester an sich und machte zwei Schritte weg von Pets Handy, als wäre es verhext. »Du kannst mich hier nicht allein lassen! Du sollst schließlich auf mich aufpassen.«
Pet bemerkte die Panik in den Augen des Jungen und sah wieder den Flur entlang. Eigentlich wollte sie nachsehen, ob der Unbekannte das Fenster geöffnet hatte und tatsächlich ins Haus gekommen war, doch in dieser Verfassung konnte sie Parker nicht allein hier zurücklassen. Seufzend ließ sie die Badezimmertür ins Schloss fallen. »Schon gut, Schatz, ich gehe nirgendwo hin«, versicherte sie ihm und schloss ab. »Siehst du? Ich bleibe hier bei dir.«
Da er sie immer noch so ansah, als fürchte er, sie könne ihn im Stich lassen, fasste sie ihn am Arm und zog ihn zu sich heran. Während sie einen Arm um ihn legte, wählte sie mit der freien Hand den Notruf.
»Da war wirklich jemand draußen vor meinem Fenster«, beharrte Parker mit zittriger Stimme. Es war nicht zu übersehen, dass ihn dieser Vorfall mitgenommen hatte.
»Ja, Schatz, das habe ich selbst gesehen«, erwiderte sie leise und hielt das Handy ans Ohr. Dabei sah sie nach unten. Ein Stich ging ihr durchs Herz, als sie das bleiche, verängstigte Gesicht des Achtjährigen sah.
»Was ist, wenn er ins Haus gekommen ist?«, wollte er voller Sorge wissen, während er gedankenverloren die verstörte Katze streichelte. Sie hatte denjenigen, der sich draußen vor dem Fenster aufgehalten hatte, auch nicht gemocht, dachte Pet und fragte sich mit einem Mal, woher das Tier überhaupt gekommen war. »Parker, wessen Katze ist …«
Weiter kam sie nicht, da sich am Telefon auf einmal eine Stimme meldete: »Neun-eins-eins. Was für einen Notfall möchten Sie melden?«
Hastig erklärte Pet, dass jemand versuchte hatte, durch ein Fenster ins Haus einzudringen. Sie konnte nur hoffen, dass sich derjenige noch immer da draußen herumtrieb, damit die Polizei ihn einkassieren konnte. Ihr wurden weitere Fragen gestellt, darunter auch die nach der Adresse. Reflexartig antwortete sie, als Parker einwarf: »Das ist doch deine eigene Anschrift, Tante Pet.«
Irritiert sah sie ihn an. Er hatte völlig recht. Offenbar hatte das Ganze sie mehr mitgenommen, als ihr klar war. Kaum hatte sie ihren Irrtum erkannt, nannte sie die richtige Adresse.
»Ich habe einen Streifenwagen zu Ihnen geschickt. Konnten Sie hören, ob irgendwo im Haus Glas zu Bruch gegangen ist? Oder andere Geräusche, die darauf schließen lassen, dass der Fremde ins Haus gelangt ist?«
Pet schüttelte den Kopf und begriff erst nach einigen Sekunden, dass man das am anderen Ende der Leitung gar nicht sehen konnte. »Nein, gar nichts«, sagte sie hastig.
»Wo im Haus befinden Sie sich?«
»Im Badezimmer im ersten Stock. Es ist das einzige Zimmer, bei dem man die Tür abschließen kann.«
»Ihr Neffe ist bei Ihnen?«
»Ja.«
»Sind Sie in Sicherheit, bis die Polizei eintrifft?«
Pet sah die Tür an. Holz, aber vermutlich nicht massiv. Und das Schloss? Massenware. Wahrscheinlich konnte man es mit einem Stück Draht im Handumdrehen öffnen.
Leise fluchend sah sie sich in dem kleinen Raum um, dann setzte sie sich so hin, dass sie den Rücken gegen die Toilette drücken und die Füße gegen die Tür stemmen konnte. Allerdings musste sie mit dem Po noch ein paar Zentimeter vorrutschen, damit ihre Schuhsohlen die Tür berührten. Sie konnte nur hoffen, dass das genügte, einen Eindringling daran zu hindern, die Tür zu öffnen, wenn es ihm gelingen sollte, das Schloss zu knacken.
»Ma’am, sind Sie da in Sicherheit?«, wiederholte der Mann aus der Notrufzentrale.
»Ich …« Pet hielt inne und sah zum Fenster über der Wanne, da von draußen laute Stimmen zu hören waren. Dann wurde mit Fäusten gegen die Haustür getrommelt, auch wenn die geschlossene Badezimmertür das Geräusch dämpfte. »Ich glaube, da versucht jemand die Haustür einzuschlagen. Kann das schon die Polizei sein?«, fragte sie voller Hoffnung.
»Einen Moment … nein, der Wagen braucht noch vier Minuten.«
»Oh«, hauchte Pet.
»Ist das die Polizei?«, wollte Parker, der zu ihr robbte, bis er sich an ihre Schulter anlehnen konnte, ängstlich wissen.
»Nein, Schatz.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Aber die ist in vier Minuten hier.«
Das schien ihn genauso wenig zu beruhigen wie sie selbst. Er saß neben ihr, die Katze fast schon verzweifelt an sich gedrückt, während sie ihren freien Arm um seine Schultern legte. Dabei versuchte sie, nicht darüber nachzudenken, wie schnell ein Mensch einen anderen ermorden konnte. Nicht mal eine Sekunde war nötig, um einen Schuss abzufeuern, sollte der mögliche Einbrecher bewaffnet sein.
Sie wünschte, sie hätte auch eine Waffe zur Hand. Dann begann sie sich von innen auf ihre Lippe zu beißen, bis auf einmal wieder das Hämmern zu hören war, dem ein lauter Knall folgte, der wie eine Explosion klang.
»Was war das?«, rief der Mann am Telefon erschrocken. Es wunderte sie nicht, dass er den Knall mitbekommen hatte, denn der war kaum zu überhören gewesen. Das Ganze hatte sich nach berstendem Holz und etwas angehört, das mit großer Wucht auf den Boden geschleudert wurde.
»Ich glaube, da ist gerade jemand ins Haus eingedrungen«, sagte sie und schüttelte gleich darauf den Kopf, als ihr ihre Wortwahl bewusst wurde. »Eingedrungen« klang so harmlos und somit auch völlig verkehrt.
»Die Polizei ist gleich da«, redete der Mann vom Notruf besänftigend auf sie ein. »Bewahren Sie einfach die Ruhe.«
Pet hätte fast mit einem verächtlichen Schnauben reagiert. Dieser Kerl war viele Meilen von hier entfernt und saß sicher an seinem Schreibtisch in der Notrufzentrale, da konnte man leicht den Ratschlag an andere erteilen, dass sie die Ruhe bewahren sollten. Sie dagegen hatte einen verängstigten Achtjährigen an ihrer Seite, der eine Katze in den Armen hielt, die auf einmal versuchte, ihre Krallen zum Einsatz zu bringen, um dem Jungen auf den Kopf zu klettern. Und der einzige Schutz vor dem Irren, der bei anderen ins Fenster schaute und deren Türen niederwalzte, bestand aus einer dünnwandigen Holztür. Sie hätte gern mit dem Mann getauscht, um zu sehen, ob er an ihrer Stelle Ruhe bewahren konnte. Dann packte sie das Nackenfell der Katze und setzte das Tier wieder auf Parkers Schoß, der es schnell in die Decke wickelte, damit es die Krallen nicht mehr einsetzen konnte, um sich zu befreien.
»Petronella? Parker? Alles in Ordnung?«
Pet verkrampfte sich unwillkürlich. Es war eine Frauenstimme, eine vertraute Stimme. Aber dass es sich dabei um Marguerite handelte, wurde ihr erst bewusst, als gleich darauf eine tiefe Männerstimme ertönte. »Oben, wo die Schlafzimmer sind«, hörte sie jemanden sagen, bei dem sie sich sicher war, dass es sich um Santo handelte.
»Oh, ich hoffe, es geht ihnen gut. Du hast gesagt, du hast zwei Schreie gehört?« Marguerites Stimme kam näher. Offenbar gingen sie und Santo die Treppe hinauf.
»Si.«
»Das klingt gar nicht gut. Petronella? Parker?«
»Hier oben!«, rief Parker, sprang auf und lief zur Tür.
»Ist das jemand, den Sie kennen?«, wollte der Telefonist wissen, der zumindest Marguerites Stimme gehört haben musste.
»Ja, meine Nachbarn.« Pet erhob sich ebenfalls vom Boden. »Ich glaube … Parker! Warte!«, rief sie noch, doch da schloss er auch schon auf und wollte soeben die Tür öffnen. Sie machte einen Satz auf ihn zu, aber sie kam zu spät, da er in dem Moment in den Flur entwischte, als das Licht plötzlich anging.
Blinzelnd schaute sie zu den beiden Gestalten, vor denen Parker stehen geblieben war: Marguerite und Santo. Sie trug ein langes weißes Nachthemd aus Seide, er dagegen hatte immer noch das schwarze T-Shirt und die schwarze Jeans an.
»Oh«, machte Marguerite sichtlich erleichtert. »Wir waren so in Sorge, als du nicht auf unser Klopfen reagiert hast. Die Jungs hatten einen Mann ums Haus schleichen sehen und dann zwei entsetzte Schreie gehört. Wir dachten, der Mann könnte ins Haus gelangt sein und euch etwas antun, bevor wir zu Hilfe eilen konnten.«
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte Pet ihr, verkniff sich aber einen Kommentar zu der Frage, wieso die beiden Parkers Aufschrei hatten hören können, wenn doch alle Fenster geschlossen waren.
»Ich habe nur einmal geschrien«, verkündete Parker daraufhin. »Und zwar, als ich den Mann das erste Mal am Fenster gesehen habe. Ich war nur überrascht«, fügte er erklärend hinzu, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er überhaupt einen Schrei losgelassen hatte.
Pet legte die Hände auf seine Schultern und zog ihn an sich, dabei hielt sie ihm vor Augen: »Du hast auch ›nein‹ geschrien, als ich das Badezimmer verlassen wollte um nachzusehen, ob der Fremde ins Haus gelangt war.«
»Oh.« Der Junge wurde ein wenig rot im Gesicht. »Okay, das kann natürlich sein«, räumte er etwas verlegen ein.
Sie wandte sich wieder an Marguerite. »Danke, dass ihr euch um uns sorgt. Ich …« Sie verstummte, als ihr die Augen der Frau auffielen, die jetzt mehr silbern als blau waren. Es wirkte so, als hätte die Aufregung eine Veränderung der Farbe bewirkt. Sie starrte in diese fremdartigen Augen, die ihr den Atem stocken ließen und ihr die Fähigkeit zu denken nahmen.
»Bei uns bist du sicher aufgehoben, meine Liebe«, sagte Marguerite in ruhigem Tonfall und fasste sie sanft am Handgelenk.
Pet spürte die Wirkung dieser Worte bis tief in ihre Seele. Sie war jetzt in Sicherheit, da Marguerite und Santo bei ihr waren. Sie wusste, ihr konnte nichts passieren, und sie spürte förmlich, wie sie sich entspannte.
»Ich glaube, der Mann am Telefon ist in Sorge um dich. Du solltest ihm vielleicht besser sagen, dass alles in Ordnung ist«, schlug Marguerite ihr vor.
Verwundert sah Pet auf ihr Handy. Sie hatte ihr Telefonat völlig vergessen. Als sie das Handy ans Ohr hielt, hörte sie den Mann aufgeregt rufen: »Hallo? Hallo, Miss? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, tut mir leid«, antwortete sie. »Es ist alles in Ordnung, ich … ähm …«
»Marguerite?«
Pet unterbrach sich und sah zur Treppe, da der aufgeregte Ruf aus dem Erdgeschoss gekommen war.
»Hier oben, Schatz«, erwiderte Marguerite und drehte sich in Richtung Treppe um.
»Sind das Ihre Nachbarn, die jetzt bei Ihnen sind?«, wollte der Mann von der Notrufzentrale wissen.
»M-hm«, murmelte Pet, gerade als Marguerites Ehemann auf dem Treppenansatz auftauchte. So besorgt, wie Julius geklungen hatte, schaute er auch drein. Selbst nachdem er die Gruppe entdeckt hatte und zu ihnen gelaufen kam, änderte sich daran nichts. Sie wandte sich wieder dem Mann am anderen Ende der Telefonleitung zu.
»Ich werde den Polizisten Bescheid geben, damit die keinen Ihrer Nachbarn für den Einbrecher halten«, versicherte er ihr und fügte hinzu: »Sie fahren gerade bei Ihnen vor. Ich lege dann auf, damit Sie mit ihnen reden können.«
»Ja, vielen Dank«, sagte Pet, bekam jedoch von den Worten des Mannes kaum etwas mit, da sie versonnen zusah, wie Julius Notte einen Arm um die Taille seiner Frau legte.
»Dann ist also tatsächlich alles in Ordnung?«, fragte er und gab Marguerite einen Kuss auf die Stirn. Er trug nur eine Schlafanzugshose, deren Bund am äußersten Rand seiner Hüften hing. Offenbar waren die beiden aus dem Schlaf gerissen worden.
»Die Polizei ist da.«
Pet sah zur Treppe und entdeckte Justin Bricker und Zanipolo, die soeben nach oben kamen. Beide waren so wie Santo noch vollständig angezogen.
»Die Polizisten wollen mit dem Hauseigentümer reden«, erklärte Justin und sah zu Julius.
»Soll ich …«, begann er, unterbrach sich aber und sah überrascht nach unten, als Parker plötzlich loslief und in Richtung Treppe eilte.
»Parker!« Pet lief hastig hinterher. Der Junge hielt immer noch die eingewickelte Katze an sich gedrückt, wobei ein Ende der Decke bis auf den Boden hing, sodass Pet ihn schon darüber stolpern und hinfallen sah. Aber er schaffte es ohne Zwischenfall nach unten, wo er sich vor dem Polizisten aufbaute, der durch die aus den Angeln gerissene Haustür nach drinnen kam.
Pet blieb am Fuß der Treppe stehen und betrachtete den Schaden, den Santo angerichtet hatte. Von der Tür waren nur noch Bruchstücke übrig, die auf dem Boden verstreut lagen. Da, wo sich die Tür befunden hatte, klaffte nun ein Loch.
»Das ist mein Haus.«
Pet sah zu Parker, dessen vollmundige Erklärung sie zu einem gequälten Lächeln veranlasste, da der Polizist zuerst verdutzt ihren Neffen musterte und sich dann ihr zuwandte, um fragend eine Augenbraue hochzuziehen. Er war ein gut aussehender Mann, groß und kräftig, mit mittelblondem Haar und leuchtend blauen Augen. Auf seinem Namensschild stand Cross.
»Danke, dass Sie hergekommen sind, Officer Cross«, sagte sie und stellte sich zu Parker. »Mein Name ist Petronella Stone, und das ist mein Neffe Parker Peters. Seinen Eltern gehört dieses Haus, ich bin nur vorübergehend hier, um auf ihn aufzupassen, da sie auf Reisen sind.«
Officer Cross nickte und ließ seinen Blick über sie wandern, während er den Notizblock zückte. Als er auf einmal innehielt und seine Augen etwas größer wurden, sah Pet nach unten und hätte fast vor Verlegenheit laut aufgestöhnt. Sie hatte völlig vergessen, dass sie noch immer ihr Nachtzeug trug – ein knappes T-Shirt und Boxershorts. Die Shorts gehörten einem Ex-Freund, der sie bei ihr vergessen und nie darum gebeten hatte, sie zurückzubekommen. Diese Shorts waren bequem, und sie waren so weit, dass sie nicht um ihre Taille spannten, sondern locker auf den Hüften hingen. Ihr T-Shirt endete etliche Zentimeter über dem Gummizug der Shorts, sodass jede Menge Haut unbedeckt blieb. Zu allem Überfluss saß das T-Shirt auch noch hauteng und war mit einer Aufschrift bedruckt:
Du.
Ich.
Ins Bett.
Sofort.
Die ernste Miene des Polizisten wich einem Lächeln, das sie vermuten ließ, dass er dieser Aufforderung nur zu gern nachgekommen wäre. Ein tiefes, kehliges Knurren veranlasste sie dazu sich umzudrehen. Marguerite und die vier Männer kamen gemeinsam nach unten, aber wer von ihnen diesen Laut von sich gegeben hatte, konnte Pet nicht sagen. Allerdings entging ihr nicht, dass Marguerite Santos Arm drückte, so als wollte sie ihn besänftigen.
Santo spürte zwar Marguerites Berührung, doch sein Blick wich nicht von der zierlichen Frau an der Eingangstür und von dem großen Polizisten, der sie so lüstern begaffte. Zumindest hatte er das getan, bevor Santo das Knurren über die Lippen gekommen war. Jetzt war der Mann wieder ganz Polizist und beobachtete wachsam Santo und die anderen, während er seinen Notizblock aufschlug und nach einem Stift suchte.
Santo zwang sich, sich zu entspannen, wunderte sich jedoch über seine besitzergreifende Reaktion, nachdem ihm das Interesse dieses Polizisten an Pet aufgefallen war. Es war in jeder Hinsicht eine überraschende Reaktion gewesen – überraschend plötzlich und überraschend heftig. Er wollte dem Kerl das Gesicht polieren und ihm anschließend die Augen rausreißen, weil er es gewagt hatte, sie auf eine so unverhohlene Art anzusehen.
Aber gleich darauf musste Santo sich eingestehen, dass seine Reaktionen Pet gegenüber auch ziemlich seltsam waren. Zum Beispiel hatte ihn nichts und niemand davon abhalten können, zu ihr zu eilen, als ihm der Mann aufgefallen war, der ums Haus geschlichen war. Und der Schrei aus dem Haus hatte ihm vor Angst eine Gänsehaut verpasst. Der zweite Schrei hatte seine Sorge um ihr Wohlergehen dann nur noch um ein Vielfaches gesteigert. Während Bricker, sein Cousin und sein Onkel sich an die Verfolgung der verdächtigen Person gemacht hatten, war er zum Haus gelaufen und hatte die Tür sofort eintreten wollen. Marguerite war in letzter Sekunde dazwischengegangen und hatte darauf bestanden, dass er erst einmal anklopft. Widerwillig hatte er sich daran gehalten, dann aber nicht mal einen Atemzug lang warten können, ehe er ein weiteres Mal anklopfte. Damit war seine Geduld dann aber auch erschöpft, und als Nächstes hatte er mit der bloßen Faust ein Loch in die Tür geschlagen, mit beiden Händen die Tür gefasst und sie dann mit einem Ruck in tausend Stücke zertrümmert.
Dass Pet nichts passiert war, hatte ihn vor grenzenloser Erleichterung fast nach Luft schnappen lassen. Aber vielleicht hatte auch ihr Erscheinungsbild dafür gesorgt, dass ihm der Atem stockte. Diese Frau sah in den Boxershorts und dem knappen T-Shirt einfach nur sexy aus. Hinzu kam, dass das Oberteil so verdammt dünn war und so hauteng saß, dass er die Form und den Farbton ihrer Nippel hatte sehen können. Der Spruch darauf hatte sein Übriges getan. Du. Ich. Ins Bett. Sofort. Lieber Himmel! Er hatte von da an kaum noch an etwas anderes denken können. Während alle anderen etwas gesagt hatten, hatte er wie ein sabbernder Idiot danebengestanden.
Santo wurde aus seinen Gedanken gerissen, als hinter Cross ein zweiter Polizist auftauchte und ihm auf die Schulter tippte. Die beiden unterhielten sich so leise, dass Santo kein Wort verstehen konnte. Also drang er kurz entschlossen in den Geist von Officer Cross ein, um zu erfahren, was die beiden redeten. Wie es schien, hatten Zani und Bricker sich vor dem Haus mit den beiden noch kurz unterhalten, woraufhin der andere Polizist um das Gebäude herumgegangen war, um die Hintertür und alle Fenster zu überprüfen. An einem Fenster war er auf Einbruchsspuren aufmerksam geworden, doch von dem mutmaßlichen Täter war weit und breit keine Spur.
»Okay«, sagte Cross auf einmal, drehte sich wieder zu Pet um und lächelte sie an. »Petronella, sagten Sie? Könnten Sie mir das buchstabieren?«
Santo sah, dass der Polizist zwar weiter seine dienstliche Miene zur Schau stellte, doch sein Blick wollte immer wieder über Pets Körper wandern, während er darauf wartete, dass sie zu reden begann. Doch es war Parker, der für sie einsprang: »P…E…T…R…O…N…E…L…L…A.« Dann fügte er noch hinzu: »S…T…O…N…E.«
»Danke, Kleiner«, erwiderte der Polizist grinsend. »Stone hätte ich auch noch ohne Buchstabieren hingekriegt, aber sicher ist sicher. Und Petronella ist ja nun mal ein ungewöhnlicher Name.« Wieder sah er Pet an und grinste noch breiter.
»Er ist ungewöhnlich, aber nicht ungebräuchlich«, führte Parker mit ernster Miene aus. »Zum Beispiel erhielten sechs im Jahr 1924 geborene Mädchen diesen Namen. Im ganzen Jahr kamen 1 161 210 Babys zur Welt, was bedeutet, dass auf 193 535 Babys eine Petronella entfällt. In Europa ist der Name dagegen viel beliebter. Es gab Entdeckerinnen, Olympiateilnehmerinnen, Schwimmerinnen, eine Malerin, eine Dichterin, eine britische Journalistin und viele Frauen mehr, die diesen Namen trugen. Es gibt sogar bei Doctor Who eine Figur, die Petronella Osgood hieß.«
»Mein Neffe, das wandelnde Lexikon«, bemerkte Pet amüsiert, die Parker so am Arm fasste, dass sie ihn vor sich ziehen und die Hände auf seine Schultern legen konnte. Auf diese Weise war es ihr möglich, ihre teilweise Blöße vor dem Polizisten zu verbergen. Für Santo änderte sich dagegen nichts, denn er konnte immer noch ungehindert ihre Rückseite bewundern, wobei sein Blick vor allem über ihre wohlgeformten Beine wanderte.
»Kein Mensch benutzt heute noch ein Lexikon, Tante Pet«, sagte Parker und verdrehte sich den Hals, um sie ansehen zu können. »Heute benutzt man Google … so wie ich ja auch deinen Namen über Google gesucht habe, weil ich niemanden sonst kenne, der auch so heißt wie du.«
»Ja, das war doch klar«, entgegnete sie lächelnd.
»Also«, warf der Polizist ein, um zum eigentlichen Grund seines Auftauchens zurückzukehren. »Sie haben den Notruf gewählt, weil jemand versucht hat, in dieses Haus einzubrechen?«
Santo entging nicht, dass der Polizist ihn ansah, als er die Treppe verließ und sich hinter Pet stellte. Er merkte, dass die anderen seinem Beispiel folgten, und sah, wie der Polizist davon Notiz nahm.
»Ja«, bestätigte Pet. »Parker und ich, wir beide hatten uns schon schlafen gelegt. Ich stand noch mal auf, um ins Badezimmer zu gehen, da hörte ich die Katze fauchen und knurren. Das kam aus Parkers Zimmer, und als ich die Tür öffnete, sah ich einen Mann draußen am Fenster, der versuchte es zu öffnen.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«, hakte Cross sofort nach.
»Nein«, antwortete sie betreten. »Er war nur eine dunkle Gestalt, die von hinten vom Mond beschienen wurde.«
Santo sah den beiden Polizisten die gleiche Enttäuschung an, die er selbst verspürte, als er ihre Worte hörte. Cross notierte etwas und fragte dann: »Was geschah als Nächstes?«
»Ich habe Parker aus dem Bett geholt und bin mit ihm ins Badezimmer gelaufen, damit wir uns dort einschließen konnten. Dann habe ich den Notruf gewählt.«
»Sie wollte mich allein im Badezimmer zurücklassen und nachsehen, ob der Typ ins Haus gekommen war, aber das wollte ich nicht«, ergänzte Parker, der noch immer außer sich zu sein schien, dass sie ihn hatte alleinlassen wollen.
»Gut gemacht, Junge«, lobte Officer Cross ihn. »Es war für Sie beide sicherer, im Badezimmer auf uns zu warten.«
»Ja, aber wir sind rausgekommen, als Marguerite und Santo die Haustür aufgebrochen haben, um nach uns zu suchen«, betonte Parker.
Beide Polizisten sahen gleichzeitig Santo und seine Begleiter an. Auch Pet drehte sich um und stutzte, als sie feststellen musste, dass sie sich alle hinter ihr und Parker aufgebaut hatten.
»Wir wohnen zurzeit im Haus nebenan, und als Santo und Zani im Garten hinter dem Haus standen und sich unterhielten, bemerkten sie, dass sich hier jemand auf dem Balkon im ersten Stock aufhielt, und dann hörten sie den Schrei. Wir sind sofort alle hergekommen um zu helfen. Bricker, mein Mann Julius und mein Neffe Zani haben versucht, den Unbekannten zu verfolgen, während Santo und ich nach Pet und Parker sehen wollten. Als niemand auf unser Klopfen reagierte, hat Santo die Tür eingetreten.« Sie betrachtete kurz das Trümmerfeld aus Holzstücken auf dem Boden und erklärte dann: »Wir werden natürlich morgen früh sofort jemanden kommen lassen, der die Tür repariert. Pet und Parker können die Nacht bei uns verbringen.«
»Oh nein, das ist nicht nö…«, begann Pet, doch sie wurde prompt von Officer Cross unterbrochen.
»Das ist eine gute Idee. Ohne Haustür können Sie nicht im Haus bleiben. Es kann sein, dass es sich nur um einen Spanner gehandelt hat und dass er durch das Einschreiten Ihrer Nachbarn vertrieben wurde. Aber falls er zurückkommt …«
»Er hat recht, Liebes«, sagte Marguerite in ernstem Tonfall. »Ohne eine Tür kannst du nicht im Haus bleiben. Außerdem haben wir noch ein freies Zimmer. Zani und Bricker können hierbleiben und das Haus bewachen, bis morgen ein Handwerker kommt, um alles zu reparieren«, versicherte sie ihr.
Pet setzte zum Reden an, und Santo war sich ziemlich sicher, dass ihr ein Protest über die Lippen kommen würde. Doch dann sah sie Parker an und hielt inne. Der Junge schaute so ängstlich drein, dass sie nicht anders konnte, als ihn zu fragen: »Was ist dir lieber, Parker?«
Der Junge warf einen Blick auf das Loch, das dort im Mauerwerk klaffte, wo sich vor Kurzem noch die Haustür befunden hatte. »Ich finde nicht, dass wir hierbleiben sollten, Tante Pet.«
»Okay«, murmelte sie.