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Sie sind über hundert Jahre alt, doch die wahre Liebe finden sie erst jetzt.
Haruka Hirano ist entstammt einer uralten Linie reinblütiger Vampire und gehört damit zur absoluten Elite der Vampir-High-Society. Doch trotz seines Standes und des Respekts, der ihm entgegengebracht wird, hat er die letzten Jahrzehnte mehr überlebt, statt seine Existenz zu genießen. Lediglich Harukas Aufgabe als Vampir Chronist, für die er die magischen Verbindungen zwischen Paaren dokumentiert, lockt ihn hin und wieder in die Gesellschaft anderer Vampire. Als er nun eine Einladung erhält, dem Ritual einer bevorstehenden Verbindung beizuwohnen, scheut Haruka davor zurück allein im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen. Daher sucht er sich Verstärkung bei dem einzig anderen Vampir seines Ranges, den er auf die Schnelle finden kann. Doch Nino Bianchi ist ganz anders als Haruka erwartet hätte: lebensfroh, offenherzig, wissensdurstig - und noch weniger daran interessiert, sich in der High-Society der Vampire zu bewegen als Haruka. Doch von Beginn an spüren Nino und Haruka eine bisher unbekannte Anziehung und ein Vertrauen, das keiner von beiden bisher so empfunden hat ...
"Vampire Chronicles - Die Verbindung ist ein absolutes Lesevergnügen und perfekt, um es sich damit an einem regnerischen Tag gemütlich zu machen." The Daily Nerd
Band 1 der Vampire-Chronicles-Dilogie
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Seitenzahl: 380
Titel
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Die Autorin
Die Romane von Karla Nikole bei LYX
Bonus Kapitel
Impressum
KARLA NIKOLE
Vampire Chronicles
DIE VERBINDUNG
Roman
Ins Deutsche übertragen von Bianca Dyck
Haruka Hirano entstammt einer uralten Linie reinblütiger Vampire und gehört damit zur absoluten Elite der Vampir-High-Society. Doch trotz seines Standes und des Respekts, der ihm entgegengebracht wird, hat er die letzten Jahrzehnte mehr überlebt, statt seine Existenz zu genießen. Lediglich Harukas Aufgabe als Vampir-Chronist, für die er die magischen Verbindungen zwischen Paaren dokumentiert, lockt ihn hin und wieder in die Gesellschaft anderer Vampire. Als er nun eine Einladung erhält, dem Ritual einer bevorstehenden Verbindung beizuwohnen, scheut Haruka davor zurück, allein im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen. Daher sucht er sich Verstärkung bei dem einzig anderen Vampir seines Ranges, den er auf die Schnelle finden kann. Doch Nino Bianchi ist ganz anders als Haruka erwartet hätte: lebensfroh, offenherzig, wissensdurstig – und noch weniger daran interessiert, sich in der High-Society der Vampire zu bewegen als Haruka. Doch von Beginn an spüren Nino und Haruka eine bisher unbekannte Anziehung und ein Vertrauen, das keiner von beiden bisher so empfunden hat …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
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Euer LYX-Verlag
Anfang November
England im Winter – dunkel, bitterkalt und verregnet. Die eisige Luft lässt Haruka zittern. Alles an dieser Situation ist miserabel.
Winzige Tropfen und lange Wasserströme sprenkeln die Glasscheibe des Autofensters. Der dunkle Vampir sitzt auf der Rückbank des geparkten Autos und wickelt seinen langen wollenen Trenchcoat fester um sich. Er schließt die Augen. Ruhe bewahren, denkt er. Seit zehn Jahren hat Haruka das Haus nicht mehr verlassen, um Mitglieder der Vampir-Aristokratie zu treffen. Einfach ausgedrückt, ist er deswegen ein wenig gestresst.
Vom Fahrersitz aus durchbricht die Stimme seines Bediensteten die Stille. »Nur damit eins klar ist, mir gefällt das nicht.«
Haruka gefällt es auch nicht, aber welche Optionen bleiben ihm denn? Soll er die formelle Aufforderung einfach ignorieren? Seine Nahrungsquelle verlieren und zum Gespött der britischen Vampirgemeinschaft werden? Oder …
Haruka öffnet ein Auge. »Wir könnten nach Hause gehen … Alles einpacken und …«
»Nein. Wir können nicht schon wieder weglaufen.«
»Was soll ich dann deiner Meinung nach tun, Asao?«
»Ihr solltet eine neue reinblütige Quelle finden.« Asao dreht sich auf dem Fahrersitz um und sieht Haruka an, sein graumeliertes Haar wird kurz von dem Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos erhellt. »Ihr ernährt Euch seit Langem von Blut der Ersten Generation und es versorgt euch einfach nicht mit genug Nährstoffen. Ihr seid nicht stark genug für das hier – einem Haus voller Vampire ausgeliefert zu sein, denen wir nie zuvor begegnet sind. Aus demselben Grund bereitet mir diese verdammte Verbindungszeremonie nächsten Monat große Sorge.«
Haruka seufzt und schließt die Augen wieder. »Solange mich niemand herausfordert, sollte es keine Probleme geben.« Eine Reinblüter-Quelle zu finden, ist nicht einfach. Nicht als würde man kurz nach einem Stift suchen, weil man etwas aufschreiben muss. Es ist wie die Suche nach einem seltenen Edelstein in einer riesigen Höhle. Nach Tansanit oder Schwarzem Opal.
Haruka hat in der Vergangenheit bereits versucht eine solche Quelle sicherzustellen, aber bis jetzt ist dies nie von Erfolg gekrönt gewesen. Zu viele Forderungen, zu viel, was im Austausch erwartet wurde. Das hier ist jetzt sein Leben. Sein Bediensteter muss das akzeptieren.
»Und wenn Euch heute Abend jemand herausfordert, was dann?«, fragt Asao. »Ihr könnt nicht gleichzeitig die Anziehungskraft Eurer Aura unterdrücken und gegen jemanden kämpfen. Sobald Eure Aura enthüllt ist, wird sie jeden Vampir in diesem Haus anlocken … wie ein Bierfass einen Haufen dämlicher Schluckspechte. Ihr benötigt sowohl Eure defensiven als auch Eure offensiven Kräfte, Haruka. Und von einem Reinblüter zu trinken, würde Euch die nötige Stär…«
»Das weiß ich, aber was wird dieser Reinblüter als Gegenleistung von mir erwarten?« Haruka blickt finster drein und seine Stimme wird lauter. »Ich habe es bereits versucht, aber der Preis war stets zu hoch. Ich werde keine neue Verbindung eingehen. Diese Diskussion ist sinnlos … Und was zur Hölle ist ein Schluckspecht?«
Asao dreht sich in der stillen Dunkelheit wieder nach vorne und schüttelt den Kopf. Der Regen tropft laut auf das Fahrzeug. »Dieser andere Reinblüter, den wir morgen in London treffen werden … Lasst mich ihn fragen, ob er gewillt wäre, Euch Beutel mit seinem Blut zu schick…«
»Nein«, sagt Haruka schwer atmend. Es ist würdelos, so eine unverfrorene Anfrage zu stellen und es würde seinen verletzlichen Status offenlegen – wodurch er wiederum ein einfaches Ziel wäre. »Du sorgst dich um mich, aber ich werde zurechtkommen. Das bin ich nun schon seit mehr als zehn Jahren. Sollen wir reingehen und das Ganze hinter uns bringen?«
Einen Moment lang schweigt Asao und zögert mit der Hand am Türgriff. »Ihr führt ein Leben, das beträchtlich unter Euren Möglichkeiten liegt.« Er steigt aus und schließt die Tür.
Haruka rollt mit den Augen. Inwiefern ist diese Aussage jetzt in irgendeiner Weise hilfreich? Außerdem – sein Leben, seine Entscheidungen. Ein Stück weit jedenfalls … Wenn er nicht gerade wegen seiner Blutlinie oder seiner Stellung zu etwas gezwungen ist.
Die Hintertür wird geöffnet. Feuchte Winterluft streicht über Harukas Gesicht. Asao hält einen großen schwarzen Regenschirm über ihn, während Haruka die eleganten Backsteinbauten auf sich wirken lässt. Die Straßenlaternen entlang des dunklen Weges werfen silberfarbenes Licht auf den Boden, wie Scheinwerfer auf einer Theaterbühne. Es ist still – das einzige Geräusch der trippelnde Regen auf dem Asphalt.
Sie steigen die Treppen zur Residenz des Dukes von Oxford hoch. Da es von ihrem Haus in Devonshire eine weite Reise war, werden sie hier übernachten. Morgen geht es dann weiter nach London, um den Reinblüter aufzusuchen. Neben Haruka der einzige reinblütige Vampir in ganz England.
Bürgerkriege und das Große Verschwinden hatten jeden Reinblüter britischer Abstammung ausgelöscht.
Die hohe blaue Tür schwingt auf. Gelbes Licht strahlt ihnen entgegen und Haruka zuckt angesichts des plötzlichen Kontrasts der grellen Beleuchtung und der Dunkelheit zusammen.
Ein Bediensteter eilt nach draußen, um Asao den Regenschirm abzunehmen, während ein zweiter an der Tür wartet. Er hebt den Arm in einer ausladenden Bewegung. »Gnädiger Herr des Hauses Hirano, willkommen in Oxford. Der Duke und seine Familie befinden sich im Bankettsaal. Ihre Ankunft wird sehnsüchtig erwartet. Hier entlang bitte, Mylord.«
Haruka atmet diskret den Geruch der formell gekleideten Bediensteten ein, während er an ihnen vorbeigeht. Ihr Duft ist schlicht – wie getrocknete Erde. Sie sind vampirischer Natur, aber nur auf sehr niedriger Stufe. Das menschliche Blut ihrer Vorfahren verdrängt das vampirische.
Er betritt den kühlen Korridor der Residenz, der mit einem polierten Marmorboden ausgestattet ist. Die Wände werden von gemusterten grünen Tapeten im viktorianischen Stil geschmückt und der große Kronleuchter an der Decke wirft glitzernde Tupfen weißen Lichts auf jede Oberfläche. Die Atmosphäre ist ruhig. Stimmengewirr hallt entlang des Korridors, während Haruka den entfernten Geruch nach salzigem Fleisch und gebackenem Brot wahrnimmt.
Ein Bediensteter gleitet hinter ihn, um ihm den Mantel abzunehmen. Haruka legt das lange Kleidungsstück gehorsam ab. Der zweite Bedienstete steht benommen da und starrt Haruka an – seine Augen haben das Blau des Sommerhimmels. Haruka runzelt die Stirn. Diesen besonderen Blick kennt er nur zu genau. Es handelt sich um den Blick voller Hunger nach etwas, das man als Urinstinkt bezeichnen könnte … aber nicht im Hinblick auf den Magen. Tiefer.
Der Bedienstete, der Harukas Mantel hält, geht zu seinem Kollegen und schlägt ihm diskret gegen den Arm. Der blauäugige Mann blinzelt und lächelt schwach, der Bann ist gebrochen. »Entschuldigt, Euer Gnaden. Bitte folgt mir.« Der Bedienstete dreht sich um und geht hastig den Korridor entlang, als versuche er vor seiner Verlegenheit davonzulaufen.
Nun, wenn das mal nicht ein wenig verheißungsvoller Start ist. Er ist noch keine fünf Minuten in diesem Haus und schon ist einer der Bediensteten von seiner unterdrückten Aura eingenommen.
Haruka atmet aus und massiert sich den Nacken, während sie den schmalen Korridor hinuntergehen. Das wird eine lange Nacht.
Insgeheim hat Haruka auf einen ruhigen Abend allein mit dem Duke von Oxford gehofft. Was ihn stattessen erwartet, ist ein extravagantes Festessen mit fünfzehn anderen Dukes und Duchesses, die an einem Tisch in einem kunstvoll ausgestatten Festsaal sitzen.
Als er den Raum betritt, stehen alle von ihren Stühlen auf. Vollkommen reglos sind ihre leuchtenden Augen alle auf ihn gerichtet. Sie erinnern Haruka an Statuen. Er geht auf den leeren Platz am Ende des Tisches zu, genau neben dem Duke von Oxford. Während er an den Vampiren vorbeischreitet, neigt jeder Einzelne den Kopf, wie fallende Dominosteine. Selbst aus der Sicht eines Vampirs erscheint dieses Verhalten unheimlich. Das blutrote, dramatische Barockdekor des Raumes macht das Ganze bei Weitem nicht besser. Interessant, bemerkt er. Sie haben das 18. Jahrhundert so sehr genossen, dass sie sich weigern es zu verlassen …
Nach der demütigen Verbeugung des Dukes nickt Haruka höflich und setzt sich. Alle folgen seinem Beispiel und der Duke fängt mit der ausschweifenden Vorstellung jedes einzelnen Gastes an. Als ein Glas Rotwein vor Haruka platziert wird, atmetet er erleichtert auf. Gott sei Dank. Gnädigerweise wird ihm Verpflegung für den langen Abend bereitgestellt, der ihm noch bevorsteht. Er legt die Finger um das Glas und führt es an die Lippen.
Nachdem der Duke mit seiner Vorstellungsrunde fertig ist, legt er den runden Kopf schief und atmet unverhohlen Harukas Duft ein. »Mein gnädiger Lord, der Duft Eurer Aura ist wahrlich exquisit. Warum nur unterdrückt Ihr sie so?« Der Vampir der Ersten Generation erinnert Haruka an die Marmorbüste des griechischen Philosophen Antisthenes, die er im British Museum gesehen hat. Oder vielleicht doch an einen pummeligen, zu klein geratenen Zeus?
Er nimmt noch einen Schluck von seinem Wein, bevor er die aufdringliche, unangenehme Frage beantwortet. Er lächelt freundlich und stellt sein Glas ab. »Meine Aura kann äußerst ablenkend sein. Aus Rücksicht gegenüber meiner Umgebung ist es besser, wenn ich sie unterdrückt halte.« Aus Rücksicht anderen gegenüber. Zu seinem eigenen Schutz. Zwei Fliegen, eine Klappe.
»Ach nein.« Der Duke schüttelt den Kopf, wodurch die Ringellöckchen seines Bartes wie ein Vorhang hin und her schwingen. »Ich kann nur einen Hauch davon wahrnehmen, aber sie erscheint mir himmlisch. Ich beneide Euch als Reinblüter um Eure Fähigkeit, solch eine verlockende Kraft auszustrahlen – um Eure makellos vampirische Natur. Selbst jetzt, wenn Ihr sie unterdrückt, vernehme ich noch ihre einzigartige Zusammensetzung. Euer Blut muss äußerst alt sein. Habt Ihr Euch jemals von einem Menschen ernähren müssen?«
»Nein.« Haruka nimmt noch einen Schluck von seinem Wein. Bald bräuchte er ein weiteres Glas voll. Vielleicht gleich eine eigene Flasche?
Er hat noch nie von einem Menschen getrunken und laut der Aufzeichnungen seiner Familie hatten das auch sein Vater und sein Großvater genauso wenig getan wie irgendjemand sonst aus seiner weit zurückreichenden Verwandtschaft. Seine vampirische Blutlinie ist extrem alt – und rein. Sein Clan war einer der ersten, der die wesentlichen Vorteile entdeckt hat, die es mit sich bringt, wenn man sich nur von anderen Vampiren und nicht von Menschen ernährt.
»Meine Mutter war reinblütig«, erklärte der Duke mit starkem britischen Akzent. »Unglücklicherweise hat sie sich als Kind von Menschen ernährt. Das hat unsere Blutlinie geschwächt. Als ihr Nachkomme habe ich immer noch einige Schwierigkeiten.«
»Die Sonne, Mylord.« Amelia, die Tochter des Dukes, hebt ihr Kinn, um das Wort an Haruka zu richten. Sie wurde strategisch genau neben ihm platziert. »Vater hat unser Reich wegen seiner starken Abneigung gegen Sonnenlicht zur Nachtaktivität bestimmt.« Sie hat glattes blondes Haar und stechende schillernd-grüne Augen, die in einem ähnlich runden Gesicht wie dem ihres Vaters sitzen. Wenn Haruka seine Sinne auf sie konzentriert und einatmet, nimmt er ihren Pfefferminzgeruch wahr.
»Obwohl ich der Zweiten Generation angehöre, bin ich wie Ihr in der Lage, dem Sonnenlicht zu widerstehen, Euer Gnaden.« Amelia hebt beiläufig die Hand, um das lange Haar hinter die Ohren zu streichen. »Mein Vater und meine Mutter haben nie von Menschen getrunken. Das hat geholfen, unsere Blutlinie von der menschlichen Biologie reinzuwaschen. Ich könnte … unter Umständen neben Euch im Sonnenlicht spazieren.«
Haruka verengt den Blick. Und wohin genau würden wir spazieren?
»Euer Gnaden, werdet Ihr mit uns menschliche Nahrung zu Euch nehmen?«, fragt der Duke, als die Bediensteten anfangen Körbchen mit Landbrot und Brötchen auf dem Tisch zu verteilen. »Mir ist bewusst, dass Ihr sie streng genommen nicht benötigt, aber einige meiner Gäste stammen von niedrigeren Blutlinien ab.«
»Das werde ich gern«, versichert Haruka ihm. »Ich finde großen Gefallen an menschlicher Nahrung.«
Der Duke strahlt. »Hervorragend. Ihr seid den Reinblütern von einst gänzlich unähnlich. Euer Gnaden, darf ich demütigst bitten Euer Alter zu erfahren?«
»Ich bin einhunderteins.«
»Noch so jung …«, schwärmt die Frau des Dukes. Die Duchess von Oxfordshire sitzt auf der anderen Seite des Dukes. Sie ist das Ebenbild ihrer Tochter, nur dass sich zarte Fältchen auf ihren schmalen, engelsgleichen Gesichtszügen befinden. »Unsere Amelia ist dieses Jahr gerade achtzig geworden. Warum seid Ihr nicht verbunden, Euer Gnaden? In diesem Zeitalter trifft man nur selten einen Reinblüter, vor allem einen so wunderschönen, der nicht verbunden ist.«
Noch mehr blumige Komplimente, unangenehme Fragen und Gerede von Verbindungen. Als Wesen, die über Jahrhunderte hinweg existieren, stünde ihnen eine Auswahl an breitgefächerten und faszinierenden Gesprächsthemen zur Verfügung: Kunst und Philosophie, der unergründliche Lauf der Zeit und die stets darauffolgende Veränderung ihrer Kultur in der Moderne, die Feinheiten der Umgangssprache, der Brexit, das Wetter.
»Bis jetzt war es mir noch nicht vergönnt, einen kompatiblen Vampir zu finden«, sagt Haruka und greift damit auf die höfliche Antwort zurück, die er für soziale Anlässe parat hält. In Wahrheit hegt er nicht den Wunsch, sich zu verbinden. Aber diese Äußerung würde mehr Aufruhr verursachen, als ihm lieb ist.
»Bitte, verbringt bei der Zeremonie nächsten Monat ein wenig Zeit mit unserer Amelia«, sagt der Duke, während er nach dem Gebäck greift. »Wir haben außerdem noch einen älteren Sohn, der momentan geschäftlich unterwegs ist. Ich bin sicher, eines unserer Kinder wird Euch genug zusagen, damit Ihr eine Verbindung in Betracht zieht?«
Alle sehen Haruka erwartungsvoll an, als sei er ein Magier, der sich auf einen Zaubertrick vorbereitet. Er räuspert sich. »Bitte entschuldigt. Die Angelegenheit mit der Zeremonie nächsten Monat und meine Unterhaltung mit dem Reinblüter in London haben Vorrang. Meine Gedanken drehen sich momentan um die Aufgaben, die unmittelbar vor mir liegen.«
»Aber natürlich, Euer Gnaden«, gurrt die Duchess. »Könnt Ihr Euch erklären, warum dieser Reinblüter das förmliche Ersuchen des Dukes von Devonshire so kaltherzig ignoriert? Hält er sich für etwas Besseres?«
Haruka hat diesbezüglich nicht die leiseste Ahnung. Er persönlich hat allerdings absolut kein Verlangen danach, an dieser archaischen Zeremonie teilzunehmen. Aber die formelle Aufforderung eines niedriger gestellten Vampirs zu ignorieren, ist gesellschaftlicher Selbstmord – vor allem wenn man landfremd ist. Er ist ein Gast der britischen Aristokratie. Reinblütige Vampire sind die Würdenträger und Friedenswächter ihrer Spezies. Keine Anstifter gesellschaftlicher Unruhe.
»Da bin ich nicht sicher«, wendet Haruka ein. »Morgen werde ich direkt an ihn appellieren.« Im Stillen betet Haruka darum, dass der Reinblüter der Bitte nachkommt. Geteiltes Leid ist halbes Leid.
Der Duke lehnt sich zurück und wickelt sich gedankenverloren eine dicke Locke des Bartes um den Finger. »Der Duke von Devonshire hat uns darüber in Kenntnis gesetzt, dass Ihr in Eurem Reich in Japan die Position des Historikers innehattet. Ich bin sicher, für den zeremoniellen Vertrag sind äußerst gründliche Nachforschungen vonnöten.«
Haruka erstarrt – Grauen überkommt ihn wie eine dunkle Meereswoge, die an das Ufer gespült wird. Er hat es vermieden, an dem Vertrag für die Zeremonie zu arbeiten: eine Rechtsurkunde, die die familiäre Abstammung beider Vampire, die die Verbindung einzugehen wünschen, und die Vereinigung Ihrer Vermögenswerte darstellt. Um ehrlich zu sein, hat er diese Plackerei gemieden, in der Hoffnung, dass ohnehin alles abgesagt wird. Sobald er nach Hause zurückkehrt, wird er sich an das Aufsetzen des Vertrages setzen müssen. Sein entsetzlicher Hang zur Prokrastination hat wieder einmal die Oberhand gewonnen.
Der Duke von Oxfordshire lehnt sich geschmeidig vor und senkt die Stimme. »Und wie interessant, dass der Sohn des Dukes ein Geschöpf aus Brasilien für seine Verbindung gewählt hat. Ich meine, liebe Güte, von allen Orten auf der Welt. Wo dort zurzeit doch so viel Unruhe herrscht.«
Haruka nickt höflich, bleibt aber still. Er möchte die Vorurteile des Dukes nicht unterstützen. Auch wenn die Umstände der brasilianischen Aristokratie momentan tatsächlich chaotisch sind, erscheint es nicht fair, alle von dort stammenden Vampire in einen Topf zu werfen.
Als er den sanften Druck von Fingerspitzen spürt, die unter dem Tisch über seinen Oberschenkel streichen, wendet Haruka den Blick zur Seite. Amelia beobachtet ihn mit ihren schillernden Augen und einem verführerischen Lächeln. Dabei dehnen sich ihre Eckzähne zu scharfen weißen Spitzen aus.
Als Haruka nach einer heißen Dusche endlich auf das Bett fällt, ist er völlig ausgelaugt. Während des Abendessens hat Amelia ihre ganze Aufmerksamkeit ihm gewidmet und sich ausschließlich mit ihm unterhalten.
Was wünscht Ihr Euch von einer Gefährtin? Ihr seid so umwerfend. Wann denkt Ihr, werdet Ihr bereit für eine Verbindung sein? Eure Augen sind wunderschön, aber haben sie immer diese Farbe? Wie ist die Aristokratie in Japan? Habt Ihr eine körperliche Quelle? Findet Ihr mich begehrenswert? Ich finde Euch unsagbar begehrenswert.
Irgendwie hat er es geschafft, höflich dem Ansturm an Fragen auszuweichen. Vor dem heutigen Abend hat Haruka befürchtet, als sozial inkompetent rüberzukommen, nachdem er sich die letzten Jahre in der ländlichen Gegend Englands isoliert hat. Aber es scheint keine Rolle zu spielen, ob er ungeschickt ist oder nicht. Er ist begehrenswert und das reicht anscheinend schon aus. Das körperliche Erscheinungsbild wiegt mehr als tief sitzende charakterliche Unzulänglichkeiten. Ein hübsches Gesicht ist genug.
Die Ausstattung und das Ambiente des Gästezimmers stehen im Einklang mit dem Rest des Hauses: stimmungsvolle Beleuchtung gepaart mit dunkler Einrichtung im Barockstil. Leuchter mit Spitzkerzen, an denen das Wachs heruntertropft. Selbst das Himmelbett ist übertrieben riesig und nimmt den Großteil des Raums ein.
Haruka dreht sich auf die Seite und kuschelt sich in die weiche Daunendecke. Endlich allein fühlt er sich seit Stunden das erste Mal halbwegs wohl. Ein sanftes Klopfen an der Tür sorgt dafür, dass er die Augen wieder aufschlägt. Er rollt sich auf den Rücken und konzentriert sich. Seine vampirischen Sinne fokussieren die Präsenz hinter der Tür und er atmet die sie umgebenden Gerüche ein. Es handelt sich definitiv um den starrenden, blauäugigen Bediensteten von vorhin. Haruka blickt ausdruckslos an die Decke, bevor er einen schweren Seufzer ausstößt. »Es geht also los.«
Er schleppt sich aus dem Bett und geht langsam auf die Tür zu, um sie einen Spalt weit zu öffnen. Der Bedienstete blinzelt mit großen puppenähnlichen Augen und wirft Haruka durch den Spalt einen Blick zu. Im Grunde ist er ein Mensch, der sich am Rand der modernen Vampirkultur festklammert. Ein Vampir-Mensch sehr niedriger Stufe.
Sein Haar ist sandbraun und kurz geschnitten, um die Herzform seines Gesichts zu unterstreichen. Zarte Sommersprossen bedecken Nase und Wangen, als hätte sie ihm jemand unbekümmert mit einem Pinsel auf das Gesicht gesprenkelt. Obwohl er relativ jung wirkt, ist er zweifellos attraktiv. Und Haruka weiß, was er will. Der sinnliche, bewundernde Blick in seinen himmelblauen Augen ist unmissverständlich.
»Euer Gnaden, ist Euer Gemach zu Eurer vollsten Zufriedenheit?«
Mein Gemach. Je länger Haruka sich in diesem Haus befindet, desto mehr fühlt er sich in der Zeit zurückversetzt – oder als sei er Teil eines literarischen Klischees seiner Kultur, so wie Menschen sie sich vorstellen. Fast hat er schon mit einem extravaganten Sarg anstelle eines Bettes in seinem Gästezimmer gerechnet.
»Alles ist zu meiner Zufriedenheit«, versichert Haruka. »Danke der Nachfrage.«
»Natürlich.« Ein warmes Lächeln breitet sich langsam auf den Lippen des Bediensteten aus. »Wünscht Ihr, dass ich hereinkomme, um die Räumlichkeiten zu begutachten? Es ist mein sehnlichster Wunsch, dass Ihr während Eures Aufenthaltes vollkommen zufriedengestellt seid. Ich wäre bereit, alles Notwendige zu tun, um sicherzustellen, dass Ihr vollauf befriedigt seid, mein wunderschöner und gnädiger Lord.«
Gott steh mir bei. Haruka erwidert das Lächeln höflich. »Ich weiß das gütige Angebot zu schätzen. Aber heute Nacht möchte ich mich ausruhen.«
»Seid Ihr sicher? Ich bin überaus begabt …«
»Ich bin sicher.«
»Ich verstehe. Das ist ein großer Verlust meinerseits.« Er neigt den Kopf und wirft Haruka noch einen Blick durch seine langen braunen Wimpern zu, bevor er kehrtmacht und davongeht. Nachdem Haruka die Tür geschlossen hat, dreht er zur Sicherheit noch den Schlüssel.
Sobald er allerdings wieder im Bett ist und die Augen schließt, klopft es erneut an der Tür.
Diesmal bleibt Haruka aber bewegungslos liegen und dehnt wieder die Sinne aus, um den Geruch wahrzunehmen. Es handelt sich um die Vampirin der Zweiten Generation mit dem entzückenden gebräunten Teint. Sie ist eine der zwölf Anwesenden gewesen, die während des Essens eher still geblieben sind. Sie haben den ganzen Abend über buchstäblich nichts gesagt und lediglich wie die steifen Schauspieler einer Laientheatergruppe aufs Stichwort gelacht oder gelächelt.
Da die Tür abgeschlossen ist, beschließt Haruka, sich schlafend zu stellen. Nach wenigen Minuten gibt sie auf und ihre unaufdringliche Präsenz entfernt sich.
Beim dritten Klopfen schläft Haruka bereits. Träge öffnet er die Augen. Die Erschöpfung sitzt ihm tief in den Knochen und er gähnt, aber noch bevor er ausmachen kann, wer sich vor seiner Zimmertür befindet, hört er ein lautes Klicken die Stille durchbrechen. Er sieht verwirrt zu, wie die Tür knarrend geöffnet wird.
Das gelbe Licht aus dem Korridor geht Amelia voraus, als sie den Raum betritt und die Tür zügig hinter sich zuzieht. Sie ist schon auf dem Weg zu Haruka, als er sich hastig im Bett aufsetzt. Er reibt sich mit den Händen das Gesicht, in dem Versuch die Orientierungslosigkeit abzuschütteln. »Was macht Ihr …«
Amelia stürzt sich auf ihn. Sie ist schnell, aber Haruka ist schneller – er blinzelt einmal, wodurch seine Augen hell aufleuchten, und ruft die ihm innewohnende Macht hervor. Sie fühlt sich wie ein fester Knoten in seinem Inneren an, der sich löst, und strömt wie ein reißender Fluss unaufhaltsam aus ihm heraus. Dabei wächst sie an und dehnt sich aus. Haruka schickt die Kraft gezielt in Amelias Richtung. Sie keucht auf, plötzlich wie erstarrt, und sieht ihn mit geweiteten Augen an, während sie unter seinem Bann steht.
Harukas Brust hebt und senkt sich unter der Anstrengung, sie an Ort und Stelle zu fixieren. Er unterwirft sie vollkommen, sodass nicht einmal ihr Bewusstsein frei ist, mit ihm zu kommunizieren. Seit mindestens einem Jahrzehnt hat Haruka nicht mehr von dieser Macht Gebrauch gemacht und jetzt wendet er sie so nachlässig an – willkürlich, ohne wahren Fokus und seine übliche Finesse. Der Duft seiner einzigartigen Aura durchdringt den Raum wie ein nebliger Schleier, der wie Rauch aus einem Feuer aufsteigt – aber blutrot und übernatürlich. Sollte er sie nicht bald wieder absorbieren, wird sie die Bewohner des Hauses wachrütteln und sie wie ein Leuchtfeuer anziehen.
»Asao?«, fragt Haruka in die Stille, den Blick auf Amelias erstarrte Gestalt vor ihm gerichtet. Zu seiner großen Erleichterung öffnet Asao kurz darauf die Tür. Er schließt sie wieder und stellt sich dann hinter Amelia.
Sobald er ihre Arme hinter ihrem Rücken fixiert hält, hebt der Bedienstete das Kinn. »Ich bin so weit. Ihr könnt sie freigeben.«
Haruka atmet ein und nimmt das Gewicht seiner Kräfte methodisch wieder in den Körper auf. In Gedanken formt er sie wieder zu dem Knoten, der tief in seinem Inneren ruht.
Amelia zieht scharf die Luft ein, als hätte sie sich bis eben unter Wasser befunden, und reißt die Augen weit auf. Sie bäumt sich auf und wirft ihren üppigen Körper hin und her, um sich aus Asaos Griff zu befreien, aber er bleibt standhaft und hält sie weiterhin mit Leichtigkeit fest.
»Ihr … Ihr habt richtige Kräfte«, sagt Amelia im Flüsterton, ihre Stimme noch beeinträchtigt von der Unterwerfung. »Ich wusste es. Ich konnte es riechen … und Euer Blut. Unglaublich!«
»Amelia.« Haruka macht sich seine tiefe Stimme zunutze, um sie zu beruhigen. Sie ist von niedrigerem Rang als er und daher anfälliger für seine Worte, so kurz nachdem sie seiner Aura ausgesetzt gewesen ist. »Ihr könnt doch nicht einfach in jemandes Zimmer eindringen. Ich bin Gast in Eurem Haus und das ist extrem unhöflich. Es sollte gar nicht nötig sein, dies zu erwähnen.«
»Ich … Ich bitte um Entschuldigung, Euer Gnaden.« Sie schwankt in Asaos Griff und fällt beinahe vornüber, aber er hält sie eisern fest. »Ich wollte von Euch trinken … Euch gefällig sein, um Eure … Aura … freizusetz…« Sie schläft ein.
Asao verlagert ihr Gewicht, um sie besser halten zu können. Er sieht auf ihre schlaffe Gestalt hinunter und schüttelt den Kopf.
»Erstens, ich habe es Euch ja gesagt.«
Haruka rollt die Augen.
»Zweitens«, fährt Asao fort, »das arme Kind platzt herein und wird dann nicht einmal mit Euch fertig. ›Eure Aura freisetzen.‹ Natürlich. Musstet Ihr sie unbedingt vollständig unterwerfen?«
Haruka atmet tief durch und kratzt sich am Hinterkopf. »Nein … Allerdings hat sie mich überrascht und ich bin aus der Übung. Du bist schnell hier gewesen, hast du gelauscht?«
»Sicher. Ich habe Euch gehört, als sie Euer Zimmer betreten hat. Mein Zimmer ist so verdammt weit weg, dass ich eine Weile gebraucht habe, um herzukommen. Dieser Ort ist unheimlich.«
Haruka gähnt. Was für ein Tag. »Ich bin sehr dankbar für deine einzigartige Fähigkeit.«
»Ihr seid weniger dankbar dafür, wenn Ihr mitten in der Nacht versucht Wein aus der Küche zu schmuggeln.« Asao schmunzelt.
Haruka lacht schnaubend. »Wie wahr.«
»Was zur Hölle soll ich jetzt mit ihr anstellen?«
Da ertönt ein Klopfen an der Schlafzimmertür. Nun schmunzelt auch Haruka. Wie aufs Stichwort. Er konzentriert sich und atmet ein. »Vielleicht kann der Bedienstete auf der anderen Seite der Tür behilflich sein?«
Er lässt sich schwer auf das Bett sinken und sieht zu, wie Asao sich mit der friedlich schlafenden Amelia abmüht.
Der sommersprossige Bedienstete steckt den Kopf durch die Tür und ist völlig verblüfft, als Asao mit ihm spricht. Dabei lässt er den Blick an ihm vorbeischweifen, um Haruka auf dem Bett unbeholfen zu begaffen. Kurz darauf wird ihm Amelia ungeschickt überreicht und Asao schließt die Tür.
»Ihr hattet heute Abend schon so einige Bewunderer.« Asao grinst und geht auf das Bett zu, während Haruka sich wieder hinlegt. Er deckt sich zu und macht es sich bequem, als sein Bediensteter sich neben ihn setzt. »Nur gut, dass sie Zweite Generation ist«, führt Asao fort. »Was, wenn sie von höherem Rang wäre?«
Haruka schließt die Augen und murmelt gegen die Laken. »Was, wenn du mir hilfst zu packen?«
»Haruka. Wie lange wollen wir das noch tun? Eure wahren Pflichten ignorieren und Eure Natur unterdrücken? Seit Jahren vermeidet Ihr es, darüber zu reden … Das hat alles mit Yuna angefangen. Eure Verbindung …«
»Asao, bitte.« Haruka sieht ihn flehend an. Er ist erschöpft davon, dass er seine Aura so plötzlich freisetzen musste. Genervt von der bevorstehenden Verbindungszeremonie und frustriert, weil er so unverantwortlich gewesen ist, das Aufsetzen eines immens wichtigen, kulturell bedeutsamen Dokuments aufzuschieben. Ein Gespräch über seine Herzensangelegenheiten und die Geister seiner bedauerlichen Vergangenheit zu führen, ist gerade das Letzte, was er möchte.
»Entschuldigt, Euer Gnaden«, sagt Asao steif. »Möchtet Ihr, dass ich bleibe, solange Ihr schlaft?«
Haruka drückt den Kopf in das Kissen, Körper und Geist sind schon dabei sich zu verabschieden. Er hat sich überanstrengt. »Das musst du nicht.«
»Muss ich Euch daran erinnern, dass die Vampire von Oxford nachtaktiv sind?«
Ohne sich zu bewegen, öffnet Haruka die Augen. Blinzelt kurz und überlegt.
»Damit meine ich«, fährt Asao fort, »es werden alle wach sein, während Ihr schlaft.«
Haruka dreht sich, um seinem Bediensteten in die Augen sehen zu können. Einen Moment herrscht vielsagende Stille, bevor Asao lächelt und mit dem Finger in die Ecke des Raumes zeigt. »Ich werde auf dem Sofa schlafen.«
»Wenn du das für das Beste hältst«, sagt Haruka und schließt lächelnd die Augen. »Ich werde nicht mit dir darüber streiten.«
Seine angeborenen Kräfte zu benutzen, belastet Haruka körperlich, daher schläft er weit in den nächsten Tag hinein. Bis er aufgewacht und angezogen ist, und sich in den Speisesaal begibt, um nach Essen Ausschau zu halten, ist es bereits später Nachmittag.
Wegen der Anordnung zur Nachtaktivität schlafen fast alle im Anwesen des Dukes zu dieser Zeit. Das Haus ist gespenstisch still. Voller schlafender, altmodischer Vampire, überlegt Haruka. Wie in einer Gruft. Nur wenige Bedienstete versorgen Haruka und Asao vor der Abreise noch mit einem späten Mittagessen.
Als sie fertig gegessen haben, steht Asao mit einem entschlossenen Zug um seinen Mund auf. »Lasst uns schleunigst von hier verschwinden, bevor diese Verrückten noch aufwachen.« Haruka kann dem nur zustimmen. Kurz darauf verlassen sie still das Haus des Dukes von Oxford.
Sie erreichen London bei Sonnenuntergang. Haruka starrt während der Fahrt mit leerem Blick aus dem Fenster und beobachtet den orange- und rosafarbenen Farbverlauf des frühen Abendhimmels.
»Könnt Ihr den Reinblüter stärker wahrnehmen, jetzt da wir ihm näher kommen?«, fragt Asao vom Fahrersitz aus. »Ich hoffe, die Adresse ist richtig.«
»Hm. Der Duke hat gesagt, dass sein Unternehmen in Camden Lock liegt. Diese Information passt zu dem, was ich wahrnehme.«
»Er besitzt eine Bar, richtig?«
»Ja.«
Asao seufzt. »In Ordnung. Wir werden gehen müssen, wenn wir in der Gegend sind. Ich glaube nicht, dass ich durch die Straßen des Camden Market fahren kann.«
Haruka reibt sich mit den Händen über das Gesicht. Durch einen öffentlichen Bereich mit unzähligen Menschen und Vampiren spazieren. Gott steh mir bei.
Als sie endlich am Camden Lock ankommen, ist es schon dunkel. Sie schlängeln sich durch die schmalen, mit Kopfstein gepflasterten Straßen und Seitengassen und landen endlich vor einer Bar mit einem Leuchtschild. Es strahlt weiß, wie ein zweiter Mond am tiefblauen Nachthimmel. Auf dem Schild steht in einer lockeren Kursivschrift Scotch & Amaretto.
Haruka streckt die Hand aus, um die Tür zu öffnen, wird aber von der Stimme seines Bediensteten zurückgehalten. »Und … wenn dieser Reinblüter nun ein perverser Verrückter ist, der Euch direkt überfällt?«
Kurz steht Haruka still und denkt ernsthaft über diese Möglichkeit nach. In seinem geschwächten Zustand würde er mit einem niederrangigen Vampir fertigwerden. Ein anderer Reinblüter oder sogar ein besonders starker Vampir der Ersten Generation allerdings würde eine echte Herausforderung darstellen. »Die meisten Reinblüter haben hervorragende Kontrolle über ihre Natur und meine Aura ist unterdrückt. Ich bezweifle, dass er in seinem eigenen Etablissement Chaos verursachen möchte.«
»Wie wahr.« Asao nickt. »Aus irgendeinem Grund muss ich gerade an diesen sehr aufdringlichen Reinblüter denken, dem wir in Montreal begegnet sind. Erinnert Ihr Euch? Welches Jahr war das, dreiundachtzig?«
Haruka erinnert sich. Aber er wünschte, er täte es nicht. Er hat schon mehr als genug aufdringliche, egoistische und selbstverliebte Vampire getroffen. »Warum musst du mich gerade jetzt daran erinnern?«
»Weil es besser ist, auf alles vorbereitet zu sein.«
Trotzdem. Nicht hilfreich. Haruka zieht etwas stärker als nötig an der schweren Holztür.
Als er eintritt, versteift er sich direkt. Der sinnliche Duft des Reinblüters nimmt ihn völlig ein. Das Aroma ist klar, erdig und hat einen Hauch von Würze – Mahagoni, aber vermischt mit Zimt. Das Licht ist gedimmt und in Kombination mit dem Geruch fühlt sich der beengte Raum wunderbar warm und einladend ein.
Er sieht sich um und nimmt die raffinierten Details der Bar wahr. Hohe Tische aus dunkler Eiche sind zusammen mit Barhockern durchdacht auf der Hauptfläche verteilt. Kugelförmige Kerzenhalter in Juwelenfarbtönen sind auf jedem Tisch platziert und sorgen für sanft flackerndes Licht im ganzen Raum. Die Steinwände sind mit brennenden Laternen und Wandleuchtern geschmückt und verleihen dem Ganzen einen romantischen, aber dennoch modernen Eindruck von einem Schlosskeller der Renaissance … Wenn so etwas überhaupt möglich ist.
Doch selbst mit diesen ganzen wundervollen Elementen, die den Betrachtenden dargeboten werden, liegt die Wand am anderen Ende des Raumes ganz eindeutig im Fokus.
Eine vollausgestatte Bar leuchtet sanft in der Dunkelheit. Die Wand ist mit Alkoholflaschen in verschiedenen Farben bestückt und genau wie die anderen mit hell leuchtenden Kerzenhaltern und anderen antik aussehenden Kuriositäten verziert. Sie lässt Haruka an die Regale eines Apothekers denken, die mit exotischen Tränken und mysteriösen Elixieren befüllt sind.
An der Bar sitzt eine angemessene Menge an Leuten, dafür dass kein Wochenende ist. Und natürlich haben sich alle umgedreht und starren Haruka jetzt an. Er seufzt. So viel zu einem unauffälligen Auftritt.
Er sucht die komplette Bar ab. Leer. Der Reinblüter ist nirgendwo in Sicht, aber Haruka kann seine Kraft spüren. Er ist definitiv hier.
»Er riecht angenehm«, sagt Asao fröhlich hinter Haruka. »Ich bleibe bei der Tür, ja?«
»In Ordnung.«
Haruka geht vorwärts, wobei er die unverhohlenen Blicke ignoriert und seinen groß gewachsenen Körper geschickt zwischen den Tischen hindurchmanövriert, um auf dem schmalen Gang zur Bar zu gelangen. Als er sich nähert, duckt sich ein Mann unter dem schweren Samtvorhang hervor, der einen Türrahmen auf der anderen Seite der Bar bedeckt. Ihre Blicke treffen sich. Haruka bleibt abrupt stehen. Auch der Reinblüter sieht ihn wie erstarrt an.
Der Knoten Harukas unterdrückter Aura pulsiert in seinem Inneren. Kaum merklich entflechtet sie sich ganz ohne sein Zutun und versucht dem festen Griff zu entkommen. Das hat sie noch nie zuvor getan. Wie seltsam. Überrascht tritt Haruka fast einen Schritt zurück, weg von dem Vampir, der ihn offenkundig anstarrt.
Mit rasendem Puls nimmt er einen tiefen Atemzug und geht stattdessen weiter vorwärts. Auch der Mann hinter der Bar setzt sich in Bewegung und tritt an die Theke zwischen ihnen heran. Noch bevor Haruka sich vorstellen kann, spricht der Reinblüter.
»Hi … Haruka, richtig? Haruka Hirano?«
Haruka bleibt blinzelnd stehen. »Wie … Woher kennst du meinen Namen?«
»Ich glaube, jeder Vampir im Land weiß, wer du bist. Du bist ziemlich berühmt. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass du so jung bist.« Der Reinblüter wendet den Blick aus bernsteinfarbenen Augen zur Seite und fährt sich mit den Fingern durch das dichte Haar – in der Farbe von Kupfer und modern geschnitten, das wellige Haupthaar etwas länger. Sein honigfarbener Teint leuchtet beinahe im sanften Licht der Bar.
Sein Blick flackert zurück zu Haruka, bevor er schmollend fragt: »Stecke ich in irgendwelchen Schwierigkeiten? Bist du deshalb hier?«
Harukas Gesichtsausdruck wird sanfter, seltsamerweise will er ihn beruhigen. »Nein, keine Schwierigkeiten. Darf ich mich setzen?«
»Natürlich, bitte. Möchtest du etwas trinken?«
»Merlot, bitte«, sagt Haruka und macht es sich auf dem Barhocker bequem, der ihm am nächsten steht.
»Kein Problem.« Der Reinblüter dreht sich um, bevor er sich schnell wieder Haruka zuwendet. Das erste Mal ziert ein zaghaftes Lächeln sein Gesicht. »Ich bin übrigens Nino. Nett, dich kennenzulernen.«
»Gleichfalls.«
Nino fährt sich erneut mit den Fingern durchs Haar und zögert kurz, bevor er sich wieder dem Einschenken des Weines widmet. Er zieht zuerst eine Flasche aus dem beleuchteten Regal, dann Gläser und einen Korkenzieher von unter der Bar. Seine Bewegungen sind jetzt fließend, wie die eines Fisches im Wasser.
»Nino, wie ist dein ganzer Name?«
Nino hält abrupt inne, seine lebhaften Augen geweitet. »Wie bitte?«
»Dein ganzer Name«, wiederholt Haruka. »Das ist nur höflich, wenn man jemand Neues kennenlernt.«
Nino dreht den Korken, bevor er ihn aus der Flasche zieht. »Es mir leid … Ich meine, es tut mir leid, dass ich nicht …« Er atmet tief durch. »Mein Name ist Nino Bianchi.«
»Und wie alt bist du?«, fragt Haruka.
»Einhundertzwölf.« Nino konzentriert sich beim Eingießen und füllt zwei Gläser großzügig mit der burgunderroten Flüssigkeit. Harukas Miene verrät nichts, aber er ist überrascht. Nino benimmt sich jugendlich, wie ein Vampir, der noch weit unter einem Jahrhundert gelebt hat. Aber er ist nicht nur über hundert, er ist sogar elf Jahre älter als Haruka.
Vorsichtig hebt Nino ein Glas an und stellt es vor Haruka ab. »Also … wie alt bist du? Wenn ich fragen darf?«
»Natürlich.« Haruka legt sanft die Finger an das Glas. »Ich bin einhunderteins.«
Ninos eindringlicher Blick erhellt sich, sein Lächeln ist aufgeschlossen und aufrichtig.
»Wir sind ähnlich alt. Ich habe noch nie einen anderen Reinblüter in meinem Alter getroffen. Wo ich herkomme, sind sie alle alt oder Angst einflößend.«
»Woher kommst du denn?« Haruka hebt sein Glas an und nimmt einen Schluck.
»Mailand, Italien. Der Clan meines Vaters hat die Stadt noch immer fest im Griff, aber alle aus dem Clan meiner Mutter wurden im Ersten Weltkrieg getötet – es hat mit der Belagerung von Qingdao angefangen.«
Haruka denkt darüber nach. Er durchsucht seine Erinnerungen wie die Seiten eines alten Nachschlagewerks in der umfangreichen Bibliothek in seinem Kopf. Der Konflikt hat primär zwischen Japan, Deutschland und Großbritannien stattgefunden. Dabei ging es um einen deutschen Hafen in China. Soweit Haruka weiß, hat das italienische Militär nichts damit zu tun gehabt. »Ich bedaure deinen Verlust … Inwiefern war der Clan deiner Mutter an der Belagerung beteiligt?«
»Sie waren hohe Tiere in der japanischen Marine. Mein Großvater war der befehlshabende Offizier der Kawachi.«
Haruka blinzelt verdutzt, während er die Information verarbeitet.
Nino nimmt einen Schluck von seinem Wein und lächelt zaghaft. »Du denkst gerade, dass ich gar nicht aussehe wie ein halber Japaner.«
»Nein.« Haruka starrt ins Leere. »Ich habe Schwierigkeiten, mich daran zu erinnern, wann die Kawachi gesunken ist. War das 1918?«
»Das ist richtig. Ich bin überrascht, dass du etwas so Willkürliches auswendig weißt.«
»In meinem Job ist es wichtig, viele willkürliche Fakten zu kennen.«
Nino stützt die Ellbogen ein Stück neben Haruka an der Theke auf. Er macht es sich bequem und dreht mit den Fingern den Stiel des Weinglases. »Historiker?«, fragt er.
»Korrekt.«
»Ich wusste es.« Nino strahlt wieder auf seine offenherzige, aufrichtige Art. »Meine Familie hat sich auf geschäftliche und gesellschaftliche Angelegenheiten spezialisiert, deshalb habe ich noch nie einen richtigen Vampir-Historiker getroffen … Ich habe sie mir immer als kultivierte, intelligente Persönlichkeiten vorgestellt. Damit habe ich wohl richtig gelegen.«
Harukas Aura verlagert sich wie schon zuvor, deutliche Wärme kriecht seinen Rücken empor. Er streckt sich unauffällig und zieht die Luft ein. Was zur Hölle ist das nur?
»Wie viele Sprachen sprichst du?«, fragt Nino. »Du bist mehrsprachig, oder?«
Die Anomalie seiner Aura, die plötzlich einen eigenen Willen zu haben scheint, verunsichert Haruka und er hebt angespannt sein Glas. »Welchen Beweis hast du für diese Annahme?«
»Liege ich falsch?«
Haruka legt die Lippen an das Glas und wendet den Blick seitlich ab. »Nein …«
Nino lacht, der Laut ist warm und fröhlich, und betont die Kraft, die sein zierlich gebauter Körper ausstrahlt. In seiner vampirischen Aura schwingt eine unbestreitbare Wärme – vielleicht sogar Sanftmut – mit, während er sie behaglich herausströmen lässt. Er ist wie ein Wesen der Sonne.
Haruka leert sein Glas. Er kann sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal mit einem hochrangigen Vampir unterhalten hat, ohne dass es um sein Aussehen oder Verbindungen gegangen ist. Aber so angenehm diese Überraschung auch sein mag, er muss zum Punkt kommen. »Nino, hast du die Einladungen zu der Verbindungszeremonie nächsten Monat erhalten?«
Der Vampir mit den bernsteinfarbenen Augen richtet sich auf. Seine Haltung ist steif. »Ich wusste doch, dass ich in Schwierigkeiten stecke.«
»Es sind keine Schwierigkeiten«, versichert Haruka ihm. »Allerdings wurde deine Anwesenheit förmlich erbeten, es wird also erwartet, dass du antwortest und daran teilnimmst. Die Familie wünscht, dass wir die Zeremonie leiten … die zugegebenermaßen veraltet und aufdringlich ist. Dennoch, wirst du teilnehmen?«
Nino atmet sichtlich aus und wendet den Blick ab. »Hör mal … Ich will ehrlich mit dir sein, ich weiß absolut nichts darüber, wie man eine Verbindungszeremonie leitet. Ich würde lieber nicht daran teilhaben, wenn das möglich ist.«
»Wie kannst du nichts darüber wissen? Du bist ein einhundertzwölf Jahre alter, reinblütiger Vampir …«
»Ich weiß, wie alt ich bin, und auch, was ich bin«, sagt Nino, während er Haruka ansieht. »Aber ich bin nicht … Das ist etwas, das ich nicht tun möchte.«
Haruka ist vollkommen sprachlos. Sie sind Reinblüter. Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen, gehört nun mal zu ihrer Stellung. So funktioniert einfach ihre Kultur – vor allem müssen sie den Aufforderungen niederrangiger Vampire nachkommen. Die Starken helfen den Schwachen, die Reichen unterstützen die Armen.
Außer man läuft davon. Niemand kann etwas von dir verlangen, wenn du nicht da bist. Haruka hat dieses Schlupfloch für sich entdeckt. Allerdings weigert sich sein Bediensteter neuerdings anscheinend, da mitzumachen, daher kann Haruka es nicht nutzen. Nino muss mitmachen. Einfach nicht dabei sein zu wollen, ist keine angemessene Entschuldigung.
Mit ruhiger Stimme appelliert er an den Vampir hinter dem Tresen. »Zu einer anderen Zeit oder wenn noch mehr Reinblüter existieren würden, könntest du diese Verpflichtung vielleicht vernachlässigen. Es gibt aber nur drei von uns in Großbritannien und die Reinblüterin in Edinburgh geht anderen Pflichten nach. Wenn du dir wegen deiner Kenntnisse unsicher bist …« Haruka zögert. Er fragt sich, ob er wirklich so dringend einen anderen Reinblüter dabeihaben will, dass er einen völlig Fremden in sein Heim lassen würde.
Ja. Ja, das will er.
»Ich habe eine Bibliothek auf meinem Anwesen in Devonshire, vor der Küste in Sidmouth«, erklärt Haruka. »Zu meiner Sammlung gehört ein Buch, in dem der Ablauf der Verbindungszeremonie detailliert beschrieben wird. Wenn du möchtest, können wir dort ein paar Tage zusammen verbringen und du kannst Nachforschungen anstellen, während ich mich auf die Zeremonie vorbereite. Im Anschluss könnten wir gemeinsam hinreisen?«
Nino hält einen Moment inne, was Haruka ein falsches Gefühl von Hoffnung vermittelt, bevor er letztendlich den Kopf schüttelt. »Es tut mir leid, Haruka. Es ist … Ich kann nicht. Aber ich weiß das freundliche Angebot zu schätzen. Es tut mir wirklich sehr leid.«
Empört steht Haruka auf und holt sein Portemonnaie aus der Manteltasche. Er braucht einen Moment, um seine Entrüstung hinunterzuschlucken. Das ist eine moderne Zeit – das 21. Jahrhundert. Wenn dieser Reinblüter ein Leben als Ausgestoßener aus der Aristokratie zu führen wünscht, wer ist Haruka da, ihn vom Gegenteil zu überzeugen?
Haruka wird die Zeremonie schon irgendwie allein meistern. Bisher ist er noch mit jeder Enttäuschung zurechtgekommen, mit der das Leben ihn konfrontiert hat.
Er holt einen Zwanzig-Pfund-Schein heraus und legt ihn auf die Theke. »Ich verstehe. Dann werde ich dich nicht länger belästigen …«
Nino streckt die Hand aus und legt sie fest auf Harukas. Der Körperkontakt bringt Harukas Aura wieder dazu, sich zu rühren, und er atmet scharf ein. Überrascht entzieht er Nino die Hand.
Nino ist vollkommen regungslos. Dann lässt er die Schultern hängen und atmet aus. Er schließt die Augen, während er mit den Händen durch das dichte Haar fährt. »Du … Du musst nichts zahlen … Der Wein geht auf mich.«
Haruka tritt einen Schritt zurück und lässt die Hände zusammen mit seinem Portemonnaie geschickt in seine Manteltaschen gleiten, bevor er sich aufrichtet. »Ich bestehe darauf. Viel Glück mit deinen zukünftigen Geschäften.«
Später am selben Abend schließt Nino die Bar, rechnet die Kasse ab und räumt mit seinen Angestellten noch etwas auf, bevor er zur Bank und anschließend in seine Wohnung im Tufnell Park geht. Als er sich endlich auf sein Bett setzt, laufen ihm immer noch seltsame Schauer über den Rücken. Ihm wurde noch nie ein Stromschlag versetzt und von einem Blitz wurde er – glücklicherweise – auch noch nie getroffen, aber die Nachwirkungen müssen sich in etwa so anfühlen. Eigenartige Stöße und ein Zittern pulsieren durch seinen Körper.
Gedankenverloren starrt er aus dem Fenster vor ihm. Glitzernde Schneeflocken tanzen vor dem tiefblauen Hintergrund des Nachthimmels – oder ist es schon Morgen? Die spitzen Dächer der St. George’s Church auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind leicht mit winterweißem Puder bedeckt. Er nimmt sein Smartphone in die Hand und schaltet es an. 4:25 Uhr. Dann prüft er seine Nachrichten, vielleicht hat seine beste Freundin ihm geschrieben. Nichts. Sie muss mittlerweile schlafen.
Es ist spät – oder sehr früh –, aber er muss einfach mit jemandem reden. Sein Bruder wird genervt sein, wenn er ihn anruft, aber Giovanni ist fast immer genervt von ihm. Also wählt Nino seine Nummer und hält sich wartend das Handy ans Ohr.
»Was ist los?« Die heisere Stimme seines Bruders erklingt sofort am anderen Ende der Leitung.
»Genau genommen nichts, aber …«
»Warum zum Teufel rufst du mich dann morgens um halb vier an?«
Nino beugt sich vor, die Ellbogen stützt er auf die Oberschenkel, und fährt sich angespannt mit der Hand durchs Haar. »Fliegst du heute nicht nach Russland?«
»Ja.«
»Okay. Ich wollte dich was fragen, bevor du sechs Stunden lang im Flugzeug sitzt und anschließend das ganze Wochenende in Meetings bist.« Nino massiert sich energisch den Kopf, wobei ein wildes Durcheinander in seinen kupferfarbenen Haaren entsteht. Plötzlich ist die Leitung still. Abrupt setzt er sich auf wie ein besorgtes Erdmännchen. »G?«
»Ich warte darauf, dass du mir sagst, was du willst«, sagt Giovanni. »Du rufst nur an, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist. Also, was ist es?«
Nino atmet tief ein. Immer wenn er mit seinem älteren Bruder spricht, fühlt er sich, als wäre er auf einem dieser drehbaren Räder auf einem altertümlichen Zirkus befestigt. Die Art Rad, die mit Messern beworfen wird. »Ich habe dir nichts davon erzählt, aber ich bekomme seit einiger Zeit seltsame Einladungen von einem der aristokratischen Vampire hier.«
»Was für seltsame Einladungen?«
»Da steht irgendwas vom Bekräftigen einer Verbindungszeremonie …«
»Scheiße.« Giovanni atmet hörbar aus. »So was machen die noch in England? Wie verdammt seltsam. In Mailand haben wir das seit dem frühen 18. Jahrhundert nicht mehr gemacht. Abartig.«
»Ist das, was ich denke, was es ist?«, fragt Nino. »Ich habe versucht es zu googlen, habe aber zu ›Verbindungsbekräftigung‹ nichts gefunden.«
»Kleiner, du wirst im Internet auch nichts zu dem veralteten Mist der Vampiraristokratie finden. Schlag mal ›Beischlafzeremonie‹ nach. Ist ziemlich ähnlich, objektiv betrachtet jedenfalls.«
Nino lässt sich wieder zusammensacken und unterdrückt ein Stöhnen. Das hat er bereits nachgeschlagen.
»Hast du die Einladung angenommen?«, fragt Giovanni.
Und jetzt kommen die Messer. Nino atmet tief ein. »Nein.«
»Warum nicht?«
»G … ich will nicht …«