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Unsterblich und unwiderstehlich!
Ein weiterer vergnüglicher und prickelnder Roman in der ARGENEAU-Reihe - Lynsay Sands ist die Meisterin der Wohlfühl-Vampire-Romance!
Band 36 der ARGENEAU-Reihe von Lynsay Sands
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Seitenzahl: 518
Titel
Zu diesem Buch
Prolog
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Die Autorin
Die Romane von Lynsay Sands bei LYX
Impressum
LYNSAY SANDS
Vampire küssen besser
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander
Die IT-Spezialistin Sophie Ferguson ist vom Unglück verfolgt. Ihre Eltern kamen bei einem Feuer um, beste Freundinnen, enge Freunde und Verlobte ließen gleich reihenweise ihr Leben. Als sie auf einer Hochzeitsfeier der Familie Argeneau den Unsterblichen Alasdair MacKenzie kennenlernt, spürt sie sofort eine besondere Verbindung zu ihm. Allerdings weiß sie nicht, dass er ein Vampir ist, und je intensiver ihre Gefühle für ihn werden, desto mehr fürchtet sie, dass auch er dem Fluch zum Opfer fallen könnte, der scheinbar auf ihr liegt. Daher beschließt sie, sich vom ihm zu trennen, auch wenn es ihr das Herz bricht. Sie ahnt nicht, dass Alasdair bereits ins Visier des Mörders geraten ist und schon mehrere Anschläge überlebt hat. Als er Sophie zu verlieren droht, muss er ihr sein wahres Selbst offenbaren und setzt alles daran, den Übeltäter zur Strecke zu bringen, der seiner Geliebten so viel Leid zugefügt hat.
»Nimmst du keinen Drink zu deinem Essen?«
Sophie wandte sich von der Kellnerin ab, die soeben ihre Bestellung notiert hatte, und sah irritiert zu dem Mann hin, der ihr Blind Date war. »Ich habe doch gerade einen Eistee bestellt.«
»Nicht lieber einen Long-Island-Eistee?«, schlug Carl vor.
»Nein, einfach nur einen Eistee.«
Sie wollte sich eben der Kellnerin zuwenden, hielt aber inne, als er auf sie einredete: »Ach, jetzt komm schon. Du musst was Vernünftiges trinken. Wie wär’s mit einer Margarita? Das ist doch ein typischer Drink für Girlies, oder nicht?«
Bei seinen Worten verkrampfte sich alles in ihr. Ein Drink für Girlies? War das wirklich sein Ernst? Wut regte sich in ihr, doch sie drängte das Gefühl zurück. »Nein, ein Eistee genügt mir«, versicherte sie ihm, dann sah sie lächelnd die Kellnerin an und bekräftigte: »Bitte einfach nur einen Eistee, ganz ohne Alkohol.«
Aber Carl wollte noch immer keine Ruhe geben. »Wenn du keine Margaritas magst, wie wär’s dann mit einem Mai Tai?«
Sophie warf dem Mann einen ernsten Blick zu. »Nein.«
»Oder einem Mojito?«
»Nein.«
»Ah! Sex on the Beach«, schlug er grinsend vor und sagte an die Kellnerin gewandt: »Sie bekommt einmal Sex on the Beach.«
»Sie bekommt keinen Sex, weder ›on the Beach‹ noch sonst irgendwo!« Sophie war mit ihrer Geduld am Ende und bedachte ihr Gegenüber mit einem skeptischen Blick. »Hast du vor, mich im Lauf unseres Dates zu vergewaltigen?«
Carl zuckte auf seinem Stuhl zusammen und schaute entsetzt drein. »Wie kommst du denn auf so was?«
»Weil es mir so vorkommt, als hättest du Schwierigkeiten, ein ›Nein‹ zu akzeptieren. Soweit ich weiß, trifft das auch auf Männer zu, die eine Frau beim Date vergewaltigen«, sagte sie in einem honigsüßen Tonfall, bevor ihr Gesicht einen eiskalten Zug annahm. »Ich möchte nichts Alkoholisches trinken, weil mir Alkohol nicht schmeckt. Ich möchte einen Eistee.«
Sofort entspannte sich Carl wieder und setzte ein schmieriges Lächeln auf. »Na ja, Alkohol schmeckt eigentlich niemandem, Sophie. Das ist jedenfalls nicht der Grund, warum man etwas Alkoholisches zu sich nimmt.«
»Ach, was?« Sophie konnte sich ihren Sarkasmus nicht verkneifen. »Dann trinkst du nur, um betrunken zu sein?«
»Ganz genau.«
»Ahaaa«, machte Sophie und zog die zweite Silbe in die Länge, während sie die Augen zusammenkniff. »Also benimmst du dich nicht nur wie jemand, der ein Date nutzt, um über eine Frau herzufallen, sondern du gibst auch noch zu, dass du ein Alkoholproblem hast. Gut zu wissen. Danke, dass du mir das jetzt schon verrätst. Dann muss ich mit diesem Blind Date wenigstens nicht noch mehr Zeit vergeuden, als ich es ohnehin getan habe.«
Sophie griff nach ihrer Handtasche und holte im Aufstehen einen Zwanziger heraus, den sie der Kellnerin in die Hand drückte. »Für all Ihre Bemühungen. Streichen Sie bitte den Eistee und den Caesar’s Salad, den ich gerade bestellt habe. Ich werde jetzt gehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.«
Dann nahm sie ihren Mantel von der Rückenlehne ihres Stuhls und machte sich auf den Weg zum Ausgang, um dieses elende Blind Date hinter sich zu lassen.
»Hey!«, rief Carl im nächsten Moment.
Sophie hörte, wie ein Stuhl über den Boden geschoben wurde, und wusste sofort, dass es Carls Stuhl war. Es war ja zu erwarten gewesen, dass sie sich nicht ohne großes Theater davonmachen konnte, denn Idioten von seinem Schlag mussten immer eine Szene machen.
»Hey!« Sophie war gerade an der Tür angekommen, blieb aber stehen, als er sie am Arm festhielt. Betont langsam drehte sie sich um und sah den Mann mit ausdrucksloser Miene an. »Lass mich los.«
»Du kannst nicht einfach gehen. Wir haben ein Date.«
»Das Date ist beendet«, sagte sie, zog den Arm aus seinem Griff und drückte die Tür auf, um nach draußen zu gehen.
»Gar nichts ist beendet. Du hast mir ja nicht mal eine Chance gegeben.« Unter Protest folgte Carl ihr hinaus in die kühle Nacht. »Komm zurück und lass uns das hier richtig über die Bühne bringen.«
»Nein, danke«, sagte sie und ging so zügig weiter, dass sie auf ihren High Heels beinahe in einen Laufschritt verfiel, um ihm zu entkommen. Sie hatte einen langen Arbeitstag hinter sich, und dieses Blind Date, zu dem sie sich von ihrer Kollegin Lise hatte überreden lassen, war das wohl unvermeidbare Sahnehäubchen auf einem ohnehin schon üblen Tag gewesen. Sie wollte nur nach Hause, ihre Schuhe ausziehen und sich auf die Couch flegeln, um sich einen Film anzusehen. Vor allem aber wollte sie vergessen, dass es diesen Tag – und vor allem dieses Date – jemals gegeben hatte.
»Komm schon, jetzt zier dich doch nicht so. Ich verdiene gut, und ich sehe gut aus. Ich bin ein richtig guter Fang. Ich weiß doch, dass du mich willst.«
»Sicher doch«, murmelte Sophie angewidert und ging die Reihen geparkter Autos entlang, um zu ihrem Wagen zu gelangen, den sie ganz am Rand des Parkplatzes abgestellt hatte. Weit kam sie nicht, da er sie plötzlich erneut am Arm packte und diesmal so heftig zu sich herumwirbelte, dass sie gegen seine Brust geschleudert wurde. Sofort griff er auch nach ihrem anderen Arm, um zu verhindern, dass ihre Befreiungsbemühungen von Erfolg gekrönt sein würden.
»Jetzt komm schon, Süße. Mir machst du mit deinem Eisköniginnen-Getue doch nichts vor.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ er seine Hände von ihren Armen zu ihrem Po wandern, damit er sie gegen seine Lenden drücken konnte. »Lass uns …«
Was auch immer er hatte sagen wollen, endete in einem gequälten Fluch, da sie ihm das Knie in die Eier rammte. Als er sie losließ, um sich den schmerzenden Schritt zu halten, wandte sie sich ab und lief weiter. Sie war stinksauer, aber sie wollte auch so schnell wie möglich weg von hier, um sich in ihren Wagen zu flüchten, wo sie vor Carl in Sicherheit war, bevor der sich von ihrem Tritt erholen konnte.
Sie hatte gerade erst die nächste Reihe geparkter Autos hinter sich gelassen, als Carl sie abermals am Arm zu fassen bekam und zu sich herumriss. Sophie holte tief Luft, um diesem Arschloch lautstark die Meinung zu sagen, weil er sie nicht in Ruhe lassen wollte und weil er sie schon wieder angefasst hatte. Doch es kam ihr kein Wort über die Lippen, denn sie sah … nichts.
Carl war verschwunden.
Verwundert sah sie sich auf dem Parkplatz um und rieb sich die Stelle, wo er sie so hart am Arm gepackt hatte. Das hatte er doch getan, oder etwa nicht?, grübelte sie verwirrt. Wo zum Teufel war er geblieben? In den zwei Sekunden, in denen sie zu ihm herumgewirbelt worden war, konnte er unmöglich ins Restaurant zurückgekehrt sein.
Voller Argwohn und Verärgerung suchte sie den Parkplatz noch einmal nach ihm ab, nun jedoch langsamer und gründlicher. Dabei fragte sie sich, ob er sich wohl blitzschnell hinter einem der Autos versteckt hatte, nur um sich im nächsten Moment auf sie zu stürzen. Doch selbst als sie sich hinhockte, um unter den Wagen links und rechts nach einem verräterischen Hinweis zu suchen, deutete nichts darauf hin, dass er irgendwo in Deckung gegangen war.
Langsam richtete sie sich auf und ließ abermals den Blick über ihre Umgebung schweifen, während sie verunsichert überlegte, was sie nun machen sollte. Das plötzliche Verschwinden des Mannes hatte etwas fast schon Übernatürliches an sich, was ihr prompt eine Gänsehaut bescherte.
Dann vernahm Sophie einen kurzen Pfiff und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Noch immer konnte sie nichts erkennen … bis plötzlich auf der Rasenfläche neben dem Parkplatz eine Taschenlampe anging.
Nein, keine Taschenlampe, wie ihr jetzt klar wurde, als sie die beiden Männer unter dem Baum betrachtete, sondern eine Handytaschenlampe. Ihr Blick erfasste einen gut aussehenden dunkelhaarigen Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, was auch für den blonden Mann neben ihm galt, der nicht minder anziehend auf sie wirkte. Der Dunkelhaarige lächelte sie freundlich an, wohingegen der Blonde eher aufgebracht wirkte.
»Dieser Typ hier schien Sie zu belästigen, deshalb dachte ich mir, ich gehe mal dazwischen«, sagte der freundliche von den beiden und drehte sein Handy so, dass der Lichtschein die Gestalt erfasste, die er in seine Gewalt gebracht hatte.
Ungläubig riss Sophie die Augen weit auf, als sie erkannte, dass es Carl war, um dessen Hals der Mann seine Hand gelegt hatte. Der hielt ihn dabei so hoch, dass Carl in der Luft hing und mit Armen und Beinen fuchtelte, um sich aus dem Griff zu befreien.
Der Lichtschein kehrte zu den beiden Schwarzgekleideten zurück. »Oder war das verkehrt? Soll ich ihn laufen lassen?«, fragte der dunkelhaarige Mann.
»Oh, bloß nicht«, antwortete Sophie sofort, riss sich aber gleich wieder zusammen. »Sie haben völlig recht. Er hat mich belästigt.«
»Gut. Dann werde ich ihn noch eine Weile so halten, bis Sie in Sicherheit sind«, erklärte ihr Sir Galahad in Schwarz und ließ weiter seinen Charme sprühen.
»Hört sich gut an, vielen Dank«, sagte Sophie und nickte.
»Ist mir ein Vergnügen«, sagte Sir Galahad beiläufig, hob den Arm noch etwas höher und warf Carl dann kurz einen finsteren Blick zu, da es dem gelungen war, ihm einen Tritt in die Seite zu verpassen. Gleich darauf stellte Carl jegliche Aktivität ein, und der Fremde wandte sich wieder lächelnd an sie.
Sophie musste unwillkürlich grinsen und ging kopfschüttelnd davon. »Nochmals danke.«
»Tybo«, sagte er.
Sophie blieb stehen und drehte sich verwundert zu den Männern um. Das Wort klang wie die Bezeichnung einer Kampfsportart. Wollte er wissen, ob sie damit vertraut war? Oder schlug er ihr vor, diese Sportart zu erlernen?
»Das ist mein Name«, erklärte er ihr und klang seltsam amüsiert. »Tyberius Verde. Aber jeder nennt mich nur kurz Tybo.«
»Oh«, sagte Sophie erleichtert und nickte kurz. »Hi, Tybo. Ich bin Sophie Ferguson. Nochmals danke für Ihre Hilfe.«
»War mir ein Vergnügen. Ich helfe immer gern, wenn eine Dame in Gefahr ist«, erwiderte er, als wäre das eine Selbstverständlichkeit.
Sophie winkte ihm zum Abschied zu und beeilte sich, zu ihrem Wagen zu kommen. Sie wollte eben die Fahrertür öffnen, als ihr klar wurde, dass sie diesem Carl heute Abend zwar entkommen war, es aber vermutlich nicht das letzte Mal war, dass sie von ihm gehört hatte. Immerhin hatte er ihre Telefonnummer. Ihre Kollegin Lise bei der Versicherung, für die sie arbeitete, hatte ihm ihre Nummer per SMS geschickt. Diese hatte so lange auf Sophie eingeredet, bis die schließlich bereit gewesen war, sich mit ihm zu treffen. Daraufhin hatte er sie angerufen und Zeit und Ort für ihr Date mit ihr abgesprochen. Sophie war davon überzeugt, dass dieser Idiot sich wieder bei ihr melden würde, und sei es nur, um ihr Vorwürfe zu machen, dass sie ihn buchstäblich hatte hängen lassen, anstatt um Hilfe zu rufen oder sonst irgendwas zu unternehmen. Vermutlich würde er sogar versuchen, den Mann zu verklagen, der ihr auf diese Weise zu Hilfe gekommen war. Und vielleicht würde er sie bei der Gelegenheit gleich auch noch verklagen, weil sie nichts dagegen unternommen hatte, ging es ihr verärgert durch den Kopf. Das würde glatt zu ihm passen.
»Wenn Sie wollen, lösche ich Ihre Telefonnummer aus seinem Anrufregister, bevor ich ihn vom Haken lasse.«
Sophie drehte sich um und stellte fest, dass Tybo und sein blonder Freund eine Reihe weiter parallel zu ihr über den Parkplatz gegangen waren. Im Schein der Handylampe konnte sie Carls vage Umrisse ausmachen. Wie es schien, wehrte er sich nicht mehr gegen den Griff. Sie hoffte nur, dass er nicht längst erstickt war. Um den Kerl wäre es nicht weiter schade, aber sie wollte nicht, dass dieser Tybo Ärger bekam, nur weil er ihr hatte helfen wollen. Er sah einfach zu gut aus, um ins Gefängnis gehen zu müssen.
»Mit ihm ist alles in Ordnung«, versicherte Tybo ihr, als hätte sie ihren Gedanken laut ausgesprochen. »Ich werde ihm nichts tun. Ich halte ihn nur fest, bis Sie in Sicherheit sind.« Er schwieg für einen Moment. »Also? Soll ich Ihre Telefonnummer löschen, damit er Sie in Ruhe lässt?«, hakte er nach.
Sophie nickte. »Ja, das wäre gut«, sagte sie und nahm sich vor, Lise anzurufen, sobald sie den Parkplatz verlassen hatte. Sie würde ihr irgendwelche schrecklichen Konsequenzen androhen, sollte sie Carl noch einmal ihre Nummer geben.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn …«
Sophie hatte soeben nach dem Türgriff ihres Wagens gefasst, als Tybo mitten im Satz abbrach. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihm seine Unschlüssigkeit an. Dann zuckte er mit den Schultern, so als würde er zu sich selbst sagen Ach, was soll’s?, und lächelte wieder auf diese charmante Art. »Würden Sie mir Ihre Nummer geben?«
Verdutzt sah sie ihn an, da sie mit allem gerechnet hätte, aber nicht mit dieser Frage.
Als sie vor Überraschung immer noch kein Wort herausbekam, fügte er hinzu: »Ich würde Sie gern mal zu einem Kaffee oder so einladen, um zu beweisen, dass nicht alle Männer solche Idioten sind wie der hier.« Er schüttelte Carl leicht, woraufhin ihr Blick zu dem Mann zurückwanderte, den er noch immer am Hals gefasst hielt, während er den Lichtkegel der Handylampe auf ihn richtete. Carl hatte die Augen geöffnet und den Mund verzogen, aber er wehrte sich nicht länger gegen den Griff, worauf Tybo das Handy wegdrehte und Carl erneut von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Sophies Blick kehrte zu Tybo und seinem Freund zurück. Das hier war eindeutig die verrückteste Situation, die sie jemals erlebt hatte. Der Mann hatte ihr Blind Date im Würgegriff und bat sie um ihre Telefonnummer. Keinen von beiden hatte sie je zuvor gesehen, und wer wusste schon, ob sie da nicht einen Serienmörder vor sich hatte. Andererseits war er derjenige, der sie vor einer möglicherweise gefährlichen Situation bewahrt hatte, indem er Carl gepackt und davongeschleift hatte. Dennoch war Sophie sich nicht sicher, ob es ratsam war, sich mit diesem Mann zu einem Date zu verabreden.
Sie wollte schon ablehnen, als ihr auffiel, dass der blonde Mann Tybo ansah, als hätte der völlig den Verstand verloren. Sophie wusste nur zu gut, was der Grund dafür war, dass sie in diesem Moment ihre Meinung änderte. Von einer der Betreuerinnen in einem Heim, in dem sie mal gewohnt hatte, stammte die Feststellung, dass sie prinzipiell auf Widerspruch gebürstet war. Man musste ihr nur sagen, dass sie irgendetwas nicht tun durfte oder konnte, und prompt tat sie genau das. Die Tatsache, dass sein Freund sie wohl für unter Tybos Würde hielt, war für sie somit Grund genug, sich für ein Date mit ihm zu entscheiden.
»Klar. Gehen wir einen Kaffee trinken«, erwiderte sie. »Wenn meine Nummer nicht unter seinen Kontakten gespeichert ist, dann finden Sie sie auf jeden Fall in einer SMS von Lise Cunningham. Rufen Sie einfach an, wenn Sie Zeit haben.« Mit diesen Worten öffnete sie die Wagentür und stieg ein.
»Du hast wohl den Verstand verloren!«
»Hm?« Tybo sah seinen Partner Valerian verwundert an und schüttelte bloß den Kopf, während er mit dem Blick verfolgte, wie der weiße Nissan den Parkplatz verließ. Sophie Ferguson war ein hübsches kleines Ding, und er konnte es kaum erwarten sie anzurufen. Bei diesem Gedanken ließ er den Arm ein Stück weit herabsinken, um in Carls Taschen nach dessen Handy zu suchen. »Sie ist der Meinung, dass du glaubst, sie wäre nicht gut genug für mich.«
»Was?«, fragte Valerian erstaunt.
»Du hast mich angesehen, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank, nur weil ich sie nach ihrer Telefonnummer gefragt habe«, erklärte Tybo, während er in die nächste Tasche von Carls Kleidung griff.
»Das hatte mit ihr doch gar nichts zu tun.« Valerian beeilte sich, das klarzustellen. »Auf mich macht sie einen netten Eindruck.«
»Ja, ich weiß. Aber dein Blick scheint der einzige Grund zu sein, warum sie einem Date mit mir zugestimmt hat«, sagte Tybo und wurde endlich fündig. Er ließ den Mann noch weiter Richtung Boden sinken und lächelte Valerian an. »Dafür möchte ich mich bei dir bedanken.«
Valerian schnaubte bei diesen Worten. »Ich habe dich nicht angesehen, weil ich dich für verrückt halte, sondern weil du da was Verrücktes machst. Du erinnerst dich doch wohl daran, was passiert ist, als wir das letzte Mal auf eigene Faust eingegriffen haben, oder? Lucian wird stinksauer sein, wenn er das herausfindet.« Valerian unterstrich seine Prophezeiung mit einem fassungslosen Kopfschütteln.
»Nein, das wird er nicht«, sagte Tybo im Brustton der Überzeugung und hielt ihm Carl hin. »Halt dieses Arschloch mal fest, damit ich Sophies Nummer löschen kann.«
Missmutig verzog Valerian den Mund, packte Carl dennoch am Schlafittchen und übernahm den Mann, während sich Tybo das Handy ansah. Die Nummer war noch nicht unter den Kontakten gespeichert, sodass er nur die eingegangene SMS und die Anrufliste löschen musste. Nach kurzem Zögern brach er das Handy einfach in der Mitte durch. Der Bastard hatte es nicht anders verdient. Carl war nicht mit guten Absichten zu diesem Date erschienen. Obwohl Sophie ihr Desinteresse an ihm deutlich bekundet hatte, war er davon überzeugt gewesen, dass sie sich nur zum Spaß zierte. Hätte er sie nicht dazu bewegen können, mit ihm ins Restaurant zurückzukehren, wäre der Abend so verlaufen, dass er sie in ihr Auto gestoßen und sich dann genommen hätte, was ihm seiner Meinung nach zustand und was sie ihm ganz sicher nur vorenthalten hatte, um ihn herauszufordern. Carl war davon überzeugt, dass sie ihm am Ende für alles dankbar gewesen wäre.
Jedenfalls waren das die Gedanken, die Tybo in Carls Kopf gelesen hatte und der Grund für sein Einschreiten gewesen waren. Der Typ war ein arroganter Arsch, der davon ausging, dass eine Frau, die sich mit einem Date einverstanden erklärte, automatisch auch dazu bereit war, Sex mit ihm zu haben, den er dann auch auf die eine oder andere Weise bekam.
Dreckskerl, dachte Tybo und ließ das Handy auf den Boden fallen, um auch noch einmal kräftig draufzutreten. Es waren Typen wie Carl, die Frauen dazu veranlassten, allen anderen Männern auf der Welt mit Skepsis zu begegnen.
»Können wir diesen Waschlappen jetzt endlich gehen lassen und uns wieder auf die Arbeit konzentrieren?«, fragte Valerian, als Tybo sich zu ihm umdrehte.
Tybo betrachtete Carl und verspürte Unzufriedenheit. Ein kaputtes Handy war kaum eine angemessene Bestrafung für das, was er im Sinn gehabt hatte. »Lass ihn gehen«, sagte er schließlich.
Erleichtert ließ Valerian den Mann los, musterte ihn dann aber skeptisch, da er zweifellos erwartete, dass Carl jeden Moment ausrastete. Doch der drehte sich nur weg und hechtete über den Parkplatz davon.
»Was hast du …?«, setzte Valerian an, stockte jedoch, da er in diesem Augenblick sah, wie Carl die Schuhe auszog und sein Jackett abstreifte. Dann warf er es in hohem Bogen von sich, sodass es auf einem kleinen Hyundai landete. Carl schlenderte weiter und knöpfte sein Hemd auf, das gleich darauf auf der Ladefläche eines Pick-ups landete.
»Oh Mann, wir sind erledigt«, stöhnte Valerian, während Carl Hose und Unterhose auszog und beides mit einem Tritt unter den Van gleich neben ihm beförderte.
»Nein, sind wir nicht.« Tybo grinste boshaft, während er Carl zwischen der ersten Reihe parkender Fahrzeuge und dem Eingangsbereich des Restaurants Pirouetten drehen ließ, sodass sein Gehänge in alle Richtungen wippte.
Ein schriller Schrei lenkte seinen Blick zum Lokal, wo zwei Frauen wie erstarrt in der offenen Tür standen und den nackten Tänzer betrachteten. Nach dem ersten Schreck gingen sie wieder ins Lokal und ließen die Tür hinter sich zufallen, blieben jedoch im Eingangsbereich stehen, wie man durch die Glasscheibe deutlich sehen konnte. Als sich andere Gesichter zu ihnen gesellten und dann auch Handys hochgehalten wurden, um das Spektakel zu filmen, wurde offensichtlich, dass sie den anderen Gästen zugerufen hatten, was sich da vor der Tür abspielte.
Und das bedeutete auch, dass irgendeiner von ihnen längst dabei war, die Polizei anzurufen.
Mit einem zufriedenen Lächeln ging Tybo vor Valerian her zurück zu ihrem SUV, in dem sie gesessen und darauf gewartet hatten, dass ein mutmaßlicher Abtrünniger auftauchen würde.
»Er tanzt immer noch«, knurrte Valerian, nachdem er sich ans Steuer gesetzt hatte. Er ließ den Motor an und fragte: »Wirst du dem ein Ende setzen?«
»Ja, früher oder später«, antwortete Tybo lächelnd, ohne den Mann aus den Augen zu lassen, der wie ein Häschen hin und her hüpfte, da Tybo die Kontrolle über ihn übernommen hatte.
»Jesses«, murmelte Valerian und versteifte sich, als Tybos Handy zu klingeln begann. Er warf Tybo einen energischen Blick zu und presste die Lippen zusammen. »Wir sind so was von erledigt«, grummelte er.
»Nein, sind wir nicht«, versicherte Tybo ihm auch jetzt wieder, nahm das Gespräch an und schaltete den Lautsprecher ein.
»Die Cops sind auf dem Weg zu euch. Wartet, bis ihr die Sirenen hört, und macht euch dann vom Acker«, herrschte Lucian sie an.
Tybo grinste, als Valerian bei diesen Worten vom Boss ungläubig die Augen aufriss. Hab’s dir doch gesagt, formte Tybo lautlos mit den Lippen.
Valerian reagierte mit einer finsteren Miene, beugte sich dann aber zum Telefon vor und fragte: »Und was ist mit Adamso…«
»Der wird nicht aufkreuzen, wenn es da von Polizei wimmelt«, unterbrach Lucian ihn. »Sobald er die Streifenwagen sieht, verdünnisiert er sich und zieht sich in sein Loch zurück. Wir müssen das Restaurant an einem anderen Abend noch mal observieren. Das ist zwar lästig und ärgerlich, aber ihr konntet ja nicht tatenlos zusehen, wie eine Frau vergewaltigt wird, nur weil ihr auf Adamson gewartet habt.«
»Was?«, fragte Valerian ungläubig.
»Wie ›was‹?«, gab Lucian ruhig zurück.
»Das sagt derselbe Mann, der uns vor paar Jahren fast den Kopf abgerissen hat, nur weil wir verhindert hatten, dass eine Frau gekidnappt wird?«, erkundigte sich Valerian ironisch. »Ich dachte, du wärst jetzt wieder mindestens genauso sauer.«
»Ich wollte euch nicht den Kopf abreißen, weil ihr diese Frau gerettet hattet, sondern weil ihr dabei eure übermenschliche Kraft und Schnelligkeit zur Schau gestellt hattet und dabei auch noch gefilmt worden wart«, stellte Lucian unwirsch klar. »Diesmal seid ihr klug vorgegangen. Den Bastard wird man festnehmen und wegen anstößigen Verhaltens zur Rechenschaft ziehen, und weil sich das Restaurant direkt gegenüber einer Schule befindet, erhält er vielleicht sogar auch noch einen Eintrag als Sexualstraftäter. Ihr habt die Frau gerettet und euch dabei umsichtig verhalten. Gut gemacht. Und jetzt verschwindet von da. Ich kann die Sirenen hören. Die Sterblichen-Polizei ist im Anmarsch.«
Lucian beendete das Telefonat, ohne sich zu verabschieden, und Tybo grinste den fassungslosen Valerian an, während er prahlte: »Ich habe mich umsichtig verhalten.«
Valerian lachte kurz auf, dann schüttelte er nur den Kopf und legte den Gang ein. »Ja, ja. Du hattest recht, und ich habe mich geirrt.«
»So was kommt vor«, gab Tybo amüsiert zurück, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Carl und wies ihn an, ein Rad zu schlagen. Dann aber verzog er einen Mundwinkel. Ein nackter Mann, der ein Rad schlug, wobei sein Gehänge umherwirbelte, hatte etwas wirklich Unwürdiges an sich.
»Ich hätte gewettet, dass Lucian uns für diese Aktion hier bei lebendigem Leib häuten würde«, murmelte Valerian, während er den SUV in Richtung Ausfahrt lenkte.
»Und trotzdem hast du mich nicht davon abgehalten, als ich dazwischengegangen bin, und du hast auch nicht gerade energisch protestiert, als Sophie bereits abgefahren war«, machte Tybo ihm klar und sah nach hinten, um Carl noch ein wenig länger zu kontrollieren, da sie den Parkplatz in dem Moment verließen, als zwei Polizeiwagen eintrafen.
»Der Kerl wollte über sie herfallen«, gab Valerian mürrisch zurück. »Ist doch klar, dass ich dann nicht versuche dich aufzuhalten.« Schließlich räumte er ein: »Ich war auch bereit, den Ärger in Kauf zu nehmen, der uns blühen würde, weil wir eingeschritten waren. Ich war bloß nicht begeistert von dem Ausmaß an Ärger, den wir uns vermutlich eingehandelt hätten.«
Tybo lachte leise und gab die Kontrolle über Carl auf, als die Streifenwagen mit quietschenden Reifen vor dem Mann zum Stehen kamen, gerade als der im Licht der Scheinwerfer ein letztes Rad schlug und zum Abschluss noch eine Pirouette drehte und den Kopf schüttelte, als wäre er ein nasser Hund. Tybo war nicht daran interessiert, das weitere Geschehen zu verfolgen. Zum einen hätte er sich dafür das Genick verdrehen müssen, zum anderen war seine Arbeit ohnehin getan. Der Typ steckte jetzt bis zum Hals in Schwierigkeiten, aus denen es für ihn keinen Ausweg mehr gab.
»Und du willst Sophie tatsächlich anrufen?«, fragte Valerian, nachdem er ein Stück gefahren war.
Tybo lächelte und sah auf das Handy, das auf seinem Schoß lag. Er hatte sich Sophies Nummer per SMS geschickt, ehe er jeden Eintrag auf Carls Handy gelöscht hatte. Ein kurzer Blick auf die eingegangenen Nachrichten zeigte ihm, dass die SMS durchgekommen war und er jetzt ihre Nummer hatte.
»Also? Hast du es vor?«, fragte Valerian, als von Tybo keine Antwort kam. »Na, sicher«, sagte er und steckte das Handy ein. »Sie ist ein süßes kleines Ding. Ich glaube, bei deiner Hochzeit wäre sie eine tolle Begleitung für mich.«
»Ach ja?« Valerian warf ihm einen amüsierten Blick zu, konzentrierte sich aber gleich wieder auf die Straße. »Aber du konntest sie lesen, nicht wahr?«
»Ja«, gab Tybo betrübt zurück. So wie die Vampire aus der Mythology, für die die meisten Sterblichen sie gehalten hätten, waren Unsterbliche in der Lage, Sterbliche zu lesen und zu kontrollieren. Das Gleiche war ihnen bei allen Unsterblichen möglich, die jünger waren als sie selbst. Die einzige Ausnahme stellten Lebensgefährten dar. Jemanden weder lesen noch kontrollieren zu können war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass man einen möglichen Lebensgefährten vor sich hatte. Aus diesem Grund probierten Unsterbliche auch bei so gut wie jedem, dem sie zum ersten Mal begegneten, sofort aus, ob sie ihn lesen konnten. Lebensgefährten waren selten und kostbar, denn sie machten dieses lange Leben überhaupt erst erträglich.
»Tut mir leid. Sie macht einen netten Eindruck«, sagte Valerian leise.
»Ja.« Tybo seufzte frustriert, hielt sich aber auch vor Augen, dass es albern war, enttäuscht zu sein, weil er sie hatte lesen können. Immerhin war er erst 1920 zur Welt gekommen, womit er noch ein junger Unsterblicher war. Einem Lebensgefährten begegnete man üblicherweise erst viel später im Leben. Nichtsdestotrotz konnte er ja hoffen, schon früher fündig zu werden, auch wenn es immer wieder enttäuschend war, einer Frau zu begegnen, die er mochte, die er aber lesen konnte.
»Ach, das ist schon okay. Ich bin ja noch jung. Gegen Dates ist nichts einzuwenden, und sie ist ein nettes Mädchen. Ich werde mich mit ihr bei deiner Hochzeit bestimmt vergnügen.«
»Du packst schon zusammen?«
Sophie sah von der Tasche hoch, in der sie soeben ihren Laptop verstaute, und bemerkte den verwirrten und besorgten Gesichtsausdruck, mit dem Megan ihr Büro betreten hatte.
»Ja, ich mache heute früher Schluss«, sagte Sophie und zog den Reißverschluss der Laptoptasche zu.
»Du? Du machst an einem Dienstagnachmittag früher Schluss?« Megan war mehr als erstaunt, gleichzeitig aber auch besorgt, wie man ihrem Gesichtsausdruck entnehmen konnte. »Wieso? Du bist doch nicht etwa krank, oder?«
»Nein, ich bin nicht krank.« Sophie konnte Megans Sorge durchaus nachvollziehen, hatte sie doch die Angewohnheit, nie früher nach Hause zu gehen, es sei denn, sie war so sterbenskrank, dass sie einfach keine andere Wahl hatte. Genau genommen hatte sie das Büro bislang nur einmal vorzeitig verlassen, und da hatte sie auf einer Trage gelegen, die zu einem Rettungswagen gebracht worden war, mit dem man sie ins Krankenhaus gefahren hatte. Und das alles wegen einer Blinddarmentzündung. Sie hatte fast den ganzen Tag über Schmerzen im Unterbauch geklagt, und als sie sich schließlich hatte übergeben müssen, da hatte sie sich mit voller Wucht den Kopf an der Kachelwand der Toilette angeschlagen. Als Megan sie auf dem Boden entdeckt hatte, musste sie noch immer würgen, während ihre Kopfwunde stark blutete. Sofort hatte Megan den Notruf gewählt, von daher hatte sich die Platzwunde am Kopf als Glücksfall erwiesen. Hätte sich Megan nicht dazu veranlasst gesehen, wäre Sophie vermutlich in dem Irrglauben nach Hause gegangen, dass sie sich an irgendetwas den Magen verdorben hatte. Daheim hätte es dann zu einem Blinddarmdurchbruch kommen können, was extrem gefährlich für sie geworden wäre. Jedenfalls hatte ihr das der Arzt prophezeit, als sie nach der Notoperation aus der Narkose erwacht war.
»Und warum gehst du dann früher?«, fragte Lise, die eben den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Ein heißes Date?«
Sophie warf der Frau einen finsteren Blick zu, da sie diejenige war, die sie mit dem trunksüchtigen Vergewaltiger Carl verkuppelt hatte. Diese Sache hatte sie ihr noch immer nicht verzeihen können. Schon gar nicht, seit sie gehört hatte, dass der Kerl nackt über den Parkplatz getanzt war und sein bestes Stück zur Schau gestellt hatte, nachdem sie bereits abgefahren war. Sie hatte am nächsten Tag darüber in der Zeitung gelesen und dann das Video im Internet gesehen. Oder besser gesagt die zahlreichen Videos, die inzwischen kursierten.
Die Clips waren längst viral gegangen. Zwar hatte Sophie ziemlich schnell durchschaut, was für ein Dreckskerl Carl in Wirklichkeit war. Aber das hier war so dermaßen daneben, dass sie deswegen auf Lise umso wütender war. Wie hatte ihre Kollegin nur jemals glauben können, Carl sei eine gute Partie für sie?
»Es ist kein heißes Date«, erwiderte sie gereizt, entschied dann aber, Lise einfach zu ignorieren und sich stattdessen auf Megan zu konzentrieren, der sie widerwillig gestand: »Es ist mehr ein Gefälligkeitsdate.«
Abrupt zog Megan die Augenbrauen hoch. »Ist das dein Ernst? Du gehst an einem Dienstag früher nach Hause, weil du ein Date hast?«
»Ich hatte auf Tag und Uhrzeit keinen Einfluss, Megs«, gab Sophie amüsiert zurück. »Es ist eine Hochzeit.«
»Wer heiratet denn an einem Dienstag?«, fragte Megan prompt, der allein schon die Vorstellung abwegig schien.
Ehe Sophie antworten konnte, betrat Bobby – Megans Bruder und ebenfalls ein Kollege – an Lise vorbei das Büro. »Ist es jemand aus der Familie?«, fragte er.
»Aus der Familie?«, wiederholte Sophie belustigt. »Wieso? Heiratest du etwa?«
»Nein, bloß nicht«, erwiderte Bobby und riss erschrocken die Augen auf. »Elizabeth und ich sind erst ein paarmal zusammen ausgegangen. Außerdem habe ich vor, auf ewig Single zu bleiben.«
»Okay. Da du, Megan und Mama und Papa meine gesamte Familie darstellen, kann es wohl niemand aus der Familie sein, der heiratet, nicht wahr?«, konterte Sophie und lächelte liebevoll den Mann an, der für sie wie ein Bruder war, seit seine Eltern sie im Teenageralter als Pflegekind zu sich genommen hatten.
»Oooh, wie süß von dir. Wir haben dich auch lieb«, sagte Megan mit strahlender Miene, hakte aber in der nächsten Sekunde nach: »Und wer heiratet nun?«
Sophie seufzte resigniert. Sie hatte gewusst, dass es dazu kommen würde, wenn die anderen etwas mitbekamen. Deshalb hatte sie auch gehofft, sich unbemerkt aus dem Büro stehlen zu können. Sie hätte wissen müssen, dass das zum Scheitern verurteilt war. Jeder, den sie zu ihrer Familie zählte, arbeitete, bis auf ihre Pflegemutter Deb, in dieser Zweigstelle der Versicherungsgesellschaft, die von ihrem Pflegevater George geleitet wurde. Er war auch der Geschäftsführer, seit Sophie nach dem Abschluss der Universität hier angefangen hatte zu arbeiten. Das Gleiche galt für ihre Pflegegeschwister Megan und Bobby. Und so wie Geschwister nun mal waren, hatte sie gewusst, dass die beiden bis ins Kleinste informiert werden wollten, wenn es ihr nicht gelang, unbemerkt das Büro zu verlassen.
Ihr war klar, dass sie ihnen ohne einen ausführlichen Bericht nicht davonkommen würde. Daher warf sie Lise einen finsteren Blick zu, die eine von nur wenigen Kolleginnen war, die nicht zur Familie gehörten. »Na ja«, begann sie. »Ihr erinnert euch ja bestimmt an mein verheerendes Date am vergangenen Wochenende.«
»Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leid tut«, warf Lise aufgebracht ein. »Carl schien mir ein netter Kerl zu sein. Woher sollte ich wissen, dass er sich als Perverser entpuppt?«
Ehe Sophie darauf etwas erwidern konnte, rief Megan entsetzt dazwischen: »Oh mein Gott! Du begleitest doch nicht etwa wirklich diesen perversen Kerl, mit dem Lise dich verkuppeln wollte, zu einer Hochzeit oder etwa doch? Als deine ältere Schwester verbiete ich dir das!«, verkündete sie und straffte die Schultern.
»Du bist nur einen Monat älter als ich, Megs«, stellte Sophie lächelnd klar. Allerdings wies sie Megan nicht darauf hin, dass sie beide genau genommen gar keine Schwestern waren, denn für Sophie fühlte es sich so an, als seien sie echte Geschwister. Die Tomlinsons waren die einzige Familie, die sie hatte, das hatte sie fast schon ab dem ersten Augenblick empfunden, als sie mit vierzehn von ihnen in ihr Haus aufgenommen worden war. Und sie wusste auch, dass sie von ihnen wie eine leibliche Tochter angesehen wurde. Stattdessen sagte sie: »Es ist alles in Ordnung. Ich gehe nicht mit Carl da hin, sondern mit Tybo. Dem Mann, der mir zu Hilfe gekommen ist.«
»Du meinst diesen Helden, der Carl den Perversen mit einer Hand am Kragen gepackt und dann in der Luft hat baumeln lassen?«, fragte Bobby interessiert.
»Genau der«, sagte Sophie und nickte.
Anstatt sich beruhigt zu zeigen, sah Megan sie nur noch fassungsloser an. »Dein Held hat dich tatsächlich angerufen, und euer erstes Date besteht darin, dass du ihn zu einer Hochzeit begleitest?«
»Es ist nicht unser erstes Date«, gab sie zu. »Er hatte mich schon am Montagabend angerufen, daraufhin haben wir uns auf einen Kaffee getroffen.« Sie hielt inne, schürzte die Lippen und fragte in die Runde: »Das zählt doch als Date, oder nicht?«
»Nein«, sagte Bobby grinsend.
»Ein richtiges Date besteht aus einem Abendessen und einem Kinobesuch oder einem Abendessen mit anschließendem Tanzen oder einem Konzert oder irgendwas in dieser Art. Aber zwanzig Minuten in einem lärmenden, grellen Café mit Kaffeebechern aus Pappe und Donuts auf Papptellern – das ist kein Date,« befand Megan.
»Nicht? Na gut. Dann schätze ich, dass die Hochzeit unser erstes richtiges Date sein wird«, meinte Sophie mit einem Schulterzucken. Sie hatten zwar eine Stunde im Café verbracht und nicht nur zwanzig Minuten, aber sie hatte nicht den Eindruck, dass es etwas bringen würde, auf diesen Umstand hinzuweisen.
»Oh mein Gott, Sophie!«, rief Megan aufgebracht. »Ist das dein Ernst? Seit wann bist du denn zur Masochistin geworden, die jedes Risiko eingeht?«
»Ich gehe kein Risiko ein«, versicherte Sophie ihr. »Tybo ist ein Cop. Ich dürfte bei ihm sicher aufgehoben sein.«
»Ein Polizist?«, fragte Bobby erstaunt. »Tatsächlich?«
»Ja«, bestätigte Sophie und musste über seine Reaktion lächeln, da sie selbst auch erstaunt gewesen war, als sie es erfahren hatte. Tybo war ihr gar nicht wie ein Polizist vorgekommen, allerdings musste sie auch zugeben, dass sie gar nicht wusste, was einen typischen Polizisten ausmachte.
»Okay«, sagte Megan. »Er ist also Polizist. Das heißt, du bist weniger risikofreudig, dafür aber durch und durch eine Masochistin.«
»Bin ich nicht«, protestierte Sophie lachend, auch wenn sie sich gerade fragte, ob da womöglich etwas Wahres dran war. Immerhin war es nicht gerade üblich, sein erstes Date auf einer Hochzeit zu haben, denn sie würden dort unter Umständen seinen Freunden und Kollegen und vielleicht sogar seiner Familie begegnen. Also alles andere als eine entspannte Atmosphäre, um sich näher kennenzulernen.
»Ich hatte das Gefühl, dass ich ihm das Date schuldig bin, weil er mir mit Carl geholfen hatte. Ich konnte einfach nicht Nein sagen.« Das Eingeständnis ließ sie innerlich aufseufzen.
»Du bist ihm gar nichts schuldig«, konterte Megan energisch.
Sophie zuckte erneut mit den Schultern. »Es ist alles in Ordnung, Megs. Tybo ist höflich und witzig, er sieht gut aus, und er macht einen netten Eindruck. Und mal ehrlich: Was kann denn schon eine Hochzeit als Schauplatz für ein erstes Date überbieten? Ich muss mir keine Sorgen machen, von irgendwem belästigt zu werden, wenn ich mich bei einem Polizisten untergehakt durch den Saal bewege, in dem alle den Ententanz tanzen.«
»Ja, vermutlich hast du recht«, räumte Megan ein, die dennoch nicht restlos überzeugt zu sein schien.
»Und, Schwarze Witwe? Hast du ihm von deinem Fluch erzählt?«, wollte Bobby plötzlich wissen.
Sophie warf ihm einen wütenden Blick zu. »Ich bin nicht verflucht, und hör auf, mich Schwarze Witwe zu nennen!«
»Aber klar«, meinte Bobby und fragte dann mit Unschuldsmiene: »Wie viele Freunde sind dir bislang weggestorben? Drei oder vier?«
»Zwei«, knurrte Sophie. »Nur zwei, und beides waren Unfälle.«
»Wirklich nur zwei?«, gab Bobby skeptisch zurück. »Okay, du hattest nur vor, dich mit Andrew zu verloben, und sein Körper lebt ja auch noch, aber trotzdem ist er praktisch hirntot und wird von Maschinen am Leben erhalten.«
Mit einem gedehnten Seufzer griff Sophie nach ihrer Handtasche und entgegnete leise: »Ich bin nicht verflucht. Es ist purer Zufall, dass die drei Männer, mit denen ich verlobt oder fast verlobt war, in schreckliche Unfälle verwickelt wurden.«
»Schätzchen, zwei sind ein Zufall, aber drei sind ein Fluch«, betonte Bobby ironisch.
Sophie reagierte mit einem Kopfschütteln, legte sich den Tragegurt der Laptoptasche über die Schulter, zog den Sweater von der Stuhllehne und ging zur Tür. »Wir sehen uns morgen.«
»Warte!«, rief Bobby ihr hinterher und folgte ihr zum Empfangsbereich. »Wo findet diese Hochzeit statt?« Als Sophie stehen blieb und sich mit sichtlich verärgerter Miene zu ihm umdrehte, lächelte er ein wenig verlegen. »Du weißt, dass das mit dem Fluch nur Spaß war.«
»Ja«, sagte sie grimmig, entspannte sich dann aber ein wenig. Tatsächlich wusste sie, dass er sie damit nur auf den Arm nehmen wollte. Doch der Umstand, dass sie in jungen Jahren ihre Eltern verloren hatte, später dann eine gute Freundin sowie zwei Verlobte und einen Beinahe-Verlobten, hatte sie durchaus darüber nachdenken lassen, dass sie sehr wohl verflucht sein könnte. Mit seiner spaßigen Bemerkung traf er daher bei ihr stets einen wunden Punkt.
»Du solltest uns wirklich sagen, wo du hingehst, Sophie«, sagte Bobby in ernstem Tonfall. »Einfach nur für alle Fälle. Dann wissen wir wenigstens, wo wir mit der Suche nach dir anfangen müssen, wenn du spurlos verschwindest.«
Sie setzte ein schiefes Lächeln auf und erwiderte mit einem Hauch von Sarkasmus: »Das ist genau das, was ich an dir so liebe, Bobby. Du verlierst nie das Positive aus den Augen.«
»Und du kannst immer darauf zählen, dass ich mich um dich sorge, auch wenn es sonst keiner macht«, betonte Bobby.
»Ja«, hauchte sie. Ihr Sarkasmus wich einem Gefühl von Zuneigung, als sie zu ihm zurückging, ihn an sich drückte und ihm einen Kuss auf die Wange gab. Dann löste sie sich von ihm und erklärte: »Ich weiß nicht, wo die Hochzeit stattfindet. Ich habe vergessen, ihn danach zu fragen. Aber ich bin mir sicher, dass alles in Ordnung sein wird. Falls es irgendwelche Probleme gibt, rufe ich sofort an.«
»Tu das«, sagte Bobby mit Nachdruck. »Achte drauf, dass dein Handy vollständig geladen ist, und vergiss bloß nicht, es auch einzustecken. Sobald du weißt, wohin es geht, schickst du mir eine SMS«, beharrte er. »Und wenn dir irgendetwas nicht behagt, dann ruf mich an, und ich komme dich holen.«
»Danke, Bobby«, sagte Sophie in sanftem Tonfall, drückte seinen Arm und machte sich auf den Weg.
»Wie fühlst du dich? Alles in Ordnung?«, fragte Tybo, als er sie zu den Zelten im hinteren Bereich des Shady-Pines-Golfplatzes führte. Jedenfalls glaubte Sophie, dass Tybo diesen Namen für den Ort genannt hatte, an dem die Hochzeit stattfinden sollte. Ganz sicher war sie sich allerdings nicht, denn als er es gesagt hatte, war sie viel zu sehr von dem Hubschrauber abgelenkt gewesen, zu dem er sie geführt hatte.
Himmel, ein Hubschrauber! Als er davon gesprochen hatte, sie würden den Bräutigam Valerian zur Hochzeit begleiten, da war sie davon ausgegangen, dass er eine Limousine meinte, nicht aber einen Hubschrauber. Sophie war noch nie in einem Hubschrauber geflogen, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie das noch ein zweites Mal machen wollte. In der Maschine war es unglaublich laut gewesen und so gar nicht wie in einem Flugzeug.
Als ihr bewusst wurde, dass sie noch gar nicht auf seine Frage geantwortet hatte und Tybo ihr einen besorgten Blick zuwarf, setzte sie ein Lächeln auf. »Mir geht’s gut.« Dann platzte sie heraus: »Das war mein erster Flug in einem Hubschrauber.«
»Darauf wäre ich nie gekommen«, erwiderte er mit todernster Miene, aber einem verräterischen Funkeln in den Augen.
Sophie reagierte mit einem Schnauben auf seine offensichtliche Lüge, während er zügig weiterging, um sie zu den Gästen zu begleiten, die sich um die Zelte scharten. Das Gebäude daneben musste wohl das Clubhaus sein. Es gab zwei Zelte, eines mit etlichen Stuhlreihen, die durch einen Mittelgang voneinander getrennt wurden. Der Gang führte zu einem ausladenden Podium, auf dem vermutlich die Zeremonie stattfinden würde. Im zweiten, noch größeren Zelt standen Tische und Stühle um einen freien Bereich herum angeordnet, der wohl als Tanzfläche dienen sollte. Sonst fiel ihr auf Anhieb an den Zelten nichts Besonderes auf, aber sie war auch viel zu sehr von den Leuten abgelenkt, von denen sie umgeben war.
Lieber Himmel, es kam ihr vor, als wäre sie in ein Fotoshooting für ein Modemagazin oder etwas in der Art geraten. Praktisch jeder der Anwesenden sah fantastisch aus, war jung und hatte sich wer weiß wie herausgeputzt.
Unwillkürlich sah Sophie an sich herab. Sie war sich nicht sicher gewesen, was sie für eine Hochzeit an einem Frühabend im Herbst anziehen sollte. Letztlich hatte sie sich für ein dunkelblaues, ausgestelltes Kleid mit einem taillierten Oberteil, kurzen Ärmeln und rundem Ausschnitt entschieden. Blassrosa Blumen zierten den Saum des Kleids und wurden nach oben hin Stück für Stück dunkler, bis sie ganz ins dunkle Marineblau des taillierten Oberteils übergingen. Zu ihrer großen Erleichterung war sie für den Anlass weder overdressed noch underdressed und würde inmitten der anderen Frauen nicht unangenehm auffallen. Zumindest hoffte sie das.
»Du siehst perfekt aus.«
Sophie sah Tybo erstaunt an, als sie sein Kompliment hörte, lächelte ihn an und fühlte sich gleich etwas besser.
»Als Trauzeuge muss ich vor der Trauung noch ein paar Dinge erledigen«, sagte er ein wenig betreten. »Aber ich habe Freunde von mir gebeten, dir vor und während der Zeremonie Gesellschaft zu leisten. Die beiden sind Marguerite und Julius Notte.«
»Ja, natürlich«, murmelte Sophie so, als wäre das zu erwarten gewesen – was sie genau genommen auch hätte tun sollen. Immerhin wusste sie ja, dass Tybo der Trauzeuge war, und allein deswegen hätte ihr klar sein müssen, dass sie bis zum Ende der eigentlichen Trauung ohne diesen Mann an ihrer Seite auskommen musste. Aber sie hatte einfach nicht darüber nachgedacht. Sie war davon ausgegangen, dass er zumindest eine Weile bei ihr bleiben würde, ehe die Zeremonie begann.
Na, toll, dachte sie und seufzte innerlich. Damit war sie von fremden Menschen umgeben, die alle Angehörige oder Freunde eines Brautpaars waren, das sie auch nicht persönlich kannte. Wie hatte sie sich nur auf ein solches Date einlassen können?
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Tybo in einem besänftigenden Tonfall, als hätte er ihr angesehen, dass sie ihre Zusage zu diesem Date bereits bereute. »Die beiden sind Valerians Tante und Onkel. Du wirst sie mögen.«
»Ganz bestimmt werde ich das«, sagte sie, obwohl sie davon gar nicht so überzeugt war. Immerhin war davon auszugehen, dass das arme ältere Ehepaar sich dazu verpflichtet fühlte, ihr Gesellschaft zu leisten, und es schon jetzt bereute, sich diese Last aufgebürdet zu haben.
»Die beiden werden dich ganz sicher mögen«, sagte Tybo aufmunternd, da er ihr allem Anschein nach auch jetzt ihre Reaktion angemerkt hatte.
Sophie unterdrückte den missbilligenden Ausdruck, der von ihren Gesichtszügen Besitz ergreifen wollte, und zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene. Es ärgerte sie, dass er ihr so leicht ansehen konnte, was ihr gerade durch den Kopf ging, denn normalerweise schaffte das kaum jemand. Schon in jungen Jahren hatte sie gelernt, ihre Gefühle so zu unterdrücken, dass man weder an ihren Worten noch an ihrem Gesichtsausdruck ablesen konnte, was sie gerade empfand. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie nichts von sich preisgab und ihr niemand ihre Gefühlsregungen ansehen konnte. Nach diesem Motto war sie stets vorgegangen. Doch aus einem unerfindlichen Grund schien Tybo kein Problem damit zu haben, ihre Gedanken und Gefühle zu erahnen, was sie wiederum wütend machte.
»Glaub mir«, fügte Tybo hinzu. »Du wirst dich mit Marguerite bestens verstehen, und sobald die Trauung vorüber ist, hole ich dich zum Festessen ab.«
»Einverstanden«, sagte sie nur mit ausdrucksloser Miene, während sie sich sagte, dass das Ganze ohnehin nicht so lange dauern würde. Hochzeitszeremonien waren doch eine zügige Angelegenheit, wenn sie sich nicht irrte. Im Wesentlichen ging es um das »Nimmst du sie zur Frau?« und »Nimmst du ihn zum Mann?« und dann noch »Du darfst die Braut küssen«, und das war es dann doch auch schon, richtig? Jedenfalls kannte sie es so aus dem Fernsehen.
»Ah, da ist ja Marguerite.«
Sophie ließ ihre Gedanken für den Augenblick auf sich beruhen und schaute sich um. Die Nachricht, dass der Bräutigam eingetroffen war, musste sich herumgesprochen haben, da sich mit einem Mal alle in Bewegung setzten und auf das Zelt zusteuerten, in dem die Trauung stattfinden sollte – darunter auch jene Tante und jener Onkel, von denen Tybo gesprochen hatte. Das nette ältere Ehepaar, dachte sie. Als sie jedoch sah, auf wen Tybo zeigte, war sie so verdutzt, dass sie prompt ins Stolpern geriet.
»Hoppla«, sagte Tybo und bekam ihren Arm zu fassen, damit sie nicht hinfiel. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als sie wieder sicher stand.
»Ja, danke«, sagte sie. »Aber das können wohl kaum Valerians echte Tante und Onkel sein, nicht wahr? Das muss doch so was wie ein Spitzname sein, richtig?«
»Nein, nein, die beiden sind seine Tante und sein Onkel«, versicherte er ihr und legte den Kopf schräg. »Wie kommst du darauf?«
»Na, weil sie dafür nicht alt genug aussehen«, antwortete sie.
Tybo lachte nur leise über ihre Bemerkung und sagte: »Komm, ich stelle sie dir vor. Du wirst sie mögen.«
Als er sie vor sich herschob, leistete sie keinen Widerstand, sondern richtete den Blick auf das Paar, um die zwei eingehender zu mustern.
Valerians Tante schien nicht viel älter als fünfundzwanzig zu sein. Sie sah hinreißend aus, hatte eine atemberaubende Figur, kastanienbraunes Haar, große Augen und volle Lippen. Der Mann an ihrer Seite – angeblich der Onkel – war ebenfalls nicht zu verachten. Auch er schien Mitte bis Ende zwanzig zu sein, war dunkelhaarig und verdammt sexy. Er hatte keine Ähnlichkeit mit dem blonden Valerian, außer dass sie beide gleich alt zu sein schienen, was für einen Onkel ungewöhnlich war, überlegte Sophie, als Tybo mit ihr vor dem Paar stehen blieb, in dessen Obhut er sie für die Dauer der Trauung geben wollte.
»Marguerite, du siehst so reizend aus wie immer«, begrüßte er sie und ließ Sophie los, um die Frau kurz zu umarmen und dem Mann an ihrer Seite die Hand zu schütteln. Dann machte er einen Schritt nach hinten, fasste Sophie wieder am Arm und zog sie mit sich nach vorn. »Das ist meine wunderschöne Begleitung Sophie Ferguson. Sophie, das sind Marguerite Argeneau-Notte und ihr Ehemann Julius Notte.«
»Hi«, sagte Sophie und reichte der Tante ihre Hand. Anstatt sie nur kurz zu schütteln und gleich wieder loszulassen, fasste Marguerite Argeneau-Notte sie mit beiden Händen und hielt sie fest.
Sophie wollte schon eine Augenbraue hochziehen und einen bedeutungsvollen Blick auf ihre Hände werfen, damit sie endlich losließ. Doch bevor sie dazu kam, wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Augen der Frau gelenkt, die von einem ausnehmend schönen Silberblau waren. Die Farbe an sich war schon faszinierend, aber was Sophie völlig in den Bann schlug, war der Umstand, dass das Silber sich über das Blau hinaus auszudehnen schien. Dabei hatte sie das Gefühl, als würde die Frau mit ihrem Blick ein Loch in Sophies Stirn bohren, so intensiv starrte sie sie an. Es hatte etwas Bizarres und Beunruhigendes an sich, und sie war drauf und dran, die Frau anzuherrschen, doch einfach ein Foto von ihrer Stirn zu machen, wenn die so rasend interessant war. Doch die Worte verstummten in dem Moment, als das Gefühl erlosch, da Marguerite ihre Hand losließ und sich zu Tybo umdrehte.
»Sie ist sehr nett, Tybo … und etwas Besonderes«, verkündete die Frau in ernstem Tonfall.
Während Sophie sich über diese Worte wunderte, grinste Tybo nur und sagte an die andere Frau gewandt: »Da hast du völlig recht.« Dann drehte er sich zu Sophie um und fuhr fort: »Ich habe dir ja gesagt, dass Marguerite dich mögen wird.«
Sie reagierte nur mit einem unschlüssigen Lächeln. Sie waren sich eben erst begegnet, und sie gleich als »etwas Besonderes« zu bezeichnen, erschien ihr einfach lächerlich. Ehe sie sich aber dazu äußern konnte, erklärte Marguerite: »Ich kenne da einen bestimmten Mann, der sie noch mehr mögen wird.«
Sophie zog bei dieser rätselhaften Bemerkung die Augenbrauen zusammen, doch nicht nur sie war darüber erstaunt.
»Was?«, fragte Tybo aufgebracht.
»Ich glaube, sie wird perfekt zu jemandem passen, der heute hier ist«, fuhr Marguerite fort.
Sophie verstand kein Wort, und sie hatte keine Ahnung, von wem oder was die Frau da redete. Sie würde perfekt zu jemandem passen? Was sollte das bedeuten? Sie war Tybos Begleitung, und zu ihrer großen Erleichterung ließ er das Marguerite nun auch wissen, obwohl seine Stimme mehr weinerlich als aufgebracht klang: »Aber sie ist meine Begleiterin.«
»Das mag sein, Tybo, aber ich glaube, Alasdair muss sie unbedingt kennenlernen«, gab Marguerite in ernstem Tonfall zurück.
Völlig ungläubig starrte Sophie die Frau an, während Tybo nur resigniert dreinschaute und fragte: »Muss das sein?«
Marguerite nickte nur.
»Aber ich mag sie«, jammerte Tybo, woraufhin Sophie ihn völlig fassungslos ansah. Für sie klang es so, als wäre er kurz davor, Marguerites Vorschlag zuzustimmen, sie einem anderen Mann vorzustellen. Was zum Teufel war hier los?
Sie stieß Tybo den Ellbogen in die Seite, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und warf ihm das zu, was Bobby immer als ihren »Todesblick« bezeichnete. »Würdest du mir freundlicherweise erklären, was das hier soll? Ich bin deine Begleitung, aber ich bin nicht hier, um von einem Mann zum nächsten herumgereicht zu werden.«
»Natürlich nicht«, versicherte Tybo ihr hastig und fuhr sich frustriert durchs Haar. Er murmelte etwas vor sich hin, sah auf seine Armbanduhr und verzog den Mund. »Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Ich muss los und die Ringe in Sinbads Korb legen.«
Sophie kam nicht dazu, etwas zu erwidern, da er sich an Marguerite wandte und sagte: »Du wirst dich um Sophie kümmern müssen. Aber sie ist heute Abend mein Date. Sie ist als meine Begleitung hergekommen, und sie wird auch als meine Begleitung von hier weggehen.«
»Tybo …«, begann Marguerite mit warnendem Unterton, doch Tybo sah sie noch finsterer an.
»Ich werde den ganzen Abend der perfekte Gentleman sein, und dann werde ich sie nach Hause bringen. Ich werde bei dieser Hochzeit nicht mit mir selbst tanzen. Heute Abend ist sie mein Date, Marguerite. Alasdair kann sie meinetwegen morgen haben.« Er wartete nicht ab, was Marguerite dazu zu sagen hatte, sondern machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.
Sophie sah ihm hinterher und musste sich zwingen, ihm nicht nachzulaufen und eine Erklärung zu verlangen. Sie hatte nichts von dem verstanden, was die beiden da geredet hatten, und das gefiel ihr gar nicht. Noch weniger gefiel ihr aber seine Bemerkung, dieser Alasdair könne sie ja morgen haben.
»Meine liebe Sophie.«
Sie wandte ihren Blick von Tybo ab, der zielstrebig davoneilte, und widmete sich der anderen Frau, da sie erwartete, von ihr die Erklärung zu bekommen, die Tybo ihr vorenthalten hatte.
Doch anstatt irgendetwas zu erklären, schaute Marguerite sie so eindringlich an wie bereits vor ein paar Minuten. Dann sagte sie: »Es ist alles in Ordnung. Meine Diskussion mit Tybo ist für dich ohne Bedeutung. Am besten vergisst du sie einfach.«
Seltsamerweise nickte Sophie zustimmend und war mit einem Mal davon überzeugt, dass diese Unterhaltung für sie selbst ohne jede Bedeutung war. Nichts, woran sie sich erinnern müsste. Sie konnte das Gehörte ganz einfach vergessen, sagte sie sich, während Marguerite sie am Arm fasste und mit sich ins Zelt zog.
»Dann ist Valerian endlich eingetroffen?«
Alasdair, der auf seinem Stuhl halb eingeschlafen war, schreckte bei Lucian Argeneaus Frage leicht hoch und drehte sich zu dem Mann um, der offenbar zusammen mit seiner Frau Leigh gleich neben ihm Platz genommen hatte. Der Sohn und die Tochter der beiden saßen neben ihnen. Als Oberhaupt des Nordamerikanischen Rats der Unsterblichen war Lucian ein mächtiger und zugleich uralter Mann, auch wenn man ihm das nicht ansehen konnte – jedenfalls nicht, dass er uralt war. Mit seinem platinblonden Haar, den silbrig-blauen Augen und seinem jugendlichen Aussehen schien er nicht älter als achtundzwanzig oder neunundzwanzig zu sein. Nichts an ihm verriet die Jahrtausende, die er in Wahrheit alt war. Was seine Macht anging, konnte man die seinem Auftreten und dem eiskalten Blick eindeutig anmerken, überlegte Alasdair. Dann wurde ihm bewusst, dass der Mann gar nicht ihn meinte, sondern jemanden, der sich hinter ihm befand.
Alasdair drehte sich um und entdeckte seinen Zwillingsbruder Colle, der zwischen den beiden Stuhlreihen hindurch auf sie zusteuerte. Während Colle damit beschäftigt gewesen war, die mit den Hubschraubern eintreffenden Gäste per Golfwagen zu den Zelten zu fahren, hatte Alasdair dabei geholfen, die Stühle für die Trauung aufzustellen. Damit war er vor einer Ewigkeit fertig gewesen, hatte lange Zeit nur dagestanden und sich schließlich hingesetzt, um darauf zu warten, dass die Zeremonie endlich losging. Zwischenzeitlich war er eingenickt.
Verdammt, Hochzeiten waren offenkundig eine todlangweilige Angelegenheit, dachte er ein wenig missmutig. Bislang hatte er noch keine Hochzeit mitgemacht, da Valerian der Erste ihrer Generation war, der vor den Traualtar trat.
»Ja, Valerian ist eingetroffen«, antwortete Colle und nahm neben Alasdair Platz. »Er ist mit Tybo und dessen Begleitung hergekommen, womit wir vollzählig sind. Die Trauung dürfte bald beginnen.«
»Gut, dann werden wir ja auch bald essen können«, raunte Lucian ihm zufrieden zu. »Ich hoffe, Natalie hat diese gewickelten Dinger mit Erdnussbutter und Hühnchenfleisch zubereitet, die ich so gern esse.«
»Thai Chicken Wraps«, korrigierte Alasdair ihn.
»Ja, genau die«, stimmte Lucian ihm zu, auch wenn Alasdair davon überzeugt war, dass der Mann sie weiterhin als ›gewickelte Dinger mit Erdnussbutter und Hühnchenfleisch‹ bezeichnen würde.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Lucians Frau Leigh und schnappte ungläubig nach Luft, gefolgt von einem finsteren Blick, der ihrem Mann galt. »Du kannst doch nicht schon wieder Hunger haben, Lucian. Bevor wir uns auf den Weg gemacht haben, habe ich dir noch etwas zubereitet, um die Wartezeit bis zum Abendessen zu überbrücken.«
»Salat ist kein Essen, Mutter«, warf ihr Sohn Luka ein, der zu Leighs anderer Seite saß und von seinem Vater ein zustimmendes Brummen zu hören bekam.
»Es war ein Caesar’s Salad«, gab Leigh aufgebracht zurück. »Ein Caesar’s Salad ist ein Essen.«
»Salat mit Schinkenwürfel-Imitat und veganem Parmesan aus Knoblauch und Cashewkernen«, knurrte Lucian angewidert.
»Und veganes Dressing«, ergänzte Luka.
»Caesar’s Salad mit Knoblauchbrot«, beharrte Leigh entschieden und ignorierte alle gegenteiligen Kommentare. »Das ist ein Essen.«
»Kaninchenfutter«, grummelten Lucian und Luka gleichzeitig, was Leigh dazu veranlasste, ihnen der Reihe nach einen wütenden Blick zuzuwerfen.
Während Colle nur ausgelassen lachte, wollte Alasdair Leigh nicht vor den Kopf stoßen. Daher sah er in die andere Richtung, hielt sich die Hand vor den Mund und hustete, um sein eigenes Lachen zu überspielen. In diesem Moment bemerkte er eine Frau, die sich ihren Weg durch die Stuhlreihe bahnte. Er hielt inne und starrte sie an. Die Kleine sah reizend aus – gebräunte Haut, große Augen, die so tiefbraun waren, dass sie fast schwarz erschienen, eine schmale, fein gezeichnete Nase, und fast herzförmige Lippen. Ihr langes, welliges Haar war kastanienbraun. Sie war einfach wunderschön und auch ein wenig exotisch. Er vermutete, dass sie von gemischter Herkunft war … und er hatte keine Ahnung, wer sie war. Damit hatte er nicht gerechnet, hatte er doch vor der Hochzeit bereits sämtliche Freundinnen von Natalie kennengelernt, und der Rest der Gäste setzte sich aus Argeneaus, Nottes und MacKenzies und einigen Jägern zusammen, von denen er die meisten kannte.
Immer noch neugierig, um wen es sich da handelte, wanderte sein Blick weiter zu dem Paar, das der Kleinen folgte. Voller Erstaunen stellte er fest, dass es sich dabei um seinen Onkel Julius und dessen Frau Marguerite handelte. Julius schenkte er nur wenig Beachtung, seiner Tante umso mehr, da ihm ein deutliches Funkeln in ihren Augen ebenso auffiel wie das zufriedene, fast wissende Lächeln, das ihre Lippen umspielte.
Ein Hauch von Unbehagen beschlich Alasdair, der sich, ebenso wie sein Bruder, von seinem Platz erhob. Es war reine Gewohnheit, die man ihnen von Jugend an eingebläut hatte: Ein Mann erhob sich immer von seinem Platz, wenn sich eine Dame näherte.
»Alasdair Darling, Colle«, sagte Marguerite und lächelte sie beide strahlend an. »Darf ich euch Sophie Ferguson vorstellen? Sie ist Tybos Begleitung und ist so nett, uns so lange Gesellschaft zu leisten, wie Tybo mit seinen Aufgaben als Trauzeuge beschäftigt ist.«
Alasdairs Blick wanderte zurück zu der Kleinen und er begrüßte sie mit einem freundlichen Nicken, musste dann aber hilflos dabei zusehen, wie Colle zu seiner üblichen Charme-Offensive ansetzte. Zunächst betonte er, dass er das große Glück gehabt hatte, Sophie bereits begegnet zu sein, als er sie und die Jungs am Helikopter in Empfang genommen hatte. Dann erklärte er, wie glücklich er sich doch schätzte, eine so reizende Frau wie sie kennengelernt zu haben und so weiter und so fort.
Normalerweise amüsierte sich Alasdair über das Talent seines Bruders, Angehörige des anderen Geschlechts mit Worten zu umgarnen, zumal er wusste, dass Colle niemals mehr tun würde, als Komplimente zu verteilen und zu flirten. So wie er selbst hatte auch Colle schon vor Jahrhunderten jegliches Interesse an Sex verloren, was für Unsterbliche ab einem bestimmten Alter normal war. Dennoch flirtete Colle aus irgendeinem Grund immer noch gern, und Alasdair hatte damit kein Problem. Diesmal jedoch empfand er die wortreichen Komplimente und das charmante Lächeln als Ärgernis. Am liebsten hätte Alasdair ihm einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst, damit er endlich die Klappe hielt. Aber Marguerite kam ihm zuvor, indem sie Colle ins Wort fiel.
»Lieber Himmel, Colle, der Ärmsten wird ja noch schwindlig, wenn du weiter so auf sie einredest«, sagte sie lachend und fügte hinzu: »Heb dir deinen Charme lieber für die anderen ungebundenen Frauen auf, die heute alle hier sind. Sophie ist nicht deinetwegen hier.«
Die Betonung des deinetwegen und der ernste, bedeutungsvolle Blick, den sie Alasdair zuwarf, ließen diesen wie erstarrt dastehen … Sie sah ihm in die Augen, nickte kurz und fuhr lächelnd fort: »Außerdem ist sie Tybos Date … jedenfalls heute Abend.«
Diese kurze Pause war eine weitere Botschaft gewesen, davon war Alasdair überzeugt, nur wusste er nicht, was sie zu bedeuten hatte. Hatte er ihren ersten Blick falsch gedeutet, und hatte sie ihm sagen wollen, dass Sophie Tybos Lebensgefährtin war? Oder war sie eine mögliche Lebensgefährtin für irgendwen anders, ihn selbst eingeschlossen, weshalb sie heute Abend lediglich Tybos Date war? Er hatte keine Ahnung, und da Marguerite älter war als er, konnte er nicht in ihren Gedanken nach der Antwort suchen. Also richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die hübsche Kleine.
Sie war von zierlicher Statur, was ihr schönes Kleid sehr gut zur Geltung brachte. Sie war höchstens eins sechzig oder eins fünfundsechzig groß und schlank, aber unübersehbar kurvenreich und mit wohlgeformten Beinen.