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"Es war in der Zeit, wo die Frauen noch lange Haare und kurzen Verstand hatten und demgemäß in der Versammlung schweigen mussten, dafür aber von Küche und Alkoven aus desto herzhafter die Welt regierten", so beginnt dieser ergreifende Roman. Dieses Schicksal einer Frau wäre auch der Gelehrtentochter Vanadis Folkwang bestimmt gewesen, hätte sie nicht von Anfang an ihren eigenen Kopf gehabt. Und so geht sie ihren Weg, der von schweren Verlusten und überraschenden Wendungen geprägt ist bis zum Ende. AUTORENPORTRÄT Isolde Kurz (1853 – 1944) war eine deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre Kindheit nahe Stuttgart schilderte sie später als idyllisch, jedoch nicht frei von Konflikten zwischen dem freigeistigen Lebens- und Erziehungsstil ihrer Eltern und den bodenständigen Anschauungen der Dorfbevölkerung. Seit 1873 lebte sie für über 40 Jahre in Florenz. Ihre Novellen und Erzählungen spielen meist in Mittelitalien. Sie starb - 90jährig – in Tübingen.
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Seitenzahl: 891
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Saga
Das Lebendge will ich preisen,
das nach Flammentod sich sehnet
Goethe
Es war in der Zeit, wo die Frauen noch lange Haare und kurzen Verstand hatten und demgemäß in der Versammlung schweigen mußten, dafür aber von Küche und Alkoven aus desto herzhafter die Welt regierten. In jenen dunklen Tagen, die noch gar nicht so fern sind, wie es heute scheinen mag, wuchs auf einem Herrensitz in nächster Nähe einer süddeutschen Kreisstadt ein kleines Mädchen auf, das den Namen Vanadis trug. Ihr Vater, der Mythenforscher Heinrich Folkwang, hatte ihr gegen den Widerspruch der ganzen Verwandtschaft diesen Namen gegeben, der bei unsern Altvordern soviel wie Göttin oder „Dîs“ der Wanen bedeutete und ein Zuname der Freya war. Nur ein so eigenbrötlerischer und sonderbarer Herr wie dieser Professor Folkwang, sagten die Leute, konnte sich darauf versteifen, ein Kind mit so fremdartigem Namen ins Leben hinauszuschicken. Er war in der Tat ein steifnackiger Gelehrter, von der Waterkant gebürtig, der sich durch Schriften und Vorlesungen mit den Häuptern seiner Zunft verfehdet hatte, worüber ihm eine aussichtsreiche akademische Laufbahn in die Brüche ging. Seit dem frühen Tod seiner entzückenden jungen Frau litt er an zeitweiligen Gemütsstörungen, die sich als Menschenscheu und Schwermut äußerten. Darum war er, dem Drang nach Einsamkeit folgend, zu seinen Schwiegereltern, den van der Mühlens, in das alte Herrenhaus übergesiedelt, den letzten Rest eines ehemals umfang- und ertragreichen Ritterguts, das der jetzige Besitzer, dem es durch Heirat zugefallen war, wegen Schulden stückweise verkauft und der aus ihren alten Toren herausdrängenden Stadt als Baugrund überlassen hatte. Das Haus besaß schöne Verhältnisse und einen stattlichen Aufgang, war aber äußerlich ein wenig herabgekommen, weil die Mittel zur Instandhaltung fehlten. Dagegen bewahrte der Park, den ein alter Gärtner versah, noch die Erinnerung einstigen Glanzes. Da standen herrliche Baumgruppen und steinerne Götterfiguren, die freilich ihre Glieder nicht mehr alle beisammen hatten, und deren schönste, eine Hebe, neben ihrem Sockel im Grase lag, von Moosen überklettert. Was aber diesen Garten von allen anderen Gärten unterschied, war ein Bächlein mit flachen Borden, das fast in gleicher Höhe mit dem Rasen hinlief, das Anwesen in zwei Hälften schnitt, und das den wilden Knaben des Hauses Folkwang, solange sie klein waren, eine gern benützte Gelegenheit zum Hineinfallen gab. Ein Brücklein überspannte es und führte in den Waldgrund hinüber, das Überbleibsel eines bedeutenden Forstes, den Herr van der Mühlen bei Geldknappheit nach und nach hatte schlagen lassen. Dieser einst sehr lebenslustige Herr kam in der Zeit, wo unsere Geschichte beginnt – das war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts –, nur noch selten aus seinem Zimmer im oberen Stockwerk herunter und glitt alsdann wie sein eigenes Gespenst durchs Haus. Er war schwachsinnig geworden und vergaß immer wieder, daß die lärmende Jugend unten im Garten seines Blutes war, wie oft seine noch sehr lebensvolle Gemahlin, die geliebte Schutzgöttin der Kinderschar, ihn an diese Tatsache erinnerte. Nur die kleine Vanadis kannte er als seine Enkelin. Sie brachte ihm zuweilen einen Strauß Blumen aufs Zimmer, worüber er eine närrische Freude bezeigte. Sie war ein eigenes Geschöpf, die kleine Vanadis oder Vana, wie sie sich selber nannte. Um sich vor der Wildheit der Knaben, die sie auf Schritt und Tritt bedrängten, zu retten, schuf sie sich eine eigene abseitige Welt. Wenn der Vater seinen Spaziergang machte, schmuggelte sie sich in sein Zimmer, um, was ihr von seinen Büchern dem Titel oder den Abbildungen nach verlockend war, vom Bord zu stehlen, denn sie hatte viel früher als andere Kinder lesen gelernt. Mit ihrem Raub flüchtete sie unter die niederhängenden Zweige einer gewaltigen Zeder, die ihr fernab vom Tohuwabohu der Brüder ein häusliches Obdach bot, und verschlang wahllos, was sie ergattert hatte. Sie nannte diese Zuflucht „Schloß Tronje“ und den umgebenden Moosgrund mit Leberblümchen und Steinnelken den „Garten Immerschön“. Das Gelesene erzählte sie der großen Lumpenpuppe, die sie überall mit sich trug. Sie besaß zwar Puppen in Menge, aber sie spielte mit keiner andern. Nur für diese eine aus Werg und Zeuglappen war sie auf den ersten Blick erglüht. Und doch konnte man nichts Häßlicheres sehen als diese Puppe: Mund, Kinn und Nase waren aus Stoff gezupft und genäht, die Augen bestanden aus flachen schwarzen Perlen und funkelten mitunter ganz schreckhaft, daß das kleine Ding ein dämonisches Ansehen bekam. Eine rote Mütze machte sie noch häßlicher. Überdies war sie von den wilden Griffen der Brüder in der Mitte eingeknickt, so daß sie, wollte man sie frei halten, vornüber sank. Vanadis liebte sie ob dieses Leibschadens nur noch mehr, wie eine Mutter ihr krankes Kind vor allen andern bevorzugt.
Was kommt der Wirkung gleich, die ein den elterlichen Garten durchströmendes Wasser auf die kindliche Phantasie auszuüben vermag! Es war ein bewegliches Eigentum inmitten eines unbeweglichen, es kam und ging ohne Unterlaß, war nicht zu halten und war doch immer da. Innerhalb und außerhalb des van der Mühlenschen Gutes hieß dieses Wässerlein von jeher nur „der Bach“. Die kleine Vanadis gab ihm einen Namen; nach seiner leisen, singenden Stimme nannte sie ihn das „Bächlein Lirili“. Er gab ihr mit seinem eilenden Gang, der aus dem Unbekannten kam und ins Unbekannte ging, die sehnsüchtige Ahnung der Ferne. Wenn sie eine Blume hineinwarf, so lief sie jubelnd mit, sah sie diese dann in dem schmalen Durchbruch der Mauer, durch die das Bächlein hinausströmte, verschwinden, so stand sie bestürzt und traurig. Das Empfinden des Unaufhaltsamen und Vergänglichen war dann unbewußt über ihr. Das Bächlein Lirili senkte ihr den ersten Keim zu jenem Fernweh in die Seele, das immer die Heimat im Unerreichbaren suchen muß. Das tiefste und geheimste Wunschziel des Kindes war die „Selige Insel“. Sie lag ihr im Sinn, seit sie einmal ihren Vater hatte gegen den älteren Bruder äußern hören, die Alten hätten tief im Westen, wo die Sonne vom Tageslauf rastet, die Inseln der Seligen gesucht. Wort und Vorstellung ließen sie nicht mehr los, und die dort badende Sonne mußte sie sich als etwas Leibhaftes, wenn auch Unfaßbares, vorstellen. Dorthin ging ihr Sinnen; mit der Lieblingspuppe dort zu wohnen, wo weder die Unarten der schrecklichen Jungen noch Tante Fannys kreischende Stimme sie erreichen konnte, das war der Traum ihres jungen Lebens. Das Kind hatte nicht wie andere kleine Mädchen den Trieb, die Puppe immer neu zu kleiden, das wäre auch bei deren eigentümlicher Beschaffenheit, der es an einer fest abgegrenzten Leiblichkeit gebrach, schwierig gewesen. Dagegen ersann sie ihr immerzu neue Namen, geistige Gewänder, mit denen sie wechselte. Denn das Namengeben war ihre besondere Stärke, und diese mußten entweder hochromantisch sein wie Filomene oder Blanchefleur oder ganz und gar seltsam und selbstgebildet: die tiefe Zärtlichkeit, womit das Kind diese Unnamen sprach, gab ihnen den seelischen Wohlklang. Mit ihrem ursprünglichen Namen aber hieß diese Puppe Vana, wie die Herrin selbst, deren zweites Ich sie war. Der große Vorzug, den sie nicht nur vor den anderen Puppen, sondern auch vor den lebenden Spielkameraden genoß, erregte die Eifersucht und den grimmigen Haß der Brüder. Diese hatten sie „Lumbell“ benamst und sangen Spottlieder auf sie, und die beständige Jagd, die sie auf die Lumbell machten, war der hauptsächlichste Anlaß für die Kleine, sich mit der Puppe auf das feste Schloß Tronje zu retten, wohin die wilde Rotte sich nicht leicht verlief.
Es war ein sonnig-kühler Tag zu Anfang März, um Schloß Tronje her wuchsen die ersten Veilchen. Da saß die Kleine mit ihrer Geliebten in der Schloßkemenate, das heißt in den höheren Zweigen der Zeder, und tröstete sie über ein im Vorübergehen zugeflogenes Spottwort:
„Sie sind wieder sehr ungezogen gegen dich gewesen. Die Jungen, siehst du, sind solch ein häßliches Volk, Gott sollte gar keine erschaffen. Gunther meine ich nicht, der ist gut. Aber den andern muß man aus dem Weg bleiben. Sie meinen: ein Mädchen muß sich alles gefallen lassen, dafür ist es ein Mädchen. Nein, das wird uns jetzt zuviel. Morgen gehen wir ganz leise fort, dann sollen sie uns suchen. Wir reisen nach der Seligen Insel. Das ist die grünste, grünste Wiese mit wundervollen Bäumen mitten im Wasser wie ein großer grüner Smaragd, der von den schönsten Diamanten umgeben ist. So wie Großmutters allerschönster Ring. Niemand darf dort wohnen als wir beide. Damit keine bösen Jungen da hinkommen können, brausen die Wellen so hoch um die Insel – o so hoch! –, kein Schiff kann landen. Uns trägt ein Albatros auf seinen Flügeln hinüber. Weißt du, was das ist, ein Albatros? Das ist ein großer, großer Vogel mit rosenrotem Schnabel – halte dich fest, damit du nicht ins Meer fällst –, er fliegt schneller als irgendein Vogel.“–
Vor dem Strömen ihrer Einbildung hatte sie nicht bemerkt, daß es hinter ihr knackte und daß die Mauern von Schloß Tronje erschlichen waren. Plötzlich griff eine Hand über ihre Schulter und riß ihr die Puppe weg, und eine polternde Knabenstimme schrie in rauhem Triumph: „Wir haben die Lumbell!“
„Roderich, du Bengel!“ rief das Kind auffahrend.
Aber jetzt erscholl es von allen Seiten um ihr Obdach her: „Wir haben sie! Wir haben sie! Wir haben die Lumbell!“ Es lief wie ein ungewollter Kanon rund um den Baum.
„Wir gerben ihr das Fell!“ sang eine hellere Knabenstimme dazwischen. Das war ihr älterer Bruder Gunther, der seine dichterische Begabung gern in Knittelreimen leuchten ließ.
„Wir haben sie! Wir haben sie! Wir gerben ihr das Fell!“ sang es im Kanon mit.
Das Kind war vom Baum herabgesprungen, ohne zu beachten, daß ihr ein Büschel Haare in den Zweigen hängenblieb. Aber Roderich hatte den Vorsprung und rannte mit seinem Raub über den Steg nach dem Hause zu, die Brüder jubelnd, Vanadis schreiend hinterher. Auf dem Vorplatz machte er halt und schwang die Puppe höhnisch gegen seine Verfolgerin. Diese stürzte sich leidenschaftlich auf den Räuber ihres Kleinods. Aber sie stieß gegen eine Mauer, denn die ganze Rotte stand gegen sie zusammen.
„Laßt ihr die Puppe, sie gehört ihr!“ wehrte das Kindermädchen, das gerade mit der zweijährigen Esther im Hof spielte.
„Nein, sie gehört uns allen!“ rief es ihr entgegen.
„Die Lumbell ist eine Hexe, sie muß brennen!“ polterte die rauhe Stimme von vorhin wieder.
„Sie ist eine Hexe!“ stimmten die andern ein. „Sie ist uns auf dem Besenstiel ins Haus geritten!“
Letzteres hatte seine Richtigkeit. Die Lumbell war eine Schöpfung der erfinderischen Großmutter, Frau van der Mühlen, die im obersten Stock wohnte und die diese Geburt ihrer witzigen Laune in der verflossenen Walpurgisnacht, als draußen der Frühlingssturm tobte, spät noch am Abend auf dem Besenstiel ins Kinderzimmer geschoben hatte, wo sie mit rasendem Freudenausbruch begrüßt worden war. Vanadis aber hatte mit dem Vorrecht ihres Geschlechts die Puppe für sich allein in Beschlag genommen und damit die Brüder, wie diese meinten, um ihre rechtmäßigen Ansprüche verkürzt.
Jetzt stürzte sie zu dem Bruder, der ihr der liebste war: „Gunther, hilf du mir!“ Aber der half nicht, der Haß der Brüder auf die Lumbell war zu groß geworden. Roderich war auf den moosigen Stein gesprungen, der seitlich im Hofe lag, und die Lumbell im Arm schwingend, schrie er: „Erst wird ihr der Prozeß gemacht! Sie muß bekennen, daß sie eine Hexe ist! He, Lumbell, willst du gestehen, daß du bei Nacht zum Schornstein hinausfährst?“
Die Lumbell gestand nichts.
„Wir müssen sie mit Zangen zwicken, dann wird sie schon gestehen!“ brüllte der dicke Bruno und kam in wildem Eifer mit einer Gartenschere angerannt. Vanadis sprang dazwischen und entwand ihm die Schere, wobei sie selber an der Hand verletzt wurde. Aber auf die zweite Frage, ob sie eine Hexe sei, war die Lumbell in der Mitte eingeknickt, was als ein Ja gedeutet wurde.
„Sie hat gestanden, sie wird verbrannt! Die Hexe wird verbrannt!“ – „Nein, vorher die Wasserprobe!“ schrie Roderich, der sich im Quälen der Lumbell und ihrer Herrin nicht genugtun konnte. „Keine Wasserprobe mehr, wenn sie gestanden hat!“ entschied Gunther, der als kleiner Gelehrter, der er war, in den mittelalterlichen Rechtsbräuchen besser Bescheid wußte. – „Auf den Scheiterhaufen!“
Der kleine schlanke Enzio, den sie das Häschen nannten, lief in die Küche nach einem Feuerbrand. Unterdessen hatte Vanadis den Augenblick ersehen, um dem schlimmsten ihrer Widersacher mit katzenartiger Geschwindigkeit an den Hals zu springen und ihn ins Gesicht zu beißen, daß er unwillkürlich die Beute fahrenließ. Diese war in jammerwürdigem Zustand, das Flachshaar war ihr ausgerissen, der ganze Leib ging in Stücke. Nichtsdestoweniger hielt das kleine Mädchen sie mit verzweifelter Inbrunst ans Herz gepreßt.
Auf dem Stein flammte ein Reisigfeuer, in das die Brüder dürres Holz und Fichtennadeln warfen, der Rauch stieg in die Höhe. Vanadis blickte auf ihre Dränger mit Augen, als ob sie morden könnte. Da gewahrte sie ihr kleines Schwesterlein, wie es, aufgeregt vom Lärm der Brüder, auch sein Stecklein herzutrug in so heiligem Eifer wie jenes alte Weiblein sein gespartes Holzscheit zum Scheiterhaufen des Huß. Jetzt ging in dem Busen der Bedrängten etwas Merkwürdiges vor – sei es, daß sie ihr Geliebtestes nicht von fremden Händen sterben lassen wollte, da sie keine Rettung sah, oder war es plötzlich erwachte kindliche Grausamkeit –, sie hob die Arme, und mit einem einzigen wilden Schrei warf sie selber die Lumbell ins Feuer. Beifallstoben begrüßte die Tat, die Kinder faßten sich bei den Händen und führten einen wilden Tanz um ihr Opfer auf, das alsbald von den Flammen ergriffen war und mächtig rauchte. Dabei wiederholten sie aus heiser werdenden Kehlen immer den gleichen Singsang: „Wir haben die Lumbell!“ – worein Gunther wieder etwas Abwechslung brachte: „Die Hexe fährt zur Höll’!“
„Seht nur, was sie für greuliche Augen macht!“ schrie Roderich dazwischen.
Die Perlenaugen der Hexe funkelten noch aus der Asche heraus, in die sie gesunken waren.
Wer am wildesten sprang und am lautesten sang, aber in wortlosen Tonfolgen, war Vanadis. Sie raste wie eine kleine Mänade. Auf einmal riß sie sich aus dem Ringelreihen los, die andern wollten sie halten.
„Laßt mich! Ich hole den Don Alonso!“
„Ja, den Alonso! Her mit dem Don Alonso!“ brüllte die mordgierige Meute.
Don Alonso war das einzige männliche Mitglied ihres Puppenstaats und gleichfalls von den geschickten Händen der Großmutter gefertigt, aber mit einem richtigen Puppenkopf und -körper. Er war Kavalier vom Wirbel bis zum Zeh, in Strümpfen und Schnallenschuhen, den Hut unter dem Arm und den Degen an der Seite, ganz im Gegensatz zu der Lumbell ein allerliebstes Männchen. Aber Vanadis machte sich nichts aus ihm, er gehörte zu einem Geschlecht, von dem ihr schon allzuviel Unlust und Herzeleid widerfahren war. Sie warf ihn gleichfalls in die Glut, nachdem sie ihm zuvor noch mit grausamer Lust den Kopf an dem Stein zerschlagen hatte. Das Kind kannte sich selbst nicht mehr, sie hätte jetzt im Zerstörungsrausch alle ihre kleinen Habseligkeiten der Lumbell nachgeworfen, wenn die Brüder, die schneller zur Besinnung kamen, ihr nicht am Ende gewehrt hätten.
Als das Feuer ausgebrannt und die wilde Schar abgezogen war, stand das kleine Mädchen noch immer bei dem Opferstein und sah in den Aschenhaufen. Plötzlich erwachte sie aus dem Taumel:
„Meine Vana! Wo ist Vana?“
„Närrin, die bist du ja selber“, hohnlachte Roderich, der allein zurückkam.
„Die andre mein’ ich, die Lumbell! Meine arme Lumbell! Wo habt ihr sie?“
Das ging dem bösen Roderich über den Spott, er wurde betreten.
„Hast sie doch selbst verbrannt, du dummes Ding! Hier sind ja noch ihre Augen in der Asche.“
Da weinte das Kind auf, wie es noch nie geweint hatte, weinte stromweise unter schüttelndem Schluchzen und riß sich ganze Strähnen des blonden Haares aus. In der Verzweiflung wollte sie gar ihren Kopf in dem rauchenden Aschenrest begraben, daß die entsetzte Kinderfrau sie gegen sich selbst beschützen mußte und ihr Urfeind erschrocken davonschlich.
Wortlos in einen Winkel gekauert, verbrachte sie den Rest des Unglückstages, nachdem ihr die verwundete Hand von der Großmutter verbunden worden war. Von da an wollte sie mit keiner Puppe mehr spielen; das grausame Ende der Lumbell und ihre eigene Beteiligung daran war ein großes und schweres Erlebnis, das als tragisches Rätsel auf dem untersten Grunde des Kindergemütes zurückblieb.
Der Stern des Hauses war die alte Frau van der Mühlen. Mit einem Manne vermählt, der ihr innerlich immer fremd geblieben, hatte sie bis in die vorgerückten Jahre herauf Neigungen erweckt, deren Erinnerung sie beglückte und jung erhielt. Und noch immer suchten die Männer gerne ihre Gesellschaft, sie fühlten unter dem Schleier, den das nahende Alter ihr übergeworfen hatte, das Jugendfeuer und den Jugendreiz hindurch, jetzt von dem Schmelz einer ganz leisen Wehmut verklärt. Sie hielt sich nicht an das Herkommen, das damals die älteren Frauen zwang, auf ihre oft noch schönen Haare plumpe Stoffwülste oder unförmige Hauben zu setzen und ihre Gestalt in einer trübseligen, quäkerhaften Alterstracht verschwinden zu lassen. Ebensowenig suchte sie durch zu jugendlichen Anzug zu täuschen, sondern kleidete sich immer in eine helles, mit Schwarz verziertes Grau, das ihr gut zu Gesichte stand, und nach einem frei erfundenen Schnitt, der sie der Zeit entrückte. Unter den weiten offenen Ärmeln trug sie Sommer und Winter duftigweiße gestickte Unterärmel, die im Verein mit einem ebensolchen Kragen sich äußerst schmuck ausnahmen, und auf dem leicht angegrauten Haar eine Art Stuartschneppe, die ihren Wuchs erhöhte und ihr etwas Königliches gab. Ihre Bewegungen waren noch immer leicht und rasch, dabei kannte sie keine Eile, sondern tat alles zur rechten Zeit und war immer fertig, sie pflegte von sich zu rühmen, daß sie niemals auch nur eine Viertelstunde habe auf sich warten lassen. Sie besaß viel Mutterwitz und strömte, wenn sie angeregt wurde, von guten Einfällen nur so über. Dabei verfügte sie über ausgebreitete, wenn auch lückenhafte Kenntnisse. Da die Frauen ihrer Zeit geistige Güter nur durch das Leben selbst, vor allem durch den Umgang mit geistvollen Männern erlangen konnten und hierzu Weitherzigkeit in der Liebe ein sehr gangbarer Weg war, hatte sie wie viele ihrer begabten Zeitgenossinnen in jüngeren Jahren stets einen Kreis von Verehrern um sich zu halten verstanden, die ihr Gesichtsfeld erweiterten: Männer der Literatur, der Politik oder der Wissenschaft, unter denen jeweils einer der Begünstigte war, aber ein jeder hoffen konnte, auch einmal an die Reihe zu kommen. Die Freunde ihrer Frühzeit pflegten lächelnd zu sagen: „Ihr ist viel vergeben, denn sie hat viel geliebt.“ – Doch hatte sie im ganzen von böser Nachrede nie viel zu leiden gehabt. Die Zeit, in der sie aufwuchs, und die Klasse, der sie angehörte, hatten sich großer Nachsicht in Sachen der Liebe beflissen, und ihr aufrichtiges, von jeder Mißgunst freies Wohlwollen wie ihre hilfreichen Hände machten, daß ihr niemand böse sein konnte. Die Neigungen, die sie erweckte und erwiderte, hatten ihr Leben angenehm erwärmt, aber nicht versengt, noch mit Stürmen auf den Grund durchrüttelt.
War die Liebe ausgeliebt, so machte sie die gewesenen Günstlinge zu Freunden, und leidenschaftslos, wie sie war, konnten auch gelegentliche Enttäuschungen ihr keine Bitterkeit bereiten. Nur einmal war ihr ein Mann begegnet, für den sie fähig gewesen wäre, sich selbst zu verlieren. Aber seine Liebe glitt ab auf ein jüngeres, neben ihr erblühtes Haupt. Sie dankte dem Schicksal, als die Versuchung vorüber war. So klang ihr Leben in einem friedeseligen Abendlied aus. Und doch hatten die letzten Jahre ihr zwei tiefe Wunden gebracht: ihr einziger Sohn war das Opfer eines Unfalls geworden, und ihrer jüngsten Tochter, der vermählten Folkwang, hatte die Geburt Esthers das Leben gekostet; von der älteren trennte sie seit langem der Ozean. Aber sie hatte sich dem Kummer nicht hingegeben, sie lebte für das nachwachsende Geschlecht. Dabei pflegte sie den schwachsinnig gewordenen Gatten mit heldenhafter Selbstverständlichkeit und ließ sich niemals eine Ungeduld über sein kindisches Gehabe und seine lästigen Gewohnheiten anmerken. Ihre Wohnung mit der kostbaren alten Einrichtung glänzte wie ein Reliquienschrein, obgleich sie einen großen Teil der häuslichen Arbeit selbst verrichten mußte. Trotzdem blieben ihre schönen Hände ganz weiß und jugendlich und stets mit funkelnden Ringen geschmückt und fanden noch die Zeit zu kunstreichen Handarbeiten für die künftige Ausstattung der Enkelinnen und zu allerlei lustigen Erfindungen für die Kinderstube.
In diesen Händen lag die Leitung der kleinen Vanadis, denn Vater Folkwang, der die Tage in seinem Studierzimmer verbrachte und seine altnordischen Forschungen niederschrieb, kam für Kindererziehung nicht in Betracht. Tante Fanny aber, seine verwitwete Schwester, die über die Jugend gesetzt war, hatte kein Verständnis für das kleine Mädchen und somit auch keine Macht über sie. Sie mochte ihr rufen, solange sie wollte, Vanadis regte sich nicht, während sie Flügel bekam, sobald die Großmutter einen Wunsch äußerte.
Für diese Tante Fanny, Heinrich Folkwangs ältere Schwester, war es ein Unglück, fünf bis sechs Jahrzehnte zu früh geboren zu sein. Sie wäre ein glücklicher Mensch geworden, hätten ihr die Vorurteile ihrer Zeit erlaubt, zu studieren und einen ihrem Selbständigkeitstrieb und ihrer Anlage entsprechenden männlichen Beruf zu ergreifen. Allein für einen solchen Lebensgang einer Frau war die Welt noch nicht reif, der bloße Hang danach machte sie schon in ihren Kreisen anstößig. Daher übertrug Fanny ihr geistiges Sehnen und ihren geistigen Ehrgeiz auf den begabten Bruder Heinrich, den sie schon in Kinderschuhen bemuttert hatte. Als sich beim Tode ihres Vaters, des Hamburger Großkaufmanns Heinrich Folkwang sen., herausstellte, daß das Vermögen zum größten Teil einem Halbbruder aus zweiter Ehe gehörte, verzichtete sie auf ihr Erbe, um ihrem Pflegling den Weg zu erleichtern. Dann waren mehrfache Versuche, sich in fremden Häusern eine Stellung zu schaffen, an ihrer Wesensart gescheitert, bis sie sich zuletzt entschloß, einen ehemaligen Angestellten der Firma, der ihre verblühten Reize noch immer mit den Augen seiner Jugend sah, zu heiraten. Der Bund fiel zum Unsegen für beide aus, denn Fanny war nicht für die Ehe geschaffen und konnte in diesem Stand nicht glücklich sein noch glücklich machen. Der Mann, den sie geistig unter sich sah, war ihr zur Last, sie grämte sich, daß sie in keiner höheren Welt mit ihm leben konnte und daß ihr selbst die Mittel gefehlt hatten, sich eine über den weiblichen Durchschnitt hinausgehende Bildung zu verschaffen. Als ihr vergötterter Bruder seine Frau verlor, war sie schon seit Jahren Witwe und kinderlos; daher schien es das richtigste, daß sie nun seinen Kindern wie vordem ihm selber die Mutter ersetzte. Es kann nicht geleugnet werden, daß der Professor, der alles Zarte und Leise liebte, ein wenig erschrak, als die Schwester mit dem knochigen Gliederbau und der harten Stimme vor der Tür stand und erklärte, daß sie zum Bleiben gekommen sei. Aber in seiner Hilflosigkeit konnte er nicht nein sagen und mußte ihr noch dankbar sein, daß sie in die Lücke trat, sonst hätte er nur die Wahl gehabt, eine zweite Frau zu nehmen, wovor ihm graute, oder die Kinder und sich selbst bezahlten Händen anzuvertrauen. Es ging auch besser, als er zu hoffen gewagt hatte, besonders nach der Übersiedlung. Fanny unterzog sich ihrem neuen Amt mit Begeisterung, sie fühlte es als Glück, in der Luft dieses Hauses zu leben, und unter den vielen Knaben war sie in ihrem Element. Sie sorgte für deren leibliches Wohl, überwachte, als sie heranwuchsen, ihre Schulaufgaben und hielt sie in Zucht, daß sie aufs Wort gehorchten. Ihr Liebling war Gunther, in dem sie ihres Bruders Geistigkeit und leicht verletzliches Gemütsleben wiedererkannte und der ihm auch äußerlich am meisten glich. Auf diesen Knaben übertrug sie nun die Erwartungen, die der Vater, durch unglückliche Gemütsanlagen verhindert, doch nicht völlig verwirklicht hatte. Der Neffe, der allen seinen Altersgenossen fast lächerlich weit voraus war, sollte einmal dem Namen Folkwang den Glanz geben, den sie für ihren Bruder umsonst geträumt hatte. Sie nahm sogar diesen Glanz vorweg, indem sie Gunthers Ruhm in der engeren und weiteren Familie verbreitete, und einen Teil davon schrieb sie sich selber zu, weil sie ihm bei den Rechenaufgaben half und seine Vokabeln und Geschichtstabellen mit ihm auswendig lernte. Daß vom Tische dieses Reichen manches nahrhafte Bröcklein für sie abfiel, beglückte sie und war ihr wie ein Ersatz für die nicht in Erfüllung gegangene Hoffnung auf einen innigen geistigen Verkehr mit seinem schweigsamen Vater.
Allein, Gott hatte die arme Fanny in seinem Zorn zur Hausfrau gemacht, indem er ihr zugleich allen Sinn für Schönheit und Reiz einer fraulichen Häuslichkeit versagte. Bei ihrer Hochschätzung der geistigen Güter schien ihr jede über der Hauswirtschaft verbrachte Stunde ein Raub an diesen. Vor lauter Eile fand sie zu nichts die richtige Zeit, deshalb war alles, was sie tat, nur halb getan. Immer im flatternden Hauskleid, das vorn auseinanderflog und mit einer Haarnadel an Stelle des fehlenden Knopfes zusammengehalten war, peitschte sie den Haushalt vor sich her, der durch ihren Eifer immer weniger gemütlich wurde. Denn sie lähmte durch ihre Übergeschäftigkeit auch die Selbständigkeit der Mägde, denen sie jeden Augenblick die Arbeit aus der Hand nahm, um sie selbst schneller und schlechter zu verrichten. Auf diese Weise hatte sie das Hauswesen auf einen Punkt labilen Gleichgewichts gebracht, wo es ohne sie überhaupt nicht weiterging, so daß ihr Tun, so unzweckmäßig es an sich war, nunmehr doch als ganz unentbehrlich erschien; denn wenn sie fehlte, stand gleich das ganze Getriebe still. Fuhr sie dann wieder darein, so schrillte und rasselte die Maschine, daß Professor Folkwang sich auf sein Zimmer flüchtete und sein Töchterchen auf seinen Baum. Bis die gute Fee vom oberen Stockwerk herunterkam, mit ihren schön gepflegten, ringgeschmückten Händen, und mit ein paar geschickten Griffen die Ordnung wiederherstellte.
Noch ein anderes Auge wachte über der Kindheit des kleinen Mädchens: das war ein Jugendfreund des Vaters, Baron Solmar, der Vanadis aus der Taufe gehoben hatte und bei groß und klein im Haus der Pate hieß oder auch schlechtweg mit seinem Vornamen Egon genannt wurde, weil das sonst in diesem Fall gebräuchliche Wort Onkel seinem empfindlichen Ohr ein Greuel war. Die Kinder duzten ihn, aber es bestand keine Gefahr, daß bei dieser Vertraulichkeit jemals einer der wilden Jungen die Ehrerbietung verletzt hätte. Baron Solmar verbreitete eine Luft um sich, in der man sich ganz von selbst taktvoll und zurückhaltend betrug, man konnte gar nicht anders. Der ehemalige Diplomat war zwar ein stiller Gelehrter geworden wie Heinrich Folkwang, doch sah er sehr vornehm aus und wurde mit seinem schmalen bartlosen Gesicht und dem sehr gepflegten Äußern, über das sein Kammerdiener Carlo wachte, von den Kindern für bedeutend jünger gehalten als ihr Vater. Er ging aufrecht und federnd, eine Folge gewissenhafter täglicher Körperübungen, während Professor Folkwang, der seit dem Tode der blühenden Gattin alle äußeren Ansprüche aufgegeben hatte, seinen mit frühem Grau gesprenkelten Bart wachsen ließ und mit seiner langen schwanken Gestalt im Gehen vornüber hing. Baron Solmar verbrachte alljährlich ein paar Wochen im Folkwangschen Hause. Das war Heinrich Folkwangs beste Zeit, in der er aus seiner langen, tiefen Schweigsamkeit heraustrat; denn mit dem weit gewanderten Freunde, der an seinen Studien teilnahm und die nähere Kenntnis der Örtlichkeiten hinzubrachte, konnte er alles, was ihn innerlich beschäftigte, durchsprechen.
In diesen Wochen lebte auch die kleine Vanadis ein erhöhtes Leben. Die Jungen waren alsdann zahm und belästigten sie nicht, Fanny dämpfte ihre Stimme, durch das ganze Haus ging eine Welle von Freudigkeit und Erhebung. Das Kind wußte es immer so einzurichten, daß sie sich ins Zimmer schmuggelte, wo Egon mit den Hausgenossen und den von auswärts Geladenen beisammen saß. Dann streckten sich gleich alle Arme aus, um das ziervolle Ding mit den großen Augen und den schmiegsamen Gliedern zu sich heranzuziehen, und es bedurfte aller Geschmeidigkeit und Klugheit des Kindes, um sich an den andern vorbeizuwinden, ohne sie zu kränken, bis sie den Stuhl erreicht hatte, wo Egon saß, und die Ärmchen um seinen Hals legen konnte. Er hob sie alsdann auf seinen Schoß, von wo sie befriedigt um sich sah, als habe sie einen Thron erstiegen. Der verherrlichte Freund hatte nur eine anfechtbare Seite: daß er der Vater des schrecklichen Roderich war und diesen ins Haus gebracht hatte, damit er mit ihren Brüdern gemeinsam die Schule besuchte. Roderich war der einzige, der Baron Solmars Erscheinen ohne Freude begrüßte; er brachte seinem Erzeuger eine scheue Zurückhaltung entgegen, hinter der verborgene Widersetzlichkeit schlummerte. Vanadis fand ihn einmal, wie er mit Kohle auf die innere Wand eines Schuppens ein verfratztes Geckenbild zeichnete, das unter der Verzerrung die vornehme Gestalt und weltmännische Haltung des Baron Solmar leicht erkennen ließ. Dieser Knabe hatte von der Natur einen unförmigen Kopf mit groben und häßlichen Zügen empfangen und führte mit seiner dämonischen Kohle, die ein frühes ungewöhnliches Talent verriet, einen Verfolgungskrieg gegen alles Schöne und Anmutige. Die kleine Vanadis hatte an jenem Tage mit Zornestränen das Zerrbild weggewischt und gedroht, den Urheber zu verklagen, aber dieser hatte nur gelacht, er wußte wohl, daß sie dazu nicht fähig war.
Egon war stolz auf den Vorzug, den er bei der Kleinen seit ihren frühesten Tagen genoß, und liebte sie mit Anbetung. Da sie kein Naschwerk wollte, zerbrach er sich unablässig den Kopf, womit er sie beschenken konnte. Einen ganzen Schrank voll Märchen- und Bilderbüchern hatte er ihr schon zusammengekauft. Als er von dem tragischen Untergang der Lumbell vernahm, meinte er seine Sache gutzumachen, indem er dem Kinde eine Auswahl der herrlichsten Puppen von der Reise mitbrachte. Aber er hatte fehlgegriffen. Beim Anblick dieser fremdländischen Kunstgebilde, an die sie kein Zug des Herzens band, schluchzte das Kind und lief mit stürzenden Tränen ins Freie, um unter der großen Zeder im Garten Immerschön, den sie seit dem Unglückstag nicht mehr betreten hatte, ihren neuerwachten Schmerz um die Verlorene auszuweinen.
Egon stand am Fenster des großen Gastzimmers und sah dem kleinen Mädchen zu, wie es auf der blühenden Wiese saß, als wäre sie eine da herausgewachsene Blume, und mit spitzigen Fingerchen aus einer Perlenschachtel in ihrem Schoß kleine Ringe und lange Ketten anfertigte. Mit den Ringen schmückte sie die Zehen ihrer nackten kleinen Füße, und die Ketten wand sie um ihre Knöchel. Durch das Geschenk der Perlenschachtel und eine Kinderausgabe von Tausendundeiner Nacht hatte Egon seinen Mißgriff gutgemacht. Das Kind hatte die Lumbell vergessen und befand sich mitten in den Arabischen Nächten. Mit den beweglichen Füßchen führte sie sich selbst ein ganzes Schauspiel auf. Den rechten hatte sie reicher bedacht, er war der Sultan, den linken nannte sie Scheherazade. Und Scheherazade kniete bei dem Sultan und reichte ihm Sorbett in silberner Schale und redete, redete immerzu von Edelsteingärten, Zauberpferden und Wunderlampen, denn solange sie redete, konnte er sie nicht töten. Der Mann aber am Fenster folgte den Bewegungen des kleinen Mädchens und dachte: Es ist etwas einziges um dieses Kind. Wo sie erscheint, wird ihr die Umgebung zum Rahmen, aus dem man sie nicht wegdenken kann. Wie sie da in der Bodenfalte sitzt, zwischen den hohen Gräsern, gehört sie so natürlich dazu wie die blühende Spiräa über ihrem Kopf. Und wie sie das Hälschen biegt und mit dem innigen Ernst der Kindheit diese drolligen, kleinen Spielkameraden schmückt, das ist einfach zum Vergöttern. Ich muß wegsehen, daß ich nicht hinunterstürze und sie mit Küssen überschütte. Das Kind macht mich zum Narren. Ich liebe sie nicht nur, ich bin verliebt in sie, mehr als jemals in eine Frau, ihre herrliche Mutter nicht ausgenommen, es ist ein Anmutsreiz, wie ihn keine Erwachsene mehr besitzen kann.
Während er sich vom Fenster zurückzog, aus Furcht, das Kind könnte ihn erblicken und sich in seinen Heimlichkeiten belauscht fühlen, wurde das Schauspiel, das die zwei kleinen Füßchen miteinander aufführten, von einer anderen Seite unterbrochen. Auf der Nachbarmauer tauchte ein dunkler Knabenkopf auf, und eine gut gezielte Nelke fiel mitten in die Arabischen Nächte hinein.
„Vanadis, viens jouer avec nous – Du werden sein Kutschèr, wir sein ’ferd.“
Ein zweiter hellerer Kopf erschien auf der Mauer und wiederholte die Einladung.
Zwei kleine Franzosen aus Nancy weilten seit einigen Wochen mit Mutter und Bonne in dem Nachbarhaus, dem erstere entstammte. Vanadis hatte von der Großmutter die Erlaubnis, mit ihnen zu spielen, und es war eingetreten, was diese voraussah, daß die äußerst sprachbegabte Kleine im Zeitraum weniger Wochen ganz von selbst den fremden Gästen so viel von ihrer Sprache ablernte, daß sie sich natürlich darin bewegte. Dieses schien der Großmutter, die selber nach dem damaligen Brauch adliger Familien noch eine ganz französische Erziehung genossen hatte, das A und O aller feineren Bildung zu sein. Da die Mittel ihres Schwiegersohnes nicht zu einer französischen Erzieherin ausreichten, wie sie selber und wie ihre Tochter eine besessen hatten, kam ihr diese Gelegenheit erwünscht, dem französischen Unterricht, den sie der Enkelin erteilte, durch die fremden Kinder spielend nachgeholfen zu sehen.
Und Vanadis spielte gerne mit den kleinen Franzosen, die besser angezogen waren und daher hübscher aussahen als ihre Brüder, auch immer schön gekämmt und mit rein gewaschenen Händen gingen, was man von diesen nicht sagen konnte. André, der Ältere, ein feines kränkliches Kind, war ihr stiller Verehrer; er brachte ihr zuweilen Süßigkeiten von seinem Nachtisch herüber oder eine Blume aus dem wohlgepflegten Garten seiner deutschen Verwandten. Aber der Jüngere, Gaston, erregte die Bewunderung des kleinen Mädchens durch seine katzenhafte Geschicklichkeit im Klettern und den Übermut, womit er auf den schon hochgeführten Balken eines Neubaus hin und zurück lief. Sie war einmal zugegen gewesen, wie das deutsche Fräulein, das die Knaben behütete, den Älteren in die Arme nahm und sagte: „André, du bist mein Liebling!“ – und wie sich da Gaston mit der Schulter dazwischenbohrte: „Und ich – ich bin dein Bösling, Fräulein!“ – worauf diese ihn wegschiebend sagte: „Jawohl, das bist du.“ Dem schnell fassenden Kinde war es aufgegangen, daß das Fräulein zu dieser Zurücksetzung wohl einen Grund haben mußte. Aber gleichwohl gefiel ihr der flinke, muntere Knabe, dessen Unarten mehr Geschick hatten als die ihrer Brüder, von Roderich ganz zu schweigen. Sie folgte also der an sie ergangenen Einladung.
Hinter dem Haus zwischen Fluß und Parkmauer lief ein Wiesenstreif, den ein schmaler Fußweg längs des Ufers einfaßte. Es war ein Lieblingsspielplatz der Nachbarskinder und ihre Rennbahn, worauf sie gern Wettläufe oder Wagenrennen veranstalteten. Dort warteten André und Gaston mit einem vierrädrigen Handwägelchen, sie nötigten das kleine Mädchen einzusteigen und wollten ohne weiteres mit ihr davonrennen, aber diese gebot Halt, weil sie nicht ohne Zaumzeug lenken könne. Gaston lief weg und brachte einen Strick, den Vanadis ihren beiden Rossen in den Mund legte, worauf sie selbst die Enden ergriff und „Hü!“ rief. Eine Peitsche brauchte sie nicht, es ging schneller, als ihr lieb war. Die beiden faßten die Deichsel und rannten los. Das Bächlein Lirili, das hier außen unter einer flachen Bohlenbrücke in den Fluß ging, war sonst die natürliche Grenze ihrer Rennbahn, in diesem regenlosen Sommer aber war es ausgetrocknet, so rasten die zwei Pferde mitten durch den Graben. Das Wägelchen kippte um, das kleine Mädchen fiel heraus, und die zweie liefen weiter, den gestürzten Wagen nachschleppend, ohne zu bemerken, daß die Insassin fehlte. Diese erhob sich heftig erzürnt und hatte nicht übel Lust zu weinen, doch der Stolz verhinderte es. Endlich merkten die beiden, was geschehen war, und kamen mit dem wiederaufgerichteten Wagen zurückgerannt. André blieb bedauernd bei dem Kinde stehen, aber Gaston schoß lachend davon, und Vanadis wandte dem Tröster unmutig den Rücken, als ob er an der Ungezogenheit des Bruders mitschuldig sei.
Das hinderte sie jedoch nicht, als Gaston ein paar Stunden später zwischen dem Fachwerk des Neubaus herumturnte und sich von ihr bewundern lassen wollte, in den Nachbarhof hinüberzuschlüpfen und auf seine Frage, ob sie sich zu ihm heraufgetraue, durch die Tat zu antworten. Da lief die Kleine furchtlos mit dem sicheren Gleichgewicht der Kindheit auf dem obersten Balken des schon ziemlich hoch gediehenen Baues, bis sie von Roderich gesehen wurde. Der Schlimme ging alsbald zu Tante Fanny, um Vanadis zu verklatschen. Diese gute, aber immer aufgeregte Frau kreischte laut, als sie das Kind in solcher Höhe sah, und schrie durchdringend über die Gartenmauer hinüber: „Vanadis, du fällst!“ Erschrocken blieb das Kind stehen, die eben noch sicheren Füßchen stockten, sie konnte nicht weiter. Doch faßte sie sich noch zum Glück, erreichte den Eckpfosten, an dem sie sich festhielt und von einem Querbalken zum andern gleiten ließ, bis sie den Boden wieder unter den Füßen hatte. Tante Fanny, die den ganzen Vorgang mit Geschrei begleitete, schloß jetzt beruhigt das Fenster. Gaston kam lachend auf dem Längsbalken herabgeritten:
„Bist du schwindelhaft?“
„Nein“, antwortete sie trotzig, „aber es heißt schwindlig.“ (Die Kinder waren angehalten, einander gegenseitig ihre Sprachfehler zu berichtigen.)
„Ich bin niemals schwindlig“, bemerkte der Knabe. „Warum sagt das Fräulein, daß ich ein Schwindler sei?“
Die Kleine blickte ihn verwundert an: „Das weiß ich nicht.“
Plötzlich begannen die Augen des Knaben zu funkeln, sein gallisches Blut war mit einer verfrühten Regung erwacht, daß er auf seine ahnungslose Gespielin zuschoß, sie blitzschnell in eine Ecke trieb und mit hart zustoßenden Fingern nach den kleinen Brüstchen greifen wollte, die noch gar keine waren. Zu Tode erschrocken stieß das Kind gellende Schreie aus und wehrte sich mit Fußtritten gegen den Angreifer, bis das Fräulein herzugestürzt kam und der Knabe Reißaus nahm. Die Kleine hielt ihr zerrissenes Kleidchen über der Brust zusammen und schämte sich fast zu Tode: es war ihr gefühlsmäßig aufgegangen, wenn ihr auch die Begriffe dafür fehlten, daß etwas Fremdes, Unreines sie berührt hatte, das von den Unarten ihrer Brüder und Roderichs grundverschieden war. Sie wollte auch dem Fräulein keine Rede stehen, sondern hatte nur den Trieb, die Schmach von sich zu waschen, vor sich selber wieder rein zu sein. Eilig lief sie über die herumliegenden Balken nach dem Flusse hinab, zog Kleidchen und Hemdchen bis zum Gürtel herunter und bog sich über die Böschung, um sich mit beiden Händen abzuspülen. Aber sie verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Der Fluß war nicht tief; ein Bauer, der in der Nähe arbeitete, zog sie heraus und trug sie triefend nach Hause. Sie hatte etwas Wasser geschluckt, war aber schon wieder bei Besinnung. Auf die erschrockenen Fragen der Umgebung antwortete sie nur, sie habe sich waschen wollen. Sie wurde zu Bett gebracht und mit warmen Tüchern gerieben und war nun wieder selig im Kinderland, denn das Häßliche war abgespült und den Strom hinuntergeschwommen. Die Großmutter saß bei ihr, erzählte Geschichten und hielt ihre Hand, bis sie einschlief. Und nie erfuhr ein Mensch, warum das Kind sich an jenem Tage im Flusse hatte waschen wollen.
Ein paar Tage später war die französische Familie abgereist. Das Dienstmädchen aus dem Nachbarhaus brachte ein Briefchen an Vanadis herüber. Es war mit großen ungleichen Buchstaben äußerst fehlerhaft in zwei Sprachen geschrieben und schloß:
„Chérie, ne m’oublie pas, je ne t’oublierai jamais.
Dein lieber unvergeßlicher André.“
Es war der erste Liebesbrief, den Vanadis empfing, und sie hütete ihn eifersüchtig, doch ohne viel nach dem Absender zu fragen. Von dem vormals bewunderten Gaston hörte sie das Mädchen erzählen, daß er alles im Hause beschmutzt und zerbrochen, die Tiere gequält und seinen gutherzigen älteren Bruder, der schwächer war, mißhandelt habe, kurz, ein wahrer kleiner Teufel gewesen sei.
Aus den kleinen Kindern wurden allmählich größere, Gunther und Roderich besuchten schon das Gymnasium, Vanadis blieb mit ihrer Ausbildung nach wie vor auf Mutter Natur, den väterlichen Bücherschrank und den Unterricht der Großmutter angewiesen, denn mit Mädchenerziehung befaßte sich die Gesetzgebung noch nicht: je weniger sie wußten, für desto wertvoller galten sie. Und da Frau van der Mühlen selber ausschließlich von französischen Bonnen und Gouvernanten unterrichtet worden war, wie es damals der deutsche Adel für notwendig erachtete, so konnte sie auch der hörbegierigen Enkelin nicht mehr geben, als was sie selber empfangen hatte. Das war kunterbunt genug und mischte sich nun mit dem Kunterbunt in dem Köpfchen des Kindes. So wußte die alte Dame zwar aufs genaueste Bescheid über die Etikette, die beim Lever der Marie Antoinette geherrscht hatte, konnte auch viele prickelnde Anekdoten von dem Hof des Ersten Napoleon erzählen, die sie zu Louis Philipps Zeit als junge Gesandtin eines kleinen deutschen Staates in Paris gehört hatte, wußte aber um so weniger von ihrem eigenen Vaterland; dieses war zur Zeit ihres Lernens für ihre Standesgenossinnen noch nicht entdeckt gewesen. Über die Geographie von Deutschland besaß sie ein französisches Handbuch, von einem gewissen Abbé Gauthier verfaßt, aus dem sie selber ehedem ihre Kenntnisse geschöpft hatte. Da hieß es zum Beispiel bei Erwähnung der Lüneburger Heide von den Heidschnucken: „Les Heydschnukes (gesprochen „Edsnük“), petite population noire de la Vestfalie.“ Infolgedessen hatte Frau van der Mühlen unverbrüchlich geglaubt, daß die Heidschnukken Menschen wären, so etwas Ähnliches wie die Heiducken oder die Seldschuken. Erst durch ihre zur Schule gehenden Enkel wurde der Irrtum aufgeklärt, und die Großmutter lachte lustig mit, sooft sie mit den Heidschnucken geneckt wurde, denn sie wollte nicht in Altersweisheit über der Jugend thronen. Vanadis jedoch, die sich ganz fest in die Vorstellung von einer merkwürdigen schwarzen Zwergenrasse in der Lüneburger Heide eingebissen hatte, widersprach mit zornigen Tränen und wollte das wimmelnde Zwergenvolk, das sie sich mit Pfeil und Bogen, schwarz behaart von Kopf zu Fuß dachte, nicht fahrenlassen. Unendliches hatte das Kind mit seinen frühen Jahren nach und nach im unersättlichen Lesehunger verschlungen. Es war ganz gleich, was in ihre Hände fiel, ob ein Schmöker oder ein Klassiker, sie konnte alles gebrauchen: die Bücher fügten sich mit einem höchst wunderbaren Anpassungsvermögen ihrer
Ein Jahr und darüber war vergangen. Wie ein jähes kurzes Sturmgewitter war der deutsch-französische Krieg vorübergebraust, ohne von der Familie Folkwang ein Opfer zu fordern, weil die Knaben ja noch zu klein waren zum Waffentragen. Als die Glocken zur Kaiserkrönung läuteten, hatte Vater Folkwang zu den Seinigen gesprochen und ihnen an Hand der Geschichte die gewaltige Bedeutung der endlichen, wenn auch unvollkommenen Zusammenfassung der deutschen Stämme und der Gründung des neuen Reiches erklärt. Er war aber auch von vornherein jeder Überhebung, die von der Schule oder Straße aus einzudringen drohte, entgegengetreten und hatte der Jugend in Worten, die sie nie vergaßen, die Selbstbescheidung des Siegers und die Achtung vor dem unterlegenen Gegner als oberste Pflicht des einzelnen wie der Nation ins Herz geprägt. Ein Geist der Hoffnung war in ihm erwacht, daß seine hängenden Schultern sich wieder aufrichteten und seine Augen freudiger blickten: es schien ihm, daß jetzt beim Sinken der Schranken innerhalb des geeinten Vaterlandes ein freierer Luftstrom durch das Ganze kreisen und mit allem Zurückgebliebenen, Gestrigen, auch veraltete Irrtümer und Vorurteile der wissenschaftlichen Welt, mit denen er gerungen hatte, hinausfegen müsse. Er holte das schon vergilbte Manuskript seines vergleichenden Werkes über Mythen und Religionen der Völker wieder hervor und führte den heranwachsenden Sohn auf langen Spaziergängen, die sie zu zweien machten, in seine Gedankenwelt ein. In Gunthers feuriger, wirklichkeitsfremder Dichterseele verwob sich die Romantik seiner geliebten deutschen Heldensage mit dem großen Zeitgeschehen, und sein ganzes Wesen spannte sich mit gläubiger Inbrunst auf das geträumte Hochziel einer künftigen Führerschaft. Wogegen Bruno sich mit den Klassenkameraden zu lautem Soldatenspiel zusammentat und Roderich seinen Anteil an den Ereignissen nur dadurch äußerte, daß er auf dem Dachboden, wo er in seinen Freistunden hauste, statt der pflügenden Ochsen gewappnete Reiter und ausrückende Fähnlein, aber alles in mittelalterlicher Tracht, malte.
Vanadis, das Kind, wurde nun schon zum angehenden Jungfräulein. Es lag rings wie Märzluft um sie her, voll von Ahnungen und Hoffnungen, die keinen Namen hatten. Jeder Tag brach mit einer großen Erwartung an und schloß, wenn er nichts Neues, Besonderes gebracht hatte, doch mit der Vorfreude auf den morgigen. Sie ging die Wolkenwege des Bruders nicht mit, sie liebte die Erde mit ihren Blumen und das noch unerschlossene Leben mit seinen unbekannten Schätzen und Wundern. Sie sprach auch nicht mehr mit den Unsichtbaren, die sichtbaren Dinge nahmen sie jetzt gefangen. Sie hatte den Drang, sich zu schmücken, und lernte von der Großmutter, die auf den Hofbällen von halb Europa geglänzt hatte, das verklungene Menuett jener Maskenfeste und die Tänze ihrer eigenen Zeit. Und einen besseren Tanzmeister als die Großmutter konnte man sich nicht wünschen: man mußte sie sehen, wie sie mit ihrer vornehmen Leichtigkeit und Grazie bei dem tiefen Knicks in ihren Röcken untertauchte, daß die Enkelinnen Mühe hatten, es ihr nachzutun. Wie kam diese Wandlung über das Kind? Vanadis war verliebt, ohne es selbst zu wissen. Ein junger Mann, Sohn eines befreundeten Hauses, hatte sich eines Tages bei der Großmutter vorgestellt. Er kam soeben von der Universität als junger Doktor der Medizin und sollte vorübergehend den Assistenten an einem in der Nähe gelegenen Sanatorium vertreten. Seine Mutter hatte einmal in ihrer Jugend als Gast bei den van der Mühlens gelebt und von dort weg in gute Verhältnisse geheiratet. Aus Dankbarkeit war sie seitdem mit Frau van der Mühlen in brieflichem Verkehr geblieben, und es verstand sich von selbst, daß ihr Sohn, als ihn ein Zufall in die Gegend führte, im Haus ihrer alten Gönnerin empfohlen war. Der junge Dr. Gerhardt empfahl sich überdies von selbst durch ein sehr vorteilhaftes Äußere und ein anziehendes Betragen. Vanadis war bei diesem ersten Besuch zugegen, sie trug einen Arm verbunden in der Schlinge, denn das Pony war am Morgen mit ihr gestolpert und hatte sie ohne seine Schuld zu Fall gebracht, wobei sie sich am Arm verletzte.
Mit einer liebenswürdigen Selbstverständlichkeit wickelte der junge Arzt, ohne zu fragen, den Verband ab, untersuchte die Verletzung, verordnete eine Einreibung, für die er gleich im Vorübergehen die nötige Anweisung in der Apotheke geben wollte, und legte den Verband in kunstgerechter Weise wieder an, knüpfte auch die Schlinge bequemer. Beim Fortgehen bat er um die Erlaubnis, wiederkommen und nach seiner Patientin sehen zu dürfen.
Die Großmutter, die immer nach Neuem begierig war, ergoß sich im Lob des jungen Mannes, auf die Enkelin hatte er einen stillen, aber um so stärkeren Eindruck gemacht. Schon des andern Tags kam er wieder, um selber die Einreibung vorzunehmen. Er hielt den langen schlanken, noch kindlichen Arm, an dem sich schon eine anmutige Rundung vorbereitete, in den Händen und behandelte ihn mit ebensoviel Zartheit wie Geschicklichkeit. Er stellte sich nun häufig im oberen Stockwerk des van der Mühlenschen Hauses ein, wie es sein Dienst gestattete, und machte der alten Dame in scherzhafter Weise den Hof. Bei der mangelnden Ansprache in der kleinen Stadt zogen ihn ihre reiche Welterfahrung und der Hauch der Vornehmheit, der sie umwehte, lebhaft an, so daß er auf sie das hübsche Wort geprägt hatte, sie sei mit ihren Jahren nicht nur liebenswürdig, sondern noch immer verliebenswürdig. Die beiden Enkelinnen, die häufig zugegen waren, gefielen ihm nicht minder. Die Schwestern hatten jetzt einen Gegenstand, über den sie sich heimlich mit Eifer unterhielten. Denn auch Estherchen, die einen scharfen Blick für menschliche Eigenart besaß, war lebhaft für ihn eingenommen. Sie sprachen davon, daß er schöne braune Augen habe, und wenn er lächle, etwas ganz Besonderes um den Mund, das ihnen der Ausdruck einer wertvollen inneren Besonderheit zu sein schien. Und daß er blutjung als freiwilliger Pfleger einen Lazarettzug ins Feld begleitet hatte, gab ihm in den Augen der kleinen Mädchen noch eine besondere Weihe.
Einmal traf er bei der Großmutter mit einer jungen Russin zusammen. Die Familie war durch Zufall zu dieser Bekanntschaft gekommen. Vor etlichen Monaten hatte Professor Folkwang auf einem Spaziergang zwischen den Feldern Gelegenheit gehabt, einem jungen ausländischen Ehepaar, das beim unvorsichtigen Durchqueren eines besäten Ackers unter Beschädigung des Lattenzauns mit dem gröbsten und geizigsten Bauern der Gegend in Streit geraten war und sich nicht auszudrücken wußte, eine Gefälligkeit zu erweisen. Er beschwichtigte den heftig schimpfenden Eigentümer, und da der Fremde, seiner Aussprache nach ein Russe, kein gewechseltes Geld bei sich trug, erlegte er den geforderten Schadenersatz, worauf das Pärlein dankend abzog.
Des andern Tages waren dann beide gekommen, um ihre Schuld zu begleichen und nochmals zu danken, und waren in Abwesenheit des Hausherrn von der Großmutter empfangen worden, die auch eine Zeitlang in Petersburg gelebt hatte und noch ein wenig Russisch sprach. Sie forderte jedoch das Paar, das sich gerne auch dem Hausherrn empfohlen hätte, nicht auf, den Besuch zu wiederholen, weil sie zufällige Bekanntschaften nicht liebte. Vor kurzem aber hatte sie vernommen, daß der junge Mann, dessen kränkliches Aussehen ihr aufgefallen war, im Sanatorium gestorben sei, und von seiten der Witwe war ihr ein französischer Trauerbrief zugegangen. Da jammerte sie das junge Wesen, das mutterseelenallein im fremden Lande zurückgeblieben war, daß sie ihr ein paar teilnehmende Zeilen schrieb und sich erbot, ihr, falls sie etwas bedürfe, an die Hand zu gehen. Nun war Frau Bazarew erschienen, um für die bewiesene Anteilnahme zu danken. Sie erklärte, daß sie sich noch nicht entschließen könne, die Stadt zu verlassen, wo ihr geliebter Gatte begraben sei, auch habe sie von Rußland her Kreditbriefe und andere Papiere abzuwarten, daß ihr aber in ihrer Verlassenheit nichts so großen Trost gewähren könne als die Anlehnung an ein Haus wie dieses, worauf denn Frau van der Mühlen versprach, sich ihrer anzunehmen, solange sie noch in der Stadt weile.
Als Dr. Gerhardt erschien, zeigte sich’s, daß die beiden sich schon kannten, weil er ihren Mann in seinen letzten Lebenswochen behandelt hatte, und beim Aufbruch, da es schon zu dunkeln begann, begleitete er sie nach Hause. Bei seinem nächsten Besuch bemerkte er gegen Vanadis, als sie einen Augenblick allein waren:
„Sie haben das Herz der Frau Bazarew im Sturm erobert. Sie hat großes Verlangen, öfter mit Ihnen zusammenzusein. Da sie aus sehr guter Familie ist und gewohnt, wohin sie kommt, in den gebildetsten Kreisen zu verkehren, findet sie hier niemand, der für sie paßt. Ein gemeinsamer Spaziergang mit Ihnen, dann und wann, wenn Sie gerade Zeit haben, würde eine wahre Wohltat für sie sein.“
Das Mädchen sagte mit Freuden zu, auch sie war aufs wärmste für die Fremde eingenommen, der das einfache und geschmackvolle Trauergewand etwas eigentümlich Bestechendes gab. Von der Großmutter war die Erlaubnis leicht zu erlangen, weil das heranwachsende Mädchen doch endlich auch etwas Umgang haben mußte und weil das Französisch, das die Russin geläufig, wenn auch ohne Feinheit sprach, das der Enkelin vor dem Einrosten bewahren sollte.
Sie sprachen aber jenes Tages kein Französisch zusammen, denn kaum hatten sie das Wäldchen betreten, wo eine Aussichtsbank hübschen Rundblick über die Gegend gewährte, tauchte Gerhardt auf, den ein Zufall – oder was sonst? – den gleichen Weg geführt hatte. Die beiden Erwachsenen hatten einen taktvollen, liebenswürdigen kameradschaftlichen Ton mit dem halben Kinde, der den Abstand der Jahre überbrückte. Das Kind fand einen unaussprechlichen Genuß an der Neuheit dieses Verkehrs und hätte gewünscht, daß der Spaziergang nie ein Ende nehme. Als sie jedoch einen beliebten Ausflugsgarten erreichten und Gerhardt die „Damen“ zu einer Tasse Schokolade einladen wollte, erklärte sie plötzlich ganz bestimmt, daß die großmütterliche Erlaubnis so weit nicht reiche, und sie wäre allein umgekehrt, wenn die andern nicht schließlich auch verzichtet hätten. Der Vorschlag, den Frau Bazarew mit Vergnügen aufnahm, flößte ihr starken Widerwillen ein. Das war zu ihrem Heil, weil bei den strengen Schicklichkeitsbegriffen der Zeit ihr Erscheinen an dem öffentlichen Vergnügungsort unter dem Schutz eines fremden jungen Mannes das peinlichste Aufsehen erregt hätte. So klang der Tag beglückend aus, das Kind kam mit strahlenden Augen nach Hause und lebte vor dem Einschlafen die schönen Stunden noch einmal durch, während im Bettchen nebenan die kleine Esther stille Tränen zerdrückte, denn sie fühlte sich mit einem Male ausgeschlossen und der Schwester entfremdet. Die Spaziergänge wiederholten sich nun häufig und nicht immer mit Wissen der Großmutter, die solcher Übertreibung der neuen Freundschaft ihre Zustimmung versagt hätte. Denn sie hielt trotz ihrer Weitherzigkeit streng auf das, was sie die „Dehors“ nannte und was der wildgewachsenen Enkelin nicht immer von Bedeutung schien. Und da die alte Dame selbst bei vorkommenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Schwiegersohn und dessen Schwester zu äußern pflegte, sie wisse wohl, sie sei altmodisch und könne den Anschauungen des jüngeren Geschlechts nicht mehr folgen, was aber nur eine gefällige Form war, ihnen nahezulegen, daß diese Anschauungen anfechtbar seien, fand es die Enkelin geraten, ihr diejenigen eines noch jüngeren Geschlechtes zu ersparen. Die Freundschaft nahm an Wärme nur immer zu. Die häufige Abwesenheit des Mädchens fiel im Haus nicht auf, weil man gewohnt war, daß sie noch immer ihre Bücher und Lernaufgaben auf die Zinne von Schloß Tronje oder an einen anderen versteckten Waldplatz trug. Freilich bemerkte Vanadis bald, daß zwischen den beiden noch eine besondere, nähere Vertrautheit herrschte, an der sie keinen Teil hatte und die sich in Blicken und gelegentlichem Armstreifen kundtat. Die Entdeckung verursachte ihr einen Schmerz, den sie nur dadurch niederringen konnte, daß sie sich die Anmut und Liebenswürdigkeit der neuen Freundin recht lebhaft vor Augen stellte und in ihrem Herzen einen Doppelaltar errichtete, vor dem sie beiden zusammen ihre liebevolle Verehrung darbrachte. Seit der mißglückten Einladung versuchte Gerhardt keine zweite, aber er trug jetzt immer die Tasche voll Pralinen und Röstmandeln für seine zwei Freundinnen. Das Mädchen hatte jedoch seit ihren frühesten Tagen einen so großen Abscheu vor naschhaften Kindern, daß sie niemals zugriff, so schwer es ihr oft fiel, standhaft zu bleiben. Frau Bazarew hingegen war dieser Verführung äußerst zugänglich und knabberte so lange fort, bis der Vorrat erschöpft war.
Eines Tages kam das Paar, das ihr jetzt mehr und mehr als ein solches erschien, nicht zu dem verabredeten Stelldichein. Mit einem Riß in ihrem kleinen Herzen ging das Kind wieder nach Hause, ohne jemandem etwas zu sagen. Esther allein merkte, was vorging, sie schwieg jedoch, nur durch eine wachsende Abneigung gegen die Russin, die ihr von Anfang an mißfallen hatte, gab sie zu verstehen, daß sie auf dem laufenden war.
„Wie bist du nur so verblendet!“ konnte sie gelegentlich sagen. „Sie ist ja gar nicht schön. Der Kopf ist viel zu groß für den Körper, und um den Mund hat sie einen Zug, ich weiß nicht wie. Ich würde sagen, es sei etwas Gemeines, aber das ist vielleicht zu stark. Etwas Edles ist es jedenfalls nicht.“
„Esther!“ rief Vanadis schmerzlich entrüstet, während ihr zugleich klar wurde, daß dieser Zug auch ihr keineswegs gefiel. Aber das wollte sie nicht einmal vor sich selber zugeben und erging sich in weitläufigem Lob der Freundin, ohne Glauben zu finden. Ja, es zeigte sich, daß die eigensinnige Kleine auch Gerhardt ihr anfängliches Wohlwollen entzogen hatte, denn sie behauptete jetzt, daß er falsch sei, was beinahe zu einer Entzweiung zwischen den Schwestern geführt hätte.
Bei der nächsten Begegnung sagte der junge Mann zu Vanadis:
„Wir waren gestern in Waldhausen“ (so hieß eine große, etwas entlegene Ortschaft), „Frau Bazarew wollte einmal eine Kirchweih sehen, wir haben uns trefflich unterhalten.“
Die Russin begann in ihrem gebrochenen Deutsch allerlei Possen zu erzählen und die Gebärden der Burschen und Dirnen beim Tanze mit gutem Geschick nachzuahmen.
„Es ist schade, daß Sie nicht dabei waren“, fuhr Gerhardt zu Vanadis fort. „Aber wir haben unserm Kinde zur Entschädigung etwas mitgebracht. Sie müssen es erraten, sonst bekommen Sie es nicht.“
„Das kann ich nicht erraten“, sagte sie abweisend, denn sie liebte es nicht, wenn man ihr Geschenke anbot.
„Oh, es wird Ihnen gefallen, es ist ein hölzernes Schäfchen“ – und er zog das spannenlange, aus Holz geschnitzte Ding, das aus einer Nürnberger Spielwarenschachtel stammte, aus der Tasche und hielt es ihr hin.
Das Mädchen fühlte sich ihres unreifen Alters wegen verspottet, ihre Augen flammten auf.
„Selber Schäfchen!“ sagte sie und warf ihm die Gabe ins Gesicht.
Das hölzerne Ding ritzte ihm die Wange, daß er erzürnt auffuhr, denn er hatte es nicht böse gemeint, es war nur ein Einfall der russischen Freundin, den er ausführte. Als er aber die Augen des Kindes blitzen sah, mußte er lachen und suchte sich der Hand, die ihn verletzt hatte, zu bemächtigen. Sie rangen miteinander, der geschmeidige Mädchenleib wand und bog sich, ohne nachzugeben.
„Seien Sie doch nicht so wild“, sagte er, „ich will ja nur die kleine Hand streicheln, die mich so schnöde behandelt hat.“
Die Russin stand daneben und lächelte. Der Zug, den Esther nicht leiden konnte, trat deutlicher in ihrem Gesicht hervor.
Endlich hatte er die Hand fest, und sie wurde ihm nun mit Lachen überlassen. Er hielt sie in der seinigen und fuhr bewundernd den Linien der langen spitzigen Finger nach.
„Das nennt man eine Künstlerhand“, sagte er zu Frau Bazarew. „Wenn man erst die Schrift in der Handfläche lesen könnte, was würde man da alles erfahren!“
Mit einem Ruck bekam das junge Wesen die Hand frei und steckte sie trotzig in die Tasche ihres Überjäckchens.
Er näherte seinen Kopf dem ihrigen und sah ihr aus kurzer Entfernung in die Augen.
„Man müßte Sie immer von Zeit zu Zeit ärgern. Der Zorn steht Ihnen gar zu gut. Ihre Pupillen werden dabei so groß, daß das ganze Auge tief schwarz erscheint. Das ist ein ganz eigener Vorgang, den ich sonst an niemand gesehen habe.“
Sie schieden versöhnt, von beiden Seiten war die Kränkung vergessen.
In dieser Zeit wurde sogar der vielgeliebte Falada vernachlässigt. Das einzige Mal, wo sich die neue Freundin zu einer Ausfahrt im Ponywägelchen bereden ließ, wurde das sonst so fügsame Tier auf einmal störrisch, so daß der erschrockene Fahrgast unterwegs auszusteigen verlangte und Vanadis mit Esther allein nach Hause kam.
Nun geschah es einmal, daß sie sich mehr als eine Woche nicht gesehen hatten, und die Sehnsucht nach ihrem Doppelstern begann dem Kinde das Herz zu beschweren. So machte sie sich denn nach dem Mittagstisch heimlich auf, um die Freundin zu besuchen, wie sie es schon öfter auf deren Bitte hin getan hatte. Frau Bazarew hatte ein Zimmer am anderen Ende der Stadt inne, dessen Tür unmittelbar an der Treppe lag. Sie klopfte, aber es kam kein Herein. Da drückte sie leise auf die Klinke, indem sie zugleich ihren Namen hineinrief, im Glauben, Frau Bazarew halte sich still, um nicht von einem Unberufenen gestört zu werden. Sie erhielt auch jetzt keine Antwort, doch war es ihrem sehr scharfen Ohr, als ob im Zimmer etwas gewispert hätte, und zugleich entdeckte sie, daß der Schlüssel innen steckte. Eine Hand so kalt wie Eis griff ihr ins Herz, und der Blitz, der zugleich ihr Hirn durchfuhr, machte es um Jahre älter. Hier war ein Etwas, von dessen Dasein sie wußte, an dem sie aber im Leben ahnungslos vorbeigegangen war, weil sie es in Meilenferne glaubte. Es war ihr ein holdes Mysterium gewesen, von dem sie nicht zu früh den Schleier ziehen wollte. In dieser plötzlichen Nähe war es häßlich und fürchterlich, seine Berührung brannte wie eine Schmach, und sie fühlte die Hand, die diese Klinke berührt hatte, wie gezeichnet. Scheu und in sich zusammengesunken schlich sie die Treppe hinab, die sie ein Liedchen summend erflogen hatte. Als sie unten war, meinte sie einen Augenblick auf das Pflaster schlagen zu müssen, dann raffte sie sich auf und floh wie gehetzt, indem sie die begangenen Straßen mied und gleich nach dem Flusse einbog. Sie lief das Ufer abwärts bis zur Rückseite des großelterlichen Anwesens, aber sie ging nicht hinein, sie konnte kein Menschengesicht ertragen. Sie setzte sich auf die Uferböschung dem Sandrücken gegenüber, der aus der Mitte des Flußlaufs ragte – zufällig war es die gleiche Stelle, wo sie einst als Kind hineingefallen war, weil sie sich hatte waschen wollen. Wenn sie jetzt hineinfiele, brauchte man sie nicht nach Hause zu tragen, das Wasser ginge ihr nur bis zum halben Schenkel herauf. Aber welches Wasser wäre tief genug, diese Entdeckung von ihr abzuwaschen.
Es fiel ihr gar nicht ein, was bei ihrer Unerfahrenheit nahegelegen hätte, für die verschlossene Tür eine harmlosere Auslegung zu suchen. Der Eindruck war augenblicklich, unwidersprechlich. Der Zigaretten- und Mokkaduft, der durch die Ritzen drang, bestätigte ihn; sie bildete sich sogar nachträglich ein, sie habe die beiden durch die geschlossene Tür hindurch auf dem durchgesessenen Kanapee dem Eingang gegenüber fest umschlungen sitzen sehen. Und ein zweiter Gedanke war ihr fast noch unerträglicher als dieser erste: sie, sie war gekommen, ein Stelldichein zu stören, sich von den Verliebten in diesem Augenblick verwünschen und, nachdem sie abgezogen war, verlachen zu lassen! Das Lachen der Russin, das nichts Gütiges hatte, lag ihr dabei in den Ohren. Sie fürchtete, das stille Geheimnis ihres Herzens werde jetzt eben aufgedeckt, entweiht, ins Lächerliche gezogen. Mit ihren vierzehn Jahren, ihrer Unschuld, die jenen nur als Einfalt erschien, und ihrem frühzeitigen Gefühl, für das man ihr mit einem Kleinkinderspielzeug dankte, sah sie sich dem Spott als Zielscheibe gesetzt. Hierin täuschte sie sich freilich: die Russin hatte zwar wohl bemerkt, daß ihr Geliebter dem Mädchen nicht gleichgültig war, aber nichts lag ihr ferner, als den jungen Mann auf ein von ihm erregtes Wohlgefallen hinzuweisen, das seine Augen der aufblühenden Schönheit zuwenden und sich leicht in eine erwiderte Neigung wandeln konnte.
Zu all der glühenden Beschämung und der vereisenden Enttäuschung gesellte sich noch die Frage, was die beiden