Vater unser, der du bist im Irgendwo - B. A. Mapelli - E-Book

Vater unser, der du bist im Irgendwo E-Book

B. A. Mapelli

4,7

Beschreibung

Der Waisenjunge Hans Robert Rosenheimer arbeitet Anfang der 1930er Jahre auf einem Bauernhof im südlichen Schwarzwald. Abenteuerlust und die herrschende Perspektivlosigkeit treiben ihn zum Aufbruch in ein spannendes Leben. Er setzt sich mit neunzehn Jahren in Richtung Strasbourg ab, wo er in die französische Fremdenlegion eintritt. Sein erster Einsatzort wird die algerische Sahara. Das Lagerleben und die Einsätze im Kampf gegen Aufständische prägen seine weitere Entwicklung und führen schließlich zu einer Verhaftung durch das paramilitärische Justizsystem in Sidi bel Abes. Glückliche Umstände und hilfreiche Weggefährten ermöglichen ihm die Flucht quer durch die nordafrikanische Sahara. Es verschlägt ihn nach Norditalien, wo er sich einer Partisanengruppe im Kampf gegen die deutschen Besatzer anschließt. Nach dem ersehnten Kriegsende kehrt er zurück in seine Heimatstadt Karlsruhe, wo er die Suche nach seinen Wurzeln aufnimmt. Mit Hilfe seines Cousins gelingt es tatsächlich, die Spur zu seinem Vater aufzunehmen.

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Prolog

Salim Bin Ahmadi erzählte seinen Kindern eine Geschichte:

„Als Allah die Welt erschaffen hatte, war alles Wasser in den Meeren süß. Auch das Wasser in den

Flüssen war süß.

Als dann die Menschen die Welt beherrschten und sich gegenseitig immer mehr Leid zufügten, wurden

unendlich viele Tränen vergossen und das Wasser wurde nach und nach salziger und salziger. Allah schuf

die Wolken und den Regen, damit das Wasser wenigstens zum Teil wieder süß werden konnte.“

Seine kleine Tochter warf ein, dass die Menschen

aber auch Freudentränen weinten und es schade wäre, wenn Freudentränen unser Wasser salzig machten.

„Ja, das stimmt. Man weint manchmal auch vor lauter Lachen. Aber diese Tränen sind nicht salzig, sondern süß. Du musst das einmal schmecken wenn du

das nächste Mal vor lauter Freude Tränen lachst.“

Krieg

Freund und Feind

Sophie

Klara

Aufbruch

Fremdenlegion

Afrika

Sidi bel Abbes

Gefängnis

Flucht

Gastfreundschaft

Italien

Lago di Como

Partisanen

Anfang

Heimwärts

Vater

Epilog

Krieg

Leutnant du Catoir nahm das Fernglas von den Augen. Er hatte den bewaldeten Hang gegenüber abgesucht. Die Bäume waren dicht belaubt und man konnte nur vereinzelt die Stämme erkennen. Irgendwo da drüben sollten Einheiten der Deutschen versteckt liegen. Leutnant du Catoir hatte den Auftrag, die unten im Tal gelegene Brücke über den schmalen Fluss einzunehmen und für die aus Richtung Nancy kommenden gepanzerten Wagen frei zu halten. Bisher hatte er keinen einzigen Soldaten gesichtet. Aber das wunderte ihn nicht, denn er ging davon aus, dass sie sich am gegenüberliegenden Hang eingegraben hatten und erst regen würden, wenn es dunkel war.

So einen dichten Wald hatte der junge Leutnant noch nie gesehen. Dort wo er aufgewachsen war, war die Landschaft von vereinzelten Baumgruppen geprägt, die vom stetig wehenden Wind des Mittelmeeres in die Landschaftsmulden gedrückt wurden. Büsche wuchsen nur da, wo es keine Weinreben gab. Er war im Jahre 1890 als Sohn eines regional bedeutenden Weinbauern geboren worden. Als der Krieg ausgebrochen war, hatte er sich freiwillig zur Infanterie gemeldet. Nach der Militärakademie Toulouse und nach seiner Ausbildung wurde ihm eine Infanteriekompanie unterstellt. Sie hatten schon eine ganze Reihe von Gefechten überstehen müssen und diese waren nicht ohne Verluste geblieben. Von den ursprünglich 120 Mann waren nur noch 69 übrig, darunter zwei Unteroffiziere. Die anderen waren entweder gefallen, ins Lazarett eingeliefert oder verletzt nach Hause geschickt worden.

Jetzt standen sie also hier im Wald in den West-Vogesen und der Befehl lautete, den Flussübergang zu sichern. Der Leutnant machte sich Gedanken darüber, wie er diesen Auftrag möglichst verlustfrei ausführen könnte.

„Na Robbi, wie sieht es aus?“, hörte er eine vertraute Stimme hinter sich. Es war Feldwebel Stark, der sich, die Baumstämme als Deckung nutzend, zu ihm vorgearbeitet hatte.

Wenn sie unter sich waren, sprachen sie sich mit Vornamen an. Leutnant du Catoir hieß mit Vornamen Jean Robert, von seinen Freunden wurde er Robbi genannt.

„Ich habe noch nichts gesehen, scheint wie ausgestorben. Aber der Wald ist so dicht, dass man einfach nichts sehen kann. Man müsste warten, bis der Herbst kommt und die Blätter von den Bäumen fallen. Aber so lange wird wohl der Krieg hoffentlich nicht mehr dauern, oder?“

"Dein Wort in Gottes Ohr!"

Es war gerade mal Ende August des Jahres 1917 und der Sommer war noch nicht zu Ende.

„Wir werden heute Nacht einen Spähtrupp hinüber schicken müssen um zu sehen, was da auf uns zukommt. Du kannst dir schon einmal überlegen, wen wir mitnehmen. Entweder führe ich den Trupp, oder du übernimmst das.“, sagte Du Catoir.

Sie gingen zu ihrer Truppe zurück. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Gegenseite von ihrer Anwesenheit Wind bekommen hatte.

„Wir hätten doch auch einen oder zwei Posten in den Bäumen stationiert, wenn wir mit dem Vorrücken des Feindes rechnen müssten, oder?“, fragte der Feldwebel den Leutnant, als sie über diese Frage sprachen.

„Die Deutschen werden ihre Wachen verstärken und wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht erwischen.“

Als die beiden am Westhang des bewaldeten Hügels angekommen waren, wurden sie von den postierten Wachen empfangen.

„Wie sieht es aus?“, fragte der wachhabende Unteroffizier und schaute den Feldwebel erwartungsvoll an.

„Schwer zu sagen“, meinte dieser, „wirklich gesehen haben wir niemanden. Aber die sind da, da bin ich mir ganz sicher. Und die passen auf wie die Schießhunde, darauf kannst du Gift nehmen!“, fauchte Feldwebel Stark. „Heute Nacht werden wir ihnen einen Besuch abstatten. Dann wissen wir mehr.“

Leutnant du Catoir hatte den Männern empfohlen, sich auszuruhen und möglichst zu schlafen.

Er hatte entschieden, dass der Spähtrupp gegen Mitternacht aufbrechen sollte. Geplant war, am Waldrand knapp einen halben Kilometer weit flussaufwärts zu gehen, um dort durch den Fluss auf die andere Seite zu waten. Vom Flussufer aus sollten die Soldaten einzeln in den Wald einrücken und dort dann geschlossen den Hang hinauf schleichen. Der Spähtrupp sollte aus insgesamt fünf Männern bestehen. Zwei sollten mit einem Abstand von ungefähr fünfzehn Schritten in Richtung der am Hang vermuteten deutschen Soldaten vorrücken.

Der Auftrag bestand darin, die genaue Lage des Verbandes am Hang zu bestimmen. Dann könnte am nächsten Tag mit gezieltem Mörserbeschuss der Angriff begonnen werden. Inwieweit es gelingen würde, die Deutschen dazu zu bewegen, ihre Stellungen aufzugeben und sich zurück zu ziehen, war nicht voraussehbar. Weder war die Stärke des Feindes bekannt noch dessen Bewaffnung.

Auch der Leutnant hatte sich ins Gras gesetzt und an einen Baumstamm gelehnt. Wie seine Männer versuchte auch er, ein wenig die Augen zu schließen. In den letzten Tagen waren sie kaum zum Ausruhen gekommen.

Jetzt dachte er mit geschlossenen Augen an zu Hause. Dort im Süden Frankreichs konnte man immer das Meer riechen und eine sanfte Brise transportierte den eigentümlichen Geruch des Mittelmeeres ins Land. Sein Vater hatte alles versucht, ihn davon abzuhalten, dem Aufruf zum Militär zu folgen. Er hielt es aber für seine Pflicht, in diesen Kampf gegen die Angreifer zu gehen.

In ihren vielen Auseinandersetzungen darüber, wer schuld am Krieg hatte, konnten sie nie einig werden. Nach dem Mord in Sarajevo hatten die Österreicher den Serben mit Krieg gedroht. Die bestehenden Beistandspakte innerhalb Europas hatten dazu geführt, dass Deutschland, Russland, Frankreich und weitere Staaten sich genötigt fühlten, die Mobilmachung auszurufen. Als dann die Deutschen in Belgien einfielen, blieb Frankreich keine andere Wahl mehr. Sie traten in den Krieg ein. Der deutsche Vormarsch konnte gestoppt werden und mit Hilfe der Engländer lag man sich immer noch – nach jetzt mehr als drei Jahren – an der Marne gegenüber. Tausende Tote mussten beklagt werden, die Verletzten konnte man schon gar nicht mehr zählen.

Vor etwa sechs Wochen waren die Amerikaner in den Krieg eingetreten und man konnte hoffen, dass es sich nur noch um ein paar Monate handeln würde, bis die Deutschen kapitulierten. Die Amis hatten neben einer Unmenge von Material und Munition auch die neuesten gepanzerten Kampfwagen zum Einsatz gebracht, die von der Infanterie der Deutschen sehr gefürchtet wurden. Diese Kampfwagen befanden sich auf dem Vormarsch in Richtung Osten. Und diesen Vormarsch sollte seine Einheit durch Eroberung des Brückenüberganges mit sicherstellen.

Unter dem dichten Laubdach der Bäume fühlte man sich an diesem warmen Augusttag wohl. Bei ungefähr dreißig Grad im Schatten hatten sie genügend Wasser und auch sonst war die Verpflegung in den letzten Wochen wieder besser geworden. Überhaupt war der gesamt Nachschub seit Anfang des Sommers wieder normal gewesen. Dies hing wohl auch damit zusammen, dass der Gegner immer weiter zurück wich und die Versorgungslinien dadurch nicht mehr angegriffen wurden.

Leutnant du Catoir hatte sich dazu entschlossen, den Spähtrupp durch Feldwebel Stark führen zu lassen. Er hielt ihn für einen sehr guten Soldaten, der vor allen Dingen keine leichtsinnigen Entscheidungen traf und die Sicherheit der Truppe immer allem voran stellte.

Er konnte zwar mit niemandem darüber, sprechen aber den Auftrag, die Brücke zu sichern, hielt er für schwachsinnig. Warum konnten die Kampfwagen nicht über die Nationalstraße vorrücken? Aber einem kleinen Leutnant wie ihm stand es nicht zu, Befehle zu hinterfragen und schon gar nicht zu kritisieren.

Es war dunkel geworden und die Männer waren aus ihrem Schlummer erwacht. Leises Gemurmel machte sich breit. Der eine oder andere Soldat stand auf und streckte die Glieder. Man konnte sich kaum vorstellen, dass die Einheit sich im Kampfeinsatz befand. Ob die Deutschen auf der anderen Flussseite ebenso entspannt in den Abend gingen?

Robbi rief den Feldwebel zu sich: „Feldwebel Stark, antreten!“

Stark baute sich vor ihm auf und grüßte militärisch. „Jawohl, Herr Leutnant!“

„Suchen Sie sich vier Mann für den Spähtrupp zusammen.“

„Jawohl, Herr Leutnant!“

Der Feldwebel streifte zwischen den Männern hindurch und suchte sich gezielt vier Soldaten aus. Diese nahmen ihre Ausrüstung und stellten sich vor dem Leutnant auf, der Feldwebel leicht versetzt vor dem Trupp.

„Spähtrupp angetreten, Herr Leutnant“, meldete Feldwebel Stark.

„Männer, ihr werdet jetzt auf die andere Seite des Flusses gehen und versuchen herauszufinden, wie viele Soldaten da sind, wo sie sich befinden und wie sie bewaffnet sind. Mehr ist nicht zu tun. Auf keinen Fall darf es zu Feindkontakt beziehungsweise zu Kampfhandlungen kommen. Ich möchte keinerlei Verluste haben! Ist das klar?“

„Jawohl, Herr Leutnant!“, antwortete der Spähtrupp wie aus einem Mund.

Der Mond war aufgegangen und sein Licht drang an der einen oder anderen Stelle durch das dichte Laubdach. Leutnant du Catoir konnte die vor ihm angetretenen vier Soldaten jetzt etwas besser erkennen. Drei von ihnen waren etwa so groß wie er selbst, ungefähr einen Meter achtzig. Der vierte Mann war deutlich kleiner, vielleicht knapp eins-sechzig. Der Leutnant trat ein paar Schritte zurück und winkte den Feldwebel zu sich.

„Wer ist der kleine Mann da? Ging es nicht ein wenig gleichmäßiger, Herr Feldwebel?!“

„Sie nennen ihn Trüffel, Herr Leutnant. Er ist zwar klein, aber er hat etwas auf dem Kasten.“

„Und wieso heißt er Trüffel?“

„Das ist eine längere Geschichte Herr Leutnant. Als er zu uns abkommandiert worden war, gab es im Lager eine komische Sache. Ein anderer Soldat hatte ihn aufgefordert, ihm aus dem Wege zu gehen, damit er nicht auf diesen Klecks Ziegenscheiße treten müsse. Der Kleine sei auf ihn zu getreten, habe beide Arme um dessen Brustkasten gespannt und zugedrückt. Nach etwa einer Minute sei der Große in Ohnmacht gefallen. Die anderen haben auf Trüffel eingeredet, dass er ihn loslassen solle. Das tat der auch. Der ohnmächtige Kamerad brauchte eine ganze Weile, bis er wieder zu sich kam. Ab diesem Tag ging ihm der aus dem Weg. Einer der Männer, der alles angesehen hatte, sagte, er sehe auf den ersten Blick tatsächlich aus wie ein Stück Ziegenscheiße, noch mehr Ähnlichkeit hätte er jedoch mit einem Trüffel – äußerlich unbedeutend und nichts sagend, bei näherem Hinschauen aber doch etwas ganz Besonderes. Ab diesem Tag hatte er diesen Namen. Er ist ein kleiner Mann, aber unheimlich stark. In seinem zivilen Beruf war er bei einem Zirkus beschäftigt, und zwar in einer Artistentruppe - als Untermann. Seine geringe Körpergröße und seine unglaubliche Kraft waren gerade richtig, um als Artist gut bestehen zu können.“

„Das ist ja interessant. Und wer sind die anderen drei?“

„Der große wird Piccolo genannt, der zweite von links mit der großen Nase heißt Napoleon – er ist derjenige, der immer meint, er könne zurück bleiben und alles beobachten um die anderen zu warnen - wie die großen Feldherren in allen Kriegen. Der vierte heißt einfach nur Paul, der hat keinen Spitznamen, passt aber auch sehr gut in die Gruppe.“

„Haben sie schon mit den Männern besprochen, wie sie vorgehen wollen?“

„Nun, wenn wir jetzt hinüber gehen, werden wir leider überhaupt nichts sehen können. Unter den Bäumen ist es stockdunkel. Wir werden also erstmal durch den Fluss waten. Am Waldrand bleiben dann drei Mann zurück und verbergen sich im dichten Gebüsch. Trüffel und Piccolo gehen weiter vor und schleichen sich so weit wie möglich in Richtung der feindlichen Stellung. Wenn sie glauben, nahe genug zu sein, wird sich Trüffel so verbergen, dass er möglichst auch bei Tageslicht nicht zu sehen sein wird. Piccolo bleibt etwa dreißig Schritte zurück und versteckt sich hinter einem Baumstamm. Er soll im Feuerschutz geben, falls es nötig ist. Sobald die Sonne aufgeht und die Dämmerung einsetzt, ist der Zeitpunkt für das Eingreifen der drei am Waldrand gekommen. Sie fingieren einen Angriff, indem sie ein paar Schüsse in die Luft abgeben. In den Wald hinein zu schießen macht ja keinen Sinn, die Stämme stehen viel zu dicht, als dass eine Kugel durchkäme. Wir wollen die Deutschen durch die Schüsse nur aufschrecken, damit sie ihre Stellungen preisgeben. Trüffel kann dann aus seinem Versteck heraus die genaue Position der einzelnen Posten und Stellungen sehen und wir können die gewonnenen Erkenntnisse in unsere Angriffsstrategie einbinden. Ich sehe keine andere Möglichkeit, die Deutschen aus ihren Stellungen aufzuschrecken. Wir wissen ja noch nicht einmal, wie viele Gegner wir vor uns haben und wie deren Bewaffnung ist.“

„Also, die drei, die zurück bleiben, sind Napoleon, Paul und sie, Feldwebel Stark?“, fragte Leutnant du Catoir.

„Jawohl“, bestätigte Feldwebel Stark. „Ich werde mit den beiden zurück bleiben und Piccolo wird ungefähr auf halber Strecke zwischen Trüffel und uns zusätzlich sichern. Wir drei werden uns dann einzeln über den Fluss zurückziehen, Piccolo und Trüffel bleiben in ihren Verstecken, bis es wieder dunkel ist. Zu diesem Zweck nehmen sie ausreichend Wasser und auch etwas zu essen mit. Sie müssen den ganzen Tag ruhig bleiben und wir hoffen, dass die Deutschen keinen Spähtrupp losschicken. Möglicherweise ist es notwendig, dass wir drei am anderen Flussufer in Stellung gehen, um eventuell vorrückende Soldaten auf der anderen Seite unter Feuer zu nehmen. Wir müssen unbedingt verhindern, dass Trüffel und Piccolo gefährdet werden.

Gibt es noch Vorschläge oder Hinweise dazu?“

Da keiner noch etwas sagen wollte, gab der Leutnant den Befehl zum Aufbruch.

Feldwebel Stark und seine vier Männer machten sich auf den Weg den Hang hinunter in Richtung Talsohle. Als sie etwa fünf Schritte vom Flussufer entfernt waren, wandten sie sich flussaufwärts. Sie achteten darauf, dass sie immer ausreichend Schutz hinter Baumstämmen und Büschen hatten, damit möglicherweise auf Posten stehende Wachen der Gegenseite keine Chance hätten, sie zu entdecken.

Als die fünf nach etwa zweihundert Metern am Ufer eine Mulde erkennen konnten, befahl der Feldwebel leise: „Halt!“

Er drehte sich zu seinen Leuten um und flüsterte: „Ich schaue nach, ob wir hier rüber können. Verhaltet euch still, bin gleich wieder zurück.“

Nach kurzer Zeit stand der Feldwebel wieder vor seinen Männern und sagte: „Hier geht es einigermaßen flach in den Fluss hinunter und ich denke, dass wir gut auf die andere Seite gelangen können. Das Wasser ist nicht allzu tief und ich hoffe, dass wir nicht komplett nass werden.“

Es war immer noch recht warm und eine kleine Abkühlung würde nicht unangenehm sein. Sie schlichen hinter einander gebückt zum Flussufer hinunter. Feldwebel Stark setzte vorsichtig seinen rechten Fuß in das dunkle Wasser und tastete nach dem Untergrund. Tatsächlich war das Wasser nicht einmal einen halben Meter tief und er schob einen Fuß vor den anderen in Richtung Flussmitte. Seine Männer folgten ihm einer nach dem anderen. Ohne Zwischenfall erreichten sie das andere Ufer.

Dieses war um einiges steiler. Sie mussten sich mit beiden Händen an der Uferböschung hinaufziehen. Ihre Waffen hatten sie sich über die Schultern gehängt. Das Ufer war nur ein kleines Stück unbewachsen. Sie überwanden die paar Schritte leicht nach vorne gebeugt und verbargen sich im Wald nahe am Wasser.

„Piccolo, Trüffel, ihr beide schleicht jetzt zusammen am Ufer zurück, bis ihr ungefähr auf Höhe der vermuteten Stellung seid, wie besprochen. Dann geht Trüffel den Hang hinauf, Piccolo bleibt unten zurück und sichert ab.“ Er wandte sich an Trüffel: „Sobald du glaubst, dass du nahe genug bist, grabe dich unter dem Laub ein. Es wird sicher genügend Buschwerk zu finden sein, dass du dich unsichtbar machen kannst.

Sobald die Sonne aufgeht, beginnen wir den Scheinangriff. Dann musst du sehen, dass du so viele Informationen wie möglich sammelst: Anzahl der Männer, Bewaffnung, Standort der schwereren Waffen, wie Maschinengewehr oder Mörser, und so weiter, du weißt schon. Wenn es morgen Abend wieder dunkel geworden ist, kommt ihr auf dem gleichen Weg zurück. Viel Glück!“

Trüffel, sein richtiger Name war Pierre Krebs, tastete sich langsam in die Dunkelheit, Piccolo folgte ihm in einigem Abstand. Seine Familie stammte aus dem Elsass und war nach dem Krieg von 70/71 in die Nähe von Nancy gezogen, wo er auch geboren wurde. Im Hause Krebs wurde weiterhin Elsässisch gesprochen, obwohl dies nach der Übernahme des Elsass´ durch die Deutschen in Frankreich verboten war.

Feldwebel Stark hatte ihn auch aus diesem Grunde für diese Aufgabe ausgewählt. Wenn es ihm gelingen sollte, nahe genug an die Deutschen heran zu kommen, würde er vielleicht auch verstehen können, worüber sie sprachen. Da die deutschen Einheiten in Ostfrankreich meist aus Regimentern aus dem Badischen rekrutiert wurden, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er auch deren Dialekt verstehen würde. Allerdings musste er ihnen erst einmal so nahe kommen, wie er es sich vorgenommen hatte. Dazu war es unbedingt notwendig, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Oder er musste darauf hoffen, dass das Mondlicht durch das dichte Blätterdach scheint.

Je weiter er sich vortastete, desto besser glaubte er, Umrisse vor sich erkennen zu können. Baumstämme zeichneten sich vor dem etwas heller erscheinenden Hintergrund ab und er konnte sich ganz langsam zwischen ihnen hindurchtasten. Er achtete darauf, im trockenen Laub möglichst keine Geräusche zu machen. Es war ihm nicht klar, wie weit er schon vorangekommen war.

Plötzlich spürte er an seinem rechten Fuß einen Widerstand. Irgend etwas blockierte ihn. In Höhe seines rechten Fußgelenks spannte sich ein dünnes Etwas. Er glaubte zuerst, dass es ein dünner Zweig war, und hob den Fuß. Da erkannte er, dass es etwas anderes sein musste. Er ging in die Knie und tastete mit den Fingern danach. Jetzt spürte er deutlich einen dünnen Draht in seiner Hand.

„Scheiße!“, dachte er. „Die haben einen Draht gespannt. Hoffentlich ist die Falle nicht so sensibel eingerichtet, dass sie schon etwas merken konnten.“

In diesem Moment erklang in einiger Entfernung vor ihm ein metallisches Geräusch. Er fuhr zusammen und ließ sich sofort zu Boden sinken.

„Ja, ich habe es auch gesehen, der Draht hat sich bewegt!“, sagte eine Stimme auf Deutsch, keine zehn Schritte vor ihm im Wald. „Ich habe aber von vornherein gesagt, dass diese Scheiße nicht funktionieren wird. In der Nacht ist hier ein ganzer Haufen Wild unterwegs!“

„Ja, ich weiß, dass du das gesagt hast. Aber es ist auf jeden Fall sicherer, als wenn wir gar nichts machen würden, oder?“, antwortete eine andere Stimme. „Komm, lass uns etwas weiter zurück gehen. Es könnte ja sein, dass die Franzmänner tatsächlich versuchen uns hier aus dem Wald zu treiben. Mir ist es schon lange egal, wer die scheiß Brücke kontrolliert. Ich glaube sowieso nicht daran, dass die Amis mit ihren Tanks hier vorbei kommen. Das ist doch viel zu weit weg von der Hauptroute!“

„Das ist nicht unsere Sache“, sagte der andere.

Sie gingen weiter den Draht entlang – zum Glück von Trüffel weg.

Dann war es wieder still. Trüffel wartete noch eine Weile. Als er sicher war, dass die beiden weit genug entfernt waren, zog er sich ganz langsam zurück und schob sich in eine kleine Mulde hinter einem starken Eichenstamm, die er entdeckt hatte. Er häufte ganz leise rund um die Mulde trockenes Laub an, legte sich mit dem Kopf bergaufwärts in die Mulde und schob sorgfältig das Laub auf seinen Körper. Dann versuchte er, sich zu entspannen. Er musste jetzt warten, bis es wieder hell wurde und die Männer am Flussufer ihre Aktion starteten.

Er wachte von einem leisen Geräusch auf und war im ersten Moment sehr erschrocken. Eigentlich hatte er auf keinen Fall einschlafen wollen.

Jetzt war er hellwach und spähte zwischen die Stämme vor sich. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, nur ein Dämmerlicht war zu sehen und er konnte daher fast nichts erkennen. Jetzt hieß es also wieder warten, bis der Tag anbrach.

Nach etwa einer Stunde war es so hell geworden, dass er die einzelnen Blätter an den Büschen in Unterholz erkennen konnte. Er meinte auch, das eine oder andere Mal Geräusche vor ihm am Hang zu hören.

Dann tat sich endlich etwas. Etwa dreißig Schritte hangaufwärts tauchte ein deutscher Soldat hinter einem Baumstamm auf. Er spähte angestrengt auf das gegenüberliegende Flussufer und suchte den Wald ab. Ein zweiter Soldat trat zu ihm und der erste sagte:

„Keine Menschenseele zu erkennen. Ich weiß nicht, aber ob da wirklich ein Franzmann ist?“

„Der Hauptmann hat gestern erklärt, dass sich Soldaten am anderen Ufer eingefunden hätten. Wie viele es sind, ist aber nicht bekannt. Genauso wenig, warum sie hier sind.“

„Was können wir tun? Sollen wir vielleicht einen Spähtrupp losschicken?“

„Ach was, es ist ohnehin nicht klar, wie lange wir noch hier unsere Zeit vergeuden sollen. Wir haben fast nichts mehr zu essen und der Nachschub entfernt sich immer weiter von dieser Frontlinie.“

„Ja, du hast Recht. Es wäre viel besser, wenn unsere Einheit weiter nach hinten verlegt würde. Mit unseren zwei Maschinengewehren und unserem Mörser können wir sowieso nicht viel ausrichten, sollten die Franzosen in Kompaniestärke vorrücken.“

Trüffel hatte jetzt schon genug gehört, was die Waffen anging. Wie stark die Einheit zahlenmäßig war, konnte er aber wohl nicht herausbekommen. Also musste jetzt der Scheinangriff her, damit die Deutschen aus den Stellungen getrieben wurden.

Genau in diesem Moment krachte es rechts von ihm unterhalb des Waldrandes und mehrere Gewehre feuerten in Richtung der deutschen Stellungen.

Die beiden Soldaten hatten sich sofort nach hinten in einen wohl vorhandenen Schützengraben geworfen und waren nicht mehr zu sehen. Trüffel hörte lautes Befehlsgeschrei im Wald vor sich und man konnte die Schritte der Kampfstiefel im Laub im schnellen Rhythmus hören. Nach den Schritten zu urteilen waren es wohl nur zehn oder zwölf Mann. Viel mehr konnten es nicht sein, das wäre zu hören gewesen. Wo sie genau die Maschinengewehre in Stellung hatten und wo sich der Mörser befand, war nicht auszumachen.

„MG 1 Feuer frei!“, hörte Trüffel vor sich rufen und sofort donnerte ein Maschinengewehr halb links über ihm.

Seine Kameraden am Flussufer machten keine Anstalten, das Feuer zu erwidern. Sie hofften, dass Trüffels Erkenntnisse gut genug waren, um am nächsten Tag einen wirklichen Angriff mit Aussicht auf Erfolg zu starten.

Nachdem von oben der Befehl „Feuer einstellen!“ gerufen wurde, konnte Trüffel von den Deutschen auch nichts mehr hören. Sicherlich waren sie vollkommen überrascht darüber, dass die Franzosen einen solch unsinnigen Feuerüberfall überhaupt gewagt hatten.

Oberhalb des Liegeplatzes von Trüffel, ungefähr zwanzig Schritte von ihm entfernt, war ein Soldat in Offiziersuniform neben einem Baumstamm aufgetaucht. Dies war wohl der Hauptmann, von dem die beiden anderen gesprochen hatten. Er hatte einen Feldstecher an die Augen gehoben und suchte das Flussufer ab. Dann zog er sich wieder zurück und verschwand in dem vermuteten Schützengraben. Man konnte deutlich hören, dass ein Gespräch stattfand. Verstehen konnte Trüffel nichts. Er spürte aber, dass etwas im Gange war.

Zwei Minuten später erschien eine Gruppe von sechs Soldaten in seinem Blickfeld. Sie waren etwa dreißig Schritte oberhalb seines Verstecks und verteilten sich nach rechts und nach links im Abstand von etwa fünf Metern. Dann kamen sie langsam den Hang herunter, dabei immer abwechselnd nach vorne und dann wieder auf den Boden schauend. Ganz so, als ob sie etwas suchten. Trüffel bekam ein mulmiges Gefühl. Wenn der mittlere Mann weiter seine Richtung einhielt, würde er in zwei bis drei Minuten über ihn stolpern.

Was sollte er tun? Gut wäre es, wenn die Kameraden von unten wieder das Feuer eröffnen würden. Aber da tat sich leider nichts. Die Deutschen arbeiteten sich immer weiter den Hang hinab. Jetzt erkannte Trüffel schlagartig, was da vor sich ging: die sechs Mann überprüften die Stolperdrähte! Und er lag ganze fünfzig Zentimeter von einem dieser Drähte entfernt. Da konnte er noch so gut mit Laub bedeckt sein. Wenn einer auf ihn treten würde, würde alle Tarnung nichts mehr helfen.

Trüffel schoss in die Höhe, gab zwei Gewehrschüsse in die Luft ab, in der Hoffnung, dass die Deutschen sich alle in den Dreck werfen würden und er so einen Vorsprung auf dem Weg zum Fluss herauslaufen könnte. Die sechs Soldaten warfen sich auch auf den Boden, allerdings war die MG-Besatzung wohl auch auf Posten, denn sofort krachten von dort aus die Schüsse durch den Wald. Trüffel rannte so schnell er konnte den Hang hinunter und versuchte dabei, die Deckung der Stämme zu nutzen. Er rannte um sein Leben. Jetzt eröffneten seine Kameraden vom Flussufer aus ebenfalls das Feuer, weil sie wohl erkannt hatten, dass Trüffel in Schwierigkeiten war.

In diesem Moment spürte Trüffel einen Schlag an der linken Wade. Im gleichen Augenblick knickte er mit diesem Bein um und stürzte. Er sah, dass ihn eine Kugel getroffen hatte, der Knochen war zerschlagen oder zumindest getroffen. Der Fuß hing nur noch locker baumelnd in der Haut. An Laufen war nicht mehr zu denken. Komischerweise ging ihm jetzt auch durch den Kopf, dass es mit dem Zirkus wohl für immer zu Ende sein würde. Hilfe suchend schaute er um sich. Wo war eigentlich Piccolo? Er müsste doch hier irgendwo sein? Und jetzt sah er ihn tatsächlich. Piccolo kauerte hinter einem dicken Eichenstamm und schaute in seine Richtung, wobei er sein Gewehr im Anschlag hielt.

„Trüffel, mach dass du runter kommst. Wir müssen abhauen.“, rief er.

Trüffel bekam keinen Ton heraus. Erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz im Bein. Er schaute nach unten und sah, wie sich seine Hose mit Blut tränkte.

„Ich kann nicht!“, rief er in Richtung Piccolo. „Schau, dass du dich in Sicherheit bringst. Bei mir geht nichts mehr!“

In diesem Moment wurde der Wald von lautem Gewehrgeknatter erfüllt. Leutnant du Catoir hatte bemerkt, dass etwas schief gegangen war er hatte seine Männer zwischenzeitlich am gegenüberliegenden Hang im Wald in Stellung gebracht und die Soldaten feuerten in Richtung feindlicher Stellung am hiesigen Berghang.

Piccolo nutzte das Durcheinander und rannte den Hang hinab zum Flussufer. Unten angekommen, stürzte er sich ins Wasser und watete ans andere Ufer. Plötzlich blieb er jäh in der Flussmitte stehen, um dann langsam nach vorne zu sinken. Offenbar war er getroffen. Er tauchte ins Wasser ein und wurde von der leichten Strömung erfasst, die in langsam mit sich zog.

Das heftige Gewehrfeuer der Franzosen trieb die sechs Deutschen zurück in ihre Stellung. Von dort aus hatten die deutschen Soldaten das Feuer erwidert. Jetzt ratterten zwei Maschinengewehre und mehrere Karabiner in gleich bleibendem Rhythmus. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite verursachte der Kugelhagel größeren Schaden. Die Gegner hatten sich im Schützengraben in Sicherheit gebracht, die Franzosen lagen allesamt hinter dicken Baumstämmen.

Dann hörte der Beschuss von der deutschen Seite auf. Leutnant du Catoir gab den Befehl, das Feuer ebenfalls einzustellen. Er überlegte, ob die Deutschen vielleicht knapp an Munition waren. Oder sie sahen die Sinnlosigkeit der Attacke und hatten deshalb aufgehört zu schießen.

Plötzlich war ein leichtes Ploppen vom gegenüberliegenden Hang zu hören und mit einem leisen Pfeifgeräusch flog eine Mörsergranate über ihre Köpfe hinweg und ging hinter ihnen im Wald nieder. Die Explosion brachte den Boden zum Beben und man hörte Äste krachend durch den Wald fliegen.

„Wie machen die das?“, dachte der Leutnant. Sie konnten doch nicht den Mörser abschießen, ohne Gefahr zu laufen, dass die Granate sich in den über ihnen befindlichen Ästen verfing und dort explodierte. Offenbar hatten sie eine Stelle, die von Baumkronen mehr oder weniger befreit worden war. Jedenfalls musste er sich etwas einfallen lassen, damit seine Männer aus der Gefahrenzone kamen. Wenn der Mörser auf die richtige Entfernung eingestellt war, wurde es gefährlich.

„Alle Mann zurück bis über den Hang!“, brüllte er durch den Wald.

Er hörte, wie sich seine Männer hastig zurückzogen. Um

Feldwebel Stark und seine Männer konnte er sich jetzt nicht kümmern. Feldwebel Stark, Paul und Napoleon hatten sich zwischenzeitlich hinter dicken Baumstämmen in Sicherheit gebracht und sie hofften, dass die Deutschen nicht herausbekommen hatten, wo sie sich verbargen. Sie mussten unbedingt den Abend abwarten, um zu ihrer Einheit zurück zu gelangen. Bei Tag war es viel zu gefährlich, da das Flussbett frei einsehbar war. Sie mussten sich auch – und das war das Wichtigste – um Trüffel und Piccolo kümmern. Sie hatten gar nicht mitbekommen, dass Piccolo gefallen war. Sie wussten auch nicht, wie es Trüffel ging. Seine Verletzung hatten sie auch nicht mitbekommen.

„Wir bleiben hier und verhalten uns still“, sagte Feldwebel Stark ganz leise in die Runde. „Von keinem ein Sterbenswörtchen, bitteschön“, sagte er und sie ließen sich auf den Waldboden nieder. Es war noch sehr früh am Morgen und es würde ein langer Tag werden, das war ihnen allen klar.

Der deutsche Hauptmann hatte seinen Leuten befohlen, abwechselnd Wachen aufzustellen. Sie würden abwarten, ob der Feind nochmals angreifen würde. Es war tatsächlich so, dass sie sehr knapp an Munition waren und brennend auf Nachschub warteten. Auf der einen Seite hatte der Hauptmann den Auftrag, die Brücke zu sichern, auf der anderen konnte er dies ohne Munition nur noch sehr eingeschränkt tun. Mit einem bitteren Lächeln verzog der erfahrene Soldat seinen Mund. Er glaubte schon lange nicht mehr daran, dass der Krieg zu gewinnen war. Noch weniger glaubte er daran, dass die besagte Brücke unten im Tal ein Objekt war, das es zu sichern lohnte. Aber Befehl war eben Befehl.

Trüffel lag immer noch an der Stelle, an der er zu Fall gekommen war. Er hatte starke Schmerzen und überlegte, wie er aus der Gefahrenzone kommen konnte. Es fiel ihm nichts ein. Er musste davon ausgehen, dass er auf dem Weg zum Fluss auf jeden Fall in das Blickfeld der MG-Schützen kommen musste. Und dann gute Nacht. Er könnte es auf allen Vieren versuchen. Aber er musste auf jeden Fall abwarten, bis es dunkel wurde. Und er musste hoffen, dass die Deutschen es nicht noch einmal wagen würden, den Abhang herunter zu kommen.

Es war Abend geworden. Feldwebel Stark hatte seinen beiden Männern befohlen, in ihren Verstecken zu bleiben. Er selbst wollte nach vorne schleichen und auf Trüffel warten. Er ging langsam am Waldrand flussabwärts und verbarg sich in Höhe der Brücke hinter einem Gebüsch. Dort wartete er auf Trüffel.

Trüffel war es gelungen, sich auf die Knie aufzurichten. Er kroch langsam den Hang hinunter. Der lose baumelnde Fuß verursachte ihm aber so heftige Schmerzen, dass er laut aufstöhnte. Feldwebel Stark hatte dies gehört und er rief gedämpft vor sich in den dunklen Wald hinein.

„Trüffel, bist du da?“, In diesem Moment hörte Trüffel, wie die Deutschen oben am Hang ihre Gewehre entsicherten.

„Ich bin hier!“, rief er. „Du musst abhauen. Ich bin schwer verletzt und kann mich nicht bewegen!“

Von oben krachten zwei Schüsse und man konnte die Kugeln durch die Blätter pfeifen hören. Obwohl die Deutschen nichts sehen konnten, war es für den Feldwebel trotzdem lebensgefährlich.

„Ich gehe zurück, stelle einen Trupp zusammen, um dich zu holen. Bleib wo du bist!“, rief Feldwebel Stark.

Er machte sich auf den Weg zurück zu seinen Männern. Dabei blieb er immer am Waldrand und flitzte von einem Baumstamm zum nächsten. Für die Deutschen war es unmöglich, von ihren Stellungen aus zu sehen, wo er sich verborgen hatte.

„Wir gehen zurück auf die andere Seite und geben dem Leutnant Bericht“, sagte der Feldwebel, als er die beiden wartenden Kameraden erreicht hatte. „Piccolo hat sich wohl schon aus dem Staub gemacht. Jedenfalls ist er nicht zu sehen gewesen.“

Die drei gingen einzeln ans Ufer, ließen sich die Böschung hinab gleiten und wateten gebückt durch das Wasser zurück an das andere Ufer. Schnell tasteten sie sich in den Wald hinein und den Hang hinauf.

Aufgestellte Wachen hörten sie kommen und riefen:„Halt, Losungswort!“

„Sommer!“, rief Feldwebel Stark das vereinbarte Losungswort und eilte weiter.

Im Lager angekommen, erwartete ihn dort schon Leutnant du Catoir. „Und, wie ist es gelaufen? Ich hatte doch gesagt, dass kein Gefecht nötig ist, oder?“

„Trüffel ist verletzt, Herr Leutnant. Piccolo ist ja sicher schon hier, oder?“

„Was, Trüffel verletzt? Piccolo schon hier? Blödsinn, Piccolo ist doch bei euch, oder nicht?“

Feldwebel Stark nahm Haltung an und meldete: „Melde mich mit zwei Mann zurück vom Spähtrupp. Auftrag konnte nicht wie geplant ausgeführt werden. Soldat Krebs konnte zwar in seine Stellung vordringen, schaffte aber den Rückweg nicht. Er liegt etwa fünfzehn Schritte vom Flussufer entfernt in Höhe der Brücke im Wald und ist schwer verletzt. Soldat Piccolo ist verschollen.“

Er fügte hinzu: „Wir müssen Trüffel von dort wegholen, Herr Leutnant. Was mit Piccolo geschehen ist, konnte von mir nicht beobachtet werden. Gehe davon aus, dass er sich selbstständig in Sicherheit gebracht hat und in Kürze auftauchen wird.“

„Wir müssen den Verletzten aus dem Wald holen und ins Lager bringen. wie können wir das machen, ohne von den Deutschen bemerkt zu werden?“

„Wenn das überhaupt möglich ist, dann nur im Dunkeln. Die Deutschen wissen, dass Trüffel dort liegt. Sie werden auf jeden Fall Wachen aufstellen. Vielleicht versuchen sie sogar, den Kameraden zu bergen, ich weiß es nicht!“

„Warum sollten sie ihn holen wollen? Das macht doch keinen Sinn“, sagte der Leutnant. „Außerdem wissen sie nicht, wie schwer unser Mann verletzt ist. Sie müssen ja damit rechnen, dass er nur leicht verletzt ist und deshalb durchaus in der Lage ist, sich zu wehren, oder?“

Feldwebel Stark gab darauf keine Antwort. „Ich habe nicht feststellen können, wie schwer es ihn erwischt hat. Ich konnte nicht näher an ihn ran, ohne in die Schusslinie der Deutschen zu kommen, tut mir leid.“

„Ist schon klar“, sagte der Leutnant. „Ich werde warten, bis es dunkel ist, und dann ans andere Ufer gehen, um unseren Mann zu holen.“

„Alleine können sie das nicht machen!“, sagte Feldwebel Stark. „Wie wollen sie ihn herüber bringen. Trüffel kann ja auf jeden Fall nicht mehr alleine gehen, sonst wäre er schon längst da, Herr Leutnant!“

„Ja, du hast recht“, sagte der Leutnant leise. Sie machten ein paar Schritte zwischen die Bäume. „Was sollen wir machen? Sollen wir nochmals einen Stoßtrupp hinschicken und Gefahr laufen, dass noch mehr Männer verletzt werden? Wir sind ja jetzt schon zu wenige, um unseren Auftrag bewältigen zu können. Nein, wenn jemand geht, dann bin ich das alleine. Du übernimmst hier die Verantwortung, bis ich wieder da bin!“

Leutnant du Catoir schaute seinem Feldwebel in die Augen und nickte ihm zu. „So machen wir das, und etwas anderes kommt nicht in Frage. Ihn einfach da drüben liegen zu lassen, das geht nun mal überhaupt nicht!“

Sie gingen beide zurück zu den im Wald verstreut wartenden Soldaten und der Leutnant gab den Befehl, jeweils zwei Wachen unten am Waldrand nahe am Flussufer zu postieren, damit eventuelle Aktivitäten der gegnerischen Seite schnell erkannt werden würden. Er selbst nahm seinen Rucksack auf, überprüfte seinen Revolver und steckte ihn in die Tasche zurück.

„Mein Gewehr lasse ich hier. Das stört nur sagte er. Dann drehte er sich um und ging den Abhang hinunter. Unten am Waldrand angekommen, schlug er sich nach links und ging hinter dem dichten Gebüsch am Ufer entlang flussabwärts. Er hatte sich vorgenommen, so weit zu gehen, bis der Fluss einen Knick machte. Erst dann wollte er den Wasserlauf durchqueren. Er wähnte sich dann sicherer, von den Deutschen nicht gesehen zu werden.

So weit flussabwärts werden sie wohl ihre Wachen nicht postiert haben, dachte er.

Nach ungefähr zwanzig Minuten, er hatte die Brücke schon hinter sich gelassen, hielt er an und spähte in Richtung Wasser. Langsam schlich er durch das Gebüsch zum Flussufer. Er ging in die Knie und tastete am Boden entlang bis er die Böschung fühlen konnte. Sie war nicht sehr steil und er ließ sich mit den Beinen voran ins langsam fließende Wasser gleiten. Es war dunkel, nur vereinzelt konnte man Sterne am Himmel erkennen. Der Mond war glücklicherweise nicht zu sehen. Nach ein paar watenden Schritten erreichte er das gegenüberliegende Ufer und auch hier war die Böschung nicht steil. Es war leicht, sich aus dem Wasser zu ziehen. Das Ufer war bis an den Rand mit Büschen bewachsen, die gute Deckung boten. Nach ein paar Schritten hatte er den ersten Baumstamm am Waldrand erreicht. Er ging zwei Schritte in den Wald hinein und wandte sich dann wieder flussaufwärts. Er bemühte sich, so leise wie möglich zu sein, konnte aber das Rascheln der trockenen Blätter am Boden nicht ganz vermeiden.

In der herrschenden Stille erschien ihm das Geräusch unheimlich laut. Er sagte sich, dass ihm seine Nerven einen Streich spielten und man sein leises Schleichen bestimmt nicht weit hören konnte. Dennoch war ihm mehr als mulmig zumute. Er schätzte, dass er mehr als fünf Minuten am anderen Ufer unterwegs gewesen sein musste, als er vom Fluss her lauter werdende Fließgeräusche hören konnte. Das muss die Brücke sein, dachte er. Hier umströmte das Wasser lautstark die Brückenpfeiler. Jetzt konnte er sich hangaufwärts vortasten. Dort war ungefähr die Stelle, wo der verletzte Kamerad lag.

Langsam tastete er sich von Baumstamm zu Baumstamm. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Plötzlich wurde der Wald vor ihm durch ein paar Lampen hell erleuchtet. Eine Stimme rief laut für ihn unverständliche Worte und er hörte, wie schwere schnelle Schritte auf ihn zukamen. Er erstarrte. Instinktiv wollte er sich zu Boden werfen, drehte sich aber nach kurzer Überlegung um und begann, ans Flussufer zurück zu hetzen.

Schon nach wenigen Schritten krachte hinter ihm ein Schuss, dann noch einer. Er spürte einen heftigen Schlag an seiner linken Hüfte und das Bein gab nach, so dass er kopfüber nach vorne rollte und auf den Rücken zu liegen kam. Ein heftiger Schmerz durchzog seine ganze linke Seite vom Fuß bis hoch in die Schulter. Er versuchte, seinen Revolver aus der Tasche zu ziehen, um sich zu wehren. Ein schwerer Stiefel trat auf seine Revolverhand und er schrie vor Schmerz laut auf. Jemand drückte ihm mit zwei Händen die Schultern auf den Boden. Er konnte sich nicht mehr bewegen, und er nahm die an der Hüfte tobenden Schmerzen wie durch einen Schleier wahr. Dann wurde es dunkel und er fiel in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Freund und Feind

Als Leutnant du Catoir aufwachte, lag er in einem kahlen Raum in einem Bett. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, und er wusste auch nicht, wo er sich befand.

Er zog seine Arme unter der Decke hervor und versuchte, sich auf die Seite zu drehen, um den Raum überschauen zu können. Ein heftiger Schmerz fuhr ihm in die linke Hüfte und erst jetzt merkte er, dass ein dicker Verband um seine Hüften gewickelt war. An Bewegen war nicht zu denken. Die Schmerzen waren zu stark.

Langsam schaute er sich um. Der Raum war nicht größer als ungefähr fünfzehn Quadratmeter. An einer Wand war eine weiß gestrichene Holztür, ihr gegenüber hinter seinem Kopf war wohl ein Fenster. von dort her fiel Licht in das Zimmer. Neben seinem Bett stand eine kleine Kommode, an der anderen Wand links von ihm war ein zweitüriger, ebenfalls weiß gestrichener Schrank. Wieder versuchte er, sich zu drehen. Er wollte aufstehen, um zu erkunden, wo er sich befand. Ihm war plötzlich wieder eingefallen, was im Wald geschehen war. Bis zu seiner Ohnmacht hatte er alles noch im Gedächtnis. Danach war alles dunkel. Er merkte, dass er das Bett nicht verlassen konnte. Einerseits war der Verband so straff gebunden, andererseits waren die Schmerzen bei jeder Bewegung fast unerträglich.

Plötzlich ging die Tür auf und ein Mann im weißen Kittel trat in das Zimmer, gefolgt von einer jungen Frau in Schwesternuniform, die ein paar Utensilien in den Händen hielt.

Der Mann, der mindestens sechzig Jahre alt war, trat an sein Bett und sagte in fließenden Französisch „Bonjour, Herr Leutnant. Wie ist das Befinden? Geht es schon wieder besser? Hat ja nicht gut ausgesehen. Zum Glück haben unsere Männer sie gleich hierher gebracht. Sonst hätten sie das wohl nicht überlebt.“

Leutnant du Catoir war verwirrt. Sollte er sich in Frankreich befinden? Er war doch auf deutscher Seite gefangen worden.

„Wo bin ich hier und wer sind sie, Monsieur?“, fragte der Leutnant.

„Ich bin Oberstabsarzt Meyer, mit „y“, wenn ich bitten darf, Herr Leutnant“ sagte der Mann und lächelte. „Sie befinden sich im Lazarett von Obernai und gleichzeitig in Gefangenschaft der glorreichen deutschen Armee, Herr Leutnant!“,

Über das Gesicht des Arztes zog sich immer noch ein feines Lächeln und Leutnant du Catoir konnte sich keinen Reim auf die Geschichte machen.

„Wie bin ich hierher gekommen. Was ist mit meinem Bein los?“

„Also, sie sind in den Vogesen bei einem Gefecht um eine unbedeutende Brücke, die leider schon einen Tag später von beiden Seiten aufgegeben wurde, in Gefangenschaft geraten. Sie wollten wohl, wie mir die beiden Soldaten erzählt haben, einen ihrer Männer retten, der aber schon längst verblutet war, und sie sind in eine Falle getappt. Wenn die Männer nicht erkannt hätten, dass sie Offizier sind, dann weiß ich nicht, ob sie hier angekommen wären. Sie wissen ja, unsere Soldaten vergöttern die Offiziere, ganz gleich, ob sie bei den eigenen Leuten sind oder Feinde.“

Er lachte laut und sagte dann: „Na, dann wollen wir mal nachsehen, ob alles gut verheilt ist. Bis jetzt sind wir ganz zufrieden.“

Der Arzt zog die Decke zurück und der Leutnant ließ seinen Kopf auf das Kissen sinken. Er musste erst einmal alles verdauen.

Die Schwester trat jetzt näher an das Bett und schnitt mit einer Schere den Verband auf. Der Arzt zog den Verband langsam von der Wunde an der linken Hüfte. Du Catoir musste sehr an sich halten, um nicht laut aufzuschreien.

„Sieht immer noch gut aus!“, rief der Arzt und lachte wieder.

Entweder hatte er wirklich Freude an solchen Verwundungen, oder aber, er hatte schon soviel Leid gesehen, dass er es nur noch auf diese Art verkraften konnte. Die Schwester hatte den Verband gänzlich gelöst und damit begonnen, mit feuchten Baumwolltüchern die Wunde zu säubern.

„Sie wurden von einer Gewehrkugel von hinten getroffen. Ist natürlich nicht gut für die Offiziersehre, wenn man von hinten getroffen wird, nicht wahr, Herr Leutnant?“ Wieder lachte der Arzt. „Die Kugel durchschlug den Beckenknochen und hat ein ganzes Stück mit heraus gerissen. Das wird Ihnen noch eine ganze Weile zu schaffen machen. Vielleicht werden sie das auch Ihr ganzes Leben mit sich herum tragen müssen. Wir werden sehen. Jedenfalls haben sie den Krieg jetzt hinter sich. Ich glaube nicht, dass sie noch mal Dienst werden tun können.“

„Wie lange bin ich denn schon hier?“

„Heute ist Freitag, angekommen sind sie am Mittwoch früh. Sie wären fast verblutet. Wie gesagt, sie hatten großes Glück.“

„Sie sagten vorhin, dass die Kampftruppen abgezogen worden sind. Hat es vorher noch mal Gefechte gegeben?“

„Das weiß ich nicht ganz genau. Auf jeden Fall wurden die Truppen auf beiden Seiten gleich nach ihrem Unfall abgezogen“ Wieder lachte der Arzt. „Ich gehe davon aus, dass es nicht mehr geknallt hat. Die erwarteten Kampfwagen der Engländer und der Amerikaner haben einen ganz anderen Weg genommen und die Verteidigung der kleinen Brücke hatte sich überholt.“

„Jetzt wird Ihnen Schwester Sophie einen neuen Verband anlegen und dann wollen sie bestimmt etwas zu trinken. Und sie sollten auch etwas essen. Wir sehen uns dann morgen wieder, Herr Leutnant!“

„Danke, mein Herr!“, sagte du Catoir. „Woher können sie so gut meine Sprache?“

„Ich bin in Strasbourg geboren, wissen sie, aber das ist schon eine ganze Weile her!“, wieder lachte der Arzt und ging aus dem Zimmer.

Die junge Krankenschwester, die der Arzt Sophie genannt hatte, schlug die Bettdecke zurück. Leutnant du Catoir wollte sich dagegen wehren, stellte aber seine Bemühungen schnell wieder ein. Er hatte erkannt, dass es nun Mal nicht anders ging, wenn ihm die Schwester helfen sollte. Diese machte sich sehr professionell daran, einen neuen Verband anzulegen. Dazu musste sie ihm mehrmals die Hüfte ein wenig anheben und ihn bewegen. Der junge Leutnant konnte es nicht verhindern, dass ihm ein kurzer Schmerzenslaut von den Lippen ging. Er schämte sich dafür, wollte er doch nicht als empfindliche Memme gelten.

Schwester Sophie schaute ihn lächelnd an und sagte leise: „Tut mir Leid, aber es geht nicht anders.“

Der Leutnant konnte sie natürlich nicht verstehen, da sie ihn auf Deutsch angesprochen hatte. Er kramte in seinem Gedächtnis nach seinen während der Schulzeit erworbenen Deutschkenntnissen und versuchte, die gehörten Worte in einen Zusammenhang zu bringen. Dies misslang aber sehr deutlich..

Er dachte daran, dass er versuchen musste an ein Deutschlehrbuch zu kommen. Er konnte nicht erwarten, dass er hier im Lazarett der Deutschen auf viele Leute treffen würde, die seine Sprache beherrschten.

Nach weiterem Grübeln reihte er ein deutsches Wort an das andere und sagte in unbeholfenem Ton zu der jungen Schwester: „Vielen Dank! Sprechen Sie Französisch?“

Sophie lächelte ihn unbeholfen an und zuckte mit den Schultern. Erst jetzt sah er, wie schön die junge Frau war, die ihm am Bett gegenüber stand. Er hatte sich im Bett etwas aufgerichtet, aber er musste sofort feststellen, dass ihm seine Beinverletzung keinen großen Spielraum für derartige Bewegungskünste ließ. Ermattet sank er auf das Kissen zurück. Von da aus betrachtete er das Gesicht von Schwester Sophie, während diese damit beschäftigt war, seinen neuen Verband fertig zu machen. Sophie hatte dunkelbraunes Haar, das bis zur Schulter ging. Es war leicht gewellt. Ihre Augenbrauen waren von gleicher Farbe und schön geschwungen. Sie hatte ein oval geschnittenes Gesicht, die Lippen waren voll und rosig. Sie gefiel ihm, sie war schön.

Als Schwester Sophie mit ihrer Arbeit fertig war, nahm sie ihre Sachen auf, verabschiedete sich von ihm und schob ihr Wägelchen zur Tür. Sie ging hinaus und beim Schließen der Tür lächelte sie noch einmal in seine Richtung.

Der Leutnant rief: „Wann kommen sie wieder?“

Sie stutzte kurz und hob wieder ihre Schultern, weil sie seine französischen Worte nicht verstehen konnte.

Am nächsten Tag erwartete du Catoir ungeduldig den Arzt zur Tagesvisite. Seine Verletzung erlaubte es ihm nicht, große Exkursionen zu unternehmen. Er war froh darüber, dass er es wenigstens bis zur Toilette ohne Hilfe schaffte. Es wäre ihm mehr als unangenehm gewesen, wenn er seine Notdurft in eine Bettpfanne hätte verrichten müssen.

Als der Arzt ins Zimmer kam, versprühte er gleich wieder gute Stimmung. Du Catoir konnte nicht verstehen, wie es der Doktor fertig brachte, bei diesem Geschäft in einem Lazarett eine solch gute Laune zu verbreiten. Es lag ihm schon auf der Zunge, eine entsprechende Frage dazu zu stellen. Er unterließ es aber, weil er den Arzt nicht in Verlegenheit bringen wollte. Hinter dem Arzt war Schwester Sophie ins Zimmer gekommen und du Catoir stellte mit Verwunderung fest, dass er sich darüber sehr freute. Er schaute der Schwester in die Augen und für einen kurzen Augenblick hatte er den Eindruck, dass Sophie ebenfalls eine kleine Freude bei ihrer Begegnung erkennen ließ.

„Guten Morgen, Herr Leutnant!“, sagte der Arzt etwas zu laut. „Wie geht es uns denn heute?“

Er fragte auf Französisch und du Catoir antwortete, dass er sich gut fühle und hoffe, dass er bald wieder gesund werde. Dann wagte er es, den Arzt nach einem Wörterbuch Französisch-Deutsch zu fragen.

„Was?! Sie wollen Deutsch lernen? Möchten sie die Seite wechseln?“ Wieder hatte der Arzt losgebrüllt. Jetzt lachte er aus vollem Halse. „Nun gut, ich muss mal sehen, was ich da machen kann. Vielleicht habe ich ja noch etwas zu Hause für sie!“

Der Arzt untersuchte die Wunde, nachdem die Schwester den Verband abgenommen hatte.

„Sehr gut! Sie sind ja wie ein junger Kater. Ein paar Tage schön liegen bleiben, dann verheilt alles von alleine, nicht wahr?“

Ihr Gespräch hatte wieder auf Französisch stattgefunden und Schwester Sophie nahm daran keinen Anteil. Jedenfalls konnte man ihr nicht anmerken, ob sie den Sinn der Worte wenigstens teilweise verstanden hatte.

Der Arzt hielt Wort und brachte seinem Patienten am folgenden Tag ein Deutschlehrbuch mit. So kam es, dass Jean Robert du Catoir schon nach etwa zwei Wochen seine alten Deutschkenntnisse so weit hatte aufleben lassen können, dass es ihm möglich war, mit Schwester Sophie ins Gespräch zu kommen.

Es waren knapp drei Monate vergangen, die Heilung war weit fortgeschritten und du Catoir konnte mit Hilfe eines Gehstockes selbstständig im Gebäude umher gehen. Er hatte festgestellt, dass er der einzige Offizier im Lazarett war. Er hatte deshalb auch ein Einzelzimmer zugewiesen bekommen. Die anderen Kranken wurden in Gemeinschaftsräumen versorgt. Du Catoir hatte damit begonnen, den Pflegekräften unter die Arme zu greifen. Es war ihm gleichgültig, ob er einem deutschen Soldaten half oder ob der vor ihm liegende ein Franzose war. Offenbar waren im Elsass nur Franzosen und Deutsche in Kampfhandlungen verwickelt. Andere Nationalitäten wurden nicht eingewiesen. Vielleicht lag dies aber auch daran, dass die deutsche Führung in diesem Lazarett eben nur Franzosen und Deutsche versorgte.

Während der Tage und Nächte über den Jahreswechsel 1917–1918 kamen sich Jean Robert und Sophie immer näher. Die Deutschkenntnisse von Robbi, wie er inzwischen von Sophie gerufen wurde, waren immer besser geworden. Sie waren jetzt sogar in der Lage, sich über Dinge wie Krieg und Frieden, Sinn und Unsinn von Gebietsansprüchen oder Macht zu unterhalten. Aber auch andere Themen waren so interessant und spannend für die beiden, dass sie an manchen Abenden, wenn die Arbeit beendet und etwas Zeit übrig war, stundenlang beieinander saßen und Gespräche führten.

Sie wurden einander immer vertrauter und es blieb nicht aus, dass sie sich während ihrer oft gestenreichen und angeregten Unterhaltungen gegenseitig berührten. An einem Abend gingen sie nach dem Essen zusammen in Jean Roberts Zimmer. Jean Robert erzählte mit großen Gesten von den Weinbergen zuhause und nahm plötzlich impulsiv Sophies Hände in die seinen.

Im ersten Moment erstarrte sie, so etwas war sie nicht gewohnt. Dann wurde ihr ganz warm und sie merkte, dass sie rot im Gesicht geworden war. Im Zimmer war es schon dunkel und sie hatten das Licht noch nicht eingeschaltet. So hoffte sie, dass Jean Robert nicht bemerken würde, wie ihr seine Berührung unter die Haut gegangen war. Aber offenbar hatte er es doch bemerkt. Er hatte seine Erzählung mitten im Satz unterbrochen und zog ihre Hände an sich. Nun berührten ihre Hände seine Brust, an die er sie fest drückte. Er beugte sich zu ihr hin und berührte ihre Lippen mit seinen. Sie hatte die Augen geschlossen und wich nicht zurück. Er ließ ihre Hände los und umarmte sie heftig, zog sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen Küssen, die Stirn, die Augenlider, die Wangen und dann ihren Mund. Sie waren allein und ohne weiter darüber nachzudenken glitten sie in eine glückselige Umarmung, die erst am nächsten Morgen endete.

Nach dieser gemeinsam verbrachten Nacht taten sie alles, um so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen. Sie hatten sich ewige Liebe versprochen, ganz egal, dass sie Deutsche war und er Franzose. Sie hatten sich fest vorgenommen, nach dem Ende des Krieges ein gemeinsames Leben zu beginnen, träumten von der Zukunft in Robbis Haus an der französischen Mittelmeerküste.

Eines Abends rückten motorisierte Einheiten auf dem Platz vor dem Lazarett an und ein Befehlshaber stürmte schnellen Schrittes in die Empfangshalle. Gleichzeitig stiegen die Fahrer der Transporter aus und schoben die Planen an der Rückseite der Ladeflächen hoch. Der Gruppenführer wies den Lazarett-Kommandeur an, das Lazarett zu räumen. Der Feind sei inzwischen sehr nahe angerückt, und die Sicherheit der Lazarettinsassen sei an diesem Standort nicht mehr zu gewährleisten. Die Kranken sollten auf die andere Rheinseite gebracht werden. Zielort war die Stadt Tübingen. Teile des Pflegepersonals sollten mit evakuiert werden, allerdings sollte eine Stammbelegung am Lazarett zurück bleiben. Es sei nicht auszuschließen, dass aufgrund der stattfindenden Kampfhandlungen nicht doch noch Verwundete betreut werden müssten. Das Lazarett sollte daher noch nicht gänzlich geschlossen werden.

Jean Robert wurde mit den anderen Patienten aufgefordert, die persönlichen Gegenstände in den Rucksack zu packen und sich nach draußen in den Hof zu begeben. Dort stellte man sich – soweit dies den Kranken möglich war – in Reih' und Glied auf. Dann wurden diejenigen Patienten, die es nicht alleine schafften, auf die Fahrzeuge gehoben. Als diese verladen waren, wurde dem Rest der Truppe befohlen, sich auf die Lastwagen zu verteilen.

Jean Robert hatte vergeblich versucht, mit Sophie Kontakt aufzunehmen. Er hatte sie nirgendwo gesehen. Er wurde bald verrückt vor Angst, dass Sophie möglicherweise nicht mit nach Tübingen fahren würde. Und so war es tatsächlich. Aufgrund ihrer großen Erfahrung hatte der leitende Arzt sie den Pflegerinnen zugeteilt, die in Obernai bleiben sollten.

Sophie stand mit den anderen im Eingangsbereich und beobachtete durch die verglaste Eingangstür mit bangem Herzen die Verladung der Kranken auf die Fahrzeuge. Am Ende der Ladefläche des linken Lastwagens erblickte sie endlich Robbi. Sie zögerte, hob die Hand, um zu winken, und dann lief sie einfach los. Sie stieß die große Eingangstür des Gebäudes auf und rannte die fünf Treppen in den Hof hinunter. Robbi hatte sich zu seinem hinter ihm liegenden Rucksack herum gedreht und suchte nach etwas. Nachdem er heftig im Rucksack gewühlt hatte, zog er endlich einen kleinen Gegenstand heraus und hielt ihn vor sich. Sophie war inzwischen an die Ladefläche heran gekommen und hob beide Hände zu ihm hoch. Er ergriff eine Hand und gab ihr mit der anderen den Gegenstand, den er aus dem Rucksack gezogen hatte.

„Nimm das und bewahre es gut auf. Es soll dich an mich erinnern und immer ein Lied für dich spielen, wenn du traurig bist. Ich werde dich finden!“

Einer der Fahrer war herangetreten und zog die Plane herunter. Sophie stand unbeweglich da und starte die Plane an, als könnte sie ihren Robbi immer noch sehen. Der Motor wurde angelassen und der LKW setzte sich in Bewegung. Sie atmete den Ruß der Abgase ein und starrte dem Auto nach. Die Plane blieb geschlossen, der LKW fuhr davon. Langsam drehte sie sich um und ging zurück ins Gebäude. Die anderen waren schon wieder an ihre Arbeit gegangen und unterwegs um die jetzt leeren Schlafsäle in Ordnung zu bringen.

Sophie setzte sich auf eine Bank an einer Seite der Eingangshalle und starrte auf die kleine rechteckige Schachtel in ihrer Hand. Auf der Schachtel stand „Hohner-Mundharmonika“. Sie klappte den Deckel auf und nahm eine kleine silberne Mundharmonika heraus. Sie betrachtete sie von allen Seiten und hob sie dann langsam an die Lippen. Noch nie hatte sie so ein Instrument in Händen gehalten. Gehört hatte sie schon davon, gesehen hatte sie es noch nie. Sie blies in die nebeneinander liegenden Öffnungen und es erklang ein leiser Ton, der einen harmonischen Akkord bildete. Es war ein schöner Ton und trotzdem war sie sehr, sehr traurig. Sie steckte die Mundharmonika ein und machte sich an ihre Arbeit.

Jean Robert du Catoir saß auf der Ladefläche eines Lastwagens. Insgesamt befanden sich ungefähr fünfundzwanzig Personen auf dem Fahrzeug. Im Verhältnis zu den anderen ging es ihm schon recht gut. Er ließ sich nicht in ein Gespräch verwickeln, weil er fürchtete, dass sein französischer Akzent nicht besonders gut ankommen würde. Der Krieg war immer noch heftig im Gange und nicht alle deutschen Soldaten hatten Respekt vor Offizieren, wenn diese vom Feind kamen. Während der Fahrt ging ihm plötzlich auf, dass er Sophie nie nach ihrem Familiennamen gefragt hatte. Er wusste zwar, dass sie aus Karlsruher kam, weil sie ihm davon erzählt hatte, aber ihren Namen hatte sie ihm nie genannt und er hatte auch nie danach gefragt. Wie sollte er sie nach dem Krieg finden?

Im neuen Lazarett in Tübingen, die Fahrt hatte mehr als einen Tag und eine Nacht gedauert, machte er sich sofort auf, um in der Verwaltung Nachforschungen über Sophie anzustellen. Er hoffte, dass er über diese Kanäle den Namen und vielleicht sogar ihre Adresse erfahren könnte. Das war natürlich nicht so einfach, wie er es sich gewünscht hatte. Zuerst einmal wurde er in sein Zimmer geschickt. Es würde derzeit geprüft, was mit ihm geschehen solle. Er könne auf keinen Fall weiter im Lazarett bleiben, da er ja soweit gesund sei und deshalb in ein Gefangenenlager überführt werden sollte.

Es sollte noch sehr lange dauern, bis er den vollen Namen seiner geliebten Sophie herausfand.

Sophie

Keine zwei Wochen später entwickelten sich die Kampfhandlungen im Elsass so bedrohlich, dass auch das verbliebene Personal aus dem Lazarett auf die östliche Rheinseite verlegt wurde. Da Sophie bereits länger als ein Jahr im Dienst war und sich in den letzten Tagen nicht besonders gut gefühlt hatte, wurde ihr ein Heimaturlaub gewährt. Sie freute sich sehr darauf, endlich nach Karlsruhe zu kommen und ihre kleine Schwester Klara und ihren Vater wieder zu sehen.

Als Sophie zu Hause in der Durlacher Straße angekommen war, musste sie damit zurechtkommen, dass sie jeden Tag an Robbi dachte. Er ging ihr einfach nicht aus dem Sinn und sie grübelte darüber nach, wie es ihm wohl ging. Es war ihr klar, dass es keine Möglichkeit gab, heraus zu bekommen, wohin man ihn gebracht hatte. Im Lazarett war nur wenigen bekannt, dass er ein französischer Offizier war. Was passieren würde, wenn er an einen anderen Ort, womöglich in ein Gefangenenlager, verlegt würde, das konnte sie nicht abschätzen. Sie machte sich Sorgen.

Ihr Vater war freundlich zu ihr und sie beschäftigte sich viel mit ihrer kleinen Schwester. Klara war gerade acht Jahre alt und ging in die Volksschule. Sophie half ihr bei den Hausaufgaben, kümmerte sich um die Wohnung und das Essen für die Familie und vertrat so gut es ging ihre vor drei Jahren verstorbene Mutter.

Nach ein paar Wochen bemerkte sie, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Es wurde ihr immer wieder übel, so dass sie sich übergeben musste. Sie wollte es nicht wahr haben, aber bald musste sie sich eingestehen, dass sie wohl schwanger war. Erst verfiel sie fast in Panik.

„Was mache ich jetzt!?! Wenn Vater das erfährt, schlägt er mich tot. Was ist mit einer Abtreibung?“ Solche und andere Gedanken beschäftigten sie Tag und Nacht. Sie kam zu keiner Entscheidung. Es gab auch Zeiten, an denen sie voller Liebe an Robbi dachte.

„Es wäre so schön, wenn er hier sein könnte. Es wäre so schön, wenn wir heiraten und zusammen sein könnten.“ Doch das waren Träume, die sie sich zwar erlaubte, aber am Ende war ihr immer klar, dass es so nicht kommen würde.

Sie beschloss, niemandem von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Es dauerte nicht lange, und sie wurde wieder für den Dienst an der Front angefordert. Sie kam in ein Lazarett nach Baden-Baden, wo sie sich in die Arbeit stürzte. Die Zahl der eingelieferten Soldaten nahm immer weiter zu und das Lazarett, ein altes Krankenhaus in der Stadtmitte, platzte aus allen Nähten. Durch die viele Arbeit wurde sie von ihrer Schwangerschaft fast den ganzen Tag abgelenkt. Umso mehr bemerkte sie in der Nacht, dass sie viel zu oft viel zu schwere Arbeit verrichtete.

Es war Juni geworden und sie konnte ihre Körperfülle nur noch dadurch verbergen, dass sie ihre Schwesterntracht bereits zwei Mal eine Größe höher gewählt hatte. Zum Glück war es kein Problem, bei der zuständigen Schwester entsprechende Kleider zu bekommen.

Die Arbeit wurde immer fürchterlicher. Verletzungen endeten fast immer in Amputationen ganzer Glieder oder mit dem Tod der Verwundeten. Sicher, sie wurde durch das Erlebte abgehärtet, aber wirklich verarbeiten konnte sie die täglichen Gräuel nicht.

Eines Tages kam der Oberarzt auf sie zu. Er hatte sie eine ganze Weile beobachtet und gespürt, dass sie sich nur noch unter Schmerzen bewegen konnte. So stützte sie bei jeder Bewegung ihren Rücken in Höhe der Nieren und wenn sie sich bückte, kam sie fast nicht mehr hoch.

„Was ist mit Ihnen, Schwester Sophie? Sie sind nicht in Ordnung, oder? Wo tut es weh, kann ich ihnen helfen?“

„Ich habe nichts, gar nichts!“, sagte Sophie und brach in Tränen aus. „Ich kann nicht mehr“, sagte sie und sank auf das Bett, das hinter ihr stand.

Der Arzt setzte sich neben sie und nahm ihre Hände in die seinen. „Was ist denn, Schwester Sophie. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt. Ich kann Ihnen bestimmt helfen.“

„Sie können mir nicht helfen, Herr Doktor. Mir kann niemand mehr helfen!"

„Jetzt machen wir es so“, sagte der Doktor, „Sie gehen in Ihr Zimmer und legen sich hin. Sobald ich mit meinem Rundgang fertig bin, komme ich zu Ihnen. Inzwischen überlegen sie sich, was sie mir sagen wollen. Ich meine es gut mit Ihnen und ich habe auch schon eine kleine Ahnung, was Ihre Sorge sein könnte. Aber nichts auf dieser Welt ist so schlimm, dass es nicht bewältigt werden könnte. Vor allen Dingen dann nicht, wenn es sich um neues Leben handelt. Das müssten wir doch am besten wissen, bei dem, das wir jeden Tag zu sehen bekommen, nicht wahr?“