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Bestseller-Autorin Val McDermid lässt uns in diesem Thriller erneut erschaudern. Detective Chief Inspector Carol Jordan und Profiler Tony Hill müssen einen Serienkiller stoppen, der es auf Teenager abgesehen hat. Als im englischen Worcester die verstümmelte Leiche der 14-jährigen Jennifer gefunden wird, ist schnell klar, dass hier ein extrem gefährlicher Psychopath seine Spur hinterlassen hat. Der Verdacht bestätigt sich, als andernorts weitere Teenager ermordet werden. Ihre Gemeinsamkeit: Alle sind sie vierzehn Jahre alt, immer hat der Serienkiller auf einer Internetplattform Kontakt zu ihnen aufgenommen und gemeinsame Interessen vorgetäuscht – bevor er sie schließlich ins Verderben lockte. Bis Profiler Tony Hill den Zusammenhang zwischen den Teenager-Morden aufdecken kann, ist es schon fast zu spät. Eigentlich ist Tony in Worcester, um den Spuren seines verstorbenen und ihm zu Lebzeiten unbekannten Vaters zu folgen, der ihm unerwartet sein Vermögen hinterlassen hat. Doch als die örtliche Polizei die Hilfe des versierten Profilers benötigt, macht er sich auf die gefährliche Suche des Serienkillers – gemeinsam mit Carol Jordan, die sich gegen ihren neuen Chef durchsetzen muss, der Tony aus dem Team geworfen hat. Dieser nervenaufreibende Thriller hält einige Überraschungen bereit, denn Tony wird unerwartet von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt und der eiskalte Serienkiller findet immer neue Wege, weitere Teenager anzulocken. Unglaublich gut und spannend zu lesen: Absolut empfehlenswert für Leute, die besonders Psychothriller mögen. Krimi-Couch.de Fans und NeuleserInnen von McDermid werden an diesem Thriller vieles faszinierend finden. Lovelybooks.de Weitere Bände der Thriller-Serie um Carol Jordan und Profiler Tony Hill: Bd. 1: Das Lied der Sirenen Bd. 2: Schlussblende Bd. 3: Ein kalter Strom Bd. 4: Tödliche Worte Bd. 5: Schleichendes Gift Bd. 6: Vatermord Bd. 7: Vergeltung Bd. 8: Eiszeit Bd. 9: Schwarzes Netz Bd. 10: Rachgier Bd. 11: Der Knochengarten
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Seitenzahl: 706
Val McDermid
Vatermord
Ein neuer Fall fürCarol Jordan und Tony HillThriller
Aus dem Englischen von Doris Styron
Knaur e-books
Als die verstümmelte Leiche der 14-jährigen Jennifer gefunden wird, ist DCI Carol Jordan sofort klar, dass hier ein extrem gefährlicher Psychopath seine Spur hinterlassen hat. Ihr Verdacht bestätigt sich, weitere Teenager werden ermordet. Ihre Gemeinsamkeit: Alle sind sie vierzehn Jahre alt, immer hat der Killer auf einer Internetplattform Kontakt zu ihnen aufgenommen und vorgetäuscht, genau ihre Interessen zu teilen – bevor er sie schließlich ins Verderben lockte.
Carol setzt erneut auf Tony Hill und dessen außergewöhnliche Fähigkeiten als Profiler. Doch Carols neuer Chef will davon nichts wissen, und als Tony überraschend von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird, scheint niemand mehr den Killer aufhalten zu können …
Für meine Familie, diesen chaotischen, heillosenWirrwarr, in biologischer wie auch logischer Hinsicht.Eigentlich hasse ich ja Camping, aber es macht michstolz, unter diesem großen Zelt zu leben.
Nicht Fühlen, das von Mensch zu Mensch besteht
Lindert der Knochen Fieberpein.
T. S. Eliot, Unsterblichkeitswehen
Am Ende fließt dann doch immer Blut. Über manches Unrecht kann man hinwegkommen. Es abhaken als eine weitere Lektion, die man gelernt hat, und als Gefahr, die es in Zukunft zu umgehen gilt. Aber bestimmte Arten von Verrat verlangen nach einer Reaktion. Und manchmal gibt es keine andere als Blutvergießen.
Nicht dass man am Töten selbst Spaß hätte. Das wäre ja pervers. Und du bist nicht pervers. Es gibt einen Grund für das, was du tust. Es geht darum, dein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Du musst so handeln, um dich besser fühlen zu können.
Die Leute reden viel davon, dass man wieder von vorn anfangen müsste. Aber nicht viele tun es tatsächlich. Sie meinen, dass ein Umzug, eine andere Arbeit oder eine neue Beziehung alles verändern würden. Aber du verstehst, was es wirklich bedeutet. Deine Liste abzuarbeiten, das war ein Akt der Reinigung. Es ist wie ins Kloster zu gehen, alle weltlichen Besitztümer zu verbrennen und zuzuschauen, wie alles, das einen an die Erde gebunden hat, in Flammen aufgeht. Erst wenn diese Geschichte sich in Feuer und Rauch verwandelt hat, kannst du richtig von vorn anfangen mit ganz neuen Hoffnungen und Zielen. Dann kannst du das annehmen, was möglich ist und was hinter dir liegt.
Dies ist deine perfekt ausgewogene Rache. Der Verrat wiegt den Verrat auf, Leben gegen Leben, Verlust gegen Verlust. Wenn der letzte Atemzug ausgehaucht ist und du dich mit Messern und Skalpellen an deine Arbeit machen kannst, ist es wie eine Befreiung. Und wenn das Blut herausrinnt, stellst du fest, dass du endlich genau das Richtige tust, die einzig logische Handlung, die dir unter diesen Umständen bleibt. Natürlich werden manche das anders sehen.
Manche sagen vielleicht, dass NIEMAND es so sehen wird wie du. Aber du weißt, andere werden dich dafür loben, dass du diese Richtung eingeschlagen hast, sollten sie jemals herausfinden, was du getan hast, was tu tust. Menschen, deren Träume zerstört worden sind wie deine. Sie würden es absolut verstehen. Und sie würden wünschen, sie hätten die Mittel, so etwas zu tun.
Wenn diese Sache bekannt wird, könntest du eine Welle auslösen.
Die gewölbte Decke des Raumes wirkte wie ein riesiger Verstärker. Ein Jazz-Quartett spielte dezent gegen das Stimmengewirr an, konnte aber gegen dessen Lautstärke nicht gewinnen. Die Luft war geschwängert von einem Gemisch aus Gerüchen: Essensdüfte, Alkohol, Schweiß, Testosteron, Rasierwasser und die verbrauchte Atemluft von etwa hundert Personen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte der Zigarettenqualm die Ausdünstungen der menschlichen Körper überdeckt, doch wie die Wirte seit dem Rauchverbot entdeckt hatten, sind Menschenmassen viel weniger wohlriechend, als sie glauben.
Es gab nur wenige Frauen im Saal, und die meisten trugen Tabletts mit Häppchen und Getränken. Wie es in diesem Stadium jeder Feier aus Anlass einer Pensionierung bei der Polizei gewesen wäre, hatte man die Krawatten gelockert, und die Gesichter waren gerötet. Aber die Hände, die sonst vielleicht verstohlen hier und da hin gewandert wären, hielten in der Gegenwart so vieler höherer Polizeibeamter still. Nicht zum ersten – und wahrscheinlich auch nicht zum letzten – Mal fragte sich Dr.Tony Hill, wie es ihn um Himmels willen hierher hatte verschlagen können.
Die Frau, die durch die Menge auf ihn zukam, war wohl die einzige Person im Saal, mit der er aus freien Stücken Zeit hätte verbringen wollen. Mord hatte sie einander näher gebracht, hatte das gegenseitige Einvernehmen geschaffen und Respekt für den Intellekt und die Integrität des anderen entstehen lassen. Zudem hatte Detective Chief Inspector Carol Jordan seit Jahren als einzige Kollegin die Grenze zu dem Bereich überschritten, den er wohl Freundschaft nennen musste. Manchmal gestand er sich ein, dass Freundschaft nicht das richtige Wort war für das Band, das sie trotz ihrer komplizierten Vergangenheit zusammenhielt. Aber selbst nach jahrelanger Erfahrung als klinischer Psychologe glaubte er, keine angemessene Definition dafür finden zu können.
Schon gar nicht jetzt und hier an einem Ort, an dem er nicht sein wollte.
Carol schaffte es viel besser als er, Dingen, die sie nicht tun wollte, aus dem Weg zu gehen. Außerdem gelang es ihr auch sehr gut, zu ermitteln, welche das waren, und sich entsprechend zu verhalten. Ihre Anwesenheit an diesem Abend war allerdings freiwillig. Für sie hatte das einen Stellenwert, der Tony fernlag.
Klar, John Brandon war der erste Polizist in höherer Stellung, der ihn ernst genommen, ihn aus der Welt der Therapie und Forschungsarbeit herausgeholt und ihm einen Platz als Profiler in vorderster Front der Polizeiarbeit gegeben hatte. Aber hätte er es nicht getan, dann hätte es eben jemand anders gemacht. Tony wusste Brandons Einsatz für den Wert des Profiling zu schätzen. Aber ihre Beziehung war nie über das Berufliche hinausgegangen. Er hätte sich vor diesem Abend gedrückt, wenn Carol nicht betont hätte, dass die Kollegen es ziemlich seltsam finden würden, wenn er nicht käme. Tony wusste, dass er seltsam war. Aber es war ihm doch lieber, wenn den Leuten nicht so klar war, wie seltsam. Also war er hier, mit seinem dünnen Lächeln auf dem Gesicht, wann immer jemand ihn ansah.
Carol dagegen in ihrem glänzenden dunkelblauen Kleid, das von den Schultern über die Brüste bis zu den Hüften und Fesseln genau die richtigen Kurven betonte, sah aus, als sei sie geradezu dazu geboren, sich gewandt in der Menge zu bewegen. Ihr blondes Haar sah heller aus, allerdings wusste Tony, dass der Grund dafür nicht das kunstvolle Wirken eines Friseurs war, sondern dass sich immer mehr Silbersträhnen unter das Gold mischten. Während sie durch den Raum schritt, belebte sich ihr Gesicht bei den Begrüßungen, sie lächelte, die Augenbrauen hoben sich, und die Augen strahlten.
Schließlich gelangte sie bei ihm an, reichte ihm ein Glas Wein und nahm einen Schluck von ihrem. »Du trinkst Rotwein?«, fragte Tony.
»Der weiße ist ungenießbar.«
Er nippte vorsichtig daran. »Und der hier ist besser?«
»Verlass dich ruhig auf mich.«
Da sie viel mehr trank als er, war er versucht, das zu tun. »Sollen Reden gehalten werden?«
»Der stellvertretende Polizeipräsident will ein paar Worte sagen.«
»Ein paar? Das wär ja das erste Mal.«
»Stimmt. Und wem das nicht reicht, für den haben sie den ehrbaren Supercop ausgegraben, der John seine goldene Uhr überreichen soll.«
Tony wich mit nur teilweise gespieltem Entsetzen zurück. »Sir Derek Armthwaite? Ist der nicht gestorben?«
»Leider nicht. Da er der Polizeipräsident war, der John auf der Karriereleiter nach oben befördert hat, fanden sie, es wäre doch nett, ihn einzuladen.«
Tony schauderte. »Erinnere mich, niemals zuzulassen, dass deine Kollegen meinen Ausstand organisieren.«
»Du bekommst eh keinen, du gehörst nicht zu uns«, entgegnete Carol, lächelte aber dabei, um ihre Worte etwas abzumildern. »Du bekommst nur mich, und ich lade dich dann zum besten Curry in Bradfield ein.«
Bevor Tony antworten konnte, übertönte das Dröhnen der Lautsprecheranlage die Unterhaltung, der stellvertretende Polizeipräsident von Bradfield wurde angekündigt. Carol trank aus und verschwand in der Menge, um sich ein weiteres Glas Wein zu holen und, so nahm Tony an, um nebenbei ihre Kontakte ein bisschen zu pflegen. Sie war jetzt seit einigen Jahren Chief Inspector und leitete in letzter Zeit ihre eigene hochspezialisierte ständige Sonderkommission. Er wusste, dass sie hin- und hergerissen war zwischen dem praktischen Einsatz ihrer Fähigkeiten und dem Wunsch, in eine Stellung aufzusteigen, wo sie wirklichen Einfluss hatte. Tony fragte sich, ob ihr diese Entscheidung abgenommen würde, da John Brandon nun weg vom Fenster war.
Seine Grundsätze besagten, dass jeder Mensch gleich viel wert sei, aber Detective Inspector Stuart Patterson hatte sich beim Umgang mit den Toten nie an diesen Grundsatz halten können. Irgendein verlotterter Junkie, der bei einer sinnlosen Hinterhofprügelei erstochen wurde, würde ihn niemals so rühren wie dieses tote, verstümmelte Kind. Er trat in dem weißen Zelt zur Seite, das den Fundort vor dem stetig trommelnden nächtlichen Regen schützte. Er ließ die Kriminaltechniker weitermachen und versuchte zu verdrängen, wie sehr dieses tote Mädchen, das kaum das Teenageralter erreicht hatte, ihn an seine eigene Tochter erinnerte.
Das Mädchen, das hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, hätte eine von Lilys Klassenkameradinnen sein können, hätte sie nicht eine andere Schuluniform getragen. Trotz des trockenen Laubs, das durch Wind und Regen auf der durchsichtigen Plastiktüte über Gesicht und Haar festklebte, sah sie sauber und behütet aus. Ihre Mutter hatte sie kurz nach neun als vermisst gemeldet, was hieß, dass es um eine Tochter ging, die in einem strengeren Elternhaus lebte als Lily, und um eine Familie, deren Zeitplan geregelter war. Theoretisch war es möglich, dass dies hier nicht Jennifer Maidment war, da die Leiche gefunden worden war, bevor die Vermisstenanzeige einging. Und sie hatten hier vor Ort noch kein Foto des vermissten Mädchens. Aber DI Patterson hielt es für unwahrscheinlich, dass im Stadtzentrum an einem Abend zwei Mädchen von der gleichen Schule verschwanden. Höchstens, wenn es einen Zusammenhang zwischen dem Tod der beiden gäbe. Dieser Tage konnte man ja nichts ausschließen.
Die Plane an der Zeltöffnung flog heftig zur Seite, und ein Schrank von einem Mann schob sich herein. Seine Schultern waren so breit, dass er den größten Schutzanzug, den die Polizei von West Mercia für ihre Mitarbeiter zur Verfügung stellte, nicht zubekam. Von seinem kahlen Schädel, der die Farbe starken Tees hatte, rannen Regentropfen in sein Gesicht, das aussah, als hätte er seine rauhe Jugendzeit größtenteils im Boxring zugebracht. Er hielt ein Blatt Papier in einer durchsichtigen Plastikhülle.
»Ich bin hier drüben, Alvin«, rief Patterson, und seine Stimme verriet seine starke Betroffenheit.
Detective Sergeant Alvin Ambrose ging zu seinem Chef hinüber. »Jennifer Maidment«, sagte er und hielt die Hülle mit dem Computerausdruck eines Fotos hoch. »Ist sie das?«
Patterson betrachtete eingehend das ovale Gesicht, das von langem braunem Haar eingerahmt war, und nickte traurig. »Das ist sie.«
»Sie ist hübsch«, sagte Ambrose.
»Jetzt nicht mehr.« Der Mörder hatte ihr mit dem Leben auch die Schönheit genommen. Obgleich er sich immer vor voreiligen Schlüssen hütete, glaubte Patterson, man könne davon ausgehen, dass die aufgedunsene Haut, die geschwollene Zunge, die hervorquellenden Augen und die fest haftende Plastiktüte auf einen Tod durch Ersticken hinwiesen. »Die Tüte war um ihren Hals herum festgeklebt. Schrecklich, so zu sterben.«
»Ihre Bewegung muss irgendwie eingeschränkt gewesen sein«, sagte Ambrose. »Sonst hätte sie versucht, sich zu befreien.«
»Kein Anzeichen, dass sie gefesselt war. Wir werden mehr wissen, wenn sie in der Pathologie untersucht wurde.«
»Wurde sie sexuell missbraucht?«
Patterson konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. »Er hat sie mit einem Messer traktiert. Zuerst haben wir es gar nicht gesehen. Ihr Rock hat es verdeckt. Dann schaute der Arzt es sich an.« Er schloss die Augen und gab dem Drang nach einem schweigenden Stoßgebet nach. »Der Scheißkerl hat sie verstümmelt. Ich weiß nicht, ob ich es unbedingt einen sexuellen Übergriff nennen würde. Eher eine komplette Vernichtung der Sexualorgane.« Er wandte sich ab und schritt zum Ausgang. Beim Vergleich von Jennifer Maidments Leiche mit anderen, deren Tod er untersucht hatte, wählte er seine Worte mit Bedacht. »Das Schlimmste, was ich je gesehen habe.«
Draußen vor dem Zelt herrschte scheußliches Wetter. Aus dem stürmischen Regenschauer vom Nachmittag war ein richtiges Unwetter geworden. Die Einwohner von Worcester hatten gelernt, in solchen Nächten das Ansteigen des Severn zu fürchten. Sie erwarteten Hochwasser, nicht Mord.
Die Leiche war auf dem Seitenstreifen einer Parkbucht gefunden worden, die ein paar Jahre zuvor bei der Begradigung der Straße angelegt worden war. Die alte, enge Kurve hatte eine neue Funktion bekommen als Haltepunkt für Lkw-Fahrer, die von der Imbissbude angezogen wurden, an der es tagsüber kleine Mahlzeiten gab. Während der Nacht diente er als inoffizieller Lkw-Parkplatz; gewöhnlich standen vier oder fünf Fahrzeuge da, deren Fahrern es nichts ausmachte, in der Kabine zu übernachten, um ein paar Pfund zu sparen. Der holländische Trucker, der zum Pinkeln aus seiner Kabine gestiegen war, hatte etwas ganz anderes gefunden als das, was er erwartet hatte.
Die Parkbucht war von der Straße durch dichtes Gestrüpp aus großen Bäumen und undurchdringlichem Unterholz getrennt. Der Wind heulte in den Bäumen, und Ambrose und Patterson wurden durchnässt, als sie zu ihrem Volvo zurückliefen. Kaum saßen sie im Wagen, zählte Patterson schon an den Fingern ab, was zu tun war. »Nimm Kontakt mit der Verkehrspolizei auf. Sie haben an dieser Strecke zwei Kameras mit Kennzeichenerfassung stehen, ich weiß aber nicht genau, wo. Wir brauchen eine komplette Überprüfung für jedes Fahrzeug, das heute Abend diese Strecke gefahren ist. Ruf bei der psychologischen Opferbetreuung an. Einer ihrer Leute soll mich am Haus der Familie treffen. Setz dich mit dem Schulleiter in Verbindung. Ich will wissen, wer ihre Freunde sind, welche Lehrer sie hatte, und wir vereinbaren mit ihnen Termine für Befragungen gleich morgen früh. Wer immer den Bericht nach Eingang der Meldung geschrieben hat, soll mich per E-Mail über die Einzelheiten unterrichten. Ruf die Pressestelle an und informiere sie. Wir setzen uns morgen früh mit den Journalisten zusammen, zehn Uhr. Okay? Hab ich noch was vergessen?«
Ambrose schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich drum. Ich kann einen von der Verkehrspolizei bitten, mich mit zurück zu nehmen. Wirst du persönlich bei der Familie vorbeischauen?«
Patterson seufzte. »Ich freu mich nicht drauf. Aber sie haben ihre Tochter verloren. Sie haben es verdient, dass ein ranghöherer Beamter dabei ist. Ich seh dich dann auf dem Revier.«
Ambrose stieg aus und ging auf die Polizeiwagen zu, die vor der Ein- und Ausfahrt des Parkplatzes standen. Sein Chef schaute ihm nach. Nichts schien Ambrose aus der Ruhe zu bringen. Er nahm die Last auf seine breiten Schultern und stapfte weiter, egal was ihr Fall ihnen brachte. Was immer der Preis für diese offenbare Seelenruhe sein mochte, Patterson hätte ihn heute Abend bereitwillig gezahlt.
Carol sah, dass John Brandon in Fahrt kam. Sein trauriges Hundegesicht wirkte angeregter, als sie es jemals während der Arbeitszeit gesehen hatte, und an seiner Seite war seine geliebte Maggie mit ihrem milden Lächeln, das Carol oft am Esstisch der Familie beobachtet hatte, wenn Brandon sich in ein Thema verbissen hatte wie ein Terrier in ein Kaninchen. Sie tauschte ihr leeres Glas gegen ein volles von einem Tablett, das vorbeigetragen wurde, und kehrte wieder zu der Ecke zurück, in der sie Tony zurückgelassen hatte. Sein Gesichtsausdruck hätte besser zu einer Beerdigung gepasst, allerdings konnte sie kaum behaupten, dass sie etwas anderes erwartet hatte. Sie wusste, dass er solche Veranstaltungen als reine Zeitverschwendung betrachtete, und schätzte, dass es für ihn auch wirklich so war. Aber ihr war klar, dass eine solche Feier für sie selbst eine ganz andere Bedeutung hatte.
Das Wesentliche bei moderner Polizeiarbeit war nicht, dass man Kriminelle schnappte. Vielmehr ging es um Politik und Beziehungen, genau wie in jeder großen Behörde. Früher einmal wäre ein Abend wie der heutige ein Vorwand gewesen für ein hemmungsloses allgemeines Besäufnis inklusive Stripperinnen. Heutzutage ging es dagegen um Kontakte, Verbindungen und Gespräche, die man im Büro nicht führen konnte. Sie mochte diese Dinge auch nicht mehr als Tony, hatte aber ein gewisses Talent dafür. Wenn dies nötig war, um ihr ihren Platz in der inoffiziellen Hierarchie zu sichern, würde sie es mit Fassung tragen.
Eine Hand auf ihrem Arm ließ sie innehalten und sich umdrehen. Detective Constable Paula McIntyre von ihrer Gruppe flüsterte ihr ins Ohr: »Er ist gerade eingetroffen.«
Carol brauchte nicht zu fragen, wer »er« war. John Brandons Nachfolger war dem Namen und seinem Ruf nach bekannt, aber weil er aus einem ganz anderen Landesteil kam, hatte in Bradfield niemand viel Information aus erster Hand über ihn. Nicht viele Polizeibeamte ließen sich von Devon & Cornwall nach Bradfield versetzen. Warum sollte man ein relativ beschauliches Leben in einer hübschen Touristengegend eintauschen gegen die aufreibende Arbeit der Polizei in einer postindustriellen Stadt im Norden mit einer Kriminalitätsrate (inklusive Schusswaffen und Messerstechereien), die einem die Tränen in die Augen trieb? Es sei denn, man war ehrgeizig und hielt es für karrierefördernd, den viertgrößten Polizeibezirk des Landes zu leiten.
Carol konnte sich vorstellen, dass das Wort »Herausforderung« mehr als einmal in James Blakes Vorstellungsgespräch gefallen war, bevor er zum Chief Constable, zum Polizeipräsidenten, ernannt wurde. Sie ließ den Blick schweifen. »Wo denn?«
Paula sah ihr über die Schulter. »Er hat gerade eben dem stellvertretenden Leiter der Dezernats Schwerverbrechen etwas vorgeschwafelt, aber jetzt ist er weitergezogen. Tut mir leid, Chefin.«
»Macht nichts. Danke für den Tipp.« Carol hob ihr Glas, prostete ihr zu und drängte sich dann weiter in Richtung Tony. Bis sie sich durch die Menge gearbeitet hatte, war ihr Glas schon wieder leer. »Ich brauche noch ein Glas Wein«, sagte sie und lehnte sich neben ihm gegen die Wand.
»Das ist schon dein viertes«, stellte er fest, aber nicht in unfreundlichem Ton.
»Wer zählt da schon mit?«
»Ich, offensichtlich.«
»Du bist mein Freund, nicht mein Psychiater.« Carols Tonfall war eisig.
»Eben deshalb sage ich dir ja, dass du vielleicht zu viel trinkst. Als dein Therapeut wäre ich kaum so kritisch. Ich würde es dir überlassen.«
»Hör mal zu, Tony. Mir geht’s gut. In der Zeit nach … Ich gebe zu, dass es mal eine Zeit gab, als ich zu viel getrunken habe. Aber ich habe es wieder unter Kontrolle. Alles klar?«
Tony breitete beschwichtigend die Hände aus. »Es ist deine Sache.«
Carol seufzte tief und stellte ihr leeres Glas neben seines auf den Tisch. Er konnte einen zum Wahnsinn treiben, wenn er so vernünftig war. Aber sie war schließlich nicht die Einzige, die es nicht mochte, wenn man ihre Macken ans Tageslicht zog. Soll er doch mal sehen, wie ihm das gefällt. Sie lächelte liebenswürdig. »Sollen wir mal rausgehen, ein bisschen Luft schöpfen?«
Er lächelte etwas ratlos. »Okay, wenn du willst.«
»Ich habe ein paar Sachen über deinen Vater herausgefunden. Gehen wir doch irgendwohin, wo wir richtig reden können.« Sie beobachtete, wie sein Lächeln verschwand und er reumütig das Gesicht verzog. Wer Tonys Vater war, hatte sich erst nach dessen Tod herausgestellt, weil er beschlossen hatte, dem Sohn, den er nie gekannt hatte, sein Anwesen zu hinterlassen. Carol wusste ganz genau, dass Tony in Bezug auf Edmund Arthur Blythe bestenfalls zwiespältige Gefühle hatte. Er mochte es genauso wenig, über seinen erst kürzlich entdeckten Vater zu sprechen, wie sie selbst Lust zu Diskussionen über ihre angebliche Alkoholabhängigkeit hatte.
»Ein Punkt für dich. Ich geh und hol dir noch einen Wein.« Als er die Gläser brachte, stand ihm plötzlich ein Mann im Weg, der sich aus der Menge gelöst und sich groß und breit vor ihnen aufgebaut hatte.
Carol schätzte ihn mit routinemäßigem Blick ein. Sie hatte vor Jahren bereits die Gewohnheit angenommen, sich gedanklich die Merkmale von Menschen einzuprägen, die ihr begegneten, und ein Bild aus Worten zusammenzusetzen, als sei es für ein Fahndungsplakat oder einen Polizeizeichner gedacht.
Dieser Mann war für einen Polizeibeamten klein und stämmig, aber nicht dick. Er war sauber rasiert, die weiße Scheitellinie auf einer Seite des Kopfes teilte das hellbraune Haar. Seine Haut war gerötet und hell wie bei einem Liebhaber der Fuchsjagd auf dem Land; die braunen Augen lagen in einem feinen Netz von Fältchen, was auf ein Alter Ende vierzig oder Anfang fünfzig deutete. Eine kleine Knollennase, volle Lippen und ein Kinn wie ein Pingpongball. Er trat mit einer Autorität auf, die an einem alten Tory-Granden nicht unpassend gewesen wäre.
Sie war sich durchaus bewusst, dass ihr die gleiche intensive Begutachtung zuteil wurde. »Detective Chief Inspector Jordan«, sprach er sie an. Ein voller Bariton mit einem leichten Anklang an den Dialekt des Südwestens. »Ich bin James Blake, Ihr neuer Chief Constable.« Er streckte Carol die Hand hin. Sie war warm, breit und trocken wie Papier.
Genau wie sein Lächeln. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte Carol. Blakes Augen ließen ihr Gesicht nicht los, und sie musste den Blick abwenden, um Tony vorzustellen. »Das ist Dr.Tony Hill. Er arbeitet hin und wieder mit uns.«
Blake warf einen Blick auf Tony und senkte das Kinn zu einem flüchtigen Gruß. »Ich wollte die Gelegenheit ergreifen, das Eis zu brechen. Ich bin sehr beeindruckt von dem, was ich über Ihre Arbeit gehört habe. Aber ich werde einiges hier ändern, und der Zuständigkeitsbereich in Ihrer Obhut hat für mich Priorität. Ich würde Sie gerne morgen früh um halb elf in meinem Büro sehen.«
»Aber natürlich«, sagte Carol. »Ich freue mich darauf.«
»Gut. Dann ist das klar. Bis morgen, Chief Inspector.« Er wandte sich ab und drängte sich zurück durch die Menschenmenge.
»Das ist ja außergewöhnlich«, sagte Tony. Das hätte alles Mögliche heißen können, alle Varianten wären gleichermaßen gültig gewesen. Und nicht alle beleidigend.
»Hat er wirklich ›in Ihrer Obhut‹ gesagt?«
»Obhut«, wiederholte Tony schwach.
»Das Glas Wein – jetzt brauche ich es wirklich. Gehen wir. Ich habe eine sehr gute Flasche Sancerre im Kühlschrank.«
Tony starrte Blake hinterher. »Kennst du dieses Klischee, dass man Angst hat, große Angst? Ich glaube, das wäre jetzt ein guter Moment, es wieder mal anzubringen.«
Shami Patel, die Kollegin von der psychologischen Opferbetreuung, erklärte, dass sie erst kürzlich aus der benachbarten West-Midlands-Polizei nach Bradfield gewechselt sei, was erklärte, wieso Patterson sie nicht kannte. Er hätte lieber jemanden dabeigehabt, der mit seiner Arbeitsweise vertraut war. Es war immer eine heikle Sache, wenn man mit der Familie eines Mordopfers zu tun hatte. Ihr Kummer ließ sie unvorhersehbar und oft ablehnend reagieren. Dieser Fall würde doppelt schwierig sein. Zum Teil, weil der Sexualmord an einem Teenager an sich schon ein emotionaler Alptraum war. Aber in diesem Fall stellte der Zeitdruck eine zusätzliche Schwierigkeit dar.
Während Patterson Patel die nötigen Informationen gab, saßen sie wegen des Regens in seinem Wagen. »Im Vergleich zu sonst haben wir mit diesem Fall zusätzliche Probleme«, erklärte er.
»Das unschuldige Opfer«, bemerkte Patel lapidar.
»Es geht darüber hinaus.« Er fuhr sich mit den Fingern durch das silbergraue, gelockte Haar. »Gewöhnlich gibt es einen zeitlichen Abstand zwischen dem Verschwinden und dem Zeitpunkt, wenn wir die Leiche finden. Dann haben wir Zeit, um Hintergrundinformationen von der Familie zu bekommen, Auskunft darüber, wo die vermisste Person sich aufgehalten hat. Die Leute sind verzweifelt darauf aus zu helfen, weil sie glauben wollen, dass es eine Chance gibt, das Kind zu finden.« Er schüttelte den Kopf. »Aber diesmal nicht.«
»Das kann ich nachvollziehen«, sagte Patel. »Sie haben sich noch nicht einmal an den Gedanken gewöhnt, dass sie vermisst wird, und da kommen wir und teilen ihnen mit, dass sie tot ist. Sie werden völlig niedergeschmettert sein.«
Patterson nickte. »Und bitte, glauben Sie nicht, dass ich dafür kein Verständnis habe. Aber für mich besteht die Schwierigkeit darin, dass sie in diesem Zustand nicht vernehmungsfähig sein werden.« Er seufzte. »In den ersten vierundzwanzig Stunden einer Morduntersuchung, da müssen wir Fortschritte machen.«
»Haben wir einen Bericht darüber, was Mrs.Maidment sagte, als sie Jennifer als vermisst meldete?«
Das war eine gute Frage. Patterson zog seinen BlackBerry aus der Innentasche und suchte seine Lesebrille. Er rief die E-Mail des diensthabenden Kollegen auf, der Tania Maidments Anruf entgegengenommen und die Ambrose dann an ihn weitergeleitet hatte. »Sie hat angerufen, statt auf die Wache zu kommen«, sagte er und las von dem kleinen Display ab. »Sie wollte vermeiden, dass niemand im Haus war, weil Jennifer vielleicht ohne Schlüssel dastehen würde, falls sie heimkam. Jennifer hatte einen Schlüssel, aber ihre Mutter wusste nicht, ob sie ihn mitgenommen hatte. Ihre Mutter hatte sie nicht gesehen, seit sie morgens zur Schule gegangen war …« Er scrollte den Text weiter runter. »Es war vorgesehen, dass sie zu einer Freundin nach Hause ging, um dort die Schulaufgaben zu machen und zu Abend zu essen. Sie hätte um acht zurück sein sollen. Alles in allem hätte das kein Problem sein sollen, weil die Mädchen das oft so handhabten, entweder bei Jennifer zu Haus oder bei der Freundin. Ihre Mutter nahm es nicht ganz so genau, rief aber bei der Freundin um Viertel nach acht an. Die Freundin hatte Jennifer seit Schulschluss nicht gesehen und wusste nichts von einer Verabredung zu Abendessen und Schulaufgaben. Jennifer hatte nichts über irgendwelche Pläne gesagt, nur dass sie zum Co-op und dann nach Haus gehen wolle. Und da hat Mrs.Maidment uns angerufen.«
»Ich hoffe, dass wir sie ernst genommen haben«, sagte Patel.
»Gott sei Dank, ja. DC Billings nahm eine Personenbeschreibung auf und leitete sie an alle Abteilungen weiter. Deshalb konnten wir die Leiche so schnell identifizieren. Lassen Sie mich mal sehen … Vierzehn Jahre alt, eins fünfundsechzig groß, schlank, schulterlanges braunes Haar, blaue Augen, Ohrlöcher, sie trug einfache Kreolen aus Gold. Sie hatte die Uniform der Worcester Girls’ Highschool an, weiße Bluse, dunkelgrüne Strickjacke, Rock und Blazer. Schwarze Strumpfhose und Stiefel. Über der Uniform trug sie einen schwarzen Regenmantel.« Er fügte murmelnd für sich hinzu: »Am Fundort aber nicht.«
»Ist sie das einzige Kind?«, fragte Patel.
»Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, wo Mr.Maidment ist. Wie ich schon sagte, wir haben hier wirklich ein Dilemma.« Er schickte schnell eine SMS an Ambrose und wies ihn an, die Freundin zu befragen, bei der Jennifer angeblich gewesen war, schloss dann seinen BlackBerry und versuchte, unter dem Mantel seine Schultern zu lockern. »Sind wir so weit?«
Sie trotzten dem Regen und gingen den Weg entlang zu dem Einfamilienhaus der Maidments, einer dreistöckigen Doppelhaushälfte aus Backstein im edwardianischen Stil mit einem gepflegten Garten. Das Haus war erleuchtet, und die Vorhänge waren zurückgezogen. Die zwei Polizisten sahen ein Wohn- und ein Esszimmer, wie sie sich keines hätten leisten können: überall glänzende Oberflächen, schöne Stoffe und Bilder, wie man sie nicht bei IKEA findet. Pattersons Finger hatte kaum den Klingelknopf berührt, als die Tür schon aufging.
Der Zustand der Frau, die auf der Schwelle stand, hätte auch unter anderen Umständen eine Reaktion hervorgerufen. Aber Patterson hatte genug verzweifelte Mütter gesehen, dass ihn das zerzauste Haar, die verschmierte Augenschminke, die zerbissenen Lippen und der völlig verkrampfte Unterkiefer nicht überraschten. Als sie die beiden Beamten mit ihren niedergeschlagenen Gesichtern sah, weiteten sich ihre verschwollenen Augen. Eine Hand schlug sie vor den Mund, die andere legte sie auf ihre Brust. »Oh Gott«, rief sie mit tränenerstickter Stimme.
»Mrs.Maidment? Ich bin Detective Chief Inspector …«
Der Dienstgrad sagte Tania Maidment, was sie eigentlich nicht wissen wollte. Ihr angstvolles Stöhnen unterbrach Patterson. Sie taumelte und wäre gestürzt, wäre er nicht schnell auf sie zugegangen, hätte einen Arm um ihre hängenden Schultern gelegt und sie aufgefangen. Er trug sie halb ins Haus, DC Patel folgte.
Als er sie schließlich auf das ausladende Wohnzimmersofa sinken ließ, zitterte Tania Maidment, als sei sie völlig unterkühlt. »Nein, nein, nein«, rief sie immer wieder, während ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Es tut mir sehr leid. Wir haben eine Leiche gefunden, die wir für Ihre Tochter Jennifer halten«, sagte Patterson und warf Patel einen flehentlichen Blick zu.
Sie nahm seinen Hinweis auf, setzte sich neben die verstörte Frau und umfasste ihre kalten Hände mit ihren warmen. »Können wir jemanden anrufen?«, fragte sie. »Jemanden, der bei Ihnen bleiben könnte?«
Mrs.Maidment schüttelte den Kopf, fahrig, aber bei klarem Verstand. »Nein, nein, nein.« Dann schnappte sie nach Luft, als würde sie ertrinken. »Ihr Vater … Er kommt morgen zurück. Aus Indien. Er ist schon in der Luft. Er weiß nicht einmal, dass sie vermisst wird.« Dann kamen die Tränen und eine Reihe schrecklicher, kehliger Schluchzer. Patterson war sich nie unnützer vorgekommen.
Er wartete, bis der erste Ansturm des Schmerzes nachließ. Es schien unglaublich lange zu dauern. Schließlich ging Jennifers Mutter die Kraft aus. Patel hielt weiter den Arm um die Schultern der Frau geschlungen und nickte ihm fast unmerklich zu. »Mrs.Maidment, wir werden uns Jennifers Zimmer anschauen müssen«, sagte Patterson. Es war herzlos, er wusste es. Bald würde eine Gruppe von Kriminaltechnikern eintreffen und den Raum gründlich durchsuchen, aber er wollte als Erster die Privatsphäre des toten Mädchens in sich aufnehmen. Außerdem mochte die Mutter jetzt am Boden zerstört sein; aber häufig ging Eltern später auf, dass es Elemente im Leben ihrer Kinder gab, die sie nicht vor der Öffentlichkeit ausbreiten wollten. Sie hatten nicht die Absicht, die Ermittlungen zu behindern, eher war es so, dass sie nicht immer den Stellenwert von Dingen begriffen, die ihnen unwichtig vorkamen. Patterson wollte nicht, dass dies hier passierte.
Ohne eine Antwort abzuwarten, schlüpfte er aus dem Zimmer und ging nach oben. Patterson fand, dass sich aus dem Lebensumfeld viel über das Familienleben ablesen ließ. Während er die Treppe hinaufstieg, bildete er sich eine Meinung über Jennifer Maidments Zuhause. Alles hatte einen Schimmer, der auf Geld schließen ließ, ohne dass man den Eindruck von Perfektionismus bekam. Auf dem Tisch in der Diele war achtlos geöffnete Post verstreut, ein Paar Handschuhe lag auf dem Regalbrett über der Heizung, um die Blumen in einer Vase auf dem Fensterbrett am Treppenabsatz hätte man sich kümmern müssen.
Im ersten Stock stand er vor fünf geschlossenen Türen. Ein Zuhause also, in dem der Privatbereich etwas galt. Zuerst kam das große Elternschlafzimmer, dann ein Badezimmer, danach ein Arbeitszimmer. Alle lagen im Dunkeln und gaben nicht viele ihrer Geheimnisse preis. Hinter der vierten Tür lag, was er suchte. Einen Moment atmete er den Duft von Jennifer Maidments Leben ein, bevor er das Licht anschaltete – süßer Pfirsichgeruch vermischt mit einem Hauch von Zitrusblüten.
Es war dem Zimmer seiner eigenen Tochter entwaffnend ähnlich. Wenn er das Geld gehabt hätte, Lily ihre Wünsche zu erfüllen, dann hätte sie, so vermutete er, die gleiche Art von Dekor und Möblierung in Rosa, Weiß und Pastellfarben gewählt. Poster von Boybands und Girlbands, eine Frisierkommode, auf der ein Mischmasch diverser Versuche lag, ein passendes Make-up zusammenzustellen, ein kleines Bücherregal mit Romanen, die er auch in seinem eigenen Wohnzimmer hatte herumliegen sehen. Er nahm an, dass die zwei Türen an der hinteren Wand zu einer Ankleide führten, die vermutlich vollgestopft war mit einer Mischung aus praktischen und schicken Sachen. Es reichte, wenn die Spurensicherung sich all das vornahm. Er war an der Kommode interessiert und an dem kleinen Schreibtisch in der Ecke.
Patterson zog sich ein Paar Latexhandschuhe über und fing an, die Schubladen durchzusehen. Büstenhalter und Höschen, alles ordentlich und spitzenbesetzt, aber bemitleidenswert in seiner elementaren Unschuld. Strumpfhosen, ein paar Socken, die fest zusammengerollt waren, aber nichts verbargen. Blüschen und Tops mit Spaghettiträgern, T-Shirts, die durch den Lycraanteil unwahrscheinlich eng aussahen. Billige Ohrringe, Armbänder, Anhänger und Halsketten, schön zurechtgelegt in einer Schale. Ein Bündel alter Weihnachts- und Geburtstagskarten, die Patterson nahm und zur Seite legte. Jemand würde sich diese zusammen mit Mrs.Maidment anschauen müssen, sobald sie sich auf etwas anderes als ihren Schmerz konzentrieren konnte.
Sonst erregte nichts sein Interesse, also ging er zum Schreibtisch weiter. Der obligatorische Apple-Laptop war geschlossen, aber Patterson sah am Anzeigelämpchen, dass er auf Standby war, nicht ausgeschaltet. Der modernste iPod war an den Computer angeschlossen, die Kopfhörer lagen mit wirr verschlungenem Kabel daneben. Patterson zog das Rechnerkabel aus der Steckdose, schrieb einen Beleg dafür und klemmte ihn unter den Arm. Nachdem er sich noch einmal rasch im Zimmer umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass er nichts Naheliegendes übersehen hatte, ging er wieder nach unten.
Mrs.Maidment hatte aufgehört zu weinen. Sie saß aufrecht da und sah zu Boden, die Hände im Schoß verkrampft, und Tränen schimmerten noch auf ihren Wangen. Ohne den Blick zu heben, sagte sie: »Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte.«
»Niemand von uns versteht es«, antwortete Patterson.
»Jennifer belügt mich nicht, wenn sie weggeht«, erklärte sie, und ihre Stimme war tonlos und schmerzlich gepresst. »Ich weiß, dass jeder denkt, das eigene Kind lügt nicht, aber Jennifer tut es wirklich nicht. Sie und Claire, sie machen alles gemeinsam. Sie sind immer hier oder bei Claire zu Hause, oder sie gehen zusammen aus. Ich begreife es nicht.«
Patel tätschelte Mrs.Maidments Schulter. »Wir werden es herausfinden, Tania. Wir werden aufklären, was mit Jennifer geschehen ist.«
Patterson wünschte, er hätte ihre Zuversicht. Tief betrübt und erschöpft setzte er sich und bereitete sich darauf vor, Fragen zu stellen, die vermutlich wenig bringen würden. Aber sie mussten trotzdem gestellt werden. Und die Antworten würden sowohl wahr als auch gelogen sein. Es würde beides geben. Das war immer so.
Carol hatte nicht gelogen. Der Sancerre war ausgezeichnet, etwas herb mit einem leichten Aroma von Stachelbeeren, kühl und frisch. Trotzdem hatte Tony nur ab und zu Lust, daran zu nippen. Wenn Carol, ähnlich wie ein Hund, der seinem Herrchen eine nasse Zeitung vor die Füße fallen lässt, Informationen über seinen Vater darbieten würde, dann wollte er seine fünf Sinne beisammenhaben.
Carol machte es sich auf dem Sofa gegenüber von Tonys Sessel bequem. »Also, willst du nicht wissen, was ich über deinen Vater herausgefunden habe?«
Tony vermied es, ihr in die Augen zu schauen. »Er war nicht mein Vater, Carol. Nicht in dem Sinn, dass es wirklich etwas zu bedeuten hätte.«
»Die Hälfte deines genetischen Erbguts kommt von ihm. Selbst Psychologen, die sich ganz auf Einflüsse der Umgebung auf das Verhalten versteifen, müssen zugeben, dass das doch etwas gilt. Ich dachte, du wolltest alles, was möglich ist, über ihn erfahren.« Sie nahm einen Schluck Wein und lächelte ihm aufmunternd zu.
Tony seufzte. »Ich habe es geschafft, mein ganzes Leben zu verbringen, ohne etwas über meinen Vater zu wissen, außer, dass er beschloss, sich von meinem Leben fernzuhalten. Wenn du nicht so geistesgegenwärtig eingegriffen hättest, als meine Mutter mich um das zu betrügen versuchte, was er mir in seinem Testament hinterlassen hat, hätte ich noch immer keine Ahnung davon.«
Carol lachte schnaubend. »Es klingt ja geradezu, als wünschtest du, ich hätte Vanessa nicht daran gehindert, dich übers Ohr zu hauen.«
Er fand, sie hatte sich selten eine treffendere Vermutung einfallen lassen. Aber an jenem Tag in der Klinik, als Carol Vanessa bei ihrem Treiben Einhalt gebot, hatte sie sich um das gekümmert, was, wie sie meinte, in seinem Interesse lag. Anzudeuten, dass sie unbeabsichtigt mehr Probleme geschaffen als gelöst hatte, würde sie nur kränken. Und das wollte er nicht. Jetzt nicht. Eigentlich überhaupt nie. »Ich bin nicht undankbar für das, was du getan hast. Ich bin nur nicht sicher, ob ich überhaupt etwas über ihn wissen will.«
Carol schüttelte den Kopf. »Du willst doch nur nicht die ganzen Abwehrmechanismen ablegen, die du im Lauf der Jahre aufgebaut hast. Aber es ist in Ordnung, Tony. Vanessa ist vielleicht eine Hexe, aber nach dem, was ich herausbekommen konnte, war dein Vater das genaue Gegenteil. Ich glaube nicht, dass es irgendetwas gibt, vor dem du dich fürchten müsstest.«
Tony schwenkte den Wein im Glas herum, seine Schultern hoben sich abwehrend. Ein Mundwinkel zuckte nach oben zu einem bitteren Lächeln. »Es muss etwas geben, Carol. Er hat mich verlassen. Und sie auch, nebenbei bemerkt.«
»Vielleicht wusste er gar nichts von dir.«
»Er wusste genug, um mir ein Haus, ein Boot und ein Bündel Bargeld zu vererben.«
Carol dachte nach. »Ich bin der Meinung, wenn du sein Geld annimmst, bist du ihm etwas schuldig.«
Da hatte sie recht, stimmte er im Stillen zu. Aber wenn er seine Ahnungslosigkeit um den Preis erhalten konnte, dass er sein Erbe für wohltätige Zwecke spendete, dann lohnte es vielleicht, ihn zu zahlen.
»Ich finde, es hat lange gedauert, bis er etwas zur Begleichung seiner Schuld getan hat. Und ich glaube, dass Geld bei weitem nicht ausreicht. Schließlich hat er mich Vanessa überlassen.« Tony stellte sein Glas ab und presste die Hände fest ineinander. In seinem Beruf verwendete er viel Zeit darauf, Patienten zu helfen, die trügerischen Untiefen ihrer Emotionen zu überwinden. Aber all das Zuhören hatte für ihn selbst den Prozess nicht leichter gemacht. Obwohl er gelernt hatte, im gesellschaftlichen Umgang auf die meisten Situationen angemessen zu reagieren, war er immer unsicher, wenn es darum ging, im heiklen Bereich persönlicher Beziehungen die richtigen emotionalen Antworten zu finden. Sollte er jemals bei dem versagen, was er »als normaler Mensch durchgehen« nannte, dann würde es in diesem Bereich passieren. Aber trotzdem hatte Carol mehr verdient als Schweigen und Oberflächlichkeit.
Er richtete sich auf und nahm die Schultern zurück. »Du und ich, wir wissen doch beide, wie verkorkst ich bin. Ich werfe Vanessa das nicht vor, was sie mir angetan hat. Sie ist genauso ein Produkt ihrer Umwelt und ihrer Gene wie ich. Aber ich habe keinen Zweifel; sie hat viel dazu beigetragen, dass ich so untauglich für die Welt bin.«
»Ich finde nicht, dass du so untauglich bist«, widersprach Carol.
Freundlichkeit trug hier den Sieg über die Ehrlichkeit davon, dachte er. »Vielleicht, aber du hast ja heute Abend schon mindestens eine ganze Flasche Wein getrunken«, warf er ein; aber sein Versuch, sich witzig zu geben, war zu ungeschickt, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Sie starrte ihn an, und er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Er hätte den Einfluss meiner Mutter abschwächen können, aber das hat er nicht getan. So viele Jahre später lässt sich diese Schuld unmöglich mit Geld abtragen.«
»Er muss seine Gründe gehabt haben, Tony. Und er scheint wirklich ein anständiger Mann gewesen zu sein.«
Tony erhob sich. »Nicht heute Abend. Ich bin noch nicht so weit. Lass mich darüber nachdenken, Carol.«
Ihr Lächeln hatte etwas Gezwungenes. Er kannte alle Nuancen ihrer Mimik, und aus diesem Lächeln las er Enttäuschung heraus. Hatte er ihr auch geholfen, im Berufsleben Erfolg über Erfolg zu erringen, so glaubte er manchmal, dass er ihr noch nie etwas anderes als Enttäuschungen bereitet hatte, wenn es um ihre persönliche Beziehung ging.
Carol leerte ihr Glas. »Bis zum nächsten Mal«, sagte sie. »Es läuft ja nicht weg.«
Zum Abschied winkte er kurz und ging auf die Treppe zu, die ihre Souterrainwohnung von seinen Obergeschossen trennte. Als er sich umdrehte, um gute Nacht zu sagen, sah er, dass ihr Lächeln weicher wurde. »Ich kenne dich doch«, sagte sie. »Früher oder später wirst du es erfahren müssen.«
Alvin Ambrose nestelte seine Karte aus der Innentasche seiner Jacke, während er auf das Haus zuging. Er wusste, dass sich seine Größe, seine Hautfarbe und die Tatsache, dass es nach zehn Uhr abends war, in den Augen der Bewohner dieses gehobenen Einfamilienhauses zu seinem Nachteil auswirken würden. Es war am besten, den Ausweis gleich parat zu haben, wenn die Tür aufging.
Der Mann, der auf das Klingeln hin öffnete, blickte stirnrunzelnd auf seine Uhr. Dann machte er viel Aufhebens davon, Ambrose’ Ausweis genau zu studieren. »Finden Sie, das ist jetzt eine angemessene Uhrzeit?«
Ambrose unterdrückte eine sarkastische Entgegnung und fragte nur: »Mr.David Darsie? Detective Sergeant Ambrose von der West-Mercia-Polizei. Es tut mir leid, Sie zu stören, aber wir müssen mit Ihrer Tochter Claire sprechen.«
Der Mann schüttelte den Kopf, seufzte und setzte eine gekünstelte Miene ungläubigen Staunens auf. »Es ist nicht zu fassen. Zu dieser Stunde belästigen Sie uns, weil Jennifer Maidment noch spät unterwegs ist? Es ist kaum halb elf.«
Es war Zeit, den Kerl in die Schranken zu weisen. »Nein, Sir«, entgegnete Ambrose, »ich belästige Sie zu dieser Stunde, weil Jennifer Maidment ermordet worden ist.«
David Darsies Gesichtsausdruck wechselte so schnell von Ärger zu Schrecken, als hätte man ihn geohrfeigt. »Was? Wie ist das möglich?« Er sah Ambrose über die Schulter, als erwarte er, dass sich dort ein Alptraum abzeichnen werde. »Ihre Mutter hat doch erst vor einer Weile angerufen.« Er fuhr sich mit der Hand über sein leicht schütteres dunkles Haar. »Herrgott. Ich meine …« Er schluckte krampfhaft.
»Ich muss mit Ihrer Tochter sprechen«, wiederholte Ambrose und trat näher an die offene Tür heran.
»Ich weiß nicht … Das ist ja unglaublich. Wie kann … Mein Gott, Claire wird am Boden zerstört sein. Hat es nicht bis morgen früh Zeit? Können Sie uns nicht Zeit geben, es ihr schonend beizubringen?«
»Es geht nicht schonend, Sir. Ich muss heute Abend mit Claire sprechen. Es geht um die Ermittlung in einem Mordfall. Wir können es uns nicht leisten, Zeit zu verlieren. Je eher ich mit Claire sprechen kann, desto besser für unsere Ermittlungen. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie und Ihre Frau bei dem Gespräch dabei sind, aber es muss noch heute Abend sein.« Ambrose wusste, dass er hartgesotten wirkte auf Menschen, die seine Schwächen nicht kannten. Wenn es darum ging, eine Ermittlung voranzubringen, machte es ihm nichts aus, alle Mittel zu nutzen, die ihm zur Verfügung standen. Er sprach jetzt leiser und klang wie das dunkle Rumpeln von Panzern, die die Straße entlangrollten. »Jetzt. Erlauben Sie.« Sein Fuß war schon über der Schwelle, und Darsie blieb keine andere Wahl, als zurückzuweichen.
»Kommen Sie rein«, sagte er und winkte ihn zur ersten Tür rechts.
Ambrose ging voran in ein heimeliges Wohnzimmer. Die Möbel sahen gebraucht, aber bequem aus. Auf einem Regal standen DVDs und Brettspiele, ein Haufen Spielzeug lag in der Ecke zwischen einem Sofa und dem Breitbildfernseher kunterbunt durcheinander. Ein Couchtisch war mit Meccano-Bauteilen übersät, und ein Stoß Kinderbücher lehnte gegen das Ende des anderen Sofas. Der Raum war leer, und Ambrose schaute Darsie erwartungsvoll an.
»Entschuldigen Sie das Durcheinander«, sagte er. »Vier Kinder, und uns allen ist die Unordentlichkeit angeboren.« Ambrose bemühte sich, über den Mann nicht zu streng zu urteilen, dem der Zustand des Zimmers wichtig war, nachdem er gerade erfahren hatte, dass die beste Freundin seiner Tochter umgekommen war. Er wusste, dass Schock unwägbare und unangemessene Reaktionen hervorrief.
»Und Ihre Tochter?«
Darsie nickte eifrig. »Einen Moment, ich hole Claire und ihre Mutter.«
Darsie war mit seiner Frau und Tochter so schnell wieder zurück, dass Ambrose wusste, der feige Kerl hatte ihnen nicht selbst die Nachricht übermittelt. Claire, dünn und abgezehrt, in einem flauschigen weißen Frottee-Morgenmantel über einem Flanellschlafanzug und knallrosa Gummisandalen, bemühte sich um den coolen Teenager-Look, während ihre Mutter eher müde als erschrocken aussah. Alle drei zögerten an der Tür und warteten darauf, dass Ambrose das Kommando übernahm.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er und gab ihnen ein wenig Zeit, sich auf dem Sofa zurechtzusetzen. »Es tut mir leid, Sie zu behelligen, aber es ist wichtig.«
Claire zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Keine große Sache. Nur weil Jen ihren Heiligenschein abgelegt hat und mal nicht rechtzeitig nach Haus gekommen ist.«
Ambrose schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Claire. Es ist ernster.«
Blitzartig wurde sie von panischer Angst ergriffen. Heutzutage, bei den Dingen, die man online und im Fernsehen sah, dauerte es nicht lange zu begreifen. Jede Vorspiegelung von Unbekümmertheit war verschwunden, bevor Ambrose weitersprechen konnte. »Oh, mein Gott«, rief Claire. »Ihr ist etwas wirklich Schlimmes zugestoßen, oder?« Sie legte ihr Gesicht in die Hände, und ihre Finger vergruben sich in die Wangen. Sie drängte sich an ihre Mutter, die schützend einen Arm um sie legte.
»Ich fürchte, ja«, sagte Ambrose. »Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen sagen, dass Jennifer heute Abend zu Tode gekommen ist.«
Claire schüttelte den Kopf. »Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Es ist aber wahr. Es tut mir wirklich leid, Claire.« Er machte sich darauf gefasst, dass das Mädchen in Tränen ausbrechen würde.
»Geben Sie uns etwas Zeit«, bat ihre Mutter, die der Schock erröten und wieder blass werden ließ. »Bitte.«
Ambrose ließ sie allein. Er saß auf der Treppe und wartete. Die Leute dachten immer, das Polizistendasein bestünde aus Action, Verfolgungsjagden im Auto und Verdächtigen, die es an Wände zu schubsen galt. Sie begriffen nicht, dass es tatsächlich um Geduld ging. Patterson hatte es kapiert. Das war einer der Gründe, weshalb Ambrose seinen Chef mochte. Wenn von oben Ergebnisse gefordert wurden, gab Patterson nicht den Druck an sein Team weiter. Dabei fehlte ihm durchaus nicht das Bewusstsein dafür, wenn etwas dringend war, aber er glaubte einfach, dass manche Dinge ihre Zeit brauchten.
Zehn Minuten vergingen, bevor David Darsie aus dem Wohnzimmer kam. »Sie brauchen noch ein bisschen länger. Kann ich Ihnen etwas Warmes zu trinken holen?«
»Kaffee, bitte. Schwarz, und zwei Stück Zucker.«
Er saß weitere zehn Minuten mit dem Kaffee da, bevor Mrs. Darsie zu ihm herauskam. »Sie ist sehr durcheinander«, sagte sie. »Ich übrigens auch. Jennifer ist ein liebes Mädchen. Sie sind seit der Grundschule beste Freundinnen. Die Maidments sind wie eine zweite Familie für Claire. Und für Jennifer ist es genauso umgekehrt. Sie waren immer hier oder bei Jennifer zu Hause oder zusammen beim Shoppen und so.«
»Genau deshalb ist Claire eine so wichtige Zeugin für uns«, sagte Ambrose. »Wenn jemand weiß, was Jennifer für den Abend plante, dann ist es wahrscheinlich Ihre Tochter. Mit mir zu reden ist das Beste, was sie jetzt für ihre Freundin tun kann.«
»Das weiß sie. Sie ist jetzt gerade dabei, ihre Kräfte zu sammeln, dann wird sie mit Ihnen sprechen.« Mrs.Darsie führte eine Hand zum Gesicht und legte sie um Kinn und Wange. »O Gott, die arme Tania. Sie war ein Einzelkind, wissen Sie. Tania und Paul hatten es sehr lange schon versucht, als Jennifer kam, und sie waren in sie vernarrt. Nicht dass sie sie verhätschelt hätten oder so etwas. Sie waren recht streng. Aber man musste sie nur mit ihr zusammen sehen, um zu verstehen, wie feinfühlig sie ihr gegenüber waren.«
»Wir haben uns gefragt, wo Mr.Maidment heute Abend war«, sagte Ambrose und nutzte damit ihre offenkundige Bereitschaft, über die Maidments zu sprechen.
»Er ist in Indien. Er besitzt eine Firma, die Werkzeugmaschinen herstellt, und ist da drüben, um Aufträge an Land zu ziehen, damit sie es durch die Kreditklemme schaffen.« Ihre Augen waren tränenfeucht. »Er wird noch nicht einmal etwas davon wissen, oder?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Ambrose behutsam. »Meine Kollegen sind jetzt bei Mrs.Maidment und versuchen, ihr ein wenig zu helfen. Sie werden die beste Möglichkeit finden, mit Mr.Maidment Kontakt aufzunehmen.« Er legte eine warme Hand auf Mrs.Darsies Ellbogen. »Meinen Sie, dass Claire jetzt vielleicht mit mir reden kann?«
Claire saß zusammengekauert auf dem Sofa, das Gesicht gerötet und die Augen vom Weinen verquollen. So in sich zusammengesunken sah sie viel jünger aus als vierzehn. »Sie sagten, dass Jennifer gestorben ist«, sagte sie, sobald Ambrose das Zimmer betrat. »Sie meinen, jemand hat sie getötet, oder?«
»Ja, leider«, bestätigte Ambrose und setzte sich ihr gegenüber, während ihre Mutter wieder eine beschützende Haltung einnahm. »Es tut mir leid.«
»Ist sie … hat jemand …Hat jemand ihr weh getan? Ich meine, natürlich hat man ihr weh getan, weil sie umgebracht wurde, klar. Aber war es, also, wurde sie gequält?« Offensichtlich wollte sie beruhigt werden. Ambrose belog im Allgemeinen Zeugen nicht, aber manchmal war es die menschlichste Vorgehensweise.
»Es muss sehr schnell vorbei gewesen sein«, erwiderte er, und seine leise brummelnde Stimme war schon ein Trost an sich.
»Wann ist es passiert?«, fragte Claire.
»Genau wissen wir es noch nicht. Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
Claire holte tief Luft. »Wir kamen zusammen aus der Schule. Ich dachte, sie würde mit zu mir kommen, weil wir Bioaufgaben machen mussten, und die naturwissenschaftlichen Fächer machen wir normalerweise hier, weil mein Dad Dozent für Chemie ist und uns helfen kann, wenn wir nicht klarkommen. Aber sie sagte, nein, sie würde nach Haus gehen, weil ihr Vater morgen nach Hause kommt, und sie wollte einen Kuchen backen. So als Willkommensgruß.«
»Das ist nett. Hat sie immer so etwas Besonderes gemacht, wenn ihr Vater weg gewesen war?«
Claire zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich eigentlich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie schon einmal so etwas getan hat, aber ich habe auch nicht besonders darauf geachtet. Er ist ja dauernd unterwegs, ihr Dad. Manchmal nur für zwei Nächte, aber in letzter Zeit war er wochenlang weg.«
»Es ist wegen der boomenden Wirtschaft in China und Indien«, unterbrach ihre Mutter. »Er muss die neuen Märkte nutzen, deshalb ist er so viel weg gewesen.«
Ambrose wünschte, Claires Mutter würde sich raushalten. Er versuchte immer, Befragungen so zu gestalten, dass sie wie ein normales Gespräch liefen. So konnte man Menschen am besten dazu bringen, mehr zu sagen, als sie beabsichtigten. Er hasste es, wenn andere Leute diesen Fluss unterbrachen.
»Und das ist alles, was Jennifer über ihre Pläne berichtete? Dass sie nach Haus gehen würde, um einen Kuchen zu backen?«
Claire runzelte die Stirn und versuchte, sich zu erinnern. »Ja. Ich war ein bisschen sauer, dass sie mir vorher nichts davon gesagt hatte. Weil wir uns nämlich nicht im Stich lassen. ›Freundinnen können sich aufeinander verlassen‹, das ist unser Slogan. Ich meine, sie hat mich nicht mal gefragt, ob ich mitkommen und ihr helfen wollte.«
»Es kam dir also in dem Moment etwas komisch vor? Dass Jennifer einfach so aus heiterem Himmel damit kam?«
»Schon.« Claire nickte. »Ich meine, ist ja keine große Sache, oder? Nur sah es ihr nicht ähnlich. Aber ich wollte ja deswegen keinen Streit mit ihr anfangen, verstehen Sie? Dass sie etwas Nettes für ihren Dad tun wollte, das war ihre Sache.«
»Wo habt ihr euch dann verabschiedet?«
»Na ja, das haben wir eigentlich gar nicht. Nicht ausdrücklich. Sehen Sie, wir stehen an der Bushaltestelle, und der Bus kommt, und ich steige zuerst ein, dann sagt Jennifer plötzlich: ›Ach, ich hab vergessen, dass ich Schokolade für den Kuchen kaufen muss, ich geh noch zum Co-op.‹ Fünf Minuten von der Schule gibt es so einen kleinen Co-op, wissen Sie? Ich bin also im Bus, und sie drängt sich an den Leuten vorbei und steigt aus, und da sehe ich sie schon am Bus vorbeigehen runter auf den Laden zu. Und sie winkt mir zu, ganz freundlich und ruft noch: ›Bis morgen dann.‹ Na ja, es sah jedenfalls so aus, als hätte sie das gerufen.« Claires Gesicht verzog sich, und Tränen rannen ihr über die Wangen. »Da hab ich sie zum letzten Mal gesehen.«
Ambrose wartete, während ihre Mutter Claire übers Haar strich und ihr mit sanften Worten half, sich zu fassen. »Es klingt, als sei Jennifer an dem Abend nicht ganz sie selbst gewesen«, meinte er. »Sie hat sich ein bisschen untypisch verhalten, oder?«
Claire zuckte mit einer Schulter. »Ich weiß nicht. Ja, vielleicht.«
Ambrose, Vater eines Sohnes im Teenageralter, erkannte dies als Jugendsprache für »durchaus«. Er warf ihr ein kurzes, vertrauensvolles Lächeln zu. »Ich weiß, dass du nichts sagen willst, das sich anhört, als würdest du Jennifer verraten, aber bei der Untersuchung eines Mordfalls gibt es keinen Raum für Geheimnisse. Meinst du, es könnte sein, dass sie sich mit jemandem treffen wollte? Mit jemandem, den sie geheim hielt?«
Claire schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »So etwas würde sie mir nie verheimlichen. Auf keinen Fall. Jemand muss sie auf dem Weg zum Co-op geschnappt haben. Oder danach auf dem Heimweg.«
Ambrose beließ es dabei. Es würde nichts bringen, Claire gegenüber der Ermittlung feindselig zu stimmen. »Seid ihr manchmal zusammen im Internet gewesen?«
Claire nickte. »Wir sind hauptsächlich bei ihr zu Hause online gewesen. Sie hat einen besseren Computer als ich. Und wir chatten und schicken uns SMS und so.«
»Nutzt ihr ein Online-Netzwerk?«
Claire warf ihm einen Blick zu, der nach Was denken Sie denn? aussah, und nickte. »Wir sind bei Rig.«
Natürlich. Vor ein paar Jahren war es MySpace gewesen. Das wurde von Facebook verdrängt. Dann kam RigMarole mit einer noch benutzerfreundlicheren Oberfläche und dem zusätzlichen Vorteil einer Spracherkennungssoftware, die man gratis herunterladen konnte. Man musste jetzt nicht einmal mehr tippen können, um eine weltumspannende Community von ähnlich denkenden Teilnehmern und gut getarnten Aggressoren zu erreichen. Ambrose versuchte, seine eigenen Kinder und ihre Online-Kontakte im Auge zu behalten, aber er wusste, dass es ein aussichtsloser Kampf war. »Kennst du zufällig Jennifers Passwort? Es würde uns wirklich helfen, wenn wir so schnell wie möglich auf ihr Profil und ihre Nachrichten zugreifen könnten.«
Claire warf einen schnellen Seitenblick auf ihre Mutter, als hätte sie selbst Geheimnisse, die sie nicht preisgeben wollte. »Wir hatten so einen Code. Damit niemand die Passwörter erraten kann. Ihr Passwort waren meine Initialen und die letzten sechs Zahlen von meiner Handynummer. Also CLD435767.«
Ambrose speicherte den Code in seinem Mobiltelefon. »Das hilft uns sehr, Claire. Ich will dich nicht länger behelligen, aber eins muss ich dich noch fragen: Hat Jennifer jemals über jemanden gesprochen, vor dem sie Angst hatte? Jemand, von dem sie sich bedroht fühlte? Es könnte ein Erwachsener sein, es könnte jemand an der Schule sein oder ein Nachbar. Einfach irgendjemand.«
Claire schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht verzog sich schmerzlich. Sie klang mitleiderregend und tief unglücklich. »Alle mochten Jennifer. Warum sollte irgendjemand sie umbringen wollen?«
Carol konnte kaum glauben, wie schnell John Brandons Präsenz aus seinem früheren Büro gewichen war. Sein persönlicher Anteil an der Einrichtung war verhalten und unaufdringlich gewesen; ein Familienfoto und eine raffinierte Kaffeemaschine hatten die einzigen wirklichen Hinweise auf den Mann selbst gegeben. James Blake war eindeutig aus anderem Holz geschnitzt. Ledersessel, ein antiker Schreibtisch und Aktenschränke aus Holz schufen eine unechte Landhausatmosphäre. Die Wände zierten unübersehbar Hinweise auf Blakes Erfolge, sein gerahmtes Diplom von Exeter, Fotos von ihm mit zwei Premierministern, dem Prinzen von Wales und einer ganzen Schar von Innenministern und weniger wichtigen Berühmtheiten. Carol war nicht sicher, ob es hier um Eitelkeit ging oder um eine Warnung für Blakes Besucher. Sie wollte sich ein Urteil darüber erst erlauben, wenn sie ihn besser kannte.
Blake, der in seiner Galauniform herausgeputzt und schmuck wirkte, winkte Carol zu einem der Schalensessel vor seinem Schreibtisch. Anders als Brandon bot er keinen Tee oder Kaffee an. Oder höfliches Geplauder, wie sich sofort herausstellte. »Ich komme gleich zur Sache, Carol«, sagte er.
So sollte es also laufen. Kein vorgetäuschtes Brückenschlagen, keine Vorspiegelung einer gemeinsamen Basis zwischen ihnen. Es war Carol sofort klar, dass der Gebrauch ihres Vornamens nicht der erste Schritt auf dem Weg zu einer Art Kameradschaft war, sondern nur ein energischer Versuch, sie dadurch herabzuwürdigen, dass er ihrem Dienstgrad keine Anerkennung zollte. »Es freut mich, das zu hören, Sir.« Sie widerstand der Neigung, die Arme zu verschränken und die Beine übereinanderzuschlagen, und entschied sich stattdessen, eine genauso offene Haltung einzunehmen wie er. Manche Dinge waren hängengeblieben nach all diesen Jahren, die sie in Tonys Gesellschaft verbracht hatte.
»Ich habe mir Ihre Akte angeschaut. Sie sind eine hervorragende Polizeibeamtin, Carol. Und Sie haben sich ein erstklassiges Team aufgebaut.« Er machte eine erwartungsvolle Pause.
»Danke, Sir.«
»Und da liegt das Problem.« Blakes Mund verzog sich zu einem Lächeln, das zeigte, wie sehr ihn seine eigene Pfiffigkeit freute.
»Wir haben unseren Erfolg nie als Problem betrachtet«, erwiderte Carol und wusste, dass das nicht ganz die Antwort war, die er sich wünschte.
»Ich gehe davon aus, die Bedingung für die Beschäftigung Ihres Teams ist, dass Sie Kapitalverbrechen in unserem Zuständigkeitsbereich untersuchen, die nicht in den Aufgabenbereich einer der nationalen Polizeieinheiten fallen?«
Carol nickte. »Richtig.«
»Aber zwischen den aktuellen schweren Straftaten kümmern Sie sich um ungeklärte Altfälle?« Er konnte seine Geringschätzung nicht verbergen.
»Ja. Und wir können auf dem Gebiet auch einige bemerkenswerte Erfolge vorweisen.«
»Das bestreite ich nicht, Carol. Was ich bestreite, ist, dass Ihre Fähigkeiten für Altfälle sinnvoll eingesetzt sind.«
»Ungelöste Fälle sind wichtig. Wir sprechen für die Toten. Wir ermöglichen es den Familien, einen Schlussstrich zu ziehen, und wir führen Menschen, die der Gesellschaft Jahre gestohlen haben, ihrer gerechten Strafe zu.«
Blakes Nasenflügel weiteten sich, als sei ein unangenehmer Geruch zu ihm hinübergeweht. »Ist das die Meinung Ihres Freundes Dr.Hill?«
»Wir alle sind dieser Meinung, Sir. Ungelöste Fälle sind von Belang. Auch ihre Auswirkung auf die Öffentlichkeit ist nicht unerheblich. Sie helfen den Menschen zu verstehen, mit welchem Einsatz die Polizei versucht, komplizierte Fälle aufzuklären.«
Blake nahm eine kleine Schachtel Minzdragees heraus und schob sich eins in den Mund. »Das mag stimmen, Carol. Aber ehrlich gesagt, Altfälle sind etwas für Arbeitstiere. Für Ackergäule, Carol, nicht für vollblütige Rennpferde wie Sie und Ihr Team. Sie werden doch durch Ausdauer gelöst, nicht durch die brillanten Fähigkeiten, die Sie und Ihr Team anwenden.«
»Ich fürchte, dass ich Ihre Einschätzung nicht teilen kann, Sir.« Sie begriff nicht recht, warum sie so böse wurde. Aber sie war wirklich wütend. »Wenn es so einfach wäre, hätte man diese Fälle schon vor langer Zeit gelöst. Es geht nicht nur darum, neue kriminaltechnische Methoden auf Altfälle anzuwenden. Es geht darum, mit einem neuen Ansatz heranzugehen, das Undenkbare zu denken. Das ist eine der Stärken meiner Gruppe.«
»Das mag sein. Aber es ist keine effektive Verwendung meines Budgets. Für Ihr Team entsteht ein enormer Kostenaufwand. Sie haben eine Bandbreite und ein Niveau von Fähigkeiten und Wissen zur Verfügung, die für aktuelle Fälle verwendet werden sollten. Nicht nur für Kapitalverbrechen, sondern auch andere ernste Angelegenheiten, die auf den Tischen der Kriminalpolizei landen. Die Menschen, denen wir dienen, haben eine optimale Polizeiarbeit verdient. Es ist meine Aufgabe, auf eine möglichst kostensparende Weise dafür zu sorgen. Ich setze Sie also davon in Kenntnis, Carol, dass ich die Dinge vorerst so belassen werde, wie sie sind, aber Ihr Team wird einer genauen Kontrolle unterliegen. Sie stehen auf dem Prüfstand. In drei Monaten werde ich auf der Basis einer strengen Überprüfung Ihrer Fallauslastung und Ihrer Ergebnisse eine Entscheidung treffen. Aber ich warne Sie: Ich tendiere durchaus dazu, Sie wieder in den normalen Betrieb der Kripo einzugliedern.«
»Es klingt, als hätten Sie Ihre Entscheidung schon getroffen, Sir«, sagte Carol und zwang sich, dabei höflich zu klingen.
»Das hängt von Ihnen ab, Carol.« Diesmal war das Lächeln unbestreitbar selbstgefällig. »Und noch etwas, da wir gerade vom Budget reden. Sie scheinen eine Menge Geld dafür auszugeben, dass Sie Dr.Hill hinzuziehen.«
Jetzt stieg der leise sich regende Ärger erst recht in ihr hoch. »Dr.Hill ist schon länger ein Schlüsselelement unserer Erfolge«, entgegnete sie und konnte nicht vermeiden, dass sie recht kurz angebunden klang.
»Er ist klinischer Psychologe, kein Forensiker. Sein Fachwissen ist ersetzbar.« Blake öffnete eine Schublade und nahm einen Hefter heraus. Er warf Carol einen Blick zu, als sei er überrascht, dass sie noch hier war. »Die nationale Polizeihochschule hat Polizeibeamte in Verhaltensforschung und Profiling fortgebildet. Wenn wir ihr Personal nutzen, werden wir ein Vermögen einsparen.«
»Sie haben aber nicht Dr.Hills Fachwissen. Oder seine Erfahrung. Dr.Hill ist einzigartig. Davon war Mr.Brandon überzeugt.«
Ein langes Schweigen folgte. »Mr.Brandon ist nicht mehr hier, um Sie zu beschützen, Carol. Er mag der Meinung gewesen sein, dass es angemessen war, Ihrem …«, er zögerte, und als er fortfuhr, schwang eine versteckte Anspielung mit, »Vermieter eine so große Summe des Budgets der Bradfield Police zu zahlen. Ich sehe das anders. Wenn Sie also einen Profiler benötigen, dann nehmen Sie doch einen, der uns nicht in den Verdacht der Korruption bringt, nicht wahr?«
Patterson spürte, wie sich pochende Kopfschmerzen in seinem Schädel ausbreiteten. Das war kaum überraschend: Er hatte knapp zwei Stunden geschlafen. Zuschauer, die ihn im Fernsehen betrachteten, konnten angesichts seines silbrigen Haars und des grauen Teints beinah vermuten, dass ihre Geräte gegen Schwarzweißfernseher ausgetauscht worden seien. Nur die roten Augen sprachen dagegen. Er hatte genug Kaffee intus, um eine Harley Davidson damit anzuwerfen, aber selbst das hatte ihm nicht geholfen, wie jemand auszusehen, dem man die Ermittlungen in einem Mordfall anvertrauen sollte. Es gab nichts Entmutigenderes als eine Pressekonferenz, in der man nichts zu bieten hatte als die dürren Fakten des Delikts selbst.