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HEISSE TAGE FÜR VALERIE "VEILCHEN" MAUSER Valerie Mauser ist keine gewöhnliche Kriminalbeamtin, sie fällt auf. Und das nicht nur wegen ihrer blonden Afrofrisur. Valerie hat Hirn, Herz und Humor, was auch dem Tiroler Landesvater nicht entgangen ist. Aber der kann ihr gestohlen bleiben! Viel wohler fühlt sie sich an der Seite ihres ehemaligen Ermittlerkollegen aus Wien - und Manfred Stolwerk ist immer zur Stelle, wenn "sein Veilchen" Unterstützung braucht. So auch, als Wolf Rock für sein allerletztes Konzert in seine Heimatstadt Innsbruck zurückkehrt. VEILCHEN UND DER BÖSE WOLF Wolf Rock, der streitbare Deutschrocker und berühmteste Tiroler Musikexport, beansprucht Polizeischutz, denn er wird bedroht: Jemand will ihn für eine Schandtat aus den Siebzigern büßen lassen. Doch was er damals verbrochen haben soll, weiß er nicht mehr. Drei Tage bleiben Valerie und ihrem Team, um Licht in die bewegte Vergangenheit des Stars zu bringen. Neider, frühere Weggefährten und Hardcore-Fans tauchen auf. Die Drohungen werden konkreter. Als sich dann die Pforten des Bergiselstadions zu Wolf Rocks großem Finale öffnen, überschlagen sich die Ereignisse: Die Alpenstadt wird zum Hexenkessel und der Rockstar zum Gejagten. Mittendrin Veilchen - da brennt nicht nur der Hut! GNADENLOSES TEMPO UND DER ULTIMATIVE SHOWDOWN IM NEUEN VEILCHEN-KRIMI! Nach dem Debüt "Veilchens Winter", der Krimi-Überraschung des Jahres, setzt Joe Fischler im zweiten Fall seiner kultigen Ermittlerin noch eins drauf: gnadenloses Tempo, eine anständige Portion Alpenstadt-Flair und das nötige Quäntchen Herz. Da kann man sich nur wünschen: go Veilchen go! ***** Erster Band der kultigen Veilchen-Krimireihe: Veilchens Winter ***** "Gekonnt spannend, ausgeklügelte Charaktere und Dialoge, die besser nicht sein könnten!" - kassandra1010 auf Lovelybooks "Spannung von der ersten bis zur letzten Seite." - Eileen2007 auf vorablesen.de
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Seitenzahl: 328
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Joe Fischler
Veilchens Feuer
Valerie Mausers zweiter Fall
Alpenkrimi
Joe Fischler
Veilchens Feuer
Für meine Eltern
Der Endlostoaster spielte das Lied vom Tod. Als Valerie Mauser sich bückte, um nachzusehen, wo denn ihr Brötchen so lange blieb, schmerzte die Hitze des rheumatisch knirschenden Geräts. Sie musste blinzeln, wich aber nicht zurück. Eindeutig: Ihr Vollkorntoast schwelgte immer noch in der Glut, die Ränder schon angesengt. Einmal Hölle und zurück. Das hätte auch zum Motto dieses letzten Tages werden können. Ihr graute.
»Suchst was, Veilchen?«, fragte Stolwerk.
Valerie fuhr hoch. Zu schnell, denn nun sah sie Sterne, was weniger dem feucht-fröhlichen Vorabend als ihrem niedrigen Blutdruck geschuldet war. »Hm?«, gab sie dem Mann zurück, der ihr den Besuch des viertägigen Selbstfindungsseminars im Thermenhotel Längenfeld eingebrockt hatte, und hielt sich mit einer Hand am Tisch fest, während die andere das hart gekochte Ei balancierte, das eifrig zwischen Putensalami und gebratenen Champignons umherrollte und schließlich am Frischkäse andockte.
Stolwerk funkelte sie an. Er hatte seinen Teller randvoll mit Süßem bepackt: drei Stück Kuchen – Sachertorte, Topfen- und Obsttorte, drapiert auf einem Bett aus Schlagsahne. Irgendwie hatte er es geschafft, eine mittelgroße Portion davon auf die Unterseite seiner Nase zu manövrieren. Jedenfalls hoffte sie, dass es sich um gequirlten Rahm handelte. Andererseits war seine Gesichtshaut glatt wie ein Babypopo, also konnte es auch Rasierschaum sein. Oder Schlimmeres. »Du hast da was …«, stammelte sie und hob ihren Teller zur eigenen Nase, die andere Hand brauchte sie immer noch zum Festhalten. Roch es hier nach Pferd? Stolwerk verstand den Wink, wischte das überflüssige Dekor mit dem Zeigefinger und einem begleitenden »Ha!« weg, schlürfte es ein und verzog das Gesicht.
»Kaffee oder Zschee, bitte?«, sprach sie jemand von der Seite an.
»Zschee, bitte«, gab Valerie reflexartig zurück und schämte sich sofort dafür. Stolwerk machte große Augen.
»Was für Zschee? Wir haben Kräuterzschee, Kamillenzschee, weißen Zschee, Apfelzschee, Darzschielingzschee, Rooiboschzschee, Ingwerzschee, grünen Zschee, Oolongzschee, Hagebuttenzschee … Kirschzschee … Pfefferminzzschee … English Breakfäst Zschie …«
»Ja, den bitte.«
»Und für Sie, mein Herr?«
»Kaffee bitte, Kaffee«, haspelte er und vermied es, die Dame anzusehen. Sobald sie sich weit genug entfernt hatte, blies er die Luft aus und gluckste. Wie er um diese Uhrzeit derart gute Laune haben konnte, war ihr schleierhaft. Der Toast polterte aus dem Gerät.
Als sie ihrem früheren Ermittlungspartner am LKA Wien zum Tisch folgte, erinnerte sie sein Gang an den einer Schwangeren. Tags zuvor hatte sie dieser Titus Frankenfest frühmorgens aus ihren Zimmern gescheucht und zusammen mit den anderen Seminarteilnehmern durch den Wald getrieben, im strömenden Regen – Schirme verboten, weil »das himmlische Wasser reinige« – einen schmalen Weg hoch, bis sie ein großes Tipi-Zelt erreichten. Stolwerk war knapp vorm Herzinfarkt gestanden. Durchnässt, wie sie angekommen waren, hätten sie erst mal Feuerholz sammeln, sich dann trocknen und anschließend weiter nach sich selber suchen sollen. Ob man sich nun finden wollte oder nicht. Schon die beiden vorhergehenden Tage waren eine Zumutung gewesen, seelische Entblößung vor Wildfremden und keine Möglichkeit, die Annehmlichkeiten des Thermalbads zu genießen – was Valeries eigentliche Motivation gewesen war, Stolwerk anstelle seiner erkrankten Schwester nach Längenfeld zu begleiten.
Leonora Stolwerk hatte ihrem Bruder diesen Titus, diesen selbst ernannten Guru, diesen gefeierten Leuchtturm der Generation Y, diesen chronisch in sich selbst und sein geshaptes Leben verliebten Fuzzi, zum Geburtstag geschenkt. Und eine solch einmalige Gelegenheit durfte man nicht verstreichen lassen, nur weil einer krankheitshalber ausfiel, schon des vielen Geldes wegen – hatte sie gemeint und ihn alleine nach Tirol geschickt.
Was soll’s, wird sicher lustig, hatte Valerie sich gedacht, leichtsinnig, wie sie gewesen war. Denn vom ersten Augenblick an war ihr der Seminarleiter mit dem giftgrünen Irokesen zuwider gewesen, und was folgte, hatte diesen Eindruck nur noch verstärkt. Wer war er, dass er ihre äußere Erscheinung, ihren Beruf, ihr ganzes Leben infrage stellen konnte? Wer war er, dass er sie ernsthaft fragen konnte, was sie mit ihrem wollüstigen Hairstyle auszudrücken versuchte? Wer war er, dass er Stolwerk Maßlosigkeit vorwerfen durfte und den ganzen ersten Tag damit verbringen konnte, Beleidigungen auszuteilen, die auf das äußere Erscheinungsbild der Teilnehmer gerichtet waren?
Und wie bereitwillig man sich unterworfen hatte! Wenn Valerie nur an dieses »Schatten der Vergangenheit«-Spiel dachte. Man sollte das Schlimmste, das man je getan hatte, hervorkramen und den anderen unverfälscht erzählen. Weil das reinige (der Deutsch-Südafrikaner liebte dieses Wort offenbar), verbinde und für die weiteren Tage unabdingbar sei. Und man solle sich bloß nicht scheuen: What happens in Längenfeld, stays in Längenfeld. Was gefolgt war, hätte manchem Teilnehmer zu mehrmonatigen Haftstrafen gereicht. Einige Male hatte es Valerie in den Fingern gejuckt, die Kollegen der nächsten Polizeiwache anzurufen, besonders, als diese Uta gestand, ihren fünf Pflegekindern nur mit Schlägen beigekommen zu sein (sie hatte es »Züchtigung« genannt und das »Z« verschluckt, sodass es irgendwie nach »tüchtig« geklungen hatte), und dafür auch noch breites Verständnis geerntet hatte, gefolgt von Titus’ Absolution: »Das ist vergangen, das ist verflogen, das ist gut«. Ja, so gut, so unglaublich supergut, Kinder zu verdreschen, deren Schicksal ohnehin schwer genug ist, hatte Valerie gedacht. Und Uta, die Prügelkuh, hatte gelächelt und war danach förmlich an Titus’ Lippen geklebt.
Dann war Stolwerk an der Reihe gewesen, nicht ohne Valerie vorher zugezwinkert zu haben, und tischte eine abstruse Geschichte auf, über seinen Wehrdienst, es habe alles ganz harmlos begonnen, sein Oberst sei ein leicht verführbarer Alkoholiker gewesen und habe sich von ihm und den anderen Grundwehrdienern Flausen in den Kopf setzen lassen (»irgendwie mussten wir die Langeweile ja bekämpfen«), man habe ihm eingeredet, zu Höherem berufen zu sein, wahrhaftig einem Feldherrn gleichzukommen, woraufhin dieser zuerst Wegzölle vor der Kaserne einheben und dann Dörfer im Marchfeld brandschatzen ließ (die »Kornkammer Österreichs«). Detailreich hatte er geschildert, wie sie wie die Hunnen von Leopoldsdorf über Obersiebenbrunn nach Gänserndorf gezogen waren, mit Panzern, berittenen Einheiten und Militärmusik, um schließlich in Schönkirchen ihren eigenen Staat auszurufen, weil der Name gut klang, jedenfalls besser als Gänserndorf. Nach dreitägiger Belagerung durch das österreichische Bundesheer habe man dann doch aufgeben müssen – dabei hatte er sich gute Chancen auf den Posten des Schatzmeisters der Republik Schönkirchen ausgerechnet. Das ganze Lügengebäude hatte er ruhig, mit tödlichem Ernst und reuevollem Kopfschütteln vorgetragen, sodass Titus nicht zu zweifeln gewagt und auch ihn von seiner schweren Schuld erlöst hatte. Diese Österreicher sind ein verrücktes Völkchen, mochte er sich wohl gedacht haben.
Dann Valerie. Sie kannte ihren »Schatten der Vergangenheit« nur zu gut. Er lag tief verborgen. Nicht einmal Stolwerk wusste, dass sie als Achtzehnjährige eine Tochter geboren und diese zur anonymen Adoption freigegeben hatte. Mit Rebecca hatte sie dem verstoßenen Menschlein erst Jahre später einen Namen gegeben, als die Schuldgefühle aufgekeimt waren und seither prächtig wuchsen. Nichts wünschte sie sich so sehr, und nichts war so aussichtslos, wie Rebecca (oder wie sie eben in Wirklichkeit hieß) eines Tages in die Arme schließen zu können und nie wieder loslassen zu müssen. Aber das durfte niemand erfahren, schon gar nicht diese Gruppe wildfremder Selbstsucher und deren Irokesenhäuptling. Also hatte sie sich ihr eigenes kleines Lügenmärchen ausgedacht, mit dem sie dem Baron Münchhausen neben sich nicht das Wasser reichen konnte und das dennoch von akzeptabler Niedertracht war. Was sie überdeutlich an ihre Schulbeichten erinnerte. »Das ist vergangen, das ist verflogen, das ist gut.« Was wusste dieser Titus schon. Nichts war gut.
Als die beiden nun am dritten Tag wie die begossenen Pudel Feuerholz sammeln sollten, hatten Valerie und Stolwerk ihren persönlichen Schlussstrich gezogen, sich unter Vorwänden davongestohlen und in der Thermalsauna verabredet. Aufgüsse mit Honig, Salz und Joghurt (!) hatten ihnen die Zeit vertrieben. Der immer noch strömende Sommerregen war zur willkommenen Abkühlung geworden, pudelnackt waren sie durch die Saunalandschaft gezogen, was bei Stolwerk keinen besonderen Unterschied machte – jedenfalls von vorne betrachtet. Sein Körpervolumen musste nun wohl das Fünffache des ihren betragen (das Wasser im eiskalten Tauchbecken war übergeschwappt, als er sich hineinsenkte wie ein Kolben in seinen Zylinder). Doch so sehr ihn die Schwerkraft an Land plagen mochte, im Solebecken bewegte er sich mit der Anmut eines See-Elefanten, was sie ihn neckisch wissen ließ und sich postwendend die Bezeichnung Fischgräte mit Bürstenkopf einfing. Dann hatten sie die Stille umhüllt und das Wasser getragen und Stolwerk hatte bald zu schnarchen begonnen. An der gegenüberliegenden Wand des fensterlosen Raums fügten sich Lichtpunkte zum Farbe wechselnden Sternenhimmel. Und wären sie nicht nackt gewesen, dort in der warmen Salzlauge hätte sie ihren Begleiter glatt umarmen können, für alles, das ihr fehlte und seine Nähe ihr gab. Lebensmensch, hatte sie dann gedacht, ja, das ist immer noch ein schönes Wort.
»Hier bitte, Ihr Zschee!«, sprach die Kellnerin und reichte Valerie das Kännchen. Stolwerk hielt sich die Serviette vors Gesicht und hustete. Dann servierte das Fräulein seinen Kaffee und entfernte sich mit starrer Miene. Stolwerks Schultern zuckten, der Bauch folgte wackelpuddingartig.
»Valerie! Manfred! Na, haben wir es lustig, ja? Hahaha!« Titus Frankenfest war an ihren Tisch getreten. Sein Irokese, der im Regen des Vortags Schlagseite bekommen hatte und schließlich auf der Seite pappte, als sei der Erleuchtete einem Seerosentümpel entstiegen, stand wieder in prächtigem Grün. »Was machen deine Regelbeschwerden?«, fragte er Valerie mit kräftiger Stimme. Sie zog das Gesicht breit und gestikulierte »so lala«.
»Und Mannis Fußpilz?«
»Ach, nicht gut, gar nicht gut«, antwortete Stolwerk und rieb sich schmerzverzerrt das Schienbein, gegen welches Valerie vorhin getreten hatte, um peinlichen Lachanfällen vorzubeugen. Ihr Handy klingelte in der Jackentasche ihres Trainingsanzugs.
»Turbogeiler Klingelton, Valerie! Haha! Na, was sagt man dazu. Da seid ihr beide in einer Therme und könnt sie gar nicht genießen. Haha! Glück für mich. Start um Punkt zehn Uhr, meine Lieben. Ich kann’s gar nicht erwarten, eure Veränderungspläne zu hören. Schade, dass ihr das gestern verpasst habt, ich sage nur: Da bleibt kein Stein auf dem anderen! Dieser Achim, ach, der will gleich sein ganzes Leben umkrempeln. Das wird ein guter Tag!« Selbstverliebt tätschelte er die Haarspitzen, welche sich gut zwanzig Zentimeter über seinem Kopf befanden, nippte an seinem Smoothie, leckte sich die Oberlippe ab und starrte erwartungsvoll Valerie an, die ans Telefon ging. Der Nummer nach rief sie sich gerade selbst an, denn der Anruf kam aus ihrem eigenen Büro.
»Mauser, guten Morgen?«
»Guten Tag, Frau Oberstleutnant. Hier Doktor Berger. Sie sind bis morgen auf Urlaub, meint Kollege Schmatz?«
»Ja, warum?«
»Nun, weil Sie den Antrag nicht von mir abzeichnen haben lassen.«
»Sie waren am Freitag in Wien, also habe ich es mit meinem Team koordiniert.«
»Frau Oberstleutnant, Ihre Mitarbeiter haben keine Entscheidungskompetenz, was Ihren Urlaub betrifft. Ohne meine schriftliche Genehmigung gibt es keine planmäßigen Abwesenheiten. Spätestens am Montag hätten Sie das nachholen müssen. Nun ja. Wir haben hier eine neue Sache. Ich erwarte Sie morgen pünktlich um acht Uhr in meinem Büro.«
Valerie überlegte kurz und spannte das Gesicht an.
»Ach, so dringend? Hm … ja, ich verstehe … dann fahr ich gleich los … ja, bis Mittag könnte ich es schaffen.«
»Was? Nein, morgen um acht. Sie haben den Urlaub nun schon angetreten, also …«
Ein Blick in Stolwerks Gesicht genügte: Er war mit ihrem Fluchtplan einverstanden. »Gut, da kann man nichts machen. Also bis in zirka drei Stunden.«
»Frau Oberstleutnant, ich verstehe nicht …«
»Beeilen. Jawohl!«, nickte Valerie, drückte aufs rote Symbol und sprang auf. »Stolwerk, Einsatz!«
Dieser erhob sich, so schnell es eben ging. Titus Frankenfest machte große Augen.
»Tut mir leid, wir müssen«, waren die letzten Worte, die sie in diesem Leben an den Seminarleiter zu richten hoffte.
»Aber … aber«, stammelte er ihnen nach, als sie im Laufschritt den Frühstücksraum verließen. Draußen klatschten sie ab, packten und ließen Längenfeld hinter sich.
Auf Stolwerks hartnäckigen Wunsch hin holten Valerie und er das verpatzte Frühstück in einer Raststätte an der Autobahn nach und erreichten das Landeskriminalamt Innsbruck gegen elf Uhr fünfundvierzig. Manfred Stolwerk war vor Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden und verdiente sein Geld als Sicherheitsberater und Alarmanlagentechniker in Linz. Während er nun unten im Wagen wartete, eilte Valerie zum Leiter des Landeskriminalamts Tirol, Doktor Dietmar Berger.
»Frau Oberstleutnant, können Sie mir erklären, was das sollte?«, gab er ihr zur Begrüßung.
»Verzeihen Sie, Ihr Anruf hat mich vor der Selbstfindung bewahrt. Was gibt es?«, fragte sie und lächelte ihren Vorgesetzten an, der weder auf Witz noch suggestive Mimik zu reagieren pflegte.
»Nun gut, wir hatten zwar morgen um acht Uhr vereinbart, aber Ihr Erscheinen bietet die Möglichkeit, dass Sie sich gleich selbst einen Eindruck von diesem Subjekt verschaffen.«
»Von wem?« Valerie war erleichtert, dass er nicht auf dem kurzfristigen Urlaub herumkaute.
Berger zog eine Akte zu sich, klappte sie auf und machte es spannend. »Sagt Ihnen Gotthilf Semmelweis etwas?«
Sie musste nicht überlegen, dieser Name wäre sicher an irgendeiner neuronalen Kreuzung hängen geblieben.
»Nein?«
»Besser bekannt als …« Berger hielt sich den Zeigefinger quer vor den Mund, als wollte er in Schranken weisen, was gleich seinen Mund verließ, und murmelte: »Wolf Rock.«
»Oha!« Oha? Ja, der Name war ihr geläufig. »Der Musiker?«
»Manche nennen ihn so, ja«, sagte der LKA-Leiter und zeigte weiterhin keine Regung. Immerhin schien er doch Humor zu haben, wenngleich von der staubtrockenen Sorte.
Wolf Rock. Wer kannte ihn nicht, diesen ach-so-beliebten, auf bösen Dämon machenden Deutschrocker, der von den Medien abwechselnd verteufelt und in den Himmel gelobt wurde.
»Diese Woche soll sein großes Abschiedskonzert hier in Innsbruck stattfinden. Und es gibt Probleme.« Nun sah Berger sie an und sprach lauter: »Besorgnis erregende Probleme.«
Valerie konnte sich dunkel an die abstoßenden Plakate erinnern, die überall in Innsbruck hingen und mit denen seit Monaten Werbung für Wolf Rocks große Abschiedstournee gemacht wurde, irgendwas mit einem Berg aus entblößten Körpern, schwarzen Rosen und brennenden Kreuzen. Jedenfalls viel nackte Haut. Sie hatte aber nie genau hingesehen, weil sie weder ihn noch seine Musik je anziehend gefunden hatte.
»Was hat er angestellt?«
»Nichts. Er wird bedroht.«
»Von der Schneider-Lobby?«
»Das verstehe ich nicht.«
Was sonst sollte sie vom alten Berger erwarten.
»Ich meine, wegen der Plakate überall.«
»Nun ja, nein. Der Urheber der Bedrohung ist unbekannt. Ihr Mitarbeiter, Major Geyer, hat die Sache an mich herangetragen, in Koordination mit der Staatsanwaltschaft haben wir Ermittlungen eingeleitet. Major Geyer kennt diesen Wolf … Herrn Semmelweis wohl persönlich und hat darum gebeten, die weiteren Ermittlungen übernehmen zu dürfen. Ich habe dem zugestimmt.«
»Geyer?«
»Natürlich vorbehaltlich Ihrer Entscheidung.«
Die Einhaltung des Dienstwegs war gerade weniger interessant als die Tatsache, dass es eine persönliche Verbindung zwischen ihrem Stellvertreter und dem Musikstar gab. »Natürlich«, gab sie zurück, »also, was haben wir?«
»Bisher kein umfängliches Dossier … nur Major Geyers Bericht hier und ein paar Abfragen«, antwortete Berger und streckte ihr ein Blatt Papier entgegen.
Gezeichnetem persönlich bekannter Gotthilf Semmelweis, geb. 05.05.1955, alias Wolf Rock hat die dringliche Bitte an uns herangetragen, seine persönliche Sicherheit rund um das anstehende Konzertfinale in Innsbruck herzustellen. Dem Vernehmen nach sieht er sich massiven Bedrohungen ausgesetzt (hier Drohschreiben, Bedrohung Leib/Leben, wird nachgereicht), was unserer persönlichen Beobachtung nach auch am wachsenden Diskurs in einschlägigen Medien abzulesen war, vor allem in Gestalt einer religiös motivierten Gegenbewegung, die ihrerseits zu scharfen Protesten gegen das anstehende Konzert anhält. Ebenso sind dem scheinbar rechtsfreien Internet diverse drohähnliche Botschaften zu entnehmen, wovon sich persönlich zu überzeugen und den dringenden Verdacht zu erhärten der sachkundige Kollege Sven Schmatz imstande war. Aufgrund des mehrfach vermuteten Tatbestandes § 107 StGB wird umgehende Ermächtigung zu ausführlichen Ermittlungen angeregt. Auch weil Gezeichneter persönlich der unübersehbaren Tatsache gewahr wurde, dass der private Sicherheitsdienst, welcher für das Konzert vorgesehen ist, bestenfalls zur Beaufsichtigung der Parkplätze geeignet scheint, jedoch keinesfalls zum Personenschutze taugt, wird darüber hinaus empfohlen, geschätzte Landespolizeidirektion sowie Sondereinsatzkommando Cobra über die Situation in Kenntnis zu setzen und Maßnahmenkoordination anzuregen.
Poet wird er keiner mehr … Poet des Grauens vielleicht, dachte Valerie und gab Berger das Blatt zurück.
»Ist das nicht zu dick aufgetragen?«
»Was meinen Sie?«
»Die Cobra für ein Rockkonzert in Innsbruck?«
»Machen Sie sich selbst ein Bild. Ich beobachte dieses Ereignis mit wachsender Beunruhigung, um offen zu sein. Aber andere Polizeieinheiten werden uns wohl nicht zur Verfügung stehen.«
»Warum?«
»Sehen Sie … es gab diese Situation schon einmal ganz ähnlich.« Er nahm ein weiteres Blatt zur Hand. »Wir haben gestern die jüngeren Ereignisse rund um diesen Musiker überprüft. Gustav Benz heißt sein Manager. Zwei Jahre ist es her, da wurde er in Deutschland wegen Vortäuschung einer gefährlichen Drohung – hier, Bedrohung nennen die deutschen Kollegen das Delikt – verurteilt. Damals wurde gesagt, dass es eine Finte war, um die aktuelle Platte seines Schützlings zu bewerben.«
»Und wer einmal lügt …«, zog Valerie den naheliegenden Schluss.
»Dem glaubt man nicht. So würde es der Volksmund sagen, ja. Darüber hinaus ist nicht wirklich ein Terroranschlag zu befürchten, sondern es wird eine konkrete Einzelperson bedroht … und damit ist das … unsere Zuständigkeit.«
»Was war mit dieser religiösen Bewegung?«
»Vergessen Sie das. Leute, die ihren Frust ablassen und dabei glauben, im Internet seien sie anonym. Wir konzentrieren uns auf die konkrete Bedrohung des Künstlers.«
»Sie nehmen die Sache ernst?«, interpretierte Valerie seine Nachdenklichkeit.
»Nun …«
»Ja?«
Berger rieb sich das Kinn.
»Geyer ist überzeugt, dass mehr dahintersteckt. Und sein kriminalistisches Urteilsvermögen lässt ihn selten im Stich.«
»Also glauben wir ihm doch, diesem Benz?«
»Solange wir keine Hinweise in die andere Richtung haben, ja.«
Womit klar war, dass Valerie nicht nur den Manager, sondern auch Wolf Rock kennenlernen würde, ob sie wollte oder – viel eher – nicht.
»Und wie geht es weiter?«
»Pressekonferenz im Hotel Europa um dreizehn Uhr. In Ihrer Abwesenheit habe ich Kollegen Geyer hingeschickt. Es wird wohl ratsam sein, wenn Sie sich dort selbst ein Bild machen. Ich erwarte regelmäßigen Bericht.«
»Natürlich. Also, Mahlzeit.«
Berger sah sie schief an und hob die Augenbrauen.
»Hier«, sagte er und streckte ihr ein Blatt Papier entgegen, »Ihr Urlaubsantrag. Ich habe mir erlaubt, diesen für Sie auszufüllen. Mehr muss ich dazu nicht sagen, nicht wahr.«
Valerie unterzeichnete das Formular.
»Eine Kopie geht Ihnen zu, prägen Sie sich die nötigen Punkte ein. Ohne vollständigen Antrag kein Urlaub. Ich empfehle, es auch in Ihrem Team so zu halten. Guten Tag, Frau Oberstleutnant.«
Am Gang fragte sie sich, weshalb sie Menschen wie ihrem Chef ständig Informelles zu entlocken versuchte, und sei es nur ein »Mahlzeit« zur Mittagsstunde, wenn doch klar war, dass er sich dafür zuerst einen kilometerlangen Besenstiel aus dem Hintern ziehen müsste. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich ihm unterlegen. Sie prüfte die Uhrzeit. Bevor sie diesem Rocker das Händchen halten würde müssen, ging es sich noch aus, in ihrem Büro vorbeizuschauen.
»Ja grias di, Frau Mauser, hast du dich gut erholt?«, wurde sie von ihrem frisch gebackenen Assistenten begrüßt.
Sie machte ein Gesicht zur Antwort.
»So schlimm?«
»Schlimmer, Schmatz. Was haben wir?«
»Das Übliche und einen echten Heuler. Warte …« Er tauchte in den Aktenberg ein, der sich auf seinem Schreibtisch stapelte.
»Wolf Rock?«, schlug Valerie vor.
Er sah auf.
»Was?« Seine Sommersprossen traten viel deutlicher hervor als sonst, er musste zur Abwechslung mal Sonne abbekommen haben.
»Na, der Heuler. Wolf Rock?«
»Bingo! Aber woher …«
»Ich komme gerade von Berger.«
»Au. Na wenn du den Niki gesehen hättest …« Schmatz überlegte angestrengt. »Warte!«, rief er und fuhr auf seinem Smartphone herum. Niki. War ja klar, dass er Nikolaus Geyer auch schon duzte. Wie er es mit allen tat, ob sie wollten oder nicht. »Hier!« Er gab ihr sein Handy, auf dem ein Video lief. Offenbar geheim aufgenommen. Geyer von hinten, wie er zu Rhythmen von Wolf Rock durch das Großraumbüro tanzte (jedenfalls konnte man es tanzen nennen, wenn man nett sein wollte). Andere klatschten dazu, gaben sich aber nicht der Peinlichkeit preis, die Geyer nichts auszumachen schien. »Glaubst du’s, Frau Mauser? Der steht echt voll auf den Scheiß!«
Valerie dachte an den Spruch mit Katze, Maus und Kirtag. Kaum war sie mal nicht hier, wurde aus der Abteilung Leib und Leben ein Tanzlokal. Klapse, wurde sie von der kleinen bösen Souffleuse auf ihrer rechten Schulter verbessert.
Mit verzogenem Mund, der ihr Grinsen verstecken sollte, gab sie Schmatz das Gerät zurück. Es war gar nicht so einfach gewesen, den jungen Mann aus der EDV-Abteilung loszueisen. Und er hatte sich als der erhoffte Glücksgriff herausgestellt. Jeder im Team war fröhlicher und ungezwungener, seit der Jüngling mit den blonden Wuschelhaaren als Valeries persönlicher Assistent in ihrem Vorzimmer saß. Lebendiger Klebstoff.
»Ob Kollege Geyer will, dass du mir die Aufnahme zeigst?«
Daran hatte er wohl nicht gedacht.
»Oh … aber … das bleibt ja unter uns, oder?«
»Klar, Schmatz. Ist Geyer noch hier?«
»Nein, vermutlich steht er schon Schlange, damit er ganz vorne sitzen darf.«
Und Witz hatte er auch.
»Du hast Wolf Rock für ihn überprüft?«
»Nur, was sich da gerade im Social Media tut. Soll ich’s dir zeigen?«
Valerie sah auf die Uhr am Display des Tischtelefons. Schon zwölf Uhr zweiunddreißig.
»Geht sich nicht aus. Sag’s mir kurz.«
»Auf Facebook und anderen Sites verlinken sich Leute gegen das Konzert. Geht gerade hoch wie eine Rakete. Voll viral.«
Aus Zeitmangel ignorierte sie das letzte Wort, das sich nicht recht in den Kontext einfügen wollte.
»Weißt du, warum?«
»Was mit Religion, ich check’s nicht so ganz. Sein Plakat taucht immer wieder auf, vielleicht schaust du dir das mal genauer an. Mir kommt’s eher harmlos vor.«
»Gut, Schmatz, danke. Noch was?«
»Ja, warte … hier.« Er legte Valerie einen Aktenordner vor. »Der alte Berger hat gemeint, du sollst dir die internen Vorschriften für Urlaubsgenehmigungen genau ansehen und die … warte …«, Schmatz öffnete den Ordner und las mit geschwollenem Akzent vom Post-it vor, »… die Kenntnisnahme gegenzeichnen.«
Wäre auch zu schön gewesen, dachte Valerie. Aber der LKA-Leiter war ein glühender Verehrer der Doppelt-genäht-Theorie.
»Leg’s mir rein. Bis später!«
»Mahlzeit, Frau Mauser.«
»So eilig, Veilchen?«, fragte Stolwerk, nachdem sie zum Auto gelaufen und auf den Fahrersitz gesprungen war. Wie schon beim Frühstück nahm sie einen merkwürdigen Geruch wahr.
»Sag mal, riecht es hier nach Pferd?«
Stolwerk sog die Luft um sich ein und schmatzte, als könnte er Gerüche schmecken. »Wie? Öhm, wieso … nein?«
»Egal, ich muss gleich zum Hotel Europa beim Hauptbahnhof. Pressekonferenz. Kann dich bei der Altstadt absetzen.«
»Was läuft?«
»Wolf Rock.«
Stolwerk zeigte ihr seinen linken Zeigefinger und kramte mit rechts eine Zeitung aus dem Fach der Beifahrertür hervor.
»Na dann schau mal da!«, rief er und hielt ihr die Titelseite vors Gesicht, was ungünstig war, da sie bereits fuhren.
»Hey!« Valerie konnte einen kurzen Blick auf das Blatt werfen, bevor sie Stolwerks Hand wegdrückte und sich auf das Geschehen vorm Auto konzentrierte. Das Foto zeigte Wolf Rock, wie er – geschützt von Regenschirmen – am Flughafen Innsbruck in eine befleckte Limousine stieg, darüber die Schlagzeile: »Chaos in der Stadt«.
»Hab mir das Blatt vorhin geholt«, sagte Stolwerk, »und was sagst jetzt, schon geht’s rein ins Vergnügen.«
»Was schreiben die?«
»Scheint das Thema zu sein … also, hier steht, dass man ihn gestern am Flughafen mit Eiern beworfen hat … Ha!«
»Was?«
»Da ist ein Kommentar auf der Titelseite … hör zu: ‚Der Wolf ist in der Stadt. Für sein großes Finale gibt er sich von der dunkelsten Sorte und überschreitet die letzten Schamgrenzen, tapeziert die Alpenstadt mit Sex, Tod und Teufel. Tirol zeigt mit seiner geballten Heiligkeit, was es davon hält, denn nun hat sich ein Rudel formiert, um dem Wolf seine ganz persönliche Abschiedsmelodie zu heulen. Der Tiroler Sohn, Musikexport Nummer eins, kehrt noch einmal heim ins Vaterland. Am Samstag wird der Bergisel zum Hexenkessel, und er wird brodeln in leuchtend Rot.‘«
»In leuchtend Rot«, rollte Valerie über spitze Lippen, als wollte sie ein Gedicht vortragen, und bog in die Bürgerstraße ein. Es hatte sich erübrigt, Stolwerk anzubieten, es sich inzwischen in ihrer Wohnung nahe dem Goldenen Dachl gemütlich zu machen, denn diese Show hätte er sich niemals entgehen lassen. »Wolf Rock ist Tiroler?«, fragte sie überrascht.
»Ja, hast das nicht gewusst? Da seid’s doch sonst so stolz drauf, auf eure Söhne.«
»Hat mich nie interessiert.«
»Der Kerl oder die Musik?«
Zur Antwort sah sie Stolwerk schief an. Dieser stimmte grinsend und mit wachsender Lautstärke den größten Hit des Musikers an: »Drum komm und tauch mich, tauch mich in Liebe … tauch mich, tauch mich …«
»Aufhören!«, rief sie und schlug die flache Hand auf seinen riesigen Oberschenkel, sodass es brennen musste.
»Aua!« Stolwerk rieb sich die Stelle und gluckste.
»Du stehst wohl auf den Mist?«
»Wirst lachen, vor vielen Jahren war ich schon auf einem seiner Konzerte.«
Valerie lachte nicht.
»Weißt, die Sachen von früher sind echt gut. Aber seit Jahren kommt nichts Neues dazu. Nur Kommerz.«
»Hm«, gab Valerie lustlos von sich und drehte das Radio auf. Ein Reporter sprach, besser gesagt, er schrie, um sich von dem ihn umgebenden Geräuschteppich abzuheben: »… hier am Südtiroler Platz, und es strömen immer neue herbei. Damit zurück zu dir ins Studio.« Eine weibliche Stimme bedankte sich, lachte mädchenhaft (was Radiomoderatorinnen erstaunlich häufig taten, ob es nun passte oder nicht) und fuhr fort: »Ja, wir haben’s gerade gehört, am Bahnhof geht es schon rund, und passend zum Anlass haben wir für euch jetzt … na?« Die ersten Takte eines unverkennbaren Lieds erklangen. »Genau, Rrrrru…«
Valerie würgte das Gerät ab. Stolwerk übernahm und grölte: »Ja-a-heute geht es RRUND! Dam dam, da da da …«
»Sch…luss jetzt! Sonst lass ich dich gleich hier aussteigen!« Kein Lied war so schlimm wie dieses. Schon alleine die Art, wie Wolf Rock die erste Strophe sang: »A-heute lassen wirr uns nicht alleine … a-komm, gib mirr deine Hand, ich geb dirr meine … und auch wenn uns am nächsten Tag derr Schädel brrummt … na und … a-heute geht es RRUND!« – ob man wollte oder nicht, das Zeug brannte sich in jede Gehirnwindung. Zum Davonlaufen. Links ging es weiter in die Maximilianstraße.
»Ist wohl schon einiges los am Südtiroler Platz«, wechselte Stolwerk mit gefasster Stimme das Thema. Die Androhung, ihn am Gehsteig abzusetzen, hatte die gewünschte Wirkung erzielt, war doch körperliche Aktivität die zwingende Folge.
»Gleich sind wir schlauer.«
Eine Minute darauf bogen sie auf den Platz vorm Innsbrucker Hauptbahnhof ein. Am unteren Ende befand sich mit dem Grand Hotel Europa das Fünfsternehaus, in dem die Crème de la Crème abstieg, wenn sie der Tiroler Landeshauptstadt die Ehre gab, und was gekrönten Häuptern recht war, konnte diesem akustischen Luftverschmutzer nur billig sein. Schon von weitem waren heftig geschwenkte Transparente und Schilder zu sehen, die an eine politische Demonstration erinnerten, davor einzelne Polizeiwägen mit Blaulicht. Die Fahrbahn war blockiert.
»Stolwerk, ich spring rein zur Pressekonferenz, kannst du einen Parkplatz suchen und dir diese Leute da ansehen? … bitte?«, fragte sie und schenkte ihrem Beifahrer ein Lächeln.
»Aber natürlich, mein Veilchen.«
Sie stoppte ihr Auto wenige Meter vor dem ersten Einsatzwagen, sprang mit gezückter Dienstmarke raus und drängte sich durch die Menschenmenge, die den Hoteleingang blockierte. Ein Ellenbogen landete in ihren Rippen, unabsichtlich und doch schmerzhaft, etwas streifte ihre Haare, was bei ihrer Haarpracht so oder so unvermeidlich war, jemand schrie ihr ins Ohr, sie wühlte sich weiter. Dabei waren es höchstens zwei Dutzend Personen gemischten Alters, die zusammen eine erstaunliche Lautstärke entwickelten. Gerade skandierten sie im Chor: »Treibt-den-Teufel … raus! Treibt-den-Teufel … raus!« Valerie konnte nur einen kurzen Blick auf die Slogans werfen, die sie auf Bannern schwenkten – im Wesentlichen waren es Synonyme für den Leibhaftigen, verbunden mit der Aufforderung, das Weite zu suchen – ein drolliges »Kein Sex vor der Ehe!« hatte sich dazwischen geschlichen. Am Eingang rempelte sie versehentlich einen Polizisten an, der sich zu ihr drehte und sie zu fassen versuchte. Sie wich zurück und zeigte ihm ihre Marke.
»Mauser, LKA. Ich muss da rein, sofort!«, brüllte sie den jungen Mann an. Ihm stand die Angst im Gesicht. Auf das Geschehen hier war die Stadtpolizei definitiv nicht vorbereitet gewesen, es waren viel zu wenige Polizisten hier, und die wenigen waren noch dazu falsch ausgerüstet.
»Kommen Sie!«, rief er, drängte eine Bahn frei und winkte durch das Glas der Drehtüre, welche von einem Polizisten im Innenraum freigegeben und gleich nach ihrem Eintreten wieder verriegelt wurde. Valerie wurde über eine breite Treppe und einen Gang in den Meinhardsaal geleitet, wo die Konferenz in diesen Minuten beginnen sollte.
Wobei Saal eine zu hoch gegriffene Bezeichnung für den Raum war, in dem sich eine Meute aus Journalisten und Kamerabewaffneten drängte und die Hitze sich staute. Goldgelbe, weiß umrandete Wände, antiquierte Luster, Gemälde, blauer Teppichboden. Vorne hatte man einen langen Tisch aufgebaut, auf dem fünf Mikrofone vor ebenso vielen Stühlen standen, jener in der Mitte mehr Thron als Stuhl, dahinter ein übergroßes Plakat, grell angestrahlt. Es war jenes Sujet, welches sich an jeder Innsbrucker Hausecke fand. Von Wolf Rock und Gefolge war noch nichts zu sehen und so beschloss sie, sich ganz nach vorne zu drängen, um sich dieses Bild mal genauer anzusehen – was sich als ähnlich schwer herausstellte, wie durch die Kundgebung vorm Haus zu kommen, und von ähnlich freundlichen Kommentaren begleitet war. Ansonsten verhielten sich die Anwesenden merkwürdig ruhig, fast andächtig. Valerie lehnte sich an die Wand und musterte den riesigen Stuhl mit knallroter Polsterung und Seitenlehnen, an deren vorderen Enden schwarze Kugeln nach oben standen. Gleich dahinter das Plakat. Was Schmatz vorhin als eher harmlos beschrieben hatte, war ganz und gar nicht ohne: Wolf Rock, der in schwarzem Frack, rotem Hemd und mit schwarzer Rose in der Hand auf einem Berg nackter Menschen stand. Dabei grinste er, den Kopf zur Seite geneigt und die Arme seitlich von sich gestreckt – unnötig auszuführen, auf welches Glaubenssymbol das anspielen sollte. Im Hintergrund fiel ein brennendes Kreuz kopfüber vom Himmel, einem Kometen gleich, und es regnete pechschwarze, am Rand glimmende Rosenblätter. EINSCHLAG stand in großen Lettern darunter, gefolgt von IN INNSBRUCK. Es sah aus, als hätte man einem Grafiker den Auftrag gegeben, alle Tabus zu brechen, als wäre die Devise gewesen: »Hey, schauen wir mal, ob wir es in diesem Heiligen Land Tirol auf die Spitze treiben können!« Dabei war das Bild nicht speziell auf das Alpenland ausgerichtet worden, denn soweit Valerie sich erinnern konnte, zierte es auch das letzte Album des Künstlers, welches »Einschlag« hieß und neben zum x-ten Mal aufgewärmten alten Hits auch einige Coverversionen bewährter Gassenhauer enthielt. Und dass es sich im gesamten deutschsprachigen Raum verkaufte wie die warmen Semmeln, tönte aus allen Medien. Was Wolf Rock anfasste, wurde zu Geld. Nirgendwo hatte sich jemand daran gerieben, ausgerechnet zum Finale in Tirol musste es jetzt passieren.
Doch so provokant sein öffentlicher Auftritt sein mochte, man lebte in einer Zeit, in der Sexspielzeug und Hausfrauenpornos in Buchform salonfähig waren und Erotik im Marketing nicht mehr wegzudenken war. Die Kirche war zu einer Randerscheinung der Gesellschaft geworden. Für Blasphemie und Ketzerei kam heute niemand mehr auf den Scheiterhaufen. Nicht mal in Tirol.
Und doch schreien sie draußen.
Es war bereits einige Minuten nach dreizehn Uhr, von Star und Gefolge noch nichts zu sehen. Valerie ließ ihren Blick über die Wartenden streifen und blieb in der ersten Reihe hängen, bei ihrem Stellvertreter Nikolaus Geyer, der starr geradeaus sah, als wollte er den Blickkontakt vermeiden. Allmählich wurde es stickig und heiß, was sich der Pressefotograf, der eben ein Fenster öffnete, wohl auch gedacht haben mochte.
Plötzlich brach Hektik aus. Mehrere Personen betraten eilig den Raum. Zuerst ein lebendiger Schrank, der die Dampflok machte, die einen Korridor freischob, direkt auf Valerie zu. Sie stellte aus. Zu ihrem großen Erstaunen folgte Sandro Weiler, ihr unterer Nachbar, den sie schon öfter Gitarre spielen und singen gehört, aber noch nie wirklich kennengelernt hatte. Dann zwei Männer, die sie nicht kannte, und schließlich war es so weit: Unter tosendem Klicken von Kameraverschlüssen und stroboskopartigem Blitzen betrat Wolf Rock den Raum, als wäre er gerade dem Tourplakat entstiegen, knochig, in schwarzem Frack mit hohem Kragen, rotem Hemd, roten Handschuhen, dunklen Lippen in einem blass gepuderten Gesicht, Lidschatten, darüber der Zylinder, darunter seine pechschwarzen, zurückgegelten Haare. Sie hatte ihn sich größer vorgestellt. Ein weiterer Securitymann begleitete ihn Schritt auf Schritt, bis er seine Position in der Mitte des Tisches erreicht hatte. Herablassend sah er durch die Runde, fuchtelte dreimal mit der Rose, als wollte er dem Raum damit die nötigen Weihen verpassen, ging – besser gesagt: tänzelte etwas unbeholfen um den Stuhl (eine glatte Acht auf der zehnteiligen Peinlichkeitsskala), drehte sich einmal um die Achse und ließ sich von einem der Herren den Thron unter den Hintern schieben, bevor dieser in Richtung des Fensters herrschte: »Sofort schließen!«, was widerstandslos passierte. Wolf Rock hob seine schaurige Blume an die Nase, holte tief Luft, grinste, drapierte sie quer vor sich auf den Tisch und atmete für alle hörbar aus. Dann legte er eine Hand über die andere und schloss sie zur Faust, womit das Leder zwischen seinen Fingern knarzte. Schließlich lehnte er sich zurück und gab seine Hände auf die schwarzen Kugeln an den Sitzlehnen.
Niemand wagte mehr, den Auslöser seiner Kamera zu bedienen. Eine Stille, man hätte glatt einen Rosenkranz fallen hören können.
Alle Augen waren auf den Star gerichtet, auch Valeries, und so bemerkte sie den Tiroler Landeshauptmann Hubertus Freudenschuss erst Sekunden später. Er hatte als Letzter Platz genommen und starrte sie direkt an – keine zwei Meter entfernt –, und dann musste er ihr auch noch winken! Alles andere als dezent. Seit dem Winter hofierte er Valerie, dabei hatte sie ihm mehrmals zu verstehen gegeben, dass ihr Interesse ganz und gar seinen korrupten Machenschaften und kriminellen Verstrickungen und nicht ihm persönlich galt, was diesen nur noch zusätzlich angespornt hatte. Mal für Mal setzte sie eins drauf, wurde in ihren Aussagen immer deutlicher, doch dieser Kerl schluckte alles und verstand es auch noch als Einladung. Sein Auftritt im Lodenanzug mit Jägerhut war fast so peinlich wie der des Rockers (sechs von zehn, hätte Valerie geschätzt), und doch hätte der Kontrast zwischen bodenständig-gottesfürchtigem Tiroler und Wolf Rocks Aufzug nicht größer sein können.
Der hoch und breit gewachsene Glatzkopf mit Anzug und Sonnenbrille (diese war eine glatte Zehn) baute sich zwischen Valerie und dem Tisch auf, womit er ihr die Sicht verstellte, andererseits nicht ungelegen kam, denn nun konnte sie sich aussuchen, wen sie sehen (und von wem sie gesehen werden) wollte. Sie beschloss, links an dem mutmaßlichen Personenschützer vorbeizuschauen, um Wolf Rock zwischen den beiden unbekannten Herren sowie Sandro Weiler am Rand im Blick zu behalten – und Hubertus Freudenschuss diesen Riegel in Menschengestalt vorzuschieben.
»Meine hochverehrten Damen und Herren, Wolf Rock ist in der Stadt. EINSCHLAG!«, rief jener Mann, der seinem Meister eben noch den Stuhl untergeschoben hatte, in bayerischer Färbung. Vermutlich sollte hier Applaus kommen. Kam aber nicht. Dem Namensschild nach handelte es sich um »Gustav Benz, Manager«. Teurer Anzug, kein Schlips, das Gesicht glatt rasiert, das Haupthaar millimeterkurz. Der Verurteilte, erinnerte sich Valerie an das Gespräch mit Berger, der Mann, der vor zwei Jahren eine Drohung gegen Wolf Rock inszeniert hatte, um die Plattenverkäufe zu steigern. Sichtlich irritiert von der fehlenden Resonanz nahm er ein Blatt zur Hand und fuhr fort: »Erleben Sie mit uns das große Finale des Superstars, live in Concert, live in TV, Live-Album und Live-DVD-Produktion in seiner Heimatstadt Innsbruck – ein Event, das seinesgleichen sucht, mitten im Herz der Alpen am historischen Bergisel.« Er sah auf und blickte zur Seite. »Mit besonderer Freude begrüße ich die Anwesenden, allen voran den Tiroler Landeshauptmann Hubertus Freudenschuss …«
Valerie linste verstohlen um die andere Seite des menschlichen Bollwerks vor ihr herum. Mit einem Satz stand der Politiker kerzengerade und verneigte sich, wodurch den Anwesenden nichts anderes übrig blieb, als zu applaudieren und ihn ebenfalls abzulichten (der Besuch hunderter Zeltfeste lehrte eben, wie man sich in den Mittelpunkt rückte). Dann entriss er dem Manager nicht nur das Wort, sondern gleich noch dessen Mikrofon.
»Vielen Dank, lieber Herr Benz, ja, danke auch für die großartigen Worte, ist es nicht eine Freude, Herrn äh … Wolf! … bei uns zu haben, einen Sohn unserer schönen Heimat, berühmt im ganzen deutschsprachigen Raum, ach in ganz Europa, nein, was rede ich, in der ganzen Welt! Da kann ich nur den Hut ziehen!« Mit einer dezenten Verneigung wandte er sich dem Musiker zu und lüftete seine wallende Frisur. Der Rocker hob die rechte Hand von der Kugel, fuchtelte sie segensgleich in Freudenschuss’ Richtung und zog sie wieder ein. Valerie glaubte, nicht recht zu sehen. Der Landeshauptmann fuhr fort: »Ja, und hier in Innsbruck, in der heimatlichsten aller Weltstädte, haben wir keine Kosten und Mühen gescheut, diesem Konzertereignis des Jahres auch den würdigsten aller Rahmen zu verleihen. Wo, wenn nicht am Bergisel, dem historischsten aller Berge …« Er überlegte kurz und fuhr fort: »Äh, also Hügel, his-to-risch, wo wenn nicht dort sollten Sie Ihr Geschäft … nicht wahr, Herr Wolf?« Das unwürdige Hutzieh-Segensspiel ging in die zweite Runde, wobei Freudenschuss diesmal fast die Balance verloren hätte, als er sich zur Verneigung nach vorne beugte. »Wenn nicht dort, wo sonst sollte Herrn Wolfs Karriere an ihrem Höhepunkt zu Ende gehen, gell? Man soll ja aufhören, wenn es am schönsten ist, heißt es, nicht wahr. Und was wäre ein Stern wie der Herr Wolf ohne den Himmel, an dem er aufgehängt … äh, ja, von dem er wahrhaftig herunterstrahlen kann. Also, mit Fug und Recht darf ich behaupten, den großartigsten Platz für dieses einzigartigste Konzert gefunden zu haben.«
Einer der Herren am Podium räusperte sich lautstark, der Landeshauptmann wandte sich ihm zu.
»Jaja, da hat der Klee Mike schon eine super Idee gehabt, das kann er sich schon auf die eigene Fahne schreiben, gell! Haha! Lieber Mike, danke für deinen ausgesprochen tollen Einsatz! Bravo!« Er drehte sich wieder zum Publikum. »Wissen Sie, der Bergisel, da steht nicht nur die Skisprungschanze drauf, von der Hadid Zaha, nein, da haben auch ganz andere Sachen stattgefunden …«
Lallte er? Gustav Benz versuchte, mit einem »Ja, äh …« ans Wort zu kommen. Der Griff in Richtung seines Mikrofons ging ins Leere, weil Freudenschuss sich rechtzeitig weggedreht hatte.
»Nein, nein, Herr Benz, lieber Gustl, das ist jetzt ganz wichtig, nicht wahr, also das muss einfach gesagt werden. Die Menschen in Deutschland wissen das ja nicht, schauen Sie her, RTL, Pro sieben, Enn Tee Vau … alles deutsche Nachrichtensender, die sitzen hier, denen muss man das erklären, nicht wahr, unser Rundfunk weiß das, aber man kann das nicht oft genug wiederholen, nicht wahr, haha. Also sehen Sie, der Bergisel, da hat unser Andreas Hofer den verfluchten Napoleon und die Bayern vertrieben, da haben Sagengestalten gegeneinander gekämpft, der Haymon gegen den Thyrsus nämlich, und da haben zweimal die Olympischen Spiele stattgefunden, die O-lym-pi-schen Spiele, nicht wahr, vierundsechzig und sechsundsiebzig, und der Hayböck ist letztes Mal achthundertdreißig … hundertachtunddreißig Meter geflogen, der Sauhund! Da kann der Hannawald scheißen gehen mit seinem Schanden… Schanzenrekord! Also wo sonst soll der Wolf dann hinkommen als auf unseren Berg… Hügel… ISEL?«
»Ja, danke, vielen Dank, Herr Landeshauptmann«, fiel ihm der Manager nun mit aller Bestimmtheit ins Wort, wofür er sich kurzerhand Wolf Rocks Mikrofon ausgeliehen hatte. Aber Freudenschuss war ohnehin fertig, hatte sich bereits hingesetzt, hob den Hut und tupfte sich das Gesicht mit einem rotweiß karierten Stofftaschentuch ab. Kein Zweifel: Er war angetrunken – und trinken konnte er viel, bevor man es ihm anmerkte, wie Valerie bereits erfahren hatte müssen.
Gustav Benz fuhr fort: »Nun, die Einzelheiten wird Ihnen Mike Klee präsentieren, Geschäftsführer am Bergisel. Bitte.«
Der untersetzte Mann mit schlampig über die Glatze gelenktem Resthaar und ähnlich übler Kleidung nickte, blieb für seine Ausführungen sitzen und sprach leise: »Liebe Anwesende, wir freuen uns außerordentlich über dieses Konzerthighlight, zuerst ein Dankeschön an Herrn Freudenschuss für die großzügigen Fördermittel und die notwendigen unbürokratischen Genehmigungen. Wir freuen uns auf dreißigtausend Besucher!« Ein Zuhörer pfiff, andere bliesen die Luft aus. Gemurmel, mehrmals flüsterte man sich die Zahl dreißigtausend zu. Der Landeshauptmann antwortete mit einer gönnerhaften Handbewegung.
»Gut, zum Konzertprogramm. Kommenden Samstag, neunzehn Uhr dreißig, wird Herr Sandro Weller hier das Vorkonzert spielen.«
Sandro beugte sich vor.
» Weiler, mit i, hallo … also, ich freu mich schon …«, stammelte Valeries Nachbar. Sie mochte die ruhigen Gitarrenlieder, die gelegentlich aus seinem Atelier oder vom Balkon zu ihr nach oben drangen.