Verachtung nach unten - Alexander Wendt - E-Book

Verachtung nach unten E-Book

Alexander Wendt

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Beschreibung

Von den USA bis Europa breitet sich eine Bewegung der Erwachten aus, die den Westen anklagt, Menschen nach Hautfarbe und Geschlecht in ­Identitätsgruppen einteilt und Bürgerrechte unter den Vorbehalt einer höheren Gerechtigkeit stellt. Diese neue Macht, die unter Namen wie woke, Identitätspolitik oder »Kritische Rassentheorie« auftritt, behauptet von sich selbst, progressiv zu sein. Sie benutzt Begriffe der alten Linken. Sie versprechen eine friedlichere, gleichere Gesellschaft. Das, was sie tatsächlich anstreben, ähnelt eher einem modernen Feudalismus, geführt von einer unangreifbaren Priesterkaste, die vor allem die sogenannten Normalbürger verachtet. Alexander Wendt seziert dieses Phänomen, legt seine Wurzeln bloß und nimmt sein toxisches Ideengebäude auseinander. Er beantwortet auch die Frage, wie sie in so kurzer Zeit politischen Einfluss gewinnen konnte. Ihr Triumphzug ist keine ausgemachte Sache. Die Bürgergesellschaft besitzt alle Mittel, diese Bedrohung zu stoppen. »Verachtung nach unten« bietet neben der Analyse auch Vorschläge, wie sich der Kulturkrieg beenden lässt. »Alexander Wendt ist die Noblesse des gegenwärtigen ­Journalismus. Gründlich, genau, unbestechlich, immer ­mitschwingend ein menschenfreundlicher Humor – Wendt ist ein Aufklärer auf der Gegenposition zur Ideologie.« Uwe Tellkamp »Alexander Wendt: Verachtung nach unten – ein ­großartiges Buch über die neue moralische Priesterkaste, die in einer ­Pseudomorphose linker Symbolik alles zu zerstören droht, was wir dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt und der ­bürgerlichen Emanzipation verdanken.« Norbert Bolz

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Seitenzahl: 483

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Für J.

»Verstehen heißt immer verstehen, was auf dem Spiel steht.« Hannah Arendt

Alexander Wendt

Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können

Bibliografische Information

der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2. Auflage

ISBN 978-3-95768-259-8

eISBN 978-3-95768-264-2

©2024Lau-Verlag & Handel KG, Reinbek

www.lau-verlag.de

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung

und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagentwurf: pl, Lau-Verlag, Reinbek

Satz und Layout: pl, Lau-Verlag, Reinbek

Inhalt

Inhalt

Der große Fortschritt zurück

EINS Friede dem Zentrum, Krieg der Peripherie

ZWEI Das neue Kapital

DREI Techniken der Verachtung

VIER Ankläger

FÜNF Neue Stämme

SECHS Plattformen

SIEBEN Bürger

ACHT Provisorischer Frieden – ein Entwurf

Der große Fortschritt zurück

»Es gibt einen Krieg zwischen denen, die sagen, es gibt Krieg/und denen, die sagen, es gibt ihn nicht.« Leonard Cohen

Tief ist der Schacht, in dem die linken Ideen liegen. Die Ideen der historischen Linken wohlgemerkt, die vor langer Zeit immerhin mit der Absicht angetreten war, bessere Verhältnisse für alle zu schaffen. Fast immer scheiterte sie mit dieser Absicht. Oft verschlechterte sie das Leben derjenigen, deren Befreiung sie zu ihrem Ziel erklärt hatte.

Diejenigen, die heute in der Hülle der Linken operieren, teilen mit dieser antiken Linken nur noch Symbole und Gesten, aber längst nicht mehr die Ziele.

Die alten linken Ideen lagern an einem bekannten, aber nicht mehr zugänglichen Ort. Für das Überzeugungssystem, das sich heute als fortschrittlich ausgibt, bedeutet diese Endlagerung der alten emanzipatorischen Ideen nicht nur einen Vorteil, sondern geradezu die Existenzgarantie. Denn die bloße Symbolik der alten Fortschrittsbewegung genügt heute, um den Kritikreflex des politischen, akademischen und medialen Milieus links der Mitte weitgehend abzuschalten, selbst dann, wenn es sich um eine Bewegung handelt, die ihre Ziele nur notdürftig mit einem progressiven Firnis überzieht, in Wirklichkeit aber darauf zielt, die Gesellschaft weit zurückzuwerfen, hinter die Aufklärung, hinter die bürgerliche Emanzipation, in ein neues dunkles Zeitalter des Tribalismus und damit notwendigerweise in eine Ära des permanenten Unfriedens.

Für die klassische Linke, wie sie im vorvorigen Jahrhundert in Europa und nur dort entstand, bildete die Kritik an den ökonomischen Verhältnissen den Kern der Gesellschaft. Sie formierte sich in der Absicht, ungerechte Verhältnisse zu überwinden, und nicht, um sie zu bewirtschaften. Die ursprüngliche linke Bewegung besaß viele Schwächen und ausgedehnte blinde Flecken. Sie konnte mit Liberalität wenig bis nichts anfangen, sie überschätzte die Ökonomie als eigentliche Gesellschaftsgrundlage. Kultur samt Religion galt ihr nur als Überbau. Aber der Marxismus, der reformerische Teil der Arbeiterbewegung, auch verwandte Modelle wie die heute vergessene Staatswirtschaftsutopie Fichtes versprachen, die Menschen aus ihren Fesseln zu lösen. Ihr Stand sollte nach der gelungenen Befreiung keine Rolle mehr spielen. Nicht ihre Hautfarbe, nicht ihr Geschlecht oder die Tatsache, dass es sich bei den Befreiten um Europäer handelte. Gesellschaftsmitglied, das reichte ihnen als Identität.

Die klassische linke Ideologie plädierte gerade dafür, dass nicht der Einzelne eine Schuld an schlechten Zuständen tragen sollte, sondern dass ökonomischer Druck sie verursacht, wie es bei Bertolt Brecht heißt: Wir wären lieber gut anstatt so roh/doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Deshalb sollten bekanntlich alle Verhältnisse umgeworfen werden, die aus Menschen verächtliche Wesen machten.

Marx und Engels glaubten, schon im Kapitalismus sei alles Stehende und Ständische verdampft. Das stimmte nie. Über die Beständigkeit kleiner Formen selbst unter großen Veränderungswellen gibt Lampedusas »Gattopardo« besser Auskunft als viele Bände großer Gesellschaftstheoretiker. Aber dass Theoretiker und Praktiker, die sich heute die alten linken Symbole borgen, nach einer neuen stehenden und ständischen Gesellschaft streben, dass sie es für Fortschritt halten, wenn sich eine Gesellschaft wieder nach Eigenschaften wie Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft gliedert und dass sie eine unabänderliche Verächtlichkeit bestimmter Menschengruppen als neue Doktrin verkünden – diese Entwicklung hätte die Klassiker der alten Linken mindestens verblüfft. Es wäre für sie auch eine Lektion darüber gewesen, was sich mit ihren Begriffen anstellen lässt.

Wo das Bewusstsein das Sein regieren will, spielt kulturelles Kapital eine wichtigere Rolle als das Materielle. Die neue Priesterkaste stützt ihre Macht darauf, dass sie kulturelles Kapital schöpft, verteilt und auch wieder entziehen kann. Statt wie die alte Linke Produktionsmittel zu beherrschen – ein mühsames Geschäft –, möchten die neuen Priester die Sinnproduktion kontrollieren.

Wer unter einem progressiven Vorzeichen zur alten Stammes- und Standesgesellschaft zurückwill, der muss auslöschen, was im Zentrum der alten Linken und der Sozialreformer stand: die soziale Frage.

Wer von Gruppenidentität spricht, muss sich sozial blind stellen. Wer Menschen vor allem als Träger einer Hautfarbe und einer Herkunft sehen will, darf sich nicht für ihr Einkommen interessieren. Denn nur dann fügt sich der zum Mindestlohn bezahlte Kraftfahrer als Träger des weißen Privilegs in das Gesellschaftsbild ein, während die Staatssekretärin, deren Eltern als arabische Einwanderer kamen, lebenslänglich zu den Marginalisierten und potenziell Diskriminierten zählt, unabhängig von Status und Gehalt. Diejenigen, die so argumentieren, kehren die linke Klassik um. Der angemessene Begriff für sie lautet: verkehrte Linke, regressive Progressive, Kräfte, deren Zukunftsentwurf sich die Vergangenheit zum Vorbild nimmt. Soziale Blindheit ist die erste Forderung, die verkehrte Linke an sich selbst stellen müssen. Dieses Buch handelt von den Kräften, die in ihrem Moraldünkel Schwächere von oben belehren und an den Rand der Gesellschaft drängen, und das in sozialer und in kultureller Hinsicht. Wer nicht zur Kaste der neuen Hohepriester gehört, soll keine legitimen Interessen mehr vertreten dürfen. Sondern sich schuldig fühlen und schweigen.

Neue Gesellschaft, das bedeutet nicht, dass alles umgestürzt würde. In dem moralischen Kapitalismus steckt selbstverständlich noch der alte, so wie die kleinere Matrjoschka-Puppe in der größeren. Dieses Buch versucht deshalb, auch eine politische Ökonomie dieser im Entstehen begriffenen neuen Verhältnisse zu entwerfen.

Die neue moralische Klasse, die sich links ausstaffiert, arbeitet in den westlichen Ländern gerade daran, die Früchte der Aufklärung zu vernichten – und das unter dem Banner des Fortschritts. Wer die bürgerliche Emanzipation verteidigt, egal aus welcher Perspektive, handelt nach ihrer Logik als Reaktionär. Die aufsteigende moralische Kaste praktiziert nicht nur die einfache, sondern gleich die mehrfache Verdrehung von linken und überhaupt von modernen politischen Begriffen. Für dieses Phänomen gibt es in der Ideologiegeschichte kein Vorbild: Den Weg zurück in die Vormoderne erklärt eine einflussreiche Allianz von Theoretikern, Politikern, Anführern von Institutionen und Medienvertretern heute nicht nur als fortschrittlich, sondern sogar für den Fortschritt schlechthin, für seine einzige legitime Form.

Verachtung nach unten handelt von dem Versuch, die Bürgergesellschaft durch eine neue, von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Religion definierte Gesellschaft der Stämme zu ersetzen, Parlamente durch Ständeversammlungen, den westlichen Individualismus durch das Denken im Kollektiv, die Meritokratie durch die Zuteilung von Ressourcen nach Quoten, das Aushandeln von Begriffen mit Rede und Gegenrede durch eine unkritisierbare Orthodoxie und den westlichen Rationalismus durch einen Okkultismus.

Dieses Buch beschreibt, was die Gesellschaft verlieren würde, wenn sich die neue Kaste tatsächlich als unangefochtene Macht etablieren sollte. Ihr Glaubenssystem enthält nichts Menschenfreundliches, nichts Befreiendes, nichts, was eine Gesellschaft befrieden könnte. Es macht die Gesellschaft hysterischer, paranoider, instabiler, ärmer und primitiver. Es verbessert außerhalb der Priesterkaste selbst nirgendwo die Lebensbedingungen.

Die dauernde Anklage bildet den Modus dieser Kaste, die ihrerseits nirgends erkennen lässt, welche Kritik, welche Gegenentwürfe sie denn noch zuließe, wenn sie einmal vollständig herrschen würde.

Alles, was den Westen wertvoll macht, steht auf dem Spiel: die Idee des Bürgers, die Rationalität, das Prinzip von Rede und Gegenrede, die offene Entwicklung.

Die Alternative dazu wäre eine Gesellschaft, die in eine Finsternis fortschreitet.

EINSFriede dem Zentrum, Krieg der Peripherie

»Die Vorstellung des permanenten Wandels macht das Leben unmöglich.« Michel Houellebecq

Dieses Buch soll unter anderem davon handeln, wie Abstraktion das Konkrete verdrängt. Die Debatte über den Zustand der Gesellschaft lässt sich nur durch Anschauung beginnen. Eine Gesellschaft besteht nicht aus Begriffen, sondern aus Personen, Orten, Landschaften. Wer Territorien durchstreift und mit ihren Bewohnern spricht, dem bleiben Konflikte nicht lange verborgen. Es gibt dabei nur eine wesentliche Bedingung: Es sollte sich um möglichst unterschiedliche Gebiete und Menschen handeln. Klassen und Schichten existieren auch in der Gegenwart, also der Epoche nach dem klassischen Industriezeitalter. Auch in Westeuropa, der Weltgegend, die mehr Aufwand betreibt als alle anderen, um Ungleichheit zu mildern, manchmal auch nur, um sie zu verdecken. Das soziale Oben und Unten stellt sich heute etwas anders dar als im neunzehnten Jahrhundert oder in der Mitte des zwanzigsten. Geld oder vielmehr Geld allein bestimmt heute weniger über den Platz des Einzelnen als noch vor zwei oder drei Generationen. Trotzdem herrscht nicht mehr Gleichheit als damals. Beginnen wir deshalb mit einer Wanderung durch eine imaginäre westeuropäische Stadt, zusammengesetzt aus mehreren real existierenden Gegenden. Fangen wir ganz außen an, räumlich und was den Status der Bewohner betrifft, nämlich in einer Hüttensiedlung vor Lissabon, in der Einwanderer aus Afrika ankommen, um von dort so schnell wie möglich in die Metropolen weiterzuwandern, wo fast alle auf das Gleiche hoffen: eine berechenbare Umgebung für sich und ihre Familien, kurzum: Stabilität.

Von dort durchqueren wir in Berlin eine Übergangszone zwischen unsicheren und schon halbwegs stabilen Verhältnissen, bevor wir ins Zentrum des progressiven Denkens vordringen, genauer: in eins von vielen Zentren, in die Berliner Eigentumswohnung eines mittelalten Aktivisten, der verspricht, die industrielle Zivilisation des Westens niederzureißen, und für dieses Vorhaben eine symbolische Anleihe bei der Roten Armee Fraktion aufnimmt. Von dort aus geht es ins deutsche Hillbillygebiet am Rand von Leipzig zu einem Facharbeiter, dessen Leben sich aus Sicht des progressiven Zentrums am besten in einer Anklageschrift zusammenfassen lässt: Erwerbsarbeit in der fossilen Industrie, Eigenheim, Familie, zwei Autos, reaktionäre Ansichten. Ein Grill im Garten kommt verschärfend dazu.

Die Migranten im Hüttendorf am Atlantik und der traditionelle ostdeutsche Facharbeiter ähneln einander in einem Punkt. Sie wünschen für sich eine Umgebung, in der sie halbwegs würdig leben können, und die sich bestenfalls langsam ändert. Hier verläuft die wichtigste Trennlinie innerhalb der modernen westlichen Gesellschaften: Sucht jemand vor allem Stabilität? Oder verlangt er den großen Auf- und Umbruch, die schnelle Transformation in eine Zukunft, die sich so radikal wie möglich von der Gegenwart unterscheiden soll?

Der zweite tiefe Unterschied liegt in dem, wofür es in der identitätspolitischen Debatte das Wort Sichtbarkeit gibt. Die Neuankömmlinge in ihrer Behelfssiedlung, der Facharbeiter mit Auto und Haus, der als Typus verschwinden soll – keiner von ihnen spielt in der gesellschaftlichen Debatte eine große Rolle. Keiner besitzt die Macht, bestimmte Begriffe zu prägen und andere aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Auch das trennt die Diskursmeister im Zentrum von den Gestalten am Rand.

Sichtbar werden sie, wenn beispielsweise der Autor dieses Buchs sich auf den Weg macht, um ihnen Fragen zu stellen. Willkommen zur Grand Tour von der Peripherie ins Zentrum.

Von der Station Belem in Lissabon dauert die Überfahrt nach Trafaria eine Viertelstunde. Ein Trampelpfad führt vom Landungssteg auf der anderen Seite des Tejo an dem Silokomplex des Hafens vorbei. Wer sich an diesen erdigen Weg hält, der über eine Grasfläche mit kleinen Haufen von Schutt und Müll führt, verlässt Europa nach ungefähr zehn Minuten. Jedenfalls das Europa der befestigen Straßen, der von Bauarbeitern errichteten Häuser und unterirdisch verlegten Stromkabel. Die Siedlung in der Cova de Vapor, der Dampfbucht, beginnt unmittelbar hinter der wilden Grasfläche und den Einfamilienhäusern von Trafaria. Die Dampfbucht bildet ein kleines Sondergebiet, das niemand zu sehen bekommt, der von der Fähre aus die Hauptstraße nimmt, um zur Costa da Caparica zu fahren, dem langen Strand der Stadtbewohner und Touristen.

Das Baujahr der Häuser in der Dampfbuchtzone lässt sich schwer schätzen. Sie können vor zehn Jahren entstanden sein oder vor einer Woche. Meist bestehen sie aus roten Hohlziegeln, ungleichmäßig verputzt oder gar nicht, manche sind mit Blechplatten gedeckt. Es gibt bessere, die wie stark vereinfachte Versionen der normalen Häuser in Trafaria wirken, und sehr schmale Schuppen mit winzigen unverglasten Öffnungen in der Mauer, die vielleicht nur als Lager für irgendetwas dienen, vielleicht aber auch als Behausung oder beides.

Zwischen Stangen an den Wegen hängen Elektroleitungen, ganze Bündel, die an irgendeiner Stelle von der regulären Stromversorgung abzweigen.

Etwa sechshundert dieser Hütten stehen auf der kleinen Fläche, manche mit Meerblick. Die etwa dreitausend Bewohner stammen fast alle aus Afrika. Cova de Vapor ist eine Ankunftsstadt, eine von weltweit vielen Arrival Cities, um den Begriff zu benutzen, den der kanadische Autor Doug Saunders mit seinem Buch über die weltweiten Wanderungsströme prägte. Eigentlich handelt es sich um ein Ankunftsdorf. Es gibt fast nur Provisorien. Diejenigen, die vorübergehend hier einziehen, möchten schnellstmöglich auf die andere Seite des Tejo, in die Stadt oder in andere Städte anderer europäischer Länder. Wer in der Siedlung lebt, befindet sich, was die Schwierigkeiten der Route angeht, ungefähr auf halbem Weg zwischen seinem Herkunftsland und einem Apartment in Lissabon.

Die meisten Bewohner der Dampfbucht stammen aus Kap Verde und anderen ehemaligen Kolonien Portugals. Der Inselstaat gehört zu den stabilsten afrikanischen Staaten; Einkommen und Lebenserwartung liegen an der Spitze unter den Ländern des Kontinents. Allerdings bietet das Land Stabilität unter bescheidenen Verhältnissen. Wer in die Wohlstandszone nach westlichen Maßstäben ausbrechen will, findet dort nur sehr wenige Möglichkeiten. Nach Europa kommen gerade nicht die Ärmsten der Armen, wie es immer wieder heißt, sondern eher Menschen aus der Mittelschicht, die das nötige Geld für den Weg überhaupt aufbringen können. Für diejenigen, die weggehen, kommen wiederum Migranten aus dem ärmeren Nigeria auf die Kapverdischen Inseln. Die meisten Bewohner der Dampfbucht arbeiten entweder drüben in der Stadt oder in der kleinen dörflichen Wirtschaft der Siedlung.

Jorge Esteves stammt aus Luanda, der angolanischen Hauptstadt. Wie fast alle Dampfbuchtbewohner will er schleunigst weiterkommen. In seinem Fall heißt die nächste Station, die er sich vornimmt, Frankreich. Nach seiner Ankunft vor Lissabon bewarb er sich als Koch. Als das nicht klappte, arbeitete er als Küchenhelfer und später auf dem Bau. Mit dem Einkommen schaffte er es vorübergehend aus der Dampfbuchthütte. Er mietete ein kleines Apartment, zwar nicht drüben in Lissabon, aber in der regulären Siedlung an der Costa da Caparica. Das veränderte allerdings seine Rechnung. Die Miete, 580 Euro im Monat, fraß einen großen Teil seines Bauhelfergehalts wieder auf.

Als er seine Anstellung verlor, ging er zurück in die Siedlung. »Die Nachbarn«, sagt er, »haben mich wieder aufgenommen.« Streitereien und Abneigung zwischen Festlandafrikanern wie ihm und Kreolen aus Kap Verde, erzählt Jorge, gebe es nicht. »Seit ich hier hingekommen bin, habe ich nie ein Problem wahrgenommen.« Auch die Beziehung zu den Weißen in der Nachbarschaft von Trafaria sei friedlich. Um die Regulierung von Streitigkeiten kümmert sich der Präsident der Siedlung, Paulo Silva, genannt faisca, ein Weißer. Faisca kann im Portugiesischen Blitz bedeuten, Aufblitzen, Funkeln, auch Goldkörnchen, die im ausgewaschenen Flusssand übrig bleiben.

Jorge geht zwei Beschäftigungen nach, einer, die ihn weiter seinem faisca näherbringen soll, und eine, mit der er seinen Lebensunterhalt verdient. Mit vier Freunden gründete er die Musikgruppe »2825-Segundo Gueto«, also »zweites Ghetto«, kombiniert mit der Postleitzahl des Ortes. Am liebsten würde er eine Tanz- und Theaterschule gründen. Um Geld zu verdienen, geht er jeden Tag zum Muschelfischen an den Tejo. »Du kannst davon leben«, sagt er. »Es gibt Tage, an denen du nichts im Netz hast. Aber das ist nun mal beim Fischen so.«

Im Schnitt verdient er damit die Hälfte des portugiesischen Mindestlohns, der bei 650 Euro liegt. Sein Motto für die Lebensplanung ähnelt dem Plan der anderen Dampfbuchtbewohner. »Ich nehme, was ich kriegen kann.« Er weiß, dass die Siedler dort zwar im Außenbereich der Gesellschaft leben, aber noch nicht ganz unten. Es gibt auch Goldkörnchensucher, die sich aus verschiedensten Gründen noch nicht einmal in einer Hütte der Cova do Vapor halten können.

Drüben am Stadtufer vor einem gelben zweistöckigen Haus in der Nähe des Bahnhofs Cais do Sodre stehen jeden Tag Obdachlose, die versuchen, hier in der Sozialstation einen Schlafplatz und eine Gelegenheit zum Duschen zu bekommen. Fast alle sind dunkelhäutig. Die Hoffnung, in eine bessere Zone springen zu können, die Angst, noch tiefer zu fallen – das eine wie das andere liefert die Lebensenergie für die Dampfbucht.

Von diesen Ankunftszonen fließt ein Strom von immer neuen Dienstleistern in die eigentliche Gesellschaft, Küchenhilfen, Reinigungskräfte und Händler von illegalen Substanzen für Stadtbewohner, Erntehelfer für Tomatenplantagen, Lotsen, die Autofahrer auf Parkplätze winken und in Supermärkten die Einkäufe in Tüten verstauen.

Die Bewohner der wohlhabenden Zonen nehmen die einzelnen Dienstleister wahr, vielleicht auch noch hier und da den größeren Strom, mit dem sie kommen, aber fast nie die Ankunfts- und Durchgangszonen. Für die Dampfbucht gab es in den vergangenen Jahren eine Ausnahme, die das Gebiet in der Peripherie direkt, wenn auch nur sehr vorübergehend, mit dem Zentrum der Gesellschaft verband. Im Jahr 2012 wurde Guimarães Europäische Kulturhauptstadt, sehr viel öffentliches Geld wartete darauf, für Projekte ausgegeben zu werden. Eins dieser Projekte wurde das Casa do Vapor, errichtet von einer Architektengruppe, eine Holzkonstruktion mit einer Gemeinschaftsküche mitten in der Siedlung. Ihr Holzhaus bezeichnete das Architektenkollektiv als partizipatorisches Design und kollektive Bricolage; als Austauschort zwischen Praktikern, Teilnehmern und lokalen Anwohnern. Es gibt einen Text der portugiesischen Architektin Joana Braga dazu; sie bezieht sich darin unter anderem auf Konzepte des sozialen Raums der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe und der Architekturtheoretikerin und Derrida-Schülerin Doina Petrescu. Für die Hüttenansammlung von Cova de Vapor benutzt Braga eine Umschreibung, in der die Bewohner nicht direkt vorkommen und die sie nie selbst benutzen würden. Die Siedlung nennt sie eine einzigartige soziale und urbane Umgebung, geformt von verschiedenen Sehnsüchten, und Produkt der Selbstorganisation.

Über den Austausch zwischen den kurzzeitig gelandeten Architekten und Theoretikern des sozialen Raums einerseits und den Bewohnern auf der anderen Seite findet sich in den Dokumentationen fast nichts. Viele Fotos, die ihren Text illustrieren, zeigen Mittelschichtsangehörige, die bei der Arbeit an der Holzkonstruktion optimistisch in die Kamera schauen. Das mit dem europäischen Kulturhauptstadtprogramm finanzierte und von Aktivisten errichtete Gemeinschaftshaus aus Holz stand merkwürdigerweise nur ein Jahr, bis 2013. In der Dampfbucht, wo praktisch alles aus Provisorien besteht, gehörte das Kulturhauptstadtgeschenk zu den kurzlebigsten Bauten überhaupt. Es scheint, dass die Bewohner mit dem Haus der Architekten und Sozialtheoretiker sehr viel weniger anfangen konnten als seine Schöpfer aus dem Gesellschaftskreis Nummer eins.

Niemand in den Ankunftszonen beschäftigt sich mit kollektiver Bricolage. Auch nicht auf der nächsten Stufe, falls ihnen der Aufstieg gelingt. Jeder bastelt an seinem eigenen Leben und dem seiner Familie.

Auch diejenigen, die wandern, möchten nicht ständig irgendwohin aufbrechen. Sie möchten ankommen. Ihre Wünsche klingen einfach. Ein Apartment mit zuverlässiger Stromversorgung, ein festes Einkommen, Zugang zum Gesundheitswesen, die Möglichkeit, etwas Geld zurückzulegen, eine Familie, eine Zukunft ohne extreme Umbrüche. Das Gegenteil, den ständig schwankenden Grund unter den Füßen, kennen die Zuzügler jedenfalls besser als die anderen.

Die meisten von ihnen kommen, weil sie nicht, wie es eine deutsche Sozialdemokratin einmal formulierte, »die Regeln des Zusammenlebens täglich neu aushandeln« wollen. Wie übrigens auch so gut wie alle Alteingesessenen. Die Migranten aus chaotischen Ländern wissen, dass es nirgends friedlich zugeht, wo ein täglicher Kampf aller gegen alle um gegenwärtige und künftige Regeln herrscht. Und dass Zustände dieser Art bestenfalls den Wohlstand kleiner kleptokratischer Gruppen garantieren, aber nie ein gutes Leben für die Mehrheit.

Es gibt wohl keinen Prozess, der so widersprüchlich verläuft und solche Sprengkraft besitzt wie die massenhafte Armutseinwanderung in die Länder des Westens. Zum einen gibt es keinen besseren Beweis für die zivilisatorischen Errungenschaften, die hier die Gesellschaft prägen. Regeln, die eben nicht der täglichen Aushandlung unterliegen. Weitgehend intakte Institutionen, ein ebenfalls noch einigermaßen intaktes, wenn auch nicht mehr unangefochtenes Gewaltmonopol des Staates. Und als Folge dieser Bedingungen ein hohes Sozialkapital, also ein allgemeines Vertrauen in Verträge und Absprachen, eine Sicherheit, dass Eigentums- und sonstige Bürgerrechte auch morgen noch gelten. Die Ausstrahlung dieses Westens als Sehnsuchtsort stellt für die antiwestlichen Neolinken ein erhebliches argumentatives Problem dar. Denn in ihren Augen bildet der Westen als Ganzes ein rassistisches, ungerechtes System; alles, was sie tun und fordern, läuft daraus hinaus, die westliche Bürgergesellschaft abzuräumen, und stattdessen gerade die tribalistischen Verhältnisse zu errichten, vor denen viele Migranten fliehen. Die aus dieser Argumentationsnot geborene Erzählung der Neolinken, der Westen verdanke seinen Wohlstand der kolonialen Ausbeutung, habe die Länder des globalen Südens ruiniert, und bei dem Zustrom der »Verdammten der Erde« (Frantz Fanon) handle es sich um die verdiente Strafe für eine untilgbare Schuld, diese Schutzbehauptung erweist sich schon beim ersten Blick als Unsinn. Ganz offenkundig kommen keine Ströme von Armutsmigranten aus Ostasien, obwohl der Kolonialismus (europäischer, aber auch innerasiatischer) zur Geschichte etlicher Staaten gehört, dazu oft noch zerstörerische Kriege. Zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit lag das Prokopfeinkommen in einigen afrikanischen Ländern sogar höher als etwa in Singapur. Der Westen verdankte seinen Wohlstand außerdem bestenfalls in einem sehr geringen Maß seinen Kolonien, für die heutigen Volkswirtschaften spielt er praktisch keine Rolle. Für das Deutsche Reich erwies sich das kurze Kolonialabenteuer in der Gesamtrechnung sogar als Verlustgeschäft. Es waren vielmehr die Rechtssicherheit, die Stabilität, die wachsenden bürgerlichen Freiheiten, die den Boden für Massenwohlstand bildeten. Das galt für westliche Länder mit Kolonialbesitz genauso wie für Staaten ohne jede Kolonialpolitik. Aus dem gleichen Grund entstand auch der Massenwohlstand in Südkorea und Singapur, beides ehemals kolonial unterworfene Staaten.

Zum einen widerlegt die Realität der Migration also die progressive Mustererzählung vom schuldigen Westen mit seiner zum Abriss freigegebenen Ordnung. Zum anderen lieben die Erwachten die Migration – allerdings nur, soweit sie sich in ihr Weltbild einfügen lässt. Die Migranten stellen für sie gesichtslose soziale Figuren dar. Für ihre individuellen Schicksale interessieren sie sich nicht sonderlich. Sie müssen als Typus in die Erzählung passen, als Opfer, als Verbündete im Kampf gegen den Westen, als Maskottchen für Projekte wie das kurzlebige Holzhaus in der Dampfbucht vor Lissabon. Für Einwanderer, die einfach nur eine kleine Stabilität für sich suchen, die sich möglicherweise sogar im Westen assimilieren möchten, gibt es in den Erzählungen und Gesellschaftsentwürfen der Neulinken keine Verwendung. Zu jeder Integration gehört auch zu einem gewissen Teil eine Assimilation, eine Anpassung an neue Verhältnisse.

Interessanterweise kämpfen drei ansonsten höchst unterschiedliche Gruppen dagegen, dass sich Migranten vor allem aus islamischen Ländern dem Westen anverwandeln. Erstens die identitätspolitischen Neoprogressiven, die darin zu Recht eine Unterminierung ihrer Ideologie sehen. Zum zweiten die Identitären von Rechtsaußen, die darauf bestehen, ein Einwanderer aus Somalia, aus Tunesien, aus der Türkei, selbst ein Nachkomme von Migranten aus diesen Ländern könnte niemals wirklich Deutscher, Österreicher oder Franzose werden. Und drittens die Vertreter des politischen Islam, die eine Angleichung, eine Verwestlichung von Einwanderern für ein Unglück halten, das unbedingt verhindert werden muss. Für sie bedeutet es auch ein Unglück, denn sie würde die Machtbasis islamischer Kräfte im Westen gefährden. Alle drei Gruppen würden aus unterschiedlichen Motiven Migranten am liebsten lebenslang in das Gefängnis einer Identität sperren.

Vielleicht machen Einwanderer in manchen Ländern das Land ihrer Wünsche durch ihre Menge und das Tempo ihrer Ankunft unsicher, so wie auch Touristen bekanntlich das zerstören können, was sie suchen. Daran, dass nicht alle, aber viele Migranten für sich vor allem sichere Verhältnisse wünschen, ändert das nichts.

Für diejenigen aus dem Zentrum der Gesellschaft, dem Teil, in dem die Bewohner vor allem Theorien produzieren, Projekte entwerfen und kulturelles Kapital verteilen, klingt es möglicherweise überraschend oder sogar absurd: Aber nicht nur diejenigen, die frisch ankommen, sondern auch die meisten Alteingesessenen möchten nicht ständig die Perspektive wechseln. Sie finden es Mühe genug, ihre Perspektive aufrechtzuerhalten. Die meisten möchten ihre Lebensweise nicht ständig infrage stellen. Sie möchten nicht unentwegt Verkrustungen aufbrechen. Sie möchten erst recht nicht, dass andere darüber befinden, was bei ihnen als Verkrustung zu gelten hat, um sich dann an das Geschäft des Aufknackens zu machen. Das, was andere Verkrustungen nennen, empfinden sie möglicherweise als Schutz, zumindest aber als stabilisierendes Element in ihrem Leben. Und jeder besitzt das Recht, selbst darüber zu bestimmen, wovon er sich Schutz und Stetigkeit verspricht.

Wenn jemand die Wendung »Verkrustungen aufbrechen« benutzt, dann meint er so gut wie nie seine eigenen. In den wenigsten Fällen fragt er die anderen, deren Verkrustungen er beseitigen will, nach ihrer Sicht – ungefähr so wenig, wie ein Suppenkoch ein Gespräch mit der Schildkröte für nötig hält, wenn er sich daranmacht, ihr den Panzer einzuschlagen.

In Berlin liegen Ankunftszonen, Gebiete der vorläufigen Sicherheit und die Zentralen derjenigen, die über kulturelles Kapital entscheiden, nah beieinander. Manchmal innerhalb des gleichen Stadtbezirks. Ein kleines Landungsgebiet fand sich beispielsweise mehrere Monate lang in einer Unterführung ganz in der Nähe des Innenministeriums in Moabit, wo eine Großfamilie aus Rumänien ihre Schlaf- und Kochstellen eingerichtet hatte. Ein paar Kilometer entfernt findet sich ein Übergang zwischen dem äußersten Rand und der schon relativ sicheren Zone, der im ersten Moment dem Lager in der Unterführung ähnelt. In einem kleinen verwilderten Park eines früher sehr harten Grenzgebiets, nämlich dem zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt, liegen Sitzpolster halb im Gebüsch, manchmal auch Tüten mit Lebensmittelvorräten, im Sommer läuft Hip-Hop oder Reggae auf einem Recorder. Auf den Polstern und um den Recorder stehen Westafrikaner, ein paar von ihnen kicken einen Fußball dort, wo sich bis 1989 noch ein planierter Streifen vor der Mauer hinzog. Bei dem kleinen Mai- bis Oktobercamp mit Musikuntermalung handelt es sich um einen der Berliner Supermärkte für chemische Substanzen. Das Warenlager mit den schon vorportionierten Plastiktütchen und Pillenbeutelchen befindet sich in den Büschen. Kunden spazieren, radeln, joggen oder skaten vorbei, holen sich ihre vorbestellte Portion ab und ziehen weiter.

Samaan, ein Mann Mitte dreißig mit hochgekämmten dunklen Haaren und getrimmtem Bart, gehört zu denjenigen, die solche Durchgangsgebiete gar nicht erst durchlaufen mussten. Er lebt einigermaßen sicher in der Zone, die geregeltes Einkommen, Steuern und Krankenversicherung bietet. Im Jahr 2016 kam er von Syrien nach Berlin, ein Jahr später fand er eine Anstellung als Friseur in einem zentral gelegenen, sogar ziemlich teuren Berliner Laden. In seine alte Heimatstadt Latakia am Mittelmeer, sagt er, würde er vielleicht zurückkehren, aber als Besucher. Oder falls sein Aufenthaltsstatus in Deutschland endet. Latakia, sagt er, sei vor dem Krieg eine schöne Stadt gewesen. Er erzählt auf Englisch von dem berühmten Nationalmuseum im Gebäude einer früheren ottomanischen Karawanserei, das wahrscheinlich auf den Mauerresten eines noch viel älteren Hauses steht. Erst 2014 entdeckten Archäologen einen Tunnel, der von dem Museum westwärts zum Hafen führt.

Im syrischen Krieg erlebte Samaan die Belagerung Latakias. Seine Tage verbrachte er damit, Lebensmittel zu organisieren und zu warten. Sobald er sich wieder bewegen konnte, verließ er die Stadt.

»Aber jetzt ist der Krieg doch vorbei?«

»Es gibt keine Sicherheit. Wenn etwas passiert, kannst du nicht einfach die Polizei rufen.« Es gebe zwar Polizisten, leider seien die nicht hundertprozentig von organisierten Kriminellen zu unterscheiden. Eigentlich noch nicht einmal zu fünfzig Prozent.

»Ich wollte immer mein eigenes Geschäft haben. Aber nicht dort.«

An einem Land, meint er, sei das Wichtigste überhaupt das Gesetz. »Das Gesetz ist wie ein Computerprogramm. Es muss ganz oben stehen«, er hebt die Hand über seinen Kopf, »und alles andere bestimmen.« In den wichtigen Dingen müsse man sich darauf verlassen können, dass morgen die gleichen Regeln gelten wie heute.

»Im Jahr 2015 sind auch Leute nach Deutschland gekommen, die sich nicht an das Gesetz hier halten. Was soll mit denen passieren?« Die Antwort kommt mit einem waagrechten Handkantenschlag durch die Luft.

»Raus mit denen, sofort.«

»Beispielsweise zurück nach Syrien?«

»Ja, sofort.«

Vielleicht würde er auch Johnny zurück nach Ghana schicken, vielleicht auch nicht, solange er keine Gewalttaten begeht. Vielleicht kauft sich Samaan auch ab und zu ein Tütchen Weed.

Wer sich außerhalb der Bereiche umsieht, in denen die Sinnproduktion für den Rest der Gesellschaft stattfindet, entdeckt nirgends größere Entwürfe mit einer Logik, die für alle passen würde. Aber eben auch die Gemeinsamkeit zwischen ansonsten völlig unterschiedlichen Leuten in der Cova de Vapor, in Berlin und anderswo. Sie stehen auf ihrem unsicheren Gebiet ähnlich wie auf treibenden Eisschollen. Alle versuchen, von ihrer kleinen wackligen auf die größere und festere Scholle zu springen und sich dort erst einmal zu halten.

Der Friseurladen, in dem Samaan arbeitet, liegt in der Nähe von Galerien und Kulturinstitutionen, in denen die so wichtige Sinnproduktion stattfindet. Zu dieser Sinnproduktion gehört das Prägen von Begriffen, die Erfindung von Diskussionssträngen, die Entscheidung, was überhaupt diskutiert werden soll (und was nicht). Diese Sinnproduktion braucht kulturelles Kapital und sie vermehrt es gleichzeitig. Samaan lebt zwar ganz in der Nähe dieser Institutionen, dringt aber wahrscheinlich nie in diesen Gesellschaftsbereich ein, obwohl dort die Begriffe Migranten, Migration und das Adjektiv migrantisch in Schriften und Reden verschwenderisch oft auftauchen. Falls er doch in diese Zone kommen sollte – räumlich ein Weg von zehn Minuten, allerdings mit einer für ihn kaum überwindbaren Mauer –, dann würde er feststellen, dass diejenigen, die dort das Wort führen, sich mit dem exakten Gegenteil von dem befassen, was er für wichtig und überhaupt die Geschäftsgrundlage der Gesellschaft hält. Sie beschäftigen sich mit der Herstellung von Unsicherheit. Und das so systematisch, als würden sie dafür ein Computerprogramm benutzen.

Ihre Formeln dafür heißen Riss im System, Disruption, Umbruch, Abriss, Aufbrechen von Strukturen. Ihre Forderung lautet, dass der Boden um sie herum schwanken und das allermeiste, was auf ihm steht, zum Einsturz bringen soll. Sie verkünden die Lehre vom permanenten, alle mitreißenden Wandel.

Das zentrale Motto der Kuratoren, die vor einigen Jahren die Berlin Biennale organisierten, praktisch vor Samaans Haustür, lautete »The Crack Begins Within«. Aus ihrem langen Manifest lernt der Leser, dass sie, die Kuratoren, und ihre von ihnen ausgewählten Künstler sich selbst als genau diesen Riss sehen, der die Ordnung von innen aufsprengen soll. Sie erzählen darin von der Arbeit, die ihre Künstler erledigen, und den Dingen, die sie zerschmettern (»the work they do, and the things they shatter«). Die Rede ist von dissidentischen Körpern (»dissent bodies«), von einer Antikirche, und tatsächlich liest sich das Manifest, mit dem Alleserschütterer den Kapitalismus zerschlagen wollen (dieser Begriff kommt vor) wie eine inbrünstige Predigt im Prophetenstil.

In dem gesamten Text findet sich keine Spur von Klassenverhältnissen. Noch nicht einmal der Hinweis, dass so etwas wie Ökonomie überhaupt existiert. Es kommen auch keine Wanderer oder Einheimischen vor, die unspektakuläre, aber notwendige Arbeiten verrichten. Das Manifest kreist um Körper, Geschlecht, Rasse, Patriarchat, um die Gründung einer neuen Glaubenslehre. Auch den zum Abbruch freigegebenen Kapitalismus definieren die Autoren nicht als ökonomisches System. Sondern als Religion, deren Götter gestürzt werden müssen: »Die Religion des kolonialen Kapitalismus in seinen vielen Mutationen ist ein krimineller Amoklauf gegen die sich erhebende Mehrheit der Nichtgläubigen. Die wiederum besudeln deren bleiche Götter und ihren Fundamentalismus, zerstören ihre Kathedralen und erklären, dass ihre Denkmäler ebenfalls sterben werden.« (»The religion of colonial capitalism, in its many mutations, continues its criminal rampage against a rising majority of nonbelievers. They, in turn, are defacing the old pale gods and their fundamentalism, vandalizing their cathedrals, proclaiming that their statues will also die.«) Nach der Biennale hätte Samaan gleich die nächste Veranstaltung besuchen können, die ihm erklärt hätte, wie und warum die Ordnung im Westen zerschlagen werden muss. Der Kongress beschäftigte sich sogar mit einem Phänomen, das er als Einwanderer aus dem syrischen Krieg bestens kennt, nämlich Heimatverlust. Allerdings trugen die Kulturbetriebsangehörigen im Maxim-Gorki-Theater das Thema mit einer etwas anderen Stoßrichtung vor, nämlich als Forderung und Verheißung. Ihr Motto lautete »De-Heimatize it«; zur Entheimatung fand in dem Theater eine ganze Serie von Diskussionen statt, welche die Veranstalter unter dem Begriff diskursive Intervention zusammenfassten. In dem Entheimatungskongress ging es ganz ähnlich wie auf der Biennale um Identität, Geschlechterrollen, Kolonialismus, Rassismus, den Zusammenhang zwischen Heimat und rechtem Populismus sowie um die Frage, wie sich das Hergebrachte abräumen und durch neue Strukturen des planetaren Netzwerkens ersetzen lässt.

Interessanterweise existiert noch nicht einmal in Berlin ein Netzwerk, das die einzelnen Gesellschaftsteile durch ein Minimum an Gemeinsamkeiten miteinander verbinden würde.

Bei der Forderung nach einem unbegrenzten Abräumen, Aufbrechen und Denkmalsturz handelt es sich natürlich nicht nur um eine Berliner Spezialität. Und auch nicht nur um Rhetorik. Während der Black Lives Matter (BLM)-Kundgebungen zwischen Seattle und Paris fielen reihenweise Denkmale oder sie wurden beschmiert, defaced, wie die Statue von Königin Victoria im britischen Leeds. Schon als junge Frau gehörte Victoria, ebenso wie ihr Mann Prince Albert, zu den entschiedenen Gegnern der Sklaverei, was diejenigen, die sich an ihrem Denkmalssockel zu schaffen machten, nicht daran hinderte, sie in aufgemalten Botschaften als Profiteure des (in England schon vor Victorias Geburt abgeschafften) Sklavenhandels zu brandmarken.

Während der BLM-Kundgebungen in den USA und anderswo machte ein Buch und sein geschlechtsfluider Autor/Autorin Vicky Osterweil Karriere, »In Defense of Looting«, zu Deutsch: »Eine Verteidigung des Plünderns«, die sich nicht mehr mit dem konventionellen Kuratoren- und Diskursvokabular aufhielt, sondern ganz buchstäblich das Plündern als Mittel zur Beseitigung der bestehenden Ordnung empfahl. Osterweil galt den BLM-Sommer über bei vielen Journalisten als Vertreterin des radical chic. Als weiße Mittelschichtsangehörige mit Hang zum Dekonstruktivismus spricht sie vor allem ihre Sprache und sie vergisst nicht die überwölbende Botschaft: Plündern ist ein machtvolles Werkzeug, um einen echten, anhaltenden Wandel in die Gesellschaft zu bringen.

Durch all diese Kuratorenmanifeste gegen den Kapitalismus, interventionistische Debattenbeiträge, Anleitungen zur Zerstörung und Tonnen ähnlicher Texte, die alle aus dem gleichen Generator zu stammen scheinen, zieht sich gleich ein doppelter Hang zur Abstraktion. Zum einen hüpft die Sprache von einem oszillierenden Begriff zum anderen – Körper, Geschlecht, Rasse, Patriarchat –, für den es selbst in diesem Milieu keine Definition gibt, auf die sich alle einigen könnten. Zum anderen verschwindet für diejenigen, die ganz oben auf der schwankenden Plattform mit dem Ausblick auf die neue globale Gesellschaft stehen, offenbar die Frage: Was wird aus ihnen selbst? Glauben sie, dass, wenn alles um sie herum wie gewünscht reißt, bricht, bebt und fließt, ausgerechnet ihr hoher Diskursturm als einziges Menschenwerk weit und breit stehen bleibt? Oder nehmen sie an, dass dann, wenn alle repressiven Verkrustungen aufgebrochen und die letzte Verstrebung des Systems zerlegt ist, immer noch genügend Grundfestigkeit übrig bleibt? Jedenfalls unterscheidet der Wunsch der allermeisten nach Stabilität und der Ruf einer Elite nach Umwälzung die beiden Gruppen schärfer, bestimmt die Gesellschaft stärker, als es materieller Reichtum und materielle Armut tun, Herkunft oder Religion.

Die Parole der Niederreißer und Verkrustungsaufbrecher mit Kuratorenstatus oder einer anderen gut bezahlten Tätigkeit auf den Diskurshöhen könnte lauten: Friede dem Zentrum, Krieg der Peripherie. Vielleicht liegt hier auch die Antwort auf die Frage, warum sie den großen Umbruch, den sie fordern, nicht als Bedrohung für ihr eigenes Lebensmodell empfinden. Sie glauben offenbar tatsächlich, dass die Systemrisse nur durch die äußeren Zonen der Gesellschaft laufen, aber dann genau vor ihren Füßen enden.

Wer Stabilität sucht, muss sich im Konkreten bewegen. Wer die permanente Umwälzung fordert, zieht die Abstraktion vor.

Wer nicht zu den neuen Progressiven zählt, lebt an einem bestimmten Ort. Progressive leben in Themenparks.

Ab und zu begegnen diejenigen, die an einem Ort leben und rechtzeitig woanders ankommen müssen, um dort zu arbeiten, den Statikern, die aus einem Thema heraus leben. Sie treffen sich auf den Straßen, die Mitglieder der Bewegung Letzte Generation zur Blockade des Autoverkehrs besetzen. Wer mit angeklebter Hand auf der Straße sitzt, gehört fast durchweg zur Mittelschicht. Die Pendler, die ab und zu aussteigen und die Blockierer in Selbsthilfe wegziehen, tun das, weil sie sich den Zeitverlust nicht leisten können. In Deutschland ist bisher keine größere Protestbewegung der Mobilen entstanden, keine Entsprechung zu den französischen Gelbwesten, dafür aber das Gegenstück, eine Protestserie, in der Leute mit einem großen Budget an Tagesfreizeit und orangefarbenen Warnwesten ihre Auftritte so organisieren, dass sie damit Handwerkern und Schichtarbeitern schaden. Es handelt sich um die vermutlich konformistischste Protestform der Welt. Anders als in Paris, wo beispielsweise eine Blockade an der Porte d’Italie von der Polizei ziemlich ruppig aufgelöst wurde, anders als in London, wo Mitglieder der Gruppe Extinction Rebellion die U-Bahn blockierten, von wütenden Pendlern von den Dächern der Bahnwaggons gezerrt wurden und ein Teil der Medien sich auf die Seite der Pendler stellte, berichten deutsche Journalisten überwiegend wohlwollend über die Vertreter der Letzten Generation. Eine Politikerin der Berliner Grünen erschien zu einer Straßenblockade, um den Blockierern ausdrücklich ihre Solidarität zu versichern, eine Bundesministerin der gleichen Partei äußerte zumindest ihr Verständnis.

Dass es diese serielle Protestform von Bürgerkindern überhaupt gibt, sie sich angesichts von Medien- und Politikerlob alle Mühe geben müssen, um einigermaßen subversiv zu wirken, liegt auch an einem Mann, der zu dem innersten Kreis der modernen Gesellschaft gehört, zu dem Milieu, das Themen bestimmt und kulturelles Kapital verwaltet (was faktisch auf das Gleiche hinausläuft).

Nach der Besichtigungstour im Außenbezirk bei Lissabon, dem Zwischenstopp in den Übergangszonen und vor dem Besuch bei einem Arbeiter führt uns der Weg zu Tadzio Müller, einem Berliner, für den die Berufsbezeichnung Protest-Entertainer am ehesten passt, vielleicht auch Protest-Entrepreneur.

Müller arbeitete eine Zeit lang für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, eine Organisation in der Nähe der Linkspartei. Dort kümmerte er sich um die Verbindung mit der Klimabewegung. Er nimmt für sich in Anspruch, zu den Mitgründern der Bewegung »Ende Gelände« zu gehören, einer Gruppe, die immer wieder Braunkohletagebaue und Kraftwerke vorübergehend besetzt und generell die fossile Energieerzeugung bekämpft. »Ende Gelände« ähnelt sowohl »Extinction Rebellion« – denjenigen, die in London auf das Dach des U-Bahn-Zugs in der Station kletterten – als auch den Straßenblockierern der »Letzten Generation«.

Im Jahr 2021 gab Müller seinen Job bei der Stiftung auf. Seine Begründung lautete, er sei einfach kein guter Mitarbeiter. »Und ich habe zugegebenermaßen kein kleines Ego.«

Das, was er in Interviews und in seinen Reden sagt – sein Medium ist eindeutig das Mündliche, der Auftritt –, bewegt sich in der Nähe des Kuratorenmanifests vom nötigen Sturz der kapitalistischen Götter und ähnlichen Texten, Aufrufen zum sofortigen Ende der fossilen Wirtschaft wie denen von Greta Thunberg und dem Plünderungslob von Vicky Osterweil. Bei Tadzio Müller kommen noch zwei spezielle Verstärker dazu. Wenn er einfach andere kopieren und ihr Material nur neu mischen würde, gäbe es nicht Dutzende Interviews mit ihm, YouTube-Videos von seinen Auftritten, außerdem gut 23500 Treffer bei Google. Zum einen brachte er mit seinem Sinn für wirksame Kommunikation 2021 in einem Spiegel-Interview den Satz unter: »Wer den Klimaschutz verhindert, schafft eine grüne RAF.«

Seine Wendung von der grünen RAF zitierten anschließend Dutzende Medien und Tausende Twitterer. Bei ihm, der schon vorher in öffentlichen Auftritten immer wieder dazu aufgerufen hatte, das Recht im Namen der richtigen Sache zu brechen, besitzt es eine andere Glaubwürdigkeit als bei anderen, wenn er nach dem immer noch wirkungsvollsten Markenzeichen des politischen Extremismus aus der Zeit des Nachkriegsdeutschlands greift. Die RAF verstand unbestritten etwas von politischem Marketing, angefangen mit ihrem Kürzel und dem Maschinenpistolensymbol bis zum Repräsentationsstil ihrer Gründer: Porsche und Pelzmantel bei dem frühen Andreas Baader, eine Art Mao-Anzug später bei Auftritten vor Gericht.

Wer alles zusammennimmt, die Aktionen von »Ende Gelände«, Müllers Reden vor jungen Klimakämpfern und sein Geschichtszitat, der kann fürchten, hoffen oder einfach nur mutmaßen, in der Berliner Altbauwohnung säße ein neuer Andreas Baader, dessen Untergrundphase noch bevorsteht. Bei Tadzio Müller handelt es sich aus verschiedenen Gründen nicht um den nächsten Baader. Allerdings um das wahrscheinlich erfolgreichste Ein-Personen-Unternehmen in dem Kreis der Berliner Gesellschaftsdeuter und Sinnproduzenten. Das liegt an einer zweiten Eigenheit, nämlich der Art und Weise, wie er politische Manifeste mit privaten Bekenntnissen mischt. Bei einem Auftritt auf einer Klimademo ließ er sich von seinem Freund an einer Leine vorführen und trug ein Schild mit dem Slogan Faggots For Future. Zu seinen Standards gehört der Satz, er habe kein Problem damit, sich von zehn Männern durchficken und auspeitschen zu lassen, nicht das sei pervers, sondern der Dieselskandal von VW, und der gesamte VW-Vorstand gehöre in den Knast. Als Müller in einem Interview seinen Abschied von der Parteistiftung bekannt gab, erklärte er auch, er werde jetzt neben seiner politischen Arbeit BDSM-Hure. In der deutschen Hauptstadt, wo beim Folsom-Festival Hundemaskenträger im Latexbody mit Schöneberger Anwohnern beim sogenannten Wegebier über die Vorzüge und Schwächen von Netflixserien schnacken, liegt Müller damit zwar nicht ganz im Durchschnitt, aber auch noch nicht wirklich in der Extremzone. Auch außerhalb von Berlin erschöpft sich heute der Provokationswert von Körpern und Sexualtechniken ziemlich schnell – dank der Arbeit des Fernsehens in den letzten dreißig Jahren.

Unkonventionell und extravagant wirkt er eher durch seine Entscheidung, mit einem Autor zu sprechen, der nicht zu seinem Milieu gehört.

Müller wohnt in einem Neuköllner Altbau im besseren Teil des Quartiers, in einer Eigentumswohnung, gekauft, wie er in einem Interview mit der taz erzählte, mit dem Blutgeld seines Vaters, einem Anwalt der Großkanzlei Baker McKenzie mit 13000 Angestellten und Hauptsitz in Chicago, Illinois (zu deren früheren Vorstandsmitgliedern auch die spätere Chefin des Internationalen Währungsfonds und heutige EZB-Präsidentin Christine Lagarde gehört).

Die Wohnung liegt in einem oberen Stockwerk, mittelgroß, Holzdielen, nicht luxuriös, guter Berliner Altbaustandard. Sehr aufgeräumt, eine größere Bücherwand, etwas Kunst an den Wänden (gute Auswahl). Müller empfängt an einem Tisch, auf dem zwei Teller mit je einem Stück Kuchen stehen. Er trägt kurze Haare, einen Stahlring in der Nase und um den Hals eine Stahlkette mit einem Schloss und der Aufschrift Slave, ansonsten T-Shirt und Jeans. Ich nehme Notizbuch und Stift aus der Tasche, auch ein Tütchen grünen Tee, den er für mich aufbrüht. Dann beginnt das Verhör (ich selbst hatte keins geplant). Müller befragt mich erst einmal, bevor unser eigentliches Gespräch beginnt.

»Sind Sie ein Trumpist? Sind Sie ein AfD-Unterstützer?«

Es handelt sich um konventionelle Triggerbegriffe, die offenbar dabei helfen sollen, den Besucher in einer bestimmten Position festzupinnen. Die Technik erinnert auch ein wenig an die Formalitäten einer Einreise in die USA, zu denen die schriftliche Versicherung gehört, dass man nicht verrückt ist und/oder mit der Absicht kommt, den Präsidenten zu ermorden. Der Einreisefragebogen sieht nur den Ja-Nein-Modus vor. Das erleichtert zwar den Flug in die Vereinigten Staaten, scheint mir aber jetzt als Aufwärmübung in einer Berliner Altbauwohnung nicht angemessen. Also antworte ich, die Frage, ob jemand zu den Trump-Anhängern gehört oder nicht, sollte besser Leuten gestellt werden, die in den USA Wahlrecht besitzen. So geht das noch eine Weile weiter. Luftboxschläge von dem Mann mit der Slave-Kette einerseits, Ausweichbewegungen von dem Besucher mit dem Notizbuch andererseits. Zum Glück gibt es keine Zeugen. Dieses Vorspiel, das ungefähr zehn Minuten dauert, langweilt uns beide. Aber dann beginnt so etwas wie ein Gespräch. Es gebe seiner Ansicht nach nur eine sehr geringe Chance, die Klimakatastrophe noch aufzuhalten, sagt Müller. Die Klimaentwicklung laufe auf bestimmte Kipppunkte zu, die nur Leute mit unzureichenden intellektuellen Fähigkeiten ignorieren könnten. Müller spricht sehr schnell und mit leicht gesenktem Kopf, die Silben schieben sich bei ihm oft ineinander, außerdem wechselt er oft mitten im Satz ins Englische. Für ihn herrscht jetzt schon ein politischer Ausnahmezustand, nicht nur in der Klimapolitik. Von Trump bis zum indischen Premier Narendra Modi ziehe ein neuer weltweiter Faschismus herauf. »Haben Sie sich mal näher mit der Politik von Modi beschäftigt?«

Es sind weltumspannende Großprozesse, mit denen er sich befasst; Deutschland trägt nur einen kleinen Tupfer zu dem Panoramabild bei. Wobei dieser Tupfer genauso düster ausfällt wie das große Ganze. Der Alarmzustand rechtfertigt für ihn ganz neue politische Methoden, er erzwingt sie aus seiner Sicht geradezu. Donald Trump, sagt er, sei ohne Zweifel ein rhetorisches Talent (er imitiert ihn kurz). Politikern in Deutschland, auch und gerade den Linken, fehle diese Fähigkeit zur Ansprache, zur Performance, zum Ausbruch aus der üblichen politischen Sprache. In seinen Überlegungen gehe es darum, den Protest attraktiver und geiler zu machen.

Er klickt auf seinem MacBook ein Video an, das ihn bei einer Ansprache in Berlin vor überwiegend sehr jungen Fridays-for-Future-Demonstranten zeigt. Müller selbst wirkt darauf auch jünger, obwohl die Aufnahme nicht besonders alt ist, sie stammt von 2019. Bei seinem Auftritt trägt er eine hellgraue Kapuzenjacke, Jeans, er bewegt sich beim Reden mit einer Variante von Tanzschritten vor, zurück und seitwärts und beides, Bewegung und Rede, zielt erkennbar darauf ab, das Publikum vor ihm in Schwingungen zu versetzen. Er sagt: »Ihr habt geschafft, was keine soziale Bewegung in der BRD jemals hinbekommen hat. Ihr verändert die Gesellschaft komplett.« Nach ein paar ähnlichen Sätzen fordert er das Publikum auf, Kraftwerke lahmzulegen: »Wir stoppen die Scheißkohlekraftwerke. Wenn die es nicht machen (die Politiker), dann machen wir es eben selbst.«

So richtig überträgt sich seine Dynamik nicht, was allerdings eher am Publikum liegt (teilweise sehr jung, nicht besonders demonstrationserfahren), vielleicht auch daran, dass keine Masse vor ihm steht, sondern nur eine lockere Ansammlung. Aber wie passt das zu seinem Satz, der gesellschaftsändernde Protest müsste gerade von den radikalen Rändern kommen? Wenn er meint, die Menschheit steuere in eine Klimakatastrophe, und zwar nicht erst in Jahrzehnten, sondern jetzt gleich, müsste er sich dann nicht um Leute aus der Normalbevölkerung bemühen? Beispielsweise um die Arbeiter bei VW?

»Warum soll ich irgendetwas davon abhängig machen, was ein Arbeiter bei VW denkt?«

Von jetzt an kreist das Gespräch (wir überspringen ein paar Stadien) um den Begriff der Normalbevölkerung und die Gründe, warum eine Bewegung, die das System zerschlagen will, sich nicht damit aufhalten kann und auch nicht muss, erst Mehrheiten davon zu überzeugen.

»Wie viele Normalarbeitsverhältnisse gibt es denn überhaupt in Deutschland?«, fragt er und tippt die Frage bei Google ein. Etwa 27 Millionen, etwas mehr als die Hälfte der gut 45 Millionen Beschäftigten in Deutschland (wobei auch Unternehmer und Selbstständige von der Existenz von Kraftwerken abhängen, auch von Kohlekraftwerken, solange es keinen Ersatz dafür gibt). Trotzdem sieht er keinen Grund, sich beim Gesellschaftsumbau auf diese Leute zu fixieren. »In Berlin«, sagt er, »gehen mehr Leute in Clubs, als es Beschäftigte in Betrieben gibt.«

Das, wendet der Besucher ein, sei eben die Besonderheit Berlins. In der Klimabewegung, meint Müller, würden sich sehr unterschiedliche junge Leute treffen. »Vielleicht nicht gerade die Jungs aus den 4 Blocks« (also der High-Deck-Siedlung zu beiden Seiten der Sonnenallee, 1975 als fortschrittliches Wohnprojekt errichtet, heute ein sogenannter Brennpunkt der Stufe vier auf einer Problemskala von eins bis vier und Kulisse für die TNT-Serie 4 Blocks über einen libanesischen Mafiaclan in Berlin). Auf die Beantwortung der Frage, warum es sich bei den Klimademonstrationen wie bei den Straßenblockaden fast ausschließlich um Aktionen von weißen Akademikerkindern handelt, also Leuten wie er, hat er keine Lust. Identitätspolitik, zu der es ja auch gehört, eine zu mittelschichtige, aber eine zu weiße Zusammensetzung von Gremien und Gruppen anzuprangern, das hatte Müller vorher schon am Telefon zu verstehen gegeben, interessiere ihn nicht.

Die Ansicht passt zu seiner selbst gewählten Rolle als Vermarkter einer bestimmten Botschaft. Rolle wie Botschaft verlangen, dass er sich ganz auf das Publikum konzentriert, das er bekommen kann, statt sich daran aufzureiben, Leute zu überzeugen, die sich zu sehr von ihm unterscheiden.

Von dem amerikanischen Sozialpsychologen Jonathan Haidt stammt die These, dass moralische Urteile für die Ausbildung fester Überzeugungen eine sehr viel wichtigere Rolle spielen als Argumente. Haidt spricht von taste buds, Geschmacksknospen, an denen sich entscheidet, ob Menschen eine öffentliche Figur und ein bestimmtes Glaubenssystem für überzeugend halten oder nicht. Mit seiner Mischung aus Drogen- und Sexbekenntnissen, Kapitalismusbeschimpfung und Terrorismus-Stilzitat wirkt Müller bei einem jüngeren urbanen Publikum, wie ein Werbeprofi sagen würde, anschlussfähig, allerdings ohne deren Leben direkt zu berühren. Die meisten aus seinem Mittelschichtspublikum leben anders als er. Sie würden sich anders als Müller nicht dabei filmen lassen, wie sie sich eine Ladung Methamphetamin ins Rektum schieben. Die meisten würden nicht öffentlich die RAF herbeizitieren. Seine jungen Zuhörer tragen oft Markenkleidung, seine Aufrufe zur Sprengung des kapitalistischen Systems nehmen sie mit ihren iPhones auf. Sie schauen ihm dabei zu, wie er eine ganz bestimmte Rolle ausfüllt. Jemand muss die Lehre vom Riss, vom Umbruch, von der Systemsprengung öffentlich verkörpern, jemand muss die Textberge der Manifeste eindampfen und gleichzeitig vereinfachen, damit sie auch bei einer jüngeren Zielgruppe wirken, die größtenteils nicht mehr gewohnt ist, längeren Gedankengängen zu folgen.

Er bietet ihnen eine Art von optimierter Radikalität, für die er in den passenden Stadtvierteln in Seattle, Portland, London oder Wien ein ganz ähnliches Publikum finden würde wie in Berlin. In manchen seiner Videos spricht Müller seine Botschaften auch auf Englisch in die Kamera.

Er kommt noch einmal auf die Frage der kritischen Masse, ohne die es keinen Systemsturz und noch nicht einmal die bühnenfähige Fiktion eines Systemsturzes gibt. Beim letzten Christopher Street Day in Berlin, meint er, seien eine Million Menschen auf der Straße gewesen, ein Rekord in der Geschichte dieser Veranstaltung in dieser Stadt. »Das«, sagt Müller, »sind eine Million potenzielle Allys.«

»Was?«

»Allys. Alliierte. Verbündete.«

Christopher Street Days – kurz CSD – finden seit den Achtzigerjahren weltweit statt, Berlin zählte schon immer zu den größten. Sie gehören zu den festen Daten in den Kalendern einer reise- und feierfreudigen Schicht, die über finanzielle Mittel für mehrere Stadturlaube im Jahr verfügt. CSD-Umzüge samt anschließendem Clubgang ähneln einander inzwischen sehr, egal ob sie in San Francisco (der Stadt mit dem ersten Pride-Marsch, 1978), in Madrid, Berlin oder London stattfinden. Die von dem Künstler Gilbert Baker ebenfalls 1978 entworfene achtfarbige Regenbogenflagge dient inzwischen nicht nur als übergreifendes Symbol der Christopher Street Days, sondern auch als Werbesignal für Unternehmen, die im Pride Month ihre Logos damit einfärben (allerdings nicht in arabischen Ländern). Bei kaum einer anderen Gelegenheit kommen kulturelles und materielles Kapital so harmonisch zusammen wie bei einem Metropolen-CSD, also demonstrative Moral und traditioneller Konsum. Zur Berliner Mischung gehören nicht nur gut eine Million Menschen aus Europa und Übersee in Trendkleidung aus Asien, sondern auch Methamphetamin aus Tschechien, Kokain aus Südamerika und Bier aus Deutschland. Hier lässt sich am besten studieren, was der Begriff des erweiterten Konsums meint. Wer mitfeiert (der Autor tat das früher, als die CSDs noch nicht so stark wie ein Franchise-Produkt wirkten wie heute), wer hier also feiert, konsumiert nicht nur Getränke, Musik und möglicherweise chemische Substanzen, sondern auch ein modernes Stammesgefühl. Dieses Publikum würde wahrscheinlich auch eine System Change-Rede von Tadzio Müller problemlos als Radikalismus to go mitnehmen, bevor es wieder nach Hause fliegt.

Wenn Müller in einem anderen Kundgebungsvideo aus dem August 2022 sagt: »Wir machen Sachen kaputt, welche die Welt kaputt machen«, »wir müssen die Zerstörungsmaschine kaputt machen«, dann zucken die Einwohner in den äußeren Gesellschaftskreisen vermutlich zurück, falls sie ihn überhaupt wahrnehmen sollten.

Leute, die aus dem zentralen Kreis stammen, können mit Müllers Reden und Aufführungen schon eher leben. Sie merken, dass sie und ihre Innenstadtbezirke nicht gemeint sind. Zumindest hoffen sie das. Davon abgesehen halten sie die Radikalität eines Tadzio Müller genauso wie die des Plünderungsberaters Vicky Osterweil für ein zwar scharfes, aber auch interessantes Gewürz, jedenfalls für ihre Geschmacksknospen.

Die Riss-im-System-Sätze besitzen die Qualität von einfachen, standardisierten Sinnprodukten für ein gar nicht so kleines und ziemlich homogenes Publikum von Berkeley bis Berlin, das sich selbst als progressiv und dissident beschreibt und sozial aus ähnlichen Verhältnissen stammt wie der BDSMRAF-Antikapitalismusprediger aus Neukölln. Alles in allem steht Müller seinem Vater und dessen Arbeitgeber näher, als es ihm bewusst ist (vielleicht ist es ihm aber auch bewusst). Das Firmenmotto von Baker McKenzie lautet: Solutions for the World.

In einem Tweet verwendete Müller den schönen Begriff Normalextremisten, der zeigen soll, in welchem Teil der Bevölkerung er ein Problem sieht. Man ahnt es schon: Es handelt sich um diejenigen, die nicht global denken, die sich nicht schnell von den Verhältnissen wegbewegen wollen, in denen sie leben, sondern sich bestenfalls langsam vorantasten. Um diejenigen, die den großen Riss im System nicht wünschen, sondern fürchten. Meist fehlt ihnen auch ein Elternteil, der ihnen das Geld für eine Eigentumswohnung in einer europäischen Großstadt schenkt.

So wie Müller den Idealtyp der Riss-und-Zerstörungsrhetoriker verkörpert, lässt sich in Deutschland wahrscheinlich kaum ein besserer Normalextremist finden als Wolfram Ackner. Drei Eigenschaften zeichnen ihn als Angehörigen eines Milieus aus, das in Kuratorenmanifesten nie vorkommt, nicht in den Schriften Osterweils und den Reden Müllers, nicht in den Büchern eines Ibrahim X. Kendi, bestenfalls summarisch und gesichtslos in Robin Di Angelos White Fragility, einem Grundlagenbuch des Verachtungsdenkens. Ackner gehört zu einem Milieu, das in den meisten Medien nur zur Problembeschau kurz ins Bild rückt und danach gleich wieder aus dem Blick fällt. Er arbeitet als Schweißer, ist Vater von drei Kindern (alles Töchter) und zusammen mit seiner Frau Eigentümer eines noch nicht abbezahlten Hauses am Rand von Leipzig, dort, wo sich am Straßenverlauf und ein paar alten Häusern noch das irgendwann eingemeindete Dorf erkennen lässt. Zu seinem Häuschen im Neubauteil der Siedlung gehört ein kleiner Garten mit Gemüsehochbeet und einem selbst geschweißten Grill namens Smaug 2000 ultra.

Fragil wirkt Ackner nicht. Er sieht etwas jünger als 53 aus, was auch an seiner muskulösen Statur liegt; er wiegt 100 Kilo bei einer Größe von 1,90 Metern. In Pausen auf Arbeit, sagt er, stemmt er Gewichte. Beim Bankdrücken würde er sein Körpergewicht ohne Mühe schaffen. Die Demonstranten, zu denen Tadzio Müller spricht, nennen Ackner möglicherweise eine fossile Existenz. Und sie hätten damit recht. Die Ackners fahren zwei Autos mit Verbrennermotor, weil sie beide zur Arbeit pendeln und auf dem Weg ihre Kinder zur Schule bringen müssen. Schon das Geld für ein Elektrofahrzeug könnten sie nie aufbringen, geschweige denn für zwei.

Seine Schweißarbeiten erledigt Wolfram Ackner in Leuna, aber auch an anderen Einsatzorten, bevorzugt in Kraftwerken. Sollte es irgendwann seine Art von Job in Deutschland nicht mehr geben, zumindest nicht für ihn, dann kann er sich damit beruhigen, dass diese fossilindustrielle Welt außerhalb noch eine Weile existieren wird, in der Unternehmen traditionelle Fachkräfte aus Deutschland schätzen. Vor einiger Zeit bekam er ein Angebot für eine Stellung in der Schweiz, seine Frau hätte dort auch in ihrem Beruf bleiben können. Alles in allem hätte es auch dort für eine fünfköpfige Familie mit zwei Autos gereicht. Beide entschieden sich dann doch dagegen, weil sie die Kinder nicht aus der Schule nehmen wollten. »Aber wenn es sein müsste«, sagt Ackner, »dann kostet es mich ein, zwei Anrufe, und ich hätte im Ausland einen Job.« Ortswechsel schrecken ihn nicht grundsätzlich. Vor seiner Familiengründung hielt er es ungefähr so wie Joseph Conrads Kapitän Charles Marlow, der von sich sagt, er könnte innerhalb von vierundzwanzig Stunden an alle Enden der Welt aufbrechen, ohne sich darüber mehr Gedanken zu machen als andere, wenn sie die Straße überqueren. Aber jetzt, als Familienvater jenseits der fünfzig, möchte er nur das Land wechseln, wenn es sich nicht vermeiden lässt. In dem Gespräch kommt er ziemlich schnell zu dem Begriff Ankerpunkt, zu der Frage, wo er bei ihm liegt und wo bei denen, die jemand wie ihn Normalextremist nennen. »›Mein Ankerpunkt‹«, sagt er, »ist meine Familie.«

Neben allem, was ihn von Tadzio Müller unterscheidet (und es ist wirklich fast alles), gibt es einen Berührungspunkt, der allerdings, was Ackners Seite betrifft, weit in der Vergangenheit liegt. »In den Achtzigern habe ich zur Metal-Szene gehört, zur Hardcore-Szene«, sagt er. »Die eigentliche Bezeichnung ist Metal Punk.« Wo sein politischer Ort lag, lässt sich heute nur noch schwer erklären. »Schon linksradikal, aber wir waren auch alle ganz klar Anti-SED«, also Gegner der damaligen kommunistischen Partei, die nach mehreren Namens- und sonstigen Änderungen heute immer noch existiert. Als ihre Herrschaft Ende 1989 zusammenbrach, sagt Ackner, damals Schweißerlehrling, sei er mit seinen Metal-Punk-Freunden »aus purem Trotz in der Antikapitalismusecke gelandet«. Erst demonstrierte er in Leipzig gegen die Partei, die sich Partei der Arbeiterklasse nannte, und in deren Reihen sich kaum echte Arbeiter fanden. Zu diesen Demonstrationen gehörte es auch, sich vor Trupps der Polizei in Sicherheit zu bringen, die sich Volkspolizei nannte. Dann, als die Funktionäre der nominellen Arbeiterklassenpartei abgetreten waren, demonstrierten Hunderttausende in Leipzig für die schnelle Vereinigung mit dem Westen Deutschlands. Ackner und seine Freunde standen am Neuen Rathaus und riefen ihre Protestparolen. Ihre ganz neue Demonstrationspraxis bestand jetzt darin, vor rechtsradikalen Skinheads wegzulaufen, die linke Zecken klatschen wollten, während sich die Polizei zurückhielt. »Auf einmal«, sagt er, »war Leipzig voller Nazis. Ich frage mich, wo die alle herkamen.«

Im Gegensatz zu den Umbruchspropheten erlebte er also einen echten Umbruch, einen wirklichen Riss im System, einen, den er sogar alles in allem so wollte. Auch deshalb beharrt er heute auf seinem Stück festen Boden. Es gibt eine feine Demarkationslinie, die sich quer durch Europa zieht und in Deutschland schon an der Elbe beginnt. Überall dort, wo die Gesellschaft Ende der Achtzigerjahre erst durch den Zusammenbruch des Ostblockkommunismus erschüttert wurde, dann durch die Transformation in die kapitalistische Ordnung, überall in diesen Ländern stößt der Ruf nach dem großen Aufbruch der Struktur und nach dem Abräumen des Bestehenden auf eine sehr viel breitere Ablehnung quer durch die Gesellschaft als auf der westlichen Seite der Linie. Selbst in den politisch-medial-akademischen Milieus dieser Länder findet sich kaum jemand, der ihn begeistert aufnimmt. Und das, obwohl eine Mehrheit den Umbruch hin zum Westen wollte und obwohl der Westen kulturell ja nicht an der Elbe endet. Es scheint, als hätte selbst der gewünschte Umbruch den meisten ein realistisches Bild davon vermittelt, wie viel Veränderung eine Gesellschaft in einer bestimmten Zeit verträgt, und was sie von den Einzelnen verlangt. Östlich dieser Demarkationslinie herrscht so etwas wie eine Transformationserschöpfung, vor allem dann, wenn der Umbruch nicht von unten kommt, sondern eine Elite dem Rest der Gesellschaft erklärt, wohin er sich zu transformieren hat. Den Gesellschaften auf der anderen Seite steht sie möglicherweise noch bevor.

In der anarchischen Übergangszeit der ganz frühen Neunziger, als in Leipzig viel nebeneinander bestand, eine Goldgräberszene vor allem in der Immobilienbranche, eine Künstlerszene, eine rechtsradikale und eine linksradikale Szene, gehörte der Bruder des Ex-Punks und Schweißers zu den ersten Hausbesetzern in der Leipziger Stockartstraße. Und Wolfram tauchte in dieses Submilieu ein. Das bedeutete, sehr weit links außen zu stehen, allerdings auf eine andere Weise als ein Tadzio Müller heute. Die Hausbesetzer in Leipzig formierten sich in diesen Vor-Internetzeiten als lokales Projekt.

Das Erste, was Ackner damals von der Szene abstieß, war für ihn, den Metal-Punk, der sich erst einmal aus Prinzip oppositionell verhielt, der autoritäre Ton in den neuen Linksaußenkreisen. Dort erlebte er einen Anführer, »Typ charismatisches Arschloch, das die Leute in den Bann zieht. Ich habe noch nie so ein Kastensystem erlebt wie in der linken Szene.« Zu seiner Abneigung, sich herumkommandieren zu lassen, von wem auch immer, kam bei ihm ein Horror vor der Leere der unstrukturierten Tage mit Demonstrationen und viel Gruppendynamik, aber ohne regelmäßige Erwerbsarbeit und folglich fast ohne Geld. »Ich hatte keinen Bock darauf, in abgewetzten alten Buden zu leben und bis mittags zu schlafen. Ich konnte mir das nicht als Leben vorstellen. Vor allem nicht als Leben mit Mitte Dreißig.«

Also nahm er in den nächsten 17 Jahren gut bezahlte Arbeiten an. In Norwegen lebte er für ein halbes Jahr auf einer Baustelle und schweißte Rohre. In Südafrika schweißte er ebenfalls, verliebte sich zweimal, jeweils in eine Musikerin, und überstand einen Überfall von Machetenmännern, bei dem er es außerdem noch schaffte, den größten Teil seines Geldes zu retten, eine Rolle aus D-Mark-Scheinen. In Italien begann er nach den langen Schichten, bis Mitternacht an seinem Computer zu tippen. Einen Afrikareise-Roman. »Das war das erste Mal«, sagt er, »dass ich merkte, ich kann Texte schreiben.«