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Jörn Lamla

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Beschreibung

Die Politik hat den Konsumenten entdeckt und stellt sich zunehmend auf dessen Haltungen und Ansprüche ein. Werden dadurch postdemokratische Verfallsprozesse beschleunigt oder entsteht stattdessen eine neue Form von Verbraucherdemokratie? Jörn Lamla nimmt die politischen Dynamiken in den Blick, die auf die Interdependenzen und Folgeprobleme der Konsumgesellschaft reagieren und neue Antworten suchen. Öffentliche Kämpfe um eine zeitgemäße Gemeinwohlinterpretation spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Praktiken eines moralisch aufgeladenen Konsumalltags. Ziel ist die Entwicklung einer politischen Soziologie, die den innovativen Kräften kapitalistischer Marktordnungen, digitaler Technologien, rechtsstaatlicher Regulierung, zivilgesellschaftlicher Beteiligung, kollektiver Intelligenz und sozialer Bildungsprozesse angemessen Rechnung zu tragen weiß.

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Die Politik hat den Konsumenten entdeckt und stellt sich zunehmend auf dessen Haltungen und Ansprüche ein. Werden dadurch postdemokratische Verfallsprozesse beschleunigt, oder entsteht stattdessen eine neue Form von Verbraucherdemokratie? Jörn Lamla nimmt die politischen Dynamiken in den Blick, die auf die Interdependenzen und Folgeprobleme der Konsumgesellschaft reagieren und neue Antworten suchen. Öffentliche Kämpfe um eine zeitgemäße Gemeinwohlinterpretation spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Praktiken eines moralisch aufgeladenen Konsumalltags. Ziel ist die Entwicklung einer politischen Soziologie, die den verschiedenen innovativen Kräften kapitalistischer Marktordnungen, digitaler Technologien, rechtsstaatlicher Regulierung, zivilgesellschaftlicher Beteiligung, kollektiver Intelligenz und sozialer Bildungsprozesse angemessen Rechnung zu tragen weiß.

Jörn Lamla lehrt und forscht als Professor für Soziologische Theorie an der Universität Kassel.

Jörn Lamla

Verbraucherdemokratie

Politische Soziologie der Konsumgesellschaft

Suhrkamp

Für Linus

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Textgrundlage dieses eBooks ist die 1. Auflage der gedruckten Version gleichnamigen Titels.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-73094-2

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Einleitung

I. Konsumgesellschaft – Dimensionen der Verbraucherdemokratie

1. Grundbegriffe und Untersuchungsfelder einer Politischen Soziologie des Konsums

1.1 Politischer, ethischer und nachhaltiger Konsum im Rahmen des Marktes

1.2 Politischer Konsumerismus als zivilgesellschaftliche Bewegung

1.3 Das Handlungsfeld der staatlichen Verbraucherpolitik

1.4 Consumer und Citizen als historische Dispositive des Subjekts

2. Die Konsumgesellschaft heute – eine politische Krisenkonstellation?

II. Demokratischer Experimentalismus – Theorie der Verbraucherdemokratie

1. Postdemokratie – die »Nullhypothese«

2. Die Öffentlichkeit und ihre Probleme

3. Die Neuversammlung des Kollektivs

4. Die Pluralität gemeinsamer Welten und die Arenen ihrer Kritik

III. Öffentlichkeit – Diskurs der Verbraucherdemokratie

1. Kritikmuster und Engagementformen im publizistischen Diskurs der Verbraucherdemokratie

1.2 Kampagnen zur Aufklärung der Verbraucher

1.3 Rechtsstaatlichkeit contra Gegenkulturdenken

1.4 Moralischer Konsum

1.5 Culture Jamming als mentaler Umweltschutz

1.6 Subversion via Dekonstruktion

1.7 Marktfreiheit als Zivilitätsgarant

1.8 Neues Verbraucher-Bildungsbürgertum

1.9 Handwerk der Bürgerinnenexistenz

1.10 Politische Begrenzung der Kommerzkultur

62. Die öffentliche Matrix der Verbraucherdemokratie

IV. Consumer Citizen? – Praktiken der Verbraucherdemokratie

1. Bausteine einer soziologischen Theorie des Consumer Citizen

1.1 Die Autonomie des Außen-Geleiteten

1.2 Die Taktiken des Verbrauchers

1.3 Shifting Involvements

1.4 Die Autonomie der Verbraucher und ihre politischen Formen

2. Konsumwelten und Alltagsökonomie – eine Typologie digitaler Konsumpraktiken

2.1 Vorbemerkungen zur Methode

2.2 Interne Relevanz-Hierarchie der Alltagsökonomie

2.3 Außen-geleiteter Konsum und seine post-soziale Transformation

2.4 Subversive Taktiken und ökonomische Konventionen

3. Konsumwelten als politische Bildungsräume? – Consumer Citizens und Verbrauchertypen

V. Kultureller Kapitalismus – Ordnungen der Verbraucherdemokratie

1. Die Neuversammlung der »gemeinsamen Welten« im Web 2.0

1.1 Das Fallbeispiel einer Shopping- und Meinungsplattform

1.2 Intersektion, Segmentation, Aushandlung – Varianten digitaler Ordnungsbildung

2. Die Ordnung des kulturellen Kapitalismus aus vier soziologischen Theorieperspektiven

2.1 Homologiethese

2.2 Fragmentierungsthese

2.3 Kopplungsthese

2.4 Aushandlungsthese

3. Prozessformen der Markt-Vergemeinschaftung im kulturellen Kapitalismus

VI. Der Staat der Verbraucher – Defizite der Verbraucherdemokratie

71. Gemeinwohlkonflikte in der Verbraucherpolitik nach der BSE-Krise

1.1 Risikoprävention im gesundheitlichen Verbraucherschutz

1.2 Gemeinwohlinterpretationen im Rahmen der Agrarstrukturreform

1.3 Verbrauchergemeinschaft und Ernährungskultur

1.4 Demokratiedefizite des staatlichen Verbraucherschutzes

2. Gouvernementale Formen der Verbrauchermobilisierung

2.1 Verbraucher-Leitbilder im Kontext »Dritter Wege« der Sozialpolitik

2.2 Verbraucheraktivierung als Regierungstechnik in der Marktgesellschaft

3. Professionalisierung und Demokratisierung der Verbraucherpolitik

VII. Was bleibt? – Reserven der Verbraucherdemokratie

1. Grundeinkommen – Die sozial-rechtliche Verfassung der Verbraucherdemokratie

1.1 Fallkonstellationen zwischen Arbeits- und Konsumgesellschaft

1.2 Zur Transzendierung des produktivistischen Leistungsprinzips

2. Mythos der Authentizität – Eine kulturelle Reserve der Verbraucherdemokratie

2.1 Struktur und Dynamik des Authentizitätsmythos

2.2 Zur Transformation des Authentizitätsmythos im kulturellen Kapitalismus

3. Demokratisches Wertschätzungslernen im kulturellen Kapitalismus

Fazit und Ausblick

Danksagung

Textnachweise

Literaturverzeichnis

Namenregister

Sachregister

9Einleitung

Aber genauso wie meines Erachtens die Mannigfaltigkeit des Freizeitverhaltens im heutigen Amerika größer ist, als man an der Oberfläche wahrnimmt, so könnten auch die Quellen für utopisches politisches Denken verborgen bleiben, sich dauernd wandeln und ständig selbst verstecken. Obgleich die Neugier und Aufgeschlossenheit dem offiziellen Bereich des politischen Geschehens gegenüber durch das dauernde ›Krisengerede‹ der Presse und der verantwortlichen Kreise des öffentlichen Lebens verdrängt worden sind, könnten die Menschen in dem Bereich, der noch von ihrem Privatleben übriggeblieben ist, neue kritische und schöpferische Maßstäbe entwickeln. Wenn diese Menschen nicht schon in Zwangsjacken gesteckt werden, ehe sie überhaupt den Anfang dazu machen […], so lernen sie vielleicht eines Tages, nicht nur mit Verbrauchsgütern wie Lebensmitteln oder Büchern, sondern auch mit den ›größeren Gütern‹ richtig umzugehen: einer Nachbarschaft, einer Gesellschaft und einer Lebensweise.[1]

Das vorliegende Buch widmet sich der Frage, wie sich die zahlreichen Probleme und Herausforderungen der heutigen Konsumgesellschaft angemessen politisch bewältigen und regulieren lassen. Und es gibt der gesuchten Lösung auch gleich einen Namen: Verbraucherdemokratie. Was dieser Name genau impliziert, ist allerdings nicht leicht festzustellen und wird mich das gesamte Buch hindurch beschäftigen. Schon das Wort Verbraucherdemokratie ist weder im wissenschaftlichen Sprachgebrauch noch in der Alltagssprache verankert.[2] Es löst somit zunächst Spekulationen aus, die in unterschiedlichste Richtungen gehen können. Was wird der 10Autor damit meinen? Zum Beispiel könnte er darunter etwas völlig Neues verstehen, das die in die Krise geratenen, nationalstaatlich organisierten repräsentativen Institutionen demokratischer Politik flankieren und entlasten, wenn nicht sogar ersetzen soll. Die Demokratie verlasse das Terrain staatlicher Rechtsetzung und Regulierung und verlagere sich in eine gänzlich andere Arena: den Markt. Hier erscheint das Volk, der Souverän, als Ansammlung individuell agierender Consumer Citizens, die mit den Mitteln ihrer Bankkonten auf die Geschicke ihrer durch transnational agierende Großkonzerne maßgeblich bestimmten Gesellschaft Einfluss nehmen.[3] Ist es das, was der Autor unter Verbraucherdemokratie versteht?

Dann treten im Geiste gleich die Kritiker dieser Interpretation auf den Plan und stellen den Begriff umgehend unter Ideologieverdacht. Sie weisen darauf hin, dass durch solche Ideen nur die postdemokratischen Tendenzen, die in den westlichen Gesellschaften ohnehin unübersehbar seien, weiter befördert würden, was im Ergebnis zur Aushöhlung noch der letzten staatlichen Kapazitäten führe, die dem Kollektiv der Bürgerinnen über die ökonomische und soziale Macht privater Interessen einen Rest an Entscheidungsautonomie sichern könnten.[4] Andere Kritiker sehen den schwerwiegenderen Kategorienfehler darin, als relevante Wirtschaftsbürgerinnen gerade die Verbraucher ins Auge zu fassen, anstatt sich auf die Unternehmer, Aktionäre und Beschäftigten zu konzentrieren. Die entscheidenden Weichenstellungen im Kapitalismus beruhten schließlich auf dem Zwang zur Kapitalinvestition: Für das Grundproblem der Mehrwertproduktion (G-W-G’) hätten die am einfachen Kauf (G-W) orientierten Konsumenten kein ausreichendes Sensorium. Sie seien Unsicherheitsfaktor oder Störgröße, aber niemals Regulierungsinstanz des Marktes.

Es finden sich aber auch affirmative Stimmen zu diesem ersten Verständnis von Verbraucherdemokratie, die in dem (durchaus kritischen) Bewusstsein vorgetragen werden, dass die nationalstaatlichen Modi verbindlichen Entscheidens längst ihre Fähigkeit verloren hätten, wirksam auf die globalen Entwicklungen Einfluss zu nehmen. Man müsse sich doch nur die Bankrotterklärungen der internationalen Staatengemeinschaft anschauen, wenn es um 11die Verteilung der Lasten der Finanzkrise oder das Abwenden der weltweiten Klimakatastrophe gehe. In dieser Konstellation sei es zu begrüßen, wenn sich die Zivilgesellschaft zu neuen Ufern aufmache und Bürgerinnen »den Kaufakt als Stimmzettel« entdeckten.[5]

Damit sind aber nur die Interpretationsmöglichkeiten am einen Pol des Spektrums umrissen. Spekulationen über das Wort »Verbraucherdemokratie« könnten auch in eine ganz andere Richtung gehen. Es könnte weniger normativ und utopisch auf eine Zukunft jenseits der Nationalstaaten bezogen, sondern vielmehr empirisch und realistisch an deren jüngerer Vergangenheit orientiert werden. Der Begriff zielte dann auf eine Zustandsbeschreibung des Politischen in einer Gesellschaft, die maßgeblich von den Mittelschichten dominiert wird, deren kulturelle Werte sich vor allem um Wohlstand und Konsum drehen und die die individuelle Lebensspanne zum Maß aller Dinge machen. Die Bürgerinnen scheinen darin auf die Zuschauerplätze des politischen Systems verwiesen zu sein und bekommen von Eliten über die Massenmedien ein launisches Werbespektakel vorgespielt, zu dem sie hin und wieder per Abwahl oder Akklamation Stellung nehmen dürfen – wie in einer Casting-Show. Hinzu komme das Selbstverständnis einer staatlichen Administration, die sich primär als Dienstleister für Kunden und Klienten verstehe, für die passgenaue Vertragskonditionen gesucht, denen Service geboten und günstige Preise gemacht werden müssten, also insbesondere nur so wenig Steuern wie irgend möglich auferlegt werden dürften, sodass die wohlfahrtsstaatlichen Optionen eines kollektiven Konsums immer weiter schwinden.

So betrachtet spielte der Terminus der links-intellektuellen Kritik am gegenwärtigen Demokratieverfall geradezu in die Hände. Aber auch zu diesem Begriffsverständnis lassen sich differenzierende oder offen bejahende Positionen einnehmen, die auf Erfolge eines solchen Regimes im 20.Jahrhundert verweisen, das die allgemeine Wohlfahrt gesteigert, zu mehr Gleichberechtigung geführt und als Exportschlager der Demokratie nicht nur die friedliche Wende in der internationalen Blockkonfrontation und die staatliche Einheit Deutschlands gebracht habe, sondern auch in den Schwellen- und Entwicklungsländern zunehmend den gesellschaftlichen Zielhori12zont definiere.[6] Was also ist gemeint? Wird das Wort Verbraucherdemokratie hier normativ oder nüchtern deskriptiv gebraucht?

Für sich bietet weder der eine noch der andere Pol solcher spekulativen Interpretationen hilfreiche Anknüpfungspunkte. Verbraucherdemokratie bezeichnet weder eine Alternative zu bestehenden staatlichen Institutionen, noch geht es darum, diesen Institutionen und Konventionen moderner Demokratien lediglich einen neuen Namen zu geben. Eingenommen wird vielmehr eine Perspektive auf die Entwicklung der Demokratie, die sich verändern muss, wenn sich die gesellschaftlichen Probleme signifikant verschieben. So betrachtet liefern dann sowohl die Interpretationen am ersten Pol, die auf das Neue der Verbraucherdemokratie gerichtet sind, als auch die am entgegengesetzten Pol, wonach wir längst in einer solchen leben, Anhaltspunkte für die Analyse: Die Verbraucherdemokratie ist sowohl Realität als auch Projekt. Sie basiert und reagiert auf Strukturen und Dynamiken, Herausforderungen und Ansprüche einer Gesellschaft, die um den Konsum und die Konsumenten kreisen. Vorläufig lässt sie sich damit bestimmen als der politische Prozess, der auf die strukturellen Probleme und problematischen Entwicklungen der Konsumgesellschaft reagiert, diese öffentlich thematisiert und im Rahmen eines Gemeinwesens, das alle davon direkt und indirekt Betroffenen umfasst und angemessen zu repräsentieren beansprucht, einer kollektiven Lösung bzw. Korrektur zuzuführen versucht. Beginnen muss ihre Untersuchung daher bei der Konsumgesellschaft und ihren Problemen.

Konsumgesellschaft – Dimensionen der Verbraucherdemokratie

Die Einführung der Verbraucherdemokratie als analytisches Konzept lässt sich in dem Maße motivieren, wie sich eine gesellschaftliche Problemkonstellation zeigt und zuspitzt, die von den Praktiken des Konsumierens ihren Ausgang nimmt und/oder folgenreich auf solche Praktiken zurückwirkt.[7] Doch ist es nicht ganz einfach, die13ser noch recht abstrakten Bestimmung schärfere Konturen abzugewinnen. Eine solche Konstellation umfasst viele Probleme, die sich auf ganz unterschiedlichen Allgemeinheitsniveaus manifestieren. Der begrifflichen und analytischen Systematisierung solcher Dimensionen widmet sich das nachfolgende erste Kapitel. Vorerst muss eine kurze Andeutung konsumgesellschaftlicher Problemschichten anhand einiger wichtiger Unterscheidungen genügen, um das Ausmaß der Herausforderungen an die Verbraucherdemokratie deutlich zu machen und grob deren Ausgangslage zu skizzieren. Die erläuternden Beispiele sind willkürlich herausgegriffen, und der Eindruck der Unübersichtlichkeit, der sich damit einstellt, ist wohl seinerseits ein wichtiges, konstitutives Moment dieser gesellschaftlichen Ausgangskonstellation. Jedenfalls ist er hier durchaus gewollt, um deutlich zu machen, dass von der Konsumgesellschaft zu reden nicht zwangsläufig bedeutet, die moderne Gesellschaft auf eine einzige ihrer vielen Dimension zu reduzieren, sondern vielmehr dazu auffordern soll, die Komplexität moderner Gesellschaftstheorie neu zu akzentuieren und zu rekonstruieren.

Zu nennen wären in der Konsumgesellschaft zunächst die ökonomischen Probleme der effizienten Güterversorgung und die ökologischen der nachhaltigen Ressourcennutzung und des Klimaschutzes, die beide mit den Gewohnheiten der Verbraucher eng verzahnt sind. Sodann finden sich Probleme der Einhaltung von Menschenrechten und der globalen Verteilungsgerechtigkeit zwischen den an der Produktion, Vermarktung und Nutzung – z. B. eines Markenartikels – Beteiligten und davon Betroffenen sowie der lokalen Konkurrenz um Status und Ansehen in einer bis in die Mittelschichten hinein von Prekarität bedrohten Arbeits- und Wohlstandsgesellschaft, in der die Teilhabe am Konsum solcher Waren auch über Inklusion und Exklusion entscheidet.[8] Die Pro14bleme der Verbraucherdemokratie können sich aber auch um Fragen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes drehen, die wie der Gammelfleisch-, der BSE- oder der Dioxin-Skandal aus den schwer überschaubaren Strukturen industrieller Massentierhaltung und Lebensmittelproduktion resultieren, oder um solche des Jugendschutzes, die mit spezifischen Ereignissen wie der Markteinführung alkoholhaltiger Süßgetränke (Alkopops) zusammenhängen. Hinzu kommen Probleme der Herrschaft und ihrer Legitimation, etwa wenn das Vermögen führender transnationaler Markenkonzerne das Bruttoinlandsprodukt zahlreicher Wohlfahrtsstaaten übersteigt oder die Entsorgung überschüssiger Waren als Almosen an die Armutsbevölkerung erfolgt.[9] Die Palette an Problemen ist also sehr breit und lässt kaum eine gesellschaftliche Konfliktlinie außen vor. Terror und Krieg zwischen den Völkern und Nationen oder die Herausforderungen des demographischen Wandels in einer alternden Gesellschaft stünden nun nicht gerade für Probleme der Konsumgesellschaft, könnte man meinen, aber schon ein kurzes Nachdenken über Blutdiamanten, den weltweiten Durst nach Öl, die Folgen des Massentourismus oder den »Kostenfaktor Kind« verunsichert diese Aussage.

So viel zur Vielfalt der Issues des Untersuchungsfeldes und seiner möglichen Policies. Sie umfassen gewiss auch die nachfolgende Problemschicht, die Abhängigkeiten identifiziert, denen sich Probleme der Autonomieerwartung und -gewinnung gegenüberstellen lassen: Die nicht selten tödliche Sucht nach harten Drogen ist nur der extremste Fall einer Grundproblematik, die in der Konsumgesellschaft viele Facetten und Schattierungen aufweist. Dabei geht es nicht nur um Tabak, Alkohol, Kaffee, Marihuana, Zucker, Fette usw., sondern auch um nichtphysiologische Abhängigkeiten, nicht zuletzt vom Shopping selbst, sowie um die kehrseitigen Zumutungen von Selbstdisziplin und um die sozialpolitischen und diskursiven Formationen der Aktivierungsgesellschaft mit ihrer Fitnesskultur, die sich bis weit in den Konsumalltag hinein erstrecken. Dieses Problem wird hier analytisch herausgehoben, weil es zugleich auf einen wichtigen Grundwiderspruch aufmerksam 15macht, den Peter Wagner als unauflösbare Spannung zwischen den Zielen der Freiheit und der Disziplin charakterisiert hat und der sich in wechselnden Arrangements durch die gesamte Geschichte der Moderne zieht und für diese konstitutive Bedeutung hat.[10] Was hier zunächst auf der individuellen Seite der Konsumgesellschaft als Problem auftaucht und allein Freiheiten und Disziplinierungen der Verbraucher zu betreffen scheint, hat eine nicht minder wichtige kollektive Dimension: Es geht bei diesem Widerspruch auch um die Gestaltungs- und Regulierungskapazitäten der modernen Gesellschaft, um ihren aufklärerischen Anspruch, sich als politisches Gemeinwesen ein Höchstmaß an Autonomie erhalten und damit auf ihre zukünftige Entwicklung steuernd Einfluss nehmen zu können. Auch diese Probleme ihrer politischen Form, die sich in der spätmodernen Gesellschaft als gravierende Herausforderungen für die Demokratie und ihre bestehenden Institutionen erweisen dürften, hängen womöglich eng mit den Strukturen und Dispositionen einer Konsumgesellschaft zusammen. Sie muss demnach neue Wege finden, um ihre kollektive Autonomie zu steigern und Abhängigkeiten zu reduzieren.

Auf der einen Seite sind dabei erweiterte direkte Partizipationsmöglichkeiten der Verbraucher in Rechnung zu stellen, die insbesondere durch die neuen digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien mit ihren Social Media- und Web2.0-Anwendungen in Reichweite rücken.[11] Veränderungen der Macht- und Kommunikationsverhältnisse reichen bis ans Supermarktregal heran, wenn zukünftig mittels Barcode-Scanner und Smartphone Pro16dukteinschätzungen durch Freundschaftsnetzwerke, Testinstitute, Nichtregierungsorganisationen oder kommerzielle Verbraucherportale sekundenschnell verfügbar sind. Der digitale Kommunikationsraum ist daher bevorzugtes und zugleich stark umkämpftes Terrain für Experimente einer direkten Verbraucherdemokratie. Auf der anderen Seite darf aber nicht übersehen werden, dass sich um die Interessen, Probleme und Bedürfnisse in der Konsumgesellschaft ein äußerst komplexes Netzwerk von Repräsentationsbeziehungen gespannt hat. Es umfasst Marketing und NGOs, Parteien und Verbände, private Testinstitute und Institutionen des staatlichen Verbraucherschutzes auf unterschiedlichen nationalen und transnationalen Ebenen, sodann Anwaltskanzleien, wissenschaftliche Theorien und Forschungsprogramme von der Markt- über die Hirnforschung bis zur Kulturanthropologie, Aktionskünstlerinnen und Publizistinnen, Designstudios und Werbestars, aber auch Kreditvermittlungs- und Schuldnerberatungsstellen usw. – ganz zu schweigen von jenen Advokatorinnen, die sich für die nicht-menschlichen Wesen einsetzen, etwa für die Rechte von Tieren oder die Ansichten des »lieben Gott«. Überall wird im Namen der Verbraucher gesprochen, wird versucht, ihnen eine Stimme zu verleihen oder ihren wahren Willen zu übersetzen. Dass dies stets mit Interessenverschiebungen einhergeht, kann sozialwissenschaftlich ebenso wenig bezweifelt werden wie die Ungleichgewichte, die sich zwischen den unterschiedlichen Anliegen einstellen und reproduzieren.

Demnach stellen sich der Verbraucherdemokratie auch Fragen ihrer politischen Verfassung, die sich wiederum von solchen der politischen Kultur unterscheiden lassen. So steht einerseits die mehr oder weniger dauerhafte Institutionalisierung von Grundrechten, etwa Eigentums- und Vertragsrechten, Informations- und Klagerechten, Mit- und Selbstbestimmungsrechten, Mindestteilhabe- und Schutzrechten usw. zur Disposition, müssen Formen der effektiven Gewaltenteilung gefunden, Verfahrensabläufe festgelegt und Verbindlichkeiten geschaffen werden. Auf der anderen Seite geht es dann aber um die Selbsttranszendierung der Verbraucherdemokratie, um ihre Lern- und Entwicklungsfähigkeit, ihren kollektiven Bildungsprozess, da sie sich – wie andere Demokratieformen auch – bei der Abarbeitung des konsumgesellschaftlichen Problemdrucks selbst im Wege stehen kann. So verkürzt der Konsumismus den 17Zeithorizont im Vergleich zur Wahlperiode parlamentarischer Demokratien ein weiteres Mal erheblich, wenn er das Lebensmotto der Hedonisten zum allgemeinen Maßstab erhebt: Ich will alles, und zwar sofort![12] Die politische Kultur der Konsumgesellschaft wird in der Verbraucherdemokratie mithin zur Aufgabe der Verbraucherbildung, wobei jedoch unklar bleibt, in welchem Maße ein Entgegenkommen passender Persönlichkeitsdispositionen tatsächlich erforderlich ist. Womöglich greifen andere Mechanismen besser – etwa technologische Innovationen, wissenschaftliche Expertise, charismatische Führungskraft, Infrastrukturmaßnahmen, internationale Vereinbarungen, Rechtsstaatlichkeit, professionalisierte Stellvertretung oder multimediale Massenmobilisierung –, um die Probleme der Konsumgesellschaft zu lösen. Unverzichtbar ist es daher, die Analyse der Verbraucherdemokratie mehrdimensional anzulegen und sie gesellschaftstheoretisch zu reflektieren und zu unterfüttern.

Demokratischer Experimentalismus – Theorie der Verbraucherdemokratie

Was wie der Auftakt zu einem utopischen Entwurf für ein neues kosmopolitisches Gemeinwesen klingen mag, ist also tatsächlich eher als analytische Annäherung an einen Prozess gemeint, der längst im Gange ist. Die Suche nach der Verbraucherdemokratie vollzieht sich bereits über eine Vielzahl an Entwürfen und Annäherungen, von denen sicherlich viele scheitern werden. Sofern sie aber für die skizzierte Problem- und Krisenkonstellation der Konsumgesellschaft empfänglich bleibt, diese zu artikulieren lernt und die eigenen Stärken und Defizite reflektiert, so lautet meine These, bleibt die Chance auf politische Bildungsprozesse, verbesserte Repräsentationsverhältnisse, kollektive Autonomiegewinne, ein wachsendes Verantwortungsbewusstsein und steigende Steuerungskapazitäten in der Demokratie erhalten. Ein Automatismus darf 18aber sicher nicht unterstellt werden. Es ist und bleibt kontingent, ob die Konsumgesellschaft für die Bearbeitung ihrer Probleme ihre politischen Institutionen innovativ erweitert oder diese im Sinne der Postdemokratiethese zunehmend erodieren oder erstarren lässt. Zwei Theoretiker lassen sich in diesem Zusammenhang anführen, die solche Bedingungen genauer inspizieren, nämlich John Dewey und Bruno Latour. Deren Überlegungen führe ich im zweiten Kapitel zu einem Analyserahmen zusammen, der als Demokratischer Experimentalismus bezeichnet wird.[13] Damit sind der Zustand und der Operationsmodus benannt, in dem die Verbraucherdemokratie sich befindet und entwickelt.

Beide, Dewey in seiner 1927 publizierten Arbeit über Die Öffentlichkeit und ihre Probleme sowie Latour in seinem 1999 erschienenen Parlament der Dinge, gehen von einem rekursiven Zusammenhang zwischen den indirekten Nebenfolgen, die aus den komplexen Verflechtungen und Interdependenzen des sozialen Handelns in der modernen Gesellschaft resultieren, und einer darauf antwortenden, innovativen Fortbildung demokratischer Institutionen und Staatsformen aus.[14] Dabei kommt der experimentellen Suche nach Lösungen für die Probleme oder »Dinge«, wie Latour die »Streitsachen«[15] zu nennen pflegt, in Prozessen und Verfahren der Öffentlichkeit (Dewey) oder parlamentarischen Versammlung (Latour) zentrale Bedeutung zu. »Ein Staat«, schreibt Dewey, »ist […] schon von Natur aus immer etwas, das geprüft, erforscht und nach dem gesucht werden muß. Beinahe sobald seine Form stabilisiert ist, muß er erneuert werden.«[16] Und auch bei Latour gründet die politische Ordnung nicht auf einem Gesellschafts-, sondern auf einem »Lernvertrag«, wobei die Hüter der Verfassung, die Administratoren und Verfahrenswächter, die für die Kontinuität des öffentlichen Lebens sorgen, ein »Versuchsprotokoll« zu führen haben.[17] Die Unübersichtlichkeit des konsumgesellschaftlichen Problemdrucks 19muss also nicht nur Überforderung und Erosion der bestehenden demokratischen Institutionen bedeuten. Die Demokratie kann sich auch zu neuen Ufern aufmachen, sofern sie sich ihre Lernfähigkeit bewahrt.

Mit ihrer Betonung des experimentellen Vorgehens übertragen Dewey und Latour Momente wissenschaftlicher Forschungslogik und Erkenntnisgewinnung auf das Feld der Politik. Dabei streben sie keine Übertragung der Macht an Philosophenkönige oder Technokraten an. Eher gilt das Gegenteil: Die Wissenschaften dürften sich nicht länger in ihrem Elfenbeinturm verkriechen, der nur dazu diene, einen fragwürdigen Monopolanspruch auf objektive Tatsachenfeststellung zu behaupten und zu verteidigen. Ihre Wahrheitssuche sei in hohem Maße von politischen Wertsetzungen durchzogen und müsse sich daher durch Anschlussfähigkeit an den Common Sense legitimieren. Die Erweiterung kollektiven Wissens sei auf demokratische Experimentiergemeinschaften angewiesen, in denen die Logik des forschenden Lernens auf unterschiedlichste soziale Problemkonstellationen verallgemeinert wird.[18] Diese experimentelle Methode, die Logic of Inquiry, allgemein zu fassen und jene Bedingungen zu identifizieren, unter denen sie zu einem substantiellen Fortschreiten des kollektiven Erfahrungswissens beiträgt, mit dem die problematischen Nebenfolgen in erweiterten Formen der Staatlichkeit politisch reguliert und die gesellschaftlichen Interdependenzen zum Identifikationsbestandteil einer vergrößerten Gemeinschaft werden können, ist Sinn und Zweck des Analyserahmens. Dewey und Latour sehen den Schlüssel hierzu in der Öffentlichkeit.

Im theoretischen Modell des Demokratischen Experimentalismus ist diese Öffentlichkeit der Ort der Versammlung, an dem sich jenes Kollektiv neu zusammenfinden muss, das durch ein zur Streitsache gewordenes gesellschaftliches Problem oder »Ding« bereits folgenreich vernetzt ist, ohne darin aber bereits ein gemeinschaftlich kontrolliertes Handeln erblicken zu können. Die Identifikation dieses Kollektivs, eine Art »Wir im Wartestand«, kann als grundlegende Aufgabe einer sich darum bildenden Öffentlichkeit betrachtet werden. Erforderlich sind dann jedoch verschiedene weitere Schritte, um die Problemsituation zu ordnen, Vorschläge und mögliche 20Lösungen zur Sprache zu bringen, diese auszufiltern und in eine hierarchische Beziehung zu bringen, um schließlich solche neuen Vorstöße für die demokratische Repräsentation des Kollektivs und der Anliegen seiner Mitglieder zu generieren, die Akzeptanz finden und geeignet sind, sich institutionell und gewohnheitsmäßig zu verfestigen. Zugleich müssen diese Lösungen symbolisch durchgearbeitet, protokolliert und repräsentiert sein, soll der öffentliche Lernprozess das kollektive Wissen nachhaltig erweitern und sich von der situativen Logik des Trial-and-Error-Verfahrens unterscheiden.[19]

Zugleich ist klar, dass die empirische Wirklichkeit von einem solchen theoretischen Modell mehr oder weniger abweicht, dass es also Probleme und Hindernisse für die Öffentlichkeit geben wird, sich in dieser Weise zu identifizieren und zu organisieren. Das ist auch für Dewey und Latour offensichtlich, die sich auf Walter Lippmann beziehen, der die Öffentlichkeit als »Phantom« abgekanzelt hat – wenngleich sie dessen Elitismus nicht teilen.[20] Der Soziologie hilft das Modell gleichwohl, den Zustand der Öffentlichkeit zu diagnostizieren und festzustellen, wie weit die Demokratie davon entfernt ist, sich neu zu formieren und den drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen. Die Analyse kann sich einerseits auf die innere Konstitution der Öffentlichkeit richten und untersuchen, wie stark sie fragmentiert oder fokussiert ist, welche Experimente und Lösungsansätze im Gespräch sind, ob sich neue Repräsentationsbeziehungen entwickeln und wie begründet die Annahme erscheint, dass diese sich institutionell verfestigen und bewähren. Sie muss andererseits aber auch deren äußere Bedingungen im Auge behalten, etwa das Tempo des gesellschaftlichen Wandels, die strukturelle Komplexität der Sachprobleme oder die Beharrungstendenzen etablierter Mächte und Institutionen, um die Chancen demokratischen Lernens angesichts der mächtigen Eigendynamiken in der späten Moderne abschätzen zu können.

Damit weist das Modell des Demokratischen Experimentalismus der Analyse der Verbraucherdemokratie einen Weg, nämlich zunächst einmal die öffentlichen Anstrengungen in den Blick zu nehmen, Probleme der Konsumgesellschaft angemessen zur Sprache zu bringen und ihre Handlungsnetzwerke zu repräsentieren. 21Dies kann sicherlich auf sehr unterschiedlichen Ebenen passieren, angefangen bei den unzähligen Skandalen und Detailproblemen wie dem Dioxin im Frühstücksei, dem Rauchverbot in Gaststätten oder dem T-Shirt für 4,95 Euro bei H&M, die allesamt ihre Öffentlichkeit finden. Da die Probleme der Konsumgesellschaft sich aber zugleich zu einer Krisenkonstellation verschärfen, wobei der Begriff der Krise auf die strukturelle Überforderung der bestehenden, selbst in die Probleme verstrickten politischen Institutionen und Lösungsansätze abstellt, lassen sich Prozesse der Formierung einer Öffentlichkeit auch auf übergeordneter Ebene vermuten. Die Verbraucherdemokratie entwickelt sich demnach nicht nur verstreut und unzusammenhängend in lokalen Arenen, sondern gewinnt auch als allgemeines, übergreifendes Projekt Gestalt, wie am publizistischen Diskurs der Verbraucherdemokratie verdeutlicht werden kann. Darüber dürfen freilich die vielen kleinen Experimente nicht vergessen werden. Sie sind und bleiben ein wesentlicher Bestandteil der politischen Formierungsprozesse. Und ebenso wenig darf bei der Analyse dieser Öffentlichkeit stehen geblieben werden, ohne deren interne Dynamik mit den eigendynamischen Prozessen der kulturellen Praktiken und institutionellen Ordnungen in der Konsumgesellschaft ins Verhältnis gesetzt zu haben. Dabei ist zu fragen, ob und inwieweit diese einer Verbraucherdemokratie entgegenkommen oder nicht.

Öffentlichkeit – Diskurs der Verbraucherdemokratie

In der vergangenen Dekade hat sich auf dem Sachbuchmarkt ein reger, vielleicht auch lukrativer publizistischer Diskurs zu den Fragen der Verbraucherdemokratie entwickelt. Überwiegend jüngere Journalistinnen und (Medien-)Intellektuelle haben in dieser Zeit mit – hier in der Reihenfolge ihrer Erstveröffentlichung aufgelisteten – Buchtiteln wie Culture Jam (Erstveröffentlichung 1999), No Logo! (2000), Schwarzbuch Markenfirmen (2001), Das konsumistische Manifest (2002), Konsumrebellen (2004), Fake for Real (2005), Kunde König ruiniert sein Land (2006), Die Einkaufsrevolution (2006), Habenwollen (2006), Consumed (2007), Glanz und Elend der Kommerzkultur (2007), Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich (2008), Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas22und Lifestyle-Ökos vereinnahmt (2009) usw. eine interessierte Leserschaft gefunden, gefolgt und begleitet von einer ansteigenden Forschungs- und Publikationstätigkeit in den Sozialwissenschaften.[21]

Als eine Art »whirlpool of argumentative action«[22] ist die Arena dieses publizistischen Sachbuchmarktes gut geeignet, eine erste Diagnose zum Zustand der Öffentlichkeit und ihrer demokratischen Experimente vorzunehmen. Mit den Mitteln einer »Soziologie der Kritik«[23] lässt sich anhand dieser Textdokumente herausarbeiten, welche Weltbezüge, Rechtfertigungsordnungen und Engagementformen in dieser Öffentlichkeit artikuliert werden und ihre Bahnen kreuzen. Und diese Liste ist – unabhängig von der Frage ihrer Vollständigkeit – eindrucksvoll. Auf den ersten Blick präsentiert sich dieser Diskurs als ziemlich heterogene Ansammlung von Kritiken bzw. Affirmationen der Konsumgesellschaft, und der Eindruck einer starken Fragmentierung der verbraucherdemokratischen Öffentlichkeit bleibt nicht aus. Die Positionen reichen von kapitalismuskritischer Boykottpolitik, aufklärerischen Ansätzen zu mehr Transparenz und Verbraucherinformation, Verteidigungen rechtsstaatlicher Rahmensetzungskompetenz oder moralischen Konsumappellen über dekonstruktive Angriffe auf die Werbespra23che, offene Marktapologetik oder begrenzte Akzeptanz der Kommerzkultur bis hin zu bildungsbürgerlichem Distinktionsgebaren oder der Sehnsucht nach einem einfachen, authentischen Leben.

Diese Vielfalt kann verschiedene Ursachen haben, die in der Konsequenz ganz unterschiedliche Einschätzungen nahelegen und deshalb nach einer möglichst genauen Analyse verlangen, die im dritten Kapitel erfolgt. Ist die diskursive Ausgangslage Beleg für den strukturellen Zerfall öffentlicher Selbstverständigung im Zeitalter der Postdemokratie? Oder spiegelt sie nur in sachangemessener Weise die hohe Komplexität der konsumgesellschaftlichen Problemkonstellation wider? Vielleicht handelt es sich um eine frühe Phase ihrer Formierung, in der die Öffentlichkeit noch perplex vor der unübersichtlichen Gemengelage an Deutungsangeboten steht, die erst allmählich in einen gemeinsamen Problemrahmen überführt werden. Folglich wird erst die Zukunft erweisen, wann und wie die zentrifugale in eine zentripetale Dynamik öffentlicher Lösungssuche umzuschlagen beginnt, wobei empirisch ebenso möglich bleibt, dass das Thema zuvor an den Aufmerksamkeitsfiltern fluktuierender Medienmärkte scheitert oder nur zu Kohärenz gelangt, wo es die Sachproblematik extrem verkürzt. Immerhin, das zeigt der Buchmarkt in jedem Fall, beginnt sich die Öffentlichkeit der Verbraucherdemokratie als solche zu identifizieren. Geprägt ist sie aber zugleich von einer Vielzahl experimenteller Ansätze, etwa des Marktes und seiner Exit-Option, der freiwilligen Selbstbindung oder Quasi-Normierung von Unternehmenspraktiken, der gouvernementalen Führung der Konsumsubjekte, der wissenschaftlichen Expertise und technologischen Innovation, der medienwirksamen Skandalisierung oder der sanktionsbewehrten Entscheidung in der Staatengemeinschaft. Ob es gelingt, diese Pluralität in eine neue kollektive Ordnung zu überführen, ist die spannende, empirisch offene Frage.

Die Autorinnen des publizistischen Diskursfeldes füllen – vielleicht getrieben durch ihre journalistische Konkurrenz – sukzessive die Felder (oder Nischen) einer bestimmten Diskursmatrix, die als solche zwar kaum Thema wird, aber doch so etwas wie den grammatischen Code enthält, auf den sich alle stützen. So setzen sich die Bücher zu drei Handlungsarenen ins Verhältnis – zu jener der staatlichen Intervention, der medialen Kommunikation sowie der privaten (Alltags-)Ökonomie – und wählen daraus ihre primäre Be24zugswelt, in der sie bevorzugt nach Lösungen für die Krisen und Probleme der Konsumgesellschaft suchen. Zugleich gehen sie von unterschiedlichen Quellen der Empörung und der Kritik an dieser Konsumgesellschaft aus, die sich auf einer ersten Ebene entlang der Differenz von Sozial- und Künstlerkritik bestimmen lassen, die sich jedoch beide intern noch ein weiteres Mal differenzieren.[24] So kann die Sozialkritik eher an liberalen Rechts- oder an gemeinschaftlichen Solidaritätskonzepten ausgerichtet sein, und die Künstlerkritik unterscheidet sich danach, ob sie eher auf emanzipative Freisetzung oder am Ideal der Authentizität ausgerichtet ist.

Erkennt man, dass sich der publizistische Diskurs zur Verbraucherdemokratie über alle Positionen dieser Matrix mit ihren Welten des politischen Engagements und Mustern der Kritik erstreckt, wird deutlich, dass hier eine demokratische Experimentiergemeinschaft darüber debattiert, wie sich die Sphären des Staates, der Medien und der marktbasierten (Alltags-)Ökonomie so neu arrangieren lassen, dass den verschiedenen Forderungen der Sozial- und der Künstlerkritik in der Krisenkonstellation der Konsumgesellschaft besser Rechnung getragen werden kann. Die Öffentlichkeit weist dabei im Vergleich zu den einzelnen Diskursbeiträgen als Kollektiv die höhere Kapazität für die Suche solcher Lösungen auf, die sich als Regulierung der problematischen Nebenfolgen und Interdependenzen der Konsumgesellschaft bewähren können. Die (nachfragebedingte?) Neigung der Publizistinnen, steile und damit vereinseitigende Thesen zur Verbraucherdemokratie ins Feld zu führen, ist nur dann als eine Schwäche auszulegen, wenn es der Öffentlichkeit im weiteren Verlauf der Debatte nicht gelingt, den dadurch gewonnenen Reichtum an Argumenten zu protokollieren, schrittweise zu systematisieren und in Lösungshypothesen zu transformieren.[25]

25Consumer Citizen? – Praktiken der Verbraucherdemokratie

Die soziologische Analyse der Öffentlichkeit nimmt nicht nur die innere Konstitution der Öffentlichkeit in den Blick, sondern auch deren äußere Bedingungen, um einzuschätzen, ob experimentelle Lösungsansätze, die sich innerhalb des publizistischen Diskurses herauskristallisieren und durchsetzen, die Nebenfolgen und Interdependenzen der Konsumgesellschaft reflexiv unter Kontrolle zu bringen und das Kollektiv besser als bislang zu artikulieren vermögen.[26] Beispielsweise verschiebt der Diskurs schon dadurch, dass er die Praktiken des Konsums ausgiebig thematisiert, die Aufmerksamkeit in Richtung der Verbraucher, denen in vielen Ansätzen mehr Verantwortung für die Nebenfolgen der Konsumgesellschaft abverlangt wird. Sie werden vielfach als Konsumbürgerinnen – oder neudeutsch: Consumer Citizen – angesprochen. Es ist aber weitgehend unklar, inwiefern eine solche Zuschreibung von Bürgertugenden oder Momenten einer Bürgerinnenrolle mit dem Entgegenkommen dazu passender Motivlagen und kultureller Praktiken rechnen kann. Das vierte Kapitel widmet sich daher aus soziologischer Perspektive einer solchen Zentrierung der Verbraucherdemokratie auf jenen Akteur ihrer weit ausgreifenden Netzwerke, der ihr den Namen gibt: auf den Verbraucher.

Um eine problematische Adressierung von Verantwortung würde es sich bei den Appellen an die Consumer Citizens dann handeln, wenn die erforderliche »Civic Competence«,[27] die ja bereits im Rahmen der etablierten staatlichen Institutionen nicht ohne weiteres unterstellt werden kann, seitens der Verbraucher in ihren alltagsökonomischen Handlungskontexten nicht oder nur ungenügend aufgebracht werden kann. Der öffentliche Diskurs könnte mit solchen verbraucherzentrierten Lösungsansätzen die geforder26te Verantwortung für die Interdependenzen und problematischen Nebenfolgen der globalisierten Ökonomie unzureichend repräsentieren und artikulieren, wenn er mit normativen Appellen auf politische Funktionsdefizite reagiert, ohne zuvor abzuklären, in welchem Maße die zugeschriebenen und erwarteten bürgerschaftlichen Leistungen auch erbracht werden können. Die Benennung von Verantwortlichen könnte sogar perverse Effekte zeitigen und in »organisierte Unverantwortlichkeit«[28] umschlagen oder die Probleme durch Scheinlösungen verstellen und vergrößern, wenn die Bedingungen nicht ausreichend abgeklärt worden sind, unter denen die Institutionalisierung einer bürgerschaftlichen Leistungsrolle auf der Seite der Verbraucher gelingen kann. Das betrifft nicht nur die Frage, wie dieser bürgerschaftliche Beitrag genau spezifiziert wird, ob es etwa um eine pauschale Tugendzumutung geht, die im Rahmen des Konsumalltags umzusetzen ist, oder um begrenzte Anforderungen, z. B. im Rahmen einzelner Boykott- oder Protestaktionen. Ebenso betrifft es die institutionellen Bedingungen der Qualifizierung oder der politischen Intervention in das komplizierte Gerüst der Verbraucherpräferenzen.[29]

Aus soziologischer Perspektive sind solche experimentellen institutionellen Designs der Verbraucher-Demokratie – hier wörtlich verstanden – mit der kulturellen Innenseite der Alltagsökonomie und der Konsumpraktiken der Verbraucher zu konfrontieren und zu verknüpfen. Teilweise leistet dies der publizistische Diskurs selbst. Viel zu oft aber wird darin undifferenziert von dem Verbraucher im Singular gesprochen, so als handelte es sich bereits um die massenhafte Inkarnation des gesuchten oder aber verworfenen Kollektivsubjekts.[30] Mittels einiger soziologischer Theorien, 27die sich den kulturellen Praktiken der Verbraucher zuwenden und (gegebenenfalls fehlende) Anschlussfähigkeiten oder Wahlverwandtschaften mit Blick auf die Tugend- und Verantwortungszumutungen im öffentlichen Diskurs herausarbeiten, kann zunächst das argumentative Material für ein stärker differenzierendes Bild der Consumer Citizens gewonnen werden, da Klassiker wie David Riesman, Michel de Certeau oder Albert O. Hirschman ganz unterschiedliche Facetten von Bürgerschaftlichkeit im Konsumalltag sichtbar werden lassen. Sie reichen von Dispositionen zur Außenlenkung der Consumer Citizen über deren Potenzial, sich taktisch von den Anrufungen der Konsumgüterindustrie zu distanzieren und Versuche jeder Fremdkontrolle subversiv zu unterlaufen, bis hin zu biografischen Transformationen und Konversionen der Verbraucher in politische Aktivbürgerinnen, die ihre gesamte Lebensführung entlang kollektiver Werte in der Verbraucherdemokratie neu ausrichten und umgestalten.

Eine solche theoretische Analyse sensibilisiert im nächsten Schritt dafür, welche Unterschiede an Konstellationen und Dispositionen der Verbraucher für deren bürgerschaftliche Mobilisierbarkeit im Rahmen der Verbraucherdemokratie relevant sind. Auf der Grundlage einer Untersuchung zur virtuellen Alltagsökonomie werden die wichtigsten empirischen Differenzierungslinien typologisch nachgezeichnet. Die Praktiken des internetvermittelten Konsums liefern dafür gutes Ausgangsmaterial, insofern die sonst nicht leicht zu erhebenden, weil schwer zu verbalisierenden Konsumgewohnheiten hier noch reflexiv zugänglich und thematisierbar sind. Darüber hinaus verändern die neuen digitalen Medien die gesellschaftliche Konstellation, in der kulturelle Praktiken des Konsums situiert sind, insgesamt, sodass Hinweise auf allgemeine Entwicklungstrends in der Konsumbürgerschaft insbesondere auch in diesem Kontext beobachtbar sein dürften.[31] Im Ergebnis zeigt sich ein großer Bedarf an gründlicher empirischer Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von Verbrauchern, die für die Ausübung einer Bürgerinnenrolle ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, je nachdem, ob sie eher Dispositionen zu traditions- oder innen-geleiteten Konsumpraktiken aufweisen, ob sie 28eher dem Typus des Außen-Geleiteten entsprechen oder ein Muster der taktischen Subversion in ihrem Konsumalltag zu erkennen geben. Von einem emphatischen Konzept des Consumer Citizen sind sie ungefähr gleich weit entfernt, wobei sich ihr Qualifikationsprofil in Bezug auf eine solche Rolle grundlegender kaum unterscheiden könnte.

Kultureller Kapitalismus – Ordnungen der Verbraucherdemokratie

Ob sich die politischen Experimente der Verbraucherdemokratie praktisch bewähren, hängt nicht nur von den kulturellen Dispositionen der Verbraucher ab, sondern ist auch von den strukturellen Dynamiken der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt abhängig. Das betrifft etwa die Fähigkeit der Märkte und Unternehmen, Kritik, wie sie von sozialen Bewegungen oder Protestgruppen geäußert wird oder sich als herrschende Meinung aus dem publizistischen Diskurs ergibt, zu absorbieren, zu ignorieren oder kreativ umzuwerten. Die Mobilisierung von Verantwortung für die Nebenfolgen der Konsumgesellschaft betrifft nicht nur Akteursgruppen wie die verschiedenen Verbraucher- oder Unternehmenstypen, sondern das sozialökonomische Netzwerk insgesamt, wobei die experimentellen Ausgangsbedingungen keineswegs stabil bleiben, sondern ein sich ständig bewegendes, laufend und spontan auf die öffentlichen Diskurse reagierendes Ziel, ein moving target, abgeben. Welche Strategie vor diesem Hintergrund ein politisches Lösungspotenzial entfalten kann, muss – soweit möglich – in Kenntnis dieser strukturellen Eigendynamiken beurteilt werden.

Auch dazu kann mit den Mitteln soziologischer Theorie ein Beitrag geleistet werden, wobei jedoch kein privilegierter Standpunkt gegenüber der politischen Öffentlichkeit beansprucht werden soll, die selbst auf solches Theoriewissen über die Gesellschaft und ihre Dynamik laufend zurückgreift. Vielmehr liegt das Besondere des soziologischen Zugangs in der Methode, die verschiedenen impliziten Theorien von der Gesellschaft und ihrer Eigendynamik zu kontrastieren, zu elaborieren und zu systematisieren. Dies geschieht im fünften Kapitel mit Blick auf eine Zeitdiagnose, die eine zunehmende Verschränkung von Kultur und Kapitalismus als Signum 29der Gegenwartsgesellschaft ausmacht und deshalb als kultureller Kapitalismus bezeichnet werden kann. Während eine solche Einschätzung zur gesellschaftlichen Ordnung und ihrer strukturellen Dynamik unter den verschiedenen Theorien durchaus auf breite Zustimmung stößt, sind ihre Implikationen für das Projekt einer Verbraucherdemokratie doch alles andere als klar und unumstritten. Denn je nachdem, welche soziologische Theorie der Diagnose zugrunde gelegt wird, ergeben sich unterschiedliche Einschätzungen zu der Frage, wie aussichtsreich eine Reintegration der »Großen Gesellschaft« zu einer »Großen Gemeinschaft« im Zeitalter des kulturellen Kapitalismus ist, ganz zu schweigen von der Frage, ob und wann dieses »Kollektiv« als »gut artikuliert« gelten darf.[32]

Um die konkurrierenden Einschätzungen zu dieser Frage einer empirischen Klärung näher zu bringen, werden sie auf vier theoretische Modelle oder Hypothesen darüber zurückgeführt, wie das dynamische Verhältnis von Kultur und Kapitalismus im kulturellen Kapitalismus genau zu verstehen ist. Die Grundmodelle verfolgen eine Homologie-, eine Fragmentierungs-, eine Kopplungs- und eine Aushandlungshypothese, für die sich jeweils unterschiedliche soziologische Bezugstheorien, Anleihen bei den Klassikern sowie typische Anwendungsbeispiele heranziehen lassen, um dem jeweiligen Interpretationsansatz die nötige Plausibilität zu verleihen. Diese Beobachtung wiederum führt zu der Einsicht, dass es sich mit Blick auf die Gesamtkonstellation des kulturellen Kapitalismus nicht nur um konkurrierende Hypothesen handeln könnte, sondern auch um komplementäre Beiträge zur Erklärung der strukturellen Dynamik in der Gegenwartsgesellschaft. Vor diesem Hintergrund können die experimentellen Reaktionen auf die Krisen und Probleme der Konsumgesellschaft einer differenzierteren empirischen Einschätzung zugeführt werden.

Um die theoretische Konstruktion von vier idealtypischen Strukturdynamiken der sozialen Ordnung im kulturellen Kapitalismus einem ersten empirischen Test zu unterziehen, werden zuvor Wandlungsprozesse im Internet untersucht. Insbesondere in seiner jüngeren Entwicklungsphase, die auch als »Web 2.0«[33] bezeichnet 30wird, ist der digitale Kommunikationsraum Internet zu einem Experimentierfeld für neue Formen der Verschränkung von Kultur und Ökonomie geworden. Verschiedene Muster der Intersektion ökonomischer und kultureller Praktiken und Welten lassen sich darin identifizieren. Im Ergebnis weisen die Praktiken auf sozialen Netzwerkseiten wie MySpace oder Facebook vielfach in Richtung homologer Entwicklungen von kulturellen und kapitalistischen Dispositionen, wohingegen verschiedene kommerzielle Anwendungen, die versuchen, den user-generated content der Verbraucher für ihre betrieblichen Wertschöpfungsketten nutzbar zu machen, eher einem Modell der »kapitalistischen Landnahme«[34] entsprechen und eine fragmentierte Kultur zurücklassen. Daneben finden sich aber auch Formen der technischen und rechtlichen Kopplung getrennter Welten einer sozialen Produktion von freier, nicht-proprietärer Software einerseits und proprietärer Produktionsformen andererseits sowie schließlich auch offene Prozesse der Aushandlung über die Legalität oder Illegalität digitaler Tauschpraktiken (z. B. File-Sharing) oder staatlicher und kommerzieller Eingriffe in die Privatsphäre (z. B. Vorratsdatenspeicherung).

Die Fallbeispiele machen deutlich, dass in der Analyse von Prozessen sozialer Ordnungsbildung mit verschiedenen strukturellen Dynamiken gerechnet werden muss, die sich bereichsspezifisch ergänzen, aber auch wechselseitig überlagern und damit verstärken oder abschwächen können. Für demokratische Experimente stellt der kulturelle Kapitalismus daher ein schwieriges Terrain dar, das viele Risiken birgt, insofern Ansätze zu mehr Mitbestimmung darin oftmals ohne strukturelle Folgen in die bestehende ökonomische Ordnung integriert oder auf andere Art und Weise unterlaufen werden. Zugleich bietet er aber auch Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte für eine Verbraucherdemokratie, insofern die Autonomie der kulturellen Praxis in vielen Bereichen als unverzichtbare Ressource und konstitutive Bedingung dieses sozialökonomischen Arrangements vorausgesetzt werden muss, woraus sich stets auch Chancen für eine gesellschaftliche Machtverschiebung sowie neue politische Regulierungsformen in der Konsumgesellschaft ergeben können.

31Der Staat der Verbraucher – Defizite der Verbraucherdemokratie

In etwa dem gleichen Zeitraum, in dem der publizistische Diskurs der Verbraucherdemokratie an Fahrt aufgenommen hat, ist hierzulande auch die staatliche Verbraucherpolitik in Bewegung geraten. Maßgeblicher Auslöser war die Rinderkrankheit BSE, die Ende des Jahres 2000 auf Deutschland übergegriffen und zum Rücktritt der grünen Bundesgesundheitsministerin und des sozialdemokratischen Bundeslandwirtschaftsministers sowie zur Neustrukturierung eines Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft unter Leitung von Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) geführt hatte. Diese zeitliche Koinzidenz wirft nun die Frage auf, inwiefern die staatliche Reorganisation des Politikfeldes die Herausforderungen der Verbraucherdemokratie im Zeitalter des kulturellen Kapitalismus reflektiert und geeignete Lösungen bereits vorwegnimmt. Oder reproduziert die Verbraucherpolitik institutionelle Gewohnheiten der Konsumgesellschaft, ohne zu einer Neuverteilung der Verantwortung für deren systematisch produzierte soziale, kulturelle, ökonomische und ökologische Nebenfolgen zu gelangen? Das sechste Kapitel widmet sich unter diesen Gesichtspunkten den Defiziten bestehender staatlicher Ansätze zu einer Verbraucherdemokratie.

Verglichen mit etablierten Paradigmen einer markt-liberalen oder fürsorgestaatlichen Verbraucherschutzpolitik finden sich in den politischen Maßnahmen, die das neue Bundesministerium nach der BSE-Krise ergriffen hat, durchaus experimentelle Ansätze für einen Dritten Weg, der in Richtung einer neuen Verbraucherdemokratie weist. Dieser Weg lässt sich ausgehend von den »Dingen«, also den Sachproblemen, mit denen sich die staatliche Verbraucherpolitik auseinandersetzen muss, rekonstruieren. Sie beschäftigt sich beispielsweise neben Problemen der Risikoprävention im gesundheitlichen Verbraucherschutz auch mit Herausforderungen einer grundlegenderen Reform der Agrarwirtschaft sowie Fragen der aktiven Beteiligung und angemessenen Repräsentation der Verbraucher und ihrer Interessen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund veränderter Möglichkeiten durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien. Zeigt sich in den staatlichen Reaktionen auf diese Probleme einerseits durchaus eine gewisse Expe32rimentierbereitschaft, so kann doch andererseits nicht übersehen werden, dass institutionelle und politisch-kulturelle Routinen des bestehenden Arrangements zwischen Staat, Markt, Industrie, Wissenschaft, Recht und Medien fortgeführt werden, obgleich Zweifel an der Lösungskapazität und Zustimmungsfähigkeit dieser Form, das Kollektiv in der Konsumgesellschaft zu versammeln und zu artikulieren, heute mehr als angebracht erscheinen.

Nicht zuletzt ist Kritik an der Art und Weise angebracht, wie die staatliche Politik die Verbraucher anspricht und für ihre experimentellen Ansätze eines Dritten Weges in verschiedenen Politikfeldern zu mobilisieren versucht. Oft folgt das Muster, mit dem die Regierung die Verbraucher zu bilden und in Consumer Citizens zu transformieren versucht, einem in der Sozialpolitik erprobten Modell der Aktivierung, das erziehungsstaatliche und paternalistische Züge aufweist. Ein solcher gouvernementaler Politikansatz ist kritisch zu hinterfragen, weil er die Verbraucher für die Reintegration der Markt- und Konsumgesellschaft vor allem funktionalisiert, ohne zu prüfen, ob deren Anliegen dabei auch angemessen repräsentiert werden. Insbesondere mit Blick auf die strukturellen Ordnungsdynamiken im kulturellen Kapitalismus erzeugt diese Aktivierungspolitik nur wenige Spielräume für autonome Gestaltung und Reorganisation. Vielmehr liegt sie selbst ganz auf der Linie einer Verschränkung von Kultur und Kapitalismus, von Bürgerschaftlichkeit und Marktordnung, die den problematisch gewordenen Strukturprinzipien der Konsumgesellschaft weitere Expansionsmöglichkeiten verschafft, anstatt neu auszuhandeln, inwiefern diese begrenzt und modifiziert werden müssten. Bürgerin und Konsument werden gleich auf mehreren Gebieten kategorial verschmolzen und den strukturellen Erfordernissen der Märkte eingepasst, indem sie überwiegend als individuelle, d. h. von kollektiven Anliegen abgeschnittene Privatsubjekte angesprochen, aktiviert und vertraglich eingebunden werden.

Hinter dieser fehlerhaften Ausrichtung staatlicher Aktivierungspolitik verbergen sich nicht nur ungleiche Machtverhältnisse und strukturelle Interessen, sondern auch kollektive Abhängigkeiten bis hin zur krankhaften Sucht nach der Fortsetzung der institutionellen und kulturellen Routinen eines produktivistischen Wachstumsregimes. Wenngleich es zu ersten Ansätzen der Aktivierung des Staates für eine neue Regulation und Organisation der sozialökono33mischen Beziehungen und Handlungen durchaus kommt, zeigen sich doch enorme Schwierigkeiten, diesen eingeschlagenen Pfad der gesellschaftlichen Entwicklung zu verlassen, obwohl genau dies in unserer heutigen Konsumgesellschaft zur Krise der fehlenden Nachhaltigkeit beiträgt. Damit stellt sich abschließend die Frage, ob – und wenn ja, wie – eine Aktivierungsstrategie im Rahmen einer Verbraucherdemokratie denkbar wäre, die sich solch zwanghafter Abhängigkeiten zu entledigen, die produktivistischen Strukturprinzipien zu transzendieren und den kulturellen Kapitalismus als Ressource für eine bessere Artikulation und Repräsentation der in der Konsumgesellschaft versammelten Anliegen zu nutzen versteht.

Was bleibt? – Reserven der Verbraucherdemokratie

In der Rolle eines Protokollanten der öffentlichen Experimentiergemeinschaft oder eines Verfahrenswächters der Verbraucherdemokratie und ihrer intellektuellen Suchbewegungen kann der soziologische Beobachter nicht viel mehr leisten, als auf Reserven hinzuweisen, die in den bisherigen politischen Anstrengungen des Kollektivs vergessen zu werden drohen oder zu wenig gewürdigt zu sein scheinen. Dieser Aufgabe wendet sich das siebte Kapitel zu. Ausgehend von den Vorschlägen, die David Riesman und seine Mitarbeiter vor mehr als einem halben Jahrhundert zur Frage vorgebracht haben, wie die Verbraucher am politischen Gemeinwesen stärker partizipieren und durch eine professionalisierte »Freizeitberatung«[35] im Interdependenzgeflecht der Konsumgesellschaft besser repräsentiert werden könnten, wird nach Experimenten gefahndet, die Wege in eine Nachknappheitsgesellschaft bahnen könnten. Dieser erläuterungsbedürftige Terminus steht nicht für das Ende aller Knappheiten, sondern für ein in der heutigen Konsumgesellschaft bereits angelegtes Potenzial zur Überwindung der Fixierung auf Knappheiten, welches sich die gesellschaftliche Gemeinschaft allerdings erst noch erschließen muss, indem sie einerseits die produktivistischen Zwanghaftigkeiten der Arbeits- und Leistungsgesellschaft, die sich bis in den Konsumalltag hinein erstrecken, strukturell wirksam begrenzt und andererseits auf der 34Grundlage dieser erweiterten Freiheiten und wiedergewonnenen Autonomiespielräume die Kommunikations-, Repräsentations- und Anerkennungsverhältnisse so neu ordnet, dass sie dem kulturellen Kapitalismus Zugewinne an demokratischer Selbstbestimmung abtrotzen können.

Als erstes Schlüsselexperiment ist hier zu diskutieren, inwiefern das bedingungslose Grundeinkommen als ein maßgebliches Bürgerinnenrecht der Verbraucherdemokratie anzusehen ist, das nicht nur für deren politische und ökonomische, sondern auch für deren kulturelle Verfassung die Weichen neu und grundlegend anders als bisher stellt. Riesman hätte einen solchen Ansatz sicherlich begrüßt und als notwendig sowie vielversprechend angesehen, um die Verbraucher aus der Umklammerung durch die erwerbsarbeits- und leistungsfixierten Institutionen ein Stück weit herauszulösen. Denn erst dann könnten sie sich ungehemmt der Aufgabe zuwenden, die sozialen Beziehungen, Interdependenzen und Nebenfolgen der Konsumgesellschaft kritisch zu bewerten und neu zu ordnen. Als hinreichend würde er eine solche rechtliche Weichenstellung innerhalb der kapitalistischen Ökonomie aber sicherlich nicht ansehen, da die Abhängigkeiten, die derzeit noch verhindern, dass die soziale Wertschätzung sich von ökonomischen Erfolgskriterien lösen kann, zugleich im kulturellen Mythenbestand der Gesellschaft tief verankert sind. Deshalb muss insbesondere geklärt werden, unter welchen Bedingungen sich ein Wertschätzungslernen kollektiv vollziehen kann, das komplementär zu den erweiterten negativen Freiheiten (und deren ökonomisch-rechtliche Institutionalisierung kulturell absichernd) eine positive Hinwendung zu den Gestaltungsaufgaben der Nachknappheitsordnung motiviert und abstützt.

Dieses Problem aufgreifend, wird in einem zweiten Schritt analysiert, inwiefern der Mythos der Authentizität, der in der Romantik zu voller Entfaltung gelangt ist, eine kulturelle Reserve für diesen Lernprozess bereitstellt. Laut Riesman ist es für die (kulturelle) Konstitution der Verbraucherdemokratie nicht nur entscheidend, wie sich die Abhängigkeit der Verbraucher von der sozialen Anerkennung durch ihre Peers entwickelt, sondern damit zusammenhängend auch, welches Selbstverhältnis sie dabei einnehmen. Der Authentizitätsmythos bietet ein Transformationspotenzial auf beiden Seiten dieses Selbst- und Sozialverhältnisses – ist aber nicht ohne Risiken. Denn vor dem Hintergrund der Diagnose einer wachsen35den Verschränkung von Kultur und Kapitalismus stellt sich sofort das Problem, dass der Authentizitätsmythos in der Konsumgesellschaft bereits in vielfältiger Weise kommerziell in Beschlag genommen wird. Es ist daher zu klären, ob und unter welchen Bedingungen diese Reserve angesichts der verschiedenen Strukturdynamiken in den Ordnungen des kulturellen Kapitalismus zu einer besseren Artikulation und Reintegration des Kollektivs beitragen kann. So steht der künstlerkritische Impuls, den dieser Mythos in der Konsumgesellschaft verankert, nicht ohne Grund im Verdacht, verbliebene Kräfte zur Stärkung eines solidarischen Zusammenhalts eher auszuzehren als zu stützen. Wird dieser Mythos jedoch durch die kritische Öffentlichkeit entzaubert – und dafür gibt es empirische Anzeichen ebenso wie strukturelle Gründe –, bleibt ihm am Ende nur der Brückenschlag zur Kritik der sozialen Verhältnisse. Denn der Mythos der Authentizität, so lautet die abschließende These, verankert in der Konsumgesellschaft dann letztlich nur noch eines, nämlich die Grundfrage jeder Verbraucherdemokratie: »Wie wollen und können wir gemeinsam leben?«

Im Ergebnis erweist sich kein einzelner der experimentellen Ansätze und keine einzelne der benannten Reserven der Verbraucherdemokratie als Garant für eine stabile und gut artikulierte Lösung der Probleme der Konsumgesellschaft. Einen Königsweg in die Nachknappheitsgesellschaft gibt es nicht, und die Anfälligkeit aller Vorschläge für die paradoxen Dynamiken, die der kulturelle Kapitalismus zeitigt, machen die Schwierigkeiten deutlich, zu den Hoffnungen auf soziale Reintegration bzw. Warnungen vor unausweichlichen Erosionsfolgen in einer Verbraucherdemokratie eindeutig Stellung zu nehmen. Es ist die Vielzahl der Experimente, aus denen diese Demokratie schöpfen kann und muss und die zugleich die Einsicht vermittelt, dass eine solche Demokratie auch nicht anders als durch experimentelle Kombinationen ihrer vielen Stellgrößen gefunden werden kann. Dieser Prozess kann jedoch ein Lernprozess sein, in dem Fehler zunehmend besser erkannt, Erfahrungen öffentlich reflektiert, Wissensgrundlagen gemeinschaftlich systematisiert und Zukunftsentscheidungen auf dieser Basis kollektiv besser vertreten und verantwortet werden können.

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