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Mit ihrer viral gegangenen Performance gegen sexualisierte Gewalt hat das Kollektiv LASTESIS ein internationales Zeichen gegen Femizide und für feministische Solidarität gesetzt. Frauen auf der ganzen Welt haben den symbolisch gewordenen Protestsong »Un violador en tu camino« - »Ein Vergewaltiger auf deinem Weg« - gesungen, Seite an Seite gegen die Ohnmacht angetanzt und das Patriarchat im bassgestützten Chor verdammt. Das Manifest der Aktivistinnen übersetzt die kathartische Wut der Performance in eine feministische Vision der Zukunft. Im November 2019 inszeniert das Kollektiv LASTESIS die Performance zum ersten Mal. In wenigen Wochen verbreitet sie sich wie ein Lauffeuer um den Globus. Im Dezember rufen mehr als 10.000 Frauen in Santiago de Chile: »Der Vergewaltiger bist du!« In Buenos Aires und Paris, in Istanbul und Berlin, in Mexiko-Stadt und Melbourne, in New York und Madrid gehen Frauen mit dem Song auf die Straße. Die Performance von LASTESIS geht um die Welt, weil ihr Anliegen ein globales ist: Jede Frau erfährt sexualisierte Gewalt, denn sie ist fest in unseren Gesellschaften und Institutionen verankert. Das Manifest der vier Frauen hinter dem Kollektiv prangert die unhaltbaren Zustände mit gerechter Wut an. Inspiriert von Theoretikerinnen wie Rita Segato und Silvia Federici sezieren sie den Status quo, kritisieren die mörderischen patriarchalen Strukturen und fordern den Untergang des Systems, das jährlich Zehntausende Frauen tötet. Femizide und Vergewaltigung, häusliche und sexualisierte Gewalt, das Recht auf Abtreibung, Care-Arbeit und Mutterschaft gehen alle an. »Verbrennt eure Angst!« ist der Aufruf, die Ketten zu sprengen, um eine feministische Gesellschaft zu begründen, die – wahrhaftig gleichberechtigt – in Freiheit, Solidarität und Selbstbestimmung lebt.
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Seitenzahl: 98
LASTESIS
Verbrennt eure Angst!
Ein feministisches Manifest
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
FISCHER E-Books
Was eine von uns erlebt, erleben wir alle.
Die Vereinzelung des Empfindens und der Erfahrungen hat es dem Patriarchat ermöglicht, jede von uns allein und eingeschüchtert zu überraschen. Indem wir in Verbindung mit dem Kollektiv echte Einfühlung und Schwesternschaft einüben, können wir den patriarchalen Käfig aufbrechen.
»Das liegt nicht an mir.« »Es ist nicht meine Schuld.« »Es geht nicht gegen mich allein.«
Das ist keine Depression, es sind Kapitalismus und Patriarchat.
Wir sind hier zu viert, aber wir wissen, dass uns die gleichen historischen Gewalttaten durchdringen und unsere Erzählungen deshalb denen von so vielen anderen entsprechen.
Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, in diesem Buch das Pronomen »Wir« zu verwenden. Jedes Mal, wenn wir von einer persönlichen Erfahrung berichten, drückt sich im »Wir« eine politische, feministische Haltung aus, die notwendige Übung, sich in die andere hineinzuversetzen und ihre Erfahrung als kollektives Erlebnis zu begreifen.
Wir sind von unserem Vater verlassen worden.
Wir sind von unserer Mutter verlassen worden, selbst wenn wir mit ihr gelebt haben.
Wir sind allein aufgewachsen, weil sich unsere Mama zwischen zwei Rollen aufreiben musste.
Wir sind Töchter eines Vaters, der unserer Mutter Gewalt angetan hat.
Wir sind missbraucht worden.
Wir sind auf der Straße von Autos verfolgt worden.
Wir hatten Angst, tagsüber durch die Straßen zu gehen.
Wir hatten Angst, nachts durch die Straßen zu gehen.
Wir mussten sehen, wie ein Mann neben uns im Bus masturbierte. Da waren wir neun, waren zwanzig Jahre alt.
Wir sind vergewaltigt worden.
Wir sind unsichtbar gemacht worden.
Wir haben für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als ein Mann.
Wir mussten uns anhören, wie uns ein Mann von oben herab etwas erklärte, das wir längst wussten.
Wir haben mitbekommen, wie unsere Ideen erst durch die Stimme eines Mannes Gehör fanden.
Wir sind bedrängt worden, weil wir nicht heterosexuell sind.
Wir haben unsere Familie verloren, weil wir verteidigt haben, was wir sind.
Wir haben entbunden.
Wir haben allein erzogen. Studiert und allein erzogen. Studiert, gearbeitet und allein erzogen.
Wir haben illegal und unter unwürdigen Bedingungen abgetrieben.
Wir haben unsere Freundinnen zu ihren Abtreibungen begleitet.
Wir sind von unseren Partnern abgelehnt worden, weil wir abgetrieben haben.
Wir sind von einem Ex auf der Straße geschlagen worden.
Wir haben wirtschaftliche Gewalt erfahren.
Wir haben Gewalt beim Gebären erfahren.
Wir haben Gewalt in sexuellen Beziehungen erfahren.
Wir haben in drei Schichten gearbeitet.
Wir waren Migrantinnen ohne Papiere.
Wir sind Töchter von politischen Flüchtlingen.
Wir sind im Exil geboren und aufgewachsen.
Wir setzen auf die Kunst als Widerstandsform.
Wir sind verfolgt und bedrängt worden, weil wir sagen, was wir denken.
Wir kümmern uns umeinander.
Wir wissen, dass wir zum Teil Glück hatten und Privilegien genießen, die andere nicht hatten, denn wir sind am Leben.
Wir weigern uns, weiter gemeinsame Sache zu machen mit den Formen patriarchaler Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die wir euch in diesem Buch darlegen wollen. Ihr werdet auch von der Verletzlichkeit lesen, die in unseren Geschichten steckt, lodernden Geschichten, aus denen sich unsere Leben zusammensetzen. Das Leben ist ungerecht auf dieser Seite der Straße, aber wenn du lernst, deine Anliegen durch Kunst auszudrücken und sie öffentlich machst, schaffst du eine tiefe Verbindung zu deinen Gefühlen, den positiven wie negativen, und kannst sie mit deinen Vorstellungen verknüpfen. Mit Gefühlen zu arbeiten ist ein subversives Geschenk an die Welt.
Subversion, in Schönheit getaucht, ist Revolution.
Kollektiv LASTESIS
Mit »Frau« meinen wir alle, die sich subjektiv als solche begreifen, unabhängig von den Genitalien.
Mit »dissident« meinen wir alle, die sich subjektiv als der LGBTQIA+-Community zugehörig begreifen.
Mit »Mann« meinen wir im Allgemeinen den patriarchalen Mann, also denjenigen, der die Machogewalt auf allen Ebenen fortschreibt.
Mit »binär« meinen wir die Vorstellung, Geschlechter seien auf Männer und Frauen beschränkt.
Mit »cis« meinen wir Personen, deren Geschlechtsidentität mit ihren Genitalien übereinstimmt, also etwa jemand, der sich als Mann definiert und männliche Genitalien besitzt.
Mit »heteronormativ« meinen wir den gesellschaftlichen Zwang, der heterosexuelle Sexualbeziehungen über alle anderen Formen von Beziehungen erhebt.
Mit »Hegemonie« meinen wir die absolute Übermacht von etwas über etwas anderes.
Mit »Patriarchat« meinen wir das Gesellschaftssystem, das Männern Privilegien gegenüber Frauen und jedem anderen Selbst einräumt.
Mit »Performance« meinen wir eine Aktion, an der sowohl diejenigen teilhaben, die sie sehen, als auch diejenigen, die sie umsetzen. Die Aktion findet an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit statt.
Sie rauben uns alles, außer der Wut
[Frauen im Lockdown]
Neben der Ödnis des Haushalts, der Wiederholung daheim,
könnte ich an keinem
gefährlicheren Ort für mich sein.
Heute verbrennt der Schleier der Gewalt.
Es kochen die Wunden, in unsre Körper geschrieben.
Jetzt fehlt uns sogar das Dach überm Kopf
in unseren eigenen vier Wänden.
In der Falle ohne Ausweg
zur Hand die Waffen für den Mord,
vor den Augen der
ganzen Familie.
Sie rauben uns alles, außer der Wut
Lied zur gemeinschaftlich entwickelten Videoperformance gegen häusliche Gewalt, Juni 2020, Kollektiv LASTESIS
Im Tierreich kann sich eine Art Wut übertragen, wenn ein Tier seine Zähne in den Körper eines anderen schlägt. Das Tollwutvirus wandert vom Entstehungsort der Wunde ins Gehirn. Das führt erst zu einer Entzündung, dann zum Tod. Doch die Fähigkeit, eine unheilbare Krankheit zu verbreiten, können wir noch bei einer anderen Wut konstatieren. Bei einer, die seit Jahrhunderten unbehandelt bleibt. Ein primitives, längst verstaubtes System, das ebenfalls über den Körper angreift. Über unsere Körper. Es verletzt uns, es lähmt und tötet uns.
Wir haben diese Wut. Wut auf die jahrtausendelange Unterdrückung. Wut auf die althergebrachte Straffreiheit. Wut und Angst, dass man uns angreift, ermordet, vergisst.
Das Patriarchat pulst in den Adern von Regierungen und Machtapparaten, von Medien und Polizei. Es durchdringt sämtliche sozio-ökonomischen Bereiche. Es sickert in die Gerichtshöfe ein. Es durchzieht unter der Oberfläche – und häufig genug auch offenkundig – den Staat. Es verwandelt sich in das Wüten von Narcos und Banden wie den mittelamerikanischen Maras, die Frauen in einer alten, unseligen Tradition, die sich bis in unsere Zeit gehalten hat, als Schutzschilde und Beute von Rachefeldzügen benutzen. Alles, was das Patriarchat anfasst, wird zu Wut.
Wir haben diese Wut. Wut, dass das, was man uns antut, beständig unsichtbar gemacht wird. Wie kommt es, dass fast alle Frauen, die du kennst, schon einmal Opfer eines Missbrauchs geworden sind, die Männer aber keinen einzigen Täter kennen? Weil sie es nicht sehen. Weil unser Blut in ihrer privilegierten Position unsichtbar ist.
Als junge Mädchen sind wir oft auf der Straße angefasst worden, haben Übergriffe am eigenen Leib erfahren, ohne dass sie je bestraft wurden. Man hat unseren Hintern begrapscht, im Bus den Penis an uns gerieben. Man hat uns mit Gewalt geküsst. Man hat uns als kleine Mädchen, als Jugendliche und später als Erwachsene missbraucht; wir waren betrunken, wir waren nüchtern. Einmal, als wir durch Valparaíso gingen, kam ein Typ aus dem Gebüsch und schrie: »Du willst ihn gern reingesteckt kriegen. Renn doch, du Schlampe!« Und es blieb uns nichts anderes übrig, als zu rennen. Und diese Übergriffe, die für viele unsichtbar sind, erleben wir täglich, ohne dass wir sie anzeigen könnten.
Was wir bezeugen, wird immer in Frage gestellt, ist immer strittig, zweifelhaft, nie reicht es aus. Die Unschuldsvermutung mäht unsere Wahrheit nieder. Dass der Missbrauch, die Vergewaltigung straffrei bleiben, ist die Norm, und dass die Opfer dadurch erneut zum Opfer werden, ist unerträglich. Und dann hassen sie uns noch, wenn wir in Massen auf die Straße gehen, um ihnen zu sagen, dass wir ihre Misshandlungen, die Gewalt und die Folter nicht länger hinnehmen.
Als wir Ein Vergewaltiger auf deinem Weg geschaffen hatten, bekamen wir jede Menge Drohungen in den sozialen Netzwerken. Wer sich gestört fühlte, verteidigte sich oft reflexhaft mit einem »Nicht alle Männer sind so«. Einige posteten sogar: »Wieso nennt ihr mich einen Vergewaltiger, ich bin doch keiner?« Also noch mal zum Mitschreiben: Es handelt sich um eine Aufführung, um eine Performance, die auf eine Strafe hinweist, der wir Frauen ausgesetzt sind. Damit bringen wir in einer künstlerischen Form zum Ausdruck, dass wir nicht sicher sind. Aber es fällt den Männern schwer, das zu sehen, sich selbst zu sehen, sich zu dekonstruieren. Sie wissen, dass niemand, oder fast niemand, ungeschoren davonkommt. Dein Vater kommt nicht davon und nicht dein Großvater oder dein Bruder. Nicht dein Freund, der sich selbst »feministisch« nennt und dir ewige Liebe verspricht. Nicht dein Genosse von der Demo, der, wenn er ehrlich zu sich ist, in seinem Leben auf mehr als eine Missbrauchsgeschichte stoßen wird, bei der er die Erniedrigung verursacht oder zu ihr beigetragen hat. Weil viele auf die eine oder andere Weise schon mal Frauen und/oder dissidente Personen missbraucht haben.
Sie haben verletzt, emotional bestraft und kleingemacht, sie haben versucht, auf der Arbeit oder im akademischen Bereich Dinge zu erklären, als wäre ihr Gegenüber weniger wert. Sie haben ihren Teil zum Gender-Pay-Gap beigetragen. Sie haben Personen, die sich der patriarchalen binären Einordnung entziehen, verhöhnt und ihnen die eigene Identität abgesprochen. Sie haben ihre Privilegien missbraucht. Sie haben vergewaltigt.
Das Patriarchat ist ein Gericht, wir sind verurteilt durch Geburt. Mit Vulva geboren oder dissident zu sein in allen erdenklichen Spielarten, das fesselt uns verhängnisvoll an die Brutalität. Alles, was das Patriarchat anfasst, wird zu Brutalität. Und uns ist klar, dass ihm immer noch grausamere Methoden einfallen, um uns zu töten.
Lucía Pérez hat das erfahren, eine junge Argentinierin, die mit sechzehn vergewaltigt, gepfählt, mit Drogen betäubt und zu Tode gefoltert wurde. Vor Gericht wurden die Angeklagten in ihrem Mordprozess nur wegen Drogenhandels verurteilt, der sexuelle Angriff auf Lucía blieb ungestraft. Für die Justiz war sie weder folgsam noch heilig noch Jungfrau genug.
Jessica Tejeda, vierunddreißig, hat das erfahren. Juan César Augusto Huaripata, ihr Lebensgefährte, ermordete sie mit dreißig Messerstichen in Rosales, Peru. Aber nicht nur Jessica hat das erfahren, sondern ihr gesamtes Viertel, denn als jemand die zweihundert Meter entfernte Wache alarmierte, brauchte die Polizei eine ganze Stunde, bis sie kam. Ermordet wurde neben Jessica auch ihr fünfzehn Jahre alter Sohn. Der Frauenmörder hatte das Haus angezündet, um seine Spuren zu verwischen.
Brenda Micaela Gordillo hat das erfahren, mit vierundzwanzig Jahren von ihrem Lebensgefährten Naim Vera in Catamarca, Argentinien, ermordet, nur weil sie schwanger war. Um das Verbrechen zu vertuschen, briet er Brendas Überreste auf einem Grill.
Nicole Saavedra hat das erfahren, eine lesbische Frau aus Limache, Chile. Sie war dreiundzwanzig, als Víctor Pulgar sie entführte, vergewaltigte, folterte und umbrachte. Danach lebte er mehr als drei Jahre völlig unbehelligt, weil die Justiz so träge war und untätig.
Ámbar Cornejo hat das erfahren in Villa Alemana, Chile. Sie war sechzehn, als der Lebensgefährte ihrer Mutter, Hugo Bustamante, sie vergewaltigte und tötete, ihre Leiche zerstückelte und unter dem Haus vergrub. Zuvor hatte er schon einmal eine Frau und ihren Sohn umgebracht. Die Justiz aber ließ ihn frei, obwohl er noch siebzehn Jahre zu verbüßen gehabt hätte.