Verbunden bis zuletzt - Dorothea Mihm - E-Book

Verbunden bis zuletzt E-Book

Dorothea Mihm

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  • Herausgeber: Arkana
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Das Sterben selbstbestimmt gestalten.

Kaum jemand setzt sich in unserer Gesellschaft gern mit dem eigenen Tod oder dem eines geliebten Menschen auseinander. Stattdessen wird das Sterben in Krankenhäuser ausgelagert, in denen Apparate anstelle einer haltenden Hand den Takt vorgeben. Dorothea Mihm, buddhistische Palliativschwester und Vorreiterin für spirituelle Sterbebegleitung, plädiert für einen anderen, würdevolleren Umgang mit diesem zentralen Transformationsprozess, um ihn in all seinen Phasen bewusst und selbstbestimmt zu gestalten. Dafür gibt sie Angehörigen kraftvolle Rituale und Meditationen an die Hand, die den Sterbenden zur Ruhe kommen lassen. Durch die Praxis des Mitgefühls und der Vergebung wird dem Sterbenden die Angst genommen: vor dem Unbekannten, Verlust oder Schmerz. Gleichzeitig unterstützen diese Techniken Angehörige dabei, die einzelnen Etappen der Rückschau und Einsicht, aber auch des Widerstands mitfühlend zu begleiten. So wird umfassendes Loslassen möglich und der Tod zur tiefgreifenden kostbaren Erfahrung im Leben – für beide Seiten.

Ergänzt wird das Buch von Atemmeditationen zum Audiodownload und der Vorlage für eine spirituelle Patientenverfügung.

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Seitenzahl: 398

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Autor

Dorothea Mihm, geboren 1958 in Steinbach/Röhn, arbeitet seit fast vierzig Jahren als Krankenschwester, davon 20 Jahre in der Pflege mit Palliativpatienten. Seit 2019 ist sie als Spiritual-Care-Giver in der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) in Bad Homburg tätig.

Auf ihren zahlreichen Reisen nach Asien lernte sie neue Wege des Umgangs mit dem Sterben kennen und integriert diese in ihre Arbeit – wie auch die »basale Stimulation in der Pflege« und andere im Westen entwickelte therapeutische Methoden. Als Seminarleiterin, Coach und Heilpraktikerin gibt sie ihr Wissen an Fachpublikum und Laien weiter.

DOROTHEA MIHM

Verbunden bis zuletzt

Sterbende spirituell begleiten mit heilsamen Ritualen

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Die hier vorgestellten Informationen und Ratschläge sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Dennoch übernehmen Autorin und Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendeiner Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch dieser Informationen, Tipps und Ratschläge ergeben. Im Zweifelsfall holen Sie bitte ärztlichen Rat ein.

Originalausgabe

© 2019 Arkana, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Diane Zilliges

Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner

Umschlagmotiv: © Muequin/plainpicture

Bildnachweis Lotos-Vignette: © istock/filo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24026-4V002

www.arkana-verlag.de

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Inhalt

Vorwort von Khenpo Tenpa Yungdrung Rinpoche

Zu diesem Buch

Sterben heute

Sterbende werden allein gelassen

Bewusst sterben – oder »hinüberdämmern«?

Die spirituelle Dimension in unserer Gesellschaft

Buddhistisches zum Thema Sterben

Die Natur von Geist und Bewusstsein

Wie geschieht das Sterben?

Das Leben im Bardo der Wiedergeburt

Die sechs Daseinsbereiche

Exkurs: Organspende und Suizid

Sterbende begleiten

Die Art des Sterbens und das Umfeld

Spiritualität in Palliative Care

Nach dem Tod – Bestattung und Trauer

Versorgung Verstorbener und Bestattung

Trauer

Mitfühlende Praxis für Sterbende und ihre Begleiter

Die neunfache Reinigungsatmung

Guru-Yoga – die wahre Natur des Geistes erfahren

Der Vergänglichkeit ins Auge sehen

Zuflucht nehmen

Die Praxis des Mitgefühls

Die Herzatem-Meditation

Spirituelle Unterstützungfür Verstorbene

Im Leben schon ans Sterben denken

Die spirituelle Patientenverfügung

Spirituelle Patienten-, Pflege- und Bestattungsverfügung

Literaturverzeichnis

Download-Link

Danksagung

Quellenverzeichnis

Register

Vorwort von Khenpo Tenpa Yungdrung Rinpoche

ICH KENNE DOROTHEA MIHM seit 1997. Sie war damals das erste Mal in unserem Kloster Triten Norbutse zum Retreat. Damals war sie Krankenschwester auf einer herzchirurgischen Intensivstation. Seitdem ist sie immer tiefer mit den Lehren der spirituellen Praxis des Yungdrung Bön vertraut geworden. Sie half seit Jahren auf ihre ganz individuelle Art sehr vielen sterbenden Menschen – voller Mitgefühl und aus einem reichen Erfahrungsschatz.

In der Kombination ihrer professionellen Arbeit mit Sterbenden und Verstorbenen und ihrer spirituellen Praxis in der Tradition des Bön zu Sterben und Tod entstand die Idee zu diesem Buch. Es scheint mir wichtig und auch nötig, dass dieses kombinierte Wissen heutzutage in schriftlicher Form weitergegeben wird. Die moderne Zeit zeigt intensive Weiterentwicklungen, besonders in der Technologie, die man auch in den Krankenhäusern, Hospizen und Pflegeheimen vorfindet. Sie lassen es umso wichtiger erscheinen, insbesondere völlig hilflosen Menschen in ihren letzten Lebenswochen, Lebenstagen und -stunden mit Liebe und Mitgefühl zu begegnen und sie entsprechend zu versorgen. In der heutigen Zeit zeigt sich diesbezüglich leider eine große Diskrepanz.

Deshalb hoffe ich, dass das Buch von Dorothea praktisch nützlich und hilfreich sein wird für Menschen, die in der Versorgung Sterbender und Verstorbener professionell arbeiten, und ebenso für Menschen, die sterbende Angehörige begleiten. Außerdem kann es ein Schatz für all diejenigen sein, die sich mit dem eigenen Sterben – wie weit es auch noch entfernt sein mag – auseinandersetzen möchten.

Mit mitfühlenden Gedanken bete ich für dieses Buch. Mögen es viele Menschen mit großem Gewinn für ihre Gedanken, Emotionen und Gefühle lesen, sodass sie Frieden in ihrem Geist erfahren.

Khenpo Tenpa Yungdrung Rinpoche

(Khenpo Tenpa Yungdrung Rinpoche wurde 1969 in Dhorpatan im Westen von Nepal geboren. Im Alter von elf Jahren schloss er sich den Mönchen des nahe gelegenen Klosters Tashi Gegye Taten Ling an und studiert seither intensiv das gesamte philosophische System des Yungdrung Bön aus Sutra, Tantra und Dzogchen; dazu die allgemeinen tibetischen Wissenschaften, einschließlich der tibetischen Grammatik, Poetik, der weißen und schwarzen Astrologie, der Sanskrit-Grammatik, der heiligen Geometrie und Kunst und der allgemeinen tibetischen Medizin. Im Jahr 1996 ernannten ihn Seine Heiligkeit Menri Tridzin Rinpoche und Seine Eminenz Yongdzin Lopon Tenzin Namdak Rinpoche zum Pönlob (Hauptlehrer) des Triten-Norbutse-Klosters, wo er seither an der Yungdrung Bön Akademie für Höhere Studien lehrt. Im Jahr 2001 wurde er zum Khenpo (Abt) des Klosters Triten Norbutse ernannt. Khenpo Rinpoche unterrichtet und hält Vorträge über die Tradition des Bön in der ganzen Welt.)

Zu diesem Buch

MEHR ALS ZWANZIG JAHRE lang habe ich als Palliative-Care-Krankenschwester in verschiedenen Einrichtungen gearbeitet, ob es eine Palliativstation, ein stationäres Hospiz oder die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (abgekürzt SAPV) war. Eigentlich dachte ich, als ich 2016 in einem Bestattungshaus meine Arbeit als Bestatterin aufnahm, dass das meine letzte Arbeitsstation sein würde. Aber seit 2018 arbeite ich wieder im SAPV, und zwar in Bad Homburg in der Funktion einer »Spiritual-Care-Giverin«. Damit bin ich wohl die erste Mitarbeiterin dieser Art deutschlandweit, die in einer Festanstellung tätig ist.

Schon lange bin ich zugleich mit den Lehren und der spirituellen Praxis des Bön verbunden – und aus der Sicht dieser buddhistischen Tradition und ihrer Meditationen ist das Mitgefühl eine der wichtigsten Praktiken. Gewaltlosigkeit und eben Mitgefühl sind gemäß der Bön-Lehren entscheidende Haltungen – auch in der Begleitung Sterbender und im Umgang mit dem Sterben und dem Tod.

Kaum jemand hat es intensiv gelernt oder studiert, wie man einen sterbenden Menschen begleitet, geschweige denn spirituell begleitet. Manche haben eine vage Idee davon, was einem Sterbenden guttun könnte und was nicht. So kursiert zum Beispiel die Meinung, dass er besser in Ruhe gelassen werden sollte, wenn er sich in der Sterbephase der Bewegungslosigkeit befindet. Aussagen aus dem tibetischen Buddhismus wie aus der aktuellen Wissenschaft zur basalen Stimulation erklären aber genau das Gegenteil: Ein Sterbender, der sich nicht mehr bewegen kann, verliert das Gefühl für seinen Körper. Zusammen mit dem gewaltigen Auflösungsprozess der Elemente (auch davon wird später noch ausführlich die Rede sein) bewirkt dieser Verlust in ihm eine ungeheure Verunsicherung und Angst. Von einem friedlichen Geist kann dann nicht mehr gesprochen werden – der Mensch braucht Unterstützung.

Im Buddhismus wird Sterbebegleitern empfohlen, dass sie sich selbst auf das Sterben vorbereiten. Das geschieht auf unterschiedlichen Ebenen. So wird geraten, dass sich Sterbebegleiter kundig machen sollten, was die Symptome des Sterbens sind, sodass sie diese erkennen und adäquat darauf reagieren können. Vorbereitung bedeutet aber auch, dass der Begleiter seinen eigenen Geisteszustand kontinuierlich erforscht. Er sollte ein Wissen darüber haben, was seine Störgefühle sind, und im Idealfall sollte er sie transformieren können. So bereitet er seinen Geist vor – für seine Tätigkeit als Sterbebegleiter und letztlich auch für seinen eigenen Tod.

Ein Begleiter sollte ruhig, gelassen und in vollem Mitgefühl präsent sein. Dies kann er erreichen, indem er seinen Geist kennenlernt und ihn allmählich zur Reife bringt, wobei ihn verschiedene Techniken, Übungen, Meditationen und Visualisationen unterstützen. Einige dieser Möglichkeiten werden in diesem Buch auf eine Weise erklärt, die sie insbesondere für Sterbebegleiter als auch für Sterbende anwendbar und hilfreich macht.

Bei einer konsequenten Praxis dieser Angebote erfährst du eine tiefe Begegnung mit dir selbst. Du lernst für dein Leben – und für dein Sterben. Bei dieser Arbeit am eigenen Selbst erfährst du auch, wie du sterbende Menschen und sogar bereits Verstorbene begleiten kannst – denn ja, wir Hinterbliebenen können tatsächlich auch noch sehr viel für die Verstorbenen tun.

Warum ich dieses Buch schreibe

Seit vielen Jahren schule ich Menschen in der buddhistischen Form der spirituellen Sterbebegleitung und der eigenen Sterbevorbereitung. Von ihnen erhalte ich immer das sehr positive Feedback, zutiefst berührt worden zu sein. Ich kam aber nicht im Geringsten auf die Idee, darüber ein Buch zu schreiben. Erst als ich mich in einem Traum an meinem Schreibtisch habe sitzen sehen, um ein Buchregister zu erstellen, wagte ich mich an dieses Projekt heran.

Ich wollte das Ganze zunächst mit meinem Meister besprechen, mit Khenpo Tenpa Yungdrung Rinpoche, von dem ich so viel über das Sterben gelernt hatte. So flog ich im Januar 2016 nach Nepal. Im Triten-Norbutse-Kloster meines Meisters angekommen fragte ich ihn, ob er mir die Erlaubnis zu diesem Buch erteilen würde. Er gab sie mir, und so begann ich, über dieses bisher noch geheime Wissen zu schreiben, um es einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen zu können.

Mein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinen Meistern Yongdzin Lopon Tenzin Namdak Rinpoche und Khenpo Tenpa Yungdrung Rinpoche. Von beiden erhielt ich über Jahrzehnte tiefe geheime Belehrungen über das Wesen des Sterbens, des Todes und des Nachtodes. Welch ein Glück, dass ich in meinem Leben solch hoch entwickelten spirituellen Meistern begegnen und von ihnen persönlich diese kostbaren Unterweisungen, Initiationen und Ermächtigungen erhalten durfte.

In Verbindung mit diesen Unterweisungen erhielt ich meditative Aufgaben. Dabei ging es insbesondere darum, meinen Geist kennenzulernen, ihn zu verstehen und kontrollieren zu lernen. Ich musste lernen, wie man innere Störgefühle in sich selbst bei der Begleitung von sterbenden Menschen bereinigt, um dann für die Begleitung wirklich offen sein und offen bleiben zu können, ohne dabei selbst zu erkranken.

Eine kongeniale Ergänzung zu den spirituellen Lehren aus dem tibetischen Buddhismus erfährt dieses Buch durch meine jahrzehntelange praktische Tätigkeit als Palliative-Care-Krankenschwester. Seit 1990 betreue ich sterbende Menschen auf Intensivstation, Palliativstation, im stationären Hospiz und im SAPV. Im Rahmen des SAPV besuche ich die Sterbenden zu Hause, um sie dort bis in den Tod zu begleiten. Drei Jahre arbeitete ich in einem Bestattungshaus als Bestatterin. Hier lernte ich die spirituelle Begleitung von verstorbenen Menschen. An diesen Arbeitsplätzen konnte ich mein spirituelles Wissen immer wieder anwenden, prüfen und letztlich erweitern. Hierbei konnte ich zudem viele andere, besonders pflegerische Anwendungsmöglichkeiten erforschen und um meine Erfahrungen ergänzen. Die sterbenden Menschen lehrten mich Demut. Das Sterben ist eben nicht nur ein einfacher Transformationsprozess, sondern viel mehr. Es ist ein existenzieller, totaler und letztendlicher Verlust von allem.

Diese Kombination von theoretischem Wissen, meinen eigenen Erfahrungen in der spirituellen Meditationspraxis und der Pflege und Begleitung von sterbenden und verstorbenen Menschen und ihren Angehörigen macht dieses Buch so vielfältig.

Noch ein paar Worte vorab

Dieses Buch kann als ein Arbeitsbuch verwendet werden. Es vermittelt dir viele Informationen und Zusammenhänge, die dein Wissen um Sterben und Tod sehr stark erweitern können. Es verbindet die hierzulande gängige Praxis der Begleitung Sterbender mit den Auffassungen des tibetischen Buddhismus zum Sterben, die auf gänzlich anderen Grundlagen stehen. Vor allem aber bietet dir dieses Buch vielfältige praktische Anregungen: für die Begleitung sterbender Angehöriger ebenso wie für eine buddhistisch orientierte spirituelle Praxis, mit deren Hilfe du einen Sterbenden spirituell begleiten und dich dabei immer neu stärken kannst. Außerdem dient diese Praxis deiner eigenen Vorbereitung auf dein Sterben, so weit entfernt es momentan auch noch liegen mag. Immer geht es in diesem Buch auch um dich, um dein Bewusstsein, um deinen Geist.

Besonderes Augenmerk lege ich auf die Betrachtung der Vergänglichkeit. Erfahrungsgemäß benötigen wir Jahre bis Jahrzehnte, bis wir große Verluste ohne Leid hinnehmen können. Auch deshalb bietet dieses Buch einige Meditationen, die zu deiner täglichen Praxis werden können. So bewässern sie kontinuierlich die Samen deines Mitgefühls und deiner Reife. Vor allem die Praxis des Mitgefühls kann dir schon zu Lebzeiten Frieden und Ausgeglichenheit geben, was dir auch bei der Begleitung Sterbender helfen wird.

Wenn dich eine Textpassage inspiriert, schreib sie heraus, damit du das für dich Wichtige griffbereit zu Verfügung hast. Lass dir unbedingt Zeit mit diesem Buch. Auch wenn du gelegentlich lieber schnell über ein Kapitel hinweglesen möchtest, halte inne, entschleunige deinen Geist und werde langsamer.

Gleichzeitig beobachte deinen Geist und hinterfrage ihn. Warum will er sich so sehr beeilen oder einen Text lieber überfliegen? Vielleicht weil er, der Geist, nicht erkannt werden will? Vielleicht denkt er sich: »Dieser Abschnitt ist mir zu langweilig«, und er glaubt, das alles schon zu kennen. Oder er sagt dir: »Das ist alles so spannend, ich will mehr und will es schnell lesen, um es zu verstehen.« Bedenke immer, dass diese Gedanken, ob sie positiv oder negativ auf dich wirken, ernsthafte Hindernisse sein können, die alles daransetzen, dass du nicht zur Reife kommst.

Es gibt einige Wiederholungen im Buch, und sie sind bewusst so gewollt. Durch Wiederholungen prägen sich die Worte tiefer ein. Der Geist verbindet sich mit dem Inhalt des Gesagten, und durch Wiederholungen verankert sich das Wissen tiefer im Bewusstsein. Der Same des Mitgeteilten wird auf diese Weise gewässert, genährt und zum Wachstum gebracht.

So wünsche ich dir reiche Erfahrungen mit dieser Anleitung der spirituellen Sterbebegleitung aus der Sicht des tibetischen Buddhismus.

Sterben heute

”Die Dämonen für Dämonen zu halten, das ist die Gefahr. Sie als leer zu erkennen, das ist der Weg. Sie zu begreifen als das, was sie sind, das ist die Befreiung. Sie als Vater und Mutter zu erkennen, das ist ihr Ende.

Wenn wir sie als Schöpfungen des Geistes gelten lassen, dann verwandeln sie sich in Ausschmückungen. Wissen wir derart damit umzugehen, dann ist das Ganze befreit.

MILAREPA

Sterbende werden allein gelassen

JEDEN TAG WERDEN WIRÄLTER, und mit dem Älterwerden schwindet langsam, aber stetig unsere körperliche Kraft. Zum Schluss erfahren wir den Verlust der Selbstbestimmtheit. Mit dem Schwinden der eigenen Kräfte werden wir immer mehr abhängig von anderen. Normalerweise denken wir in unserer Jugend und wenn wir gesund sind nicht darüber nach. Wir realisieren nicht, dass auch unser Körper ein Leichnam werden wird. Doch wenn wir nicht früh sterben, werden wir irgendwann alt, schwach und krank sein. Zuvor erleben wir es meist bei Angehörigen, vor allem bei unseren Eltern. Das ist unumgänglich.

Sterben und Tod sind in unseren Breitengraden trotzdem nach wie vor ein Tabu. Es kommt immer noch vor, das Sterbende versteckt werden – eingelagert in Altersheimen und Krankenhäusern, weil es zu Hause scheinbar nicht möglich ist, sie zu begleiten. Nicht selten kümmern sich dann überforderte und schlecht ausgebildete Pflegekräfte mehr schlecht als recht um sie.

Sterbende Menschen werden kaum noch von ihren Angehörigen begleitet. Die Gründe, die ich dafür immer wieder höre, sind: »Ich muss doch arbeiten, ich habe Kinder, ich wohne zu weit weg …« Hier stellt sich die Frage, was uns tatsächlich wichtig und wesentlich ist. Ja, auch die Arbeit, die Kinder, der weite Weg sind wichtig, das sind alles nachvollziehbare Einwände – einerseits. Andererseits sind solche Begründungen vielleicht aber auch nicht ehrlich, denn die Konfrontation mit einem Sterbenden bringt uns automatisch mit unserer eigenen Endlichkeit in Kontakt. Das ist weder nett noch lustig. Vielleicht gibt es eine tiefe Angst in uns, die uns vor dem Schock der Begegnung mit unserer eigenen Sterblichkeit bewahren will, sodass wir die Illusion von einem ewigen Leben noch eine Weile weiterzupflegen versuchen: Das Sterben geschieht anderen, nicht uns selbst. Bis es dann auch zu uns kommt, das Unaufhaltsame, Unvermeidliche.

Überlastete Pflegekräfte

Zur Angst vor unserer Vergänglichkeit und dem Sterben selbst kommt heute eine weitere Angst hinzu, die sehr viel Leid verursacht: die Angst vor einem unwürdigen Sterben und einem Ausgeliefertsein an Pflegeeinrichtungen, die ihre Patienten schlichtweg nicht gut versorgen. Schauen wir uns die tatsächliche Situation in den Pflegeheimen einmal genauer an. Dort arbeiten die voll ausgebildeten Pflegekräfte nicht mehr überwiegend in der Pflege selbst. Die wird von Pflegehilfskräften durchgeführt, die eigentlich den examinierten Pflegekräften als Unterstützung dienen sollten. Menschen also, die überhaupt keine Ausbildung in professioneller Pflege mitbringen, verrichten diese hochsensible Arbeit. Pflegebedürftige Menschen benötigen Zeit und Empathie, sie wollen verstanden werden und brauchen professionelle Pflegeangebote. Das leistet kaum noch ein Pflegeheim in Deutschland. Wir scheinen den Respekt vor dem Alter und der Pflegebedürftigkeit verloren zu haben. Ich spreche hier nicht die stark überlasteten Pflegekräfte an. Meine Worte richten sich bei dieser Aussage an die Pflegeheimbetreiber und die Politik.

Es sieht so aus, als ob man hier nicht so genau hinschauen wolle. Besonders hart trifft es die Menschen, die sich nicht mehr selbstständig äußern können und abhängig von einer professionell aktivierenden und inspirierten Pflege sind. Weil sie sich nicht mehr beschweren können, ziehen diese Menschen fast immer den Kürzeren. Anstelle einer die Würde erhaltenden und empathischen Pflege stehen heute Wirtschaftlichkeit und Gewinn an erster Stelle. Mittlerweile wurden schon viele Berichte und Reportagen über das Fernsehen, Zeitschriften und Bücher an die Öffentlichkeit gebracht, sodass fast jeder weiß, wie es in unseren Pflegeinrichtungen zugehen kann.

Dieses Wissen um die entwürdigende Pflege macht Angst. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum sich immer mehr Menschen für eine aktive oder passive Sterbehilfe (heute heißt es: »Tötung auf Verlangen« und »Sterben zulassen«) aussprechen: Sie haben Angst vor dem Verlust der Würde und der Autonomie. Und diesen Würdeverlust erfährt jeder von der Pflege abhängige Mensch, der von ungelernten Kräften unprofessionell versorgt wird.

Allein durch empfindsame Sterbephasen

Bei all dem ist die spirituelle Seite noch nicht einmal berücksichtigt. In den weiteren Kapiteln werden wir uns noch detailliert mit den Phasen des Sterbens beschäftigen, wie sie der tibetische Buddhismus beschreibt. Hierbei geht es insbesondere um etwas, das als »Auflösung der Elemente« benannt wird – das sind die letzten Phasen vor dem Eintreten des physischen Todes. Gerade in dieser Zeit bedarf der Sterbende einer achtsamen spirituellen Betreuung. Doch bei uns im Westen werden sterbende Menschen sehr oft genau jetzt, ab dieser Auflösung der Elemente allein gelassen.

Ich habe darüber unzählige Gespräche mit meinem buddhistischen Meister geführt, die ihn immer wieder sehr traurig werden ließen. Nach seiner Ansicht ist diese Zeit ab der Auflösung der Elemente die wichtigste Zeit im Sterbeprozess überhaupt. Einen Menschen jetzt allein zu lassen, das ist fast so, als ob man eine gebärende Frau ab dem Platzen der Fruchtblase allein lassen würde. Das macht natürlich niemand. Sterbende hingegen werden sich selbst überlassen. Bedenklicher noch ist, dass man ihnen starke Beruhigungsmittel gibt, sodass sie ihr Bewusstsein verlieren. Sie werden ruhiggestellt und können ihren Sterbeprozess nicht mehr bewusst erleben und ihr Bewusstsein damit auch nicht mehr steuern.

Die Auflösung der Elemente verursacht meist immense innere, emotionale Schmerzen. Dass die Sterbenden dabei von ihren Mitmenschen verlassen werden, sorgt für zusätzliche psychische Qualen. Traurigkeit, Wut, Angst, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit entwickeln sich im Innern der Seele. Es sind Schmerzen des Geistes, die der Sterbende da erfährt. Mit diesem Buch möchte ich über diese Zusammenhänge aufklären und Alternativen aufzeigen. Denn es gibt sie.

Das Sterben von Herrn Hütter

Eingestreut in dieses Buch sind ausführlich beschriebene Sterbefälle, die sich alle genau so zugetragen haben. Zum Schutz der Intimität der Sterbenden und ihrer Angehörigen habe ich jedoch in allen Fällen Pseudonyme verwendet. Nur der Name meiner Hündin, deren Fall ich ebenfalls beschreibe, ist echt.

Herr Hütter ist neunundsiebzig Jahre alt und hat ein Prostatakarzinom. Nach einem Schlaganfall wird er ins Hospiz eingeliefert. Er bekommt einen Dauerblasenkatheter und wird über eine PEG-Anlage (perkutane endoskopische Gastrostomie, eine künstliche Nahrungszuleitung von außen durch die Magenwand) ernährt. Seit der Chemotherapie leidet er an Übelkeit und Erbrechen. Die orale Zufuhr wurde abgesetzt, weil er sich dabei ständig verschluckte, nun bekommt er seine Medikamente über die PEG-Anlage.

Bevor er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, lebte Herr Hütter zu Hause und wurde von einem ambulanten Pflegedienst versorgt. Er war zehn Monate lang ans Bett gefesselt, bewegungslos. Der Pflegedienst kam fünfmal am Tag und übernahm auch die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten. Neben der morgendlichen Versorgung wurde ihm Sondenkost angehängt, die Medikamente verabreicht und ein Positionswechsel durchgeführt. Die Krankenkassen bezahlen für diese Maßnahmen eine Dreiviertelstunde. Die restliche Zeit verbrachte er allein. Eine Mobilisation des Körpers ist im Krankenkassenbudget nicht drin.

Durch das lange Liegen hat seine Haut an vielen Stellen Druckgeschwüre gebildet. Als ich zu ihm komme, finde ich offene, eitrige Hautdefekte an beiden Fersen, an den Hüftknochen, am Steiß, an den Ohren und an den Unterarmen. Die Wunden wurden mit speziellen Verbänden versorgt. Zusätzlich hat er mittelschwere multiple Kontrakturen an Gelenken der Finger, der Hände, der Ellenbogen, an Schultern, Hals und Nacken sowie leichtere Kontrakturen an den Hüft-, Knie- und Fußgelenken.

Ins Krankenhaus wurde er eingeliefert, weil die Kollegen vom ambulanten Pflegedienst eine Temperaturerhöhung festgestellt hatten. Sie informierten den Hausarzt, und der veranlasste die Einweisung in das nächste Krankenhaus wegen Lungenentzündung. In unser Haus wurde er nach einer Antibiotikatherapie verlegt, die zwar wirkungsvoll war, aber von einer Verschlechterung seines Allgemeinzustandes begleitet wurde. Die Einweisungsdiagnose beschrieb Herrn Hütter als »sterbend«. Er hat keine Angehörigen mehr, sie sind alle schon tot. Ich weiß nicht, wie lange er schon allein lebt.

Bei der Übergabe des Frühdienstes erfahre ich, dass er bei der Körperpflege keine Reaktionen zeigt. Er liege im Sterben. Bei einem schnellen Hin-und-her-Drehen im Bett könne es leicht passieren, dass er sich erbricht. Auch auf mich macht er einen sterbenden Eindruck. Sein Gesicht ist eingefallen, die Hautfarbe aschgrau, Mund- und Nasenpartie bilden ein Dreieck (die sogenannte nasolabiale Falte), auf äußere Reize reagiert er scheinbar nicht.

Als ich mich bei ihm vorstelle, indem ich ihn an seiner Schulter berühre, atmet er hörbar tiefer ein und aus. Dieses Zeichen deute ich als klare Reaktion. Ich bleibe für ein paar Minuten bei ihm stehen und suche seinen Atemrhythmus, sodass ich mich mit meinem an ihn anpassen kann. Wir atmen nun beide im gleichen Takt, wobei er den Rhythmus vorgibt. Wenn er mit dem Atmen langsamer wird, atme ich auch langsamer; wird er schneller, mache ich das ebenso.

Mit dieser Technik des synchronen Atmens schwinge ich mich geistig und gefühlsmäßig auf diese mir völlig fremde Person ein. Dabei öffne ich meine Antennen, die Antennen der Intuition, die besonders bei solchen Begegnungen benötigt werden. Für dieses Einschwingen, wie ich es nenne, braucht man erst einmal Zeit. Wenn die gegeben ist, ist zudem die innere Bereitschaft nötig, in einen Dialog zu gehen, um Nähe zuzulassen. Wenn etwas in mir eine Begegnung mit dem Gegenüber ablehnt, aus welchen Gründen auch immer, dann gelingt diese Form der Kommunikation nicht. Wenn die den Sterbenden begleitende Person bei ihrer Annäherung nicht seelisch offen und urteilsfrei ist, wird sie sich nicht in eine mitfühlende Kommunikation einschwingen können.

Heute habe ich sowohl die Zeit als auch die innere Bereitschaft, mit Herrn Hütter in Dialog zu treten. Ob er innerlich dazu bereit ist, wird sich herausstellen. Bei diesem ersten Versuch einer Annäherung dürfte normalerweise nicht viel passieren. Davon ausgehend, dass Herr Hütter seit gut zehn Monaten allein und dabei bettlägerig war und sein einziger Kontakt nach außen der mit dem ambulanten Pflegedienst war, kann man hier von sozialer Isolation sprechen. Wahrscheinlich hat er sich aus einem Bedürfnis nach seelischem Schutz innerlich verschlossen; er hatte ja keine wirklichen Begegnungen mehr.

Trotz dieser Ausgangslage, die kaum Hoffnung auf eine leichte Annäherung macht, tut sich bei der ersten Kontaktaufnahme mit Herrn Hütter sehr viel. Er atmet zu meinem Erstaunen tiefer ein und aus. Dadurch färbt sich seine Gesichtshaut, er bekommt ein leicht rosiges Aussehen. Es scheint mir, als könne er mich eindeutig spüren und wahrnehmen. Nach dem Einstimmen meines Atems auf seinen reagiert er jedenfalls auf meine Anwesenheit.

Nachdem vielleicht fünf Minuten in diesem aufeinander eingeschwungenen Atem vergangen sind, berühre ich ihn deutlich hinten an der Schulter und stelle mich ihm vor. Ich sage ihm, in welchem Haus er sich befindet und wie er hierhergekommen ist. Zusätzlich informiere ich ihn über Datum, Wochentag und Tageszeit. Anschließend erkläre ich ihm, was ich mit ihm machen möchte.

Herr Hütter atmet weiter rhythmisch tief ein und aus. Ich verlasse mich weiter auf meine Intuition und habe das Gefühl, dass er mich wahrnimmt und sich nicht vor mir verschließt. Allein aus diesem Gefühl heraus entschließe ich mich zu einer anfänglichen Mobilisation. Ich möchte ihn durch dieses Angebot von körperlicher Aktivität neu ins Leben einladen. Dabei hat er auch die Möglichkeit, mein Angebot abzulehnen. Wie aber kann ich seine Ablehnung bemerken, wo er doch kaum eine Reaktion von sich gibt? Ich kann sie durch seine Körpersymptome erahnen. Manchmal ist das eine körperliche An- oder Entspannung, ein Erbrechen oder Würgen, geöffnete Augen oder geöffneter Mund, Hautverfärbungen oder einfach ein veränderter Atem.

Herr Hütter scheint an meinen Angeboten interessiert zu sein. Da ich bei ihm eine Entfremdung im eigenen Körper vermute, beginne ich in diesem Spätdienst mit einer somatischen Stimulation. Ich fange an seinen Armen an. Dabei umschließe ich mit meinen Händen seine Oberarme und streiche abwärts bis zu den einzelnen Fingern. Ich bewege seine Arme und Finger ein wenig und dehne sie. Anschließend mache ich das auch mit seinen Beinen, an den Oberschenkeln beginnend.

Während ich ihn so stimuliere, beobachte ich hinter seinen geschlossenen Augenlidern eine Bewegung der Augäpfel. Bei den Fußzehen angekommen, gebe ich seinen Fußsohlen einen deutlichen, starken Druck durch meine Handflächen. Dabei spüre ich auf einmal einen Gegendruck in seinen Beinen. Ein Sterbender und Gegendruck? Das passt nicht! Diesen Gegendruck benutze ich später als eine Möglichkeit zur aktiven nonverbalen Kommunikation.

Nach der somatischen mache ich noch eine vestibuläre Stimulation im Liegen: Dabei stehe ich hinter Herrn Hütter und bewege sehr langsam seinen Kopf über seine Körpermitte hin und her. Ich setze hierbei nur kurze Reize, das reicht völlig aus und spart Zeit.

Am Tag darauf habe ich wieder Spätdienst und fahre bei Herrn Hütter mit den beschriebenen Angeboten einer basalen Stimulation fort. Nun nehme ich seinen rechten Fuß in meine Hand und drücke sein Bein. Wie schon gestern erwidert er auch heute meinen Druck mit einem Gegendruck. Ich versuche mit dieser Form des Gebens und Empfangens von Druck, einen Kommunikationsweg zu ihm zu finden. »Herr Hütter«, sage ich, »wenn Sie mich verstehen, dann bitte ich Sie, Ihr rechtes Bein gegen meinen Widerstand zu drücken.« Herr Hütter drückt sein Bein gegen meine Hand. Weiter frage ich ihn: »Möchten Sie aufrecht an der Bettkante sitzen?« Wieder drückt Herr Hütter gegen meine Hand.

Mithilfe eines Kollegen setze ich ihn an die Bettkante. Ich setze mich neben ihn und halte ihn stützend mit meinen Armen. Seinen Oberkörper lasse ich sanft über seine Körpermitte hin- und herschwingen. Er sitzt stabil im Rumpf und erbricht sich nicht. Mein Kollege bemerkt, wie Herr Hütter seine Augen öffnet und sich umschaut. Fünfzehn Minuten später legen wir ihn wieder hin und positionieren ihn in eine stabile Lage, die A-Lagerung. Sein Oberkörper ist dabei aufrecht. Wenn er etwas sehen möchte, kann er sich bequem im Raum umschauen. Er hat seine Augen nun jedoch wieder geschlossen. Seine Augäpfel aber bewegen sich heftig hinter den Lidern. Er sieht nicht mehr so eingefallen aus, sondern hat mittlerweile ein lebendigeres Gesicht.

Am darauffolgenden Tag habe ich Nachtdienst. Noch bevor ich durch die Zimmer gehe, beginne ich bei Herrn Hütter mit der basalen Stimulation, so wie am Vortag. Nachdem er an der Bettkante sitzt, setze ich ihn mit einem Schoßtransfer in einen gemütlichen Therapiestuhl und fahre ihn in den Aufenthaltsraum.

Später bade ich seine Hände in einer Waschschüssel mit warmem Wasser, um anschließend seine Handgelenke zu massieren. Spontan frage ich ihn dabei: »Herr Hütter, hätten Sie denn mal Lust auf einen Schluck Bier?« Plötzlich spricht der Sterbende mit klarer, lauter Stimme: »Jawoll!« Ich traue meinen Ohren nicht. Herr Hütter wünscht ein Bier und sagt das lautstark! Ich hole es aus der Küche, betupfe seinen Mund mit dem Bier und lasse gleichzeitig Bier durch die PEG einlaufen. Herr Hütter sitzt an diesem Abend fast drei Stunden lang.

Am nächsten Tag wird er von den Kollegen im Tagdienst mobilisiert, sitzt sieben Stunden im Therapiestuhl und spricht eindeutig die Worte: »Ja«, »Nein« und »Jawoll«. In der darauffolgenden Nacht beobachte ich, wie er sich in seinem Bett selbstständig umlagert. Seine Arme und Finger scheinen nun beweglicher zu sein.

Herr Hütter kehrt aus eigenem Willen und Entschluss noch einmal aus der Isolation zurück und nimmt für ein paar weitere Wochen am Leben teil, soweit das für ihn möglich ist. Er spricht zwar nicht mehr als die drei genannten Worte, aber kognitiv ist er in seiner Situation ganz da. Sechs Wochen später verstirbt er in einem Pflegeheim.

Bewusst sterben – oder »hinüberdämmern«?

Als ich 1997 erstmals mit Palliativmedizin in Berührung kam, starben die Patienten überwiegend mit klarem Bewusstsein. Sie sind nur dann unbewusst verstorben, wenn sie dies ausdrücklich einforderten oder wir die Schmerzen nicht in den Griff bekamen. Vielleicht ein oder zwei Menschen pro Jahr wurden mit Medikamenten so therapiert, dass sie bewusstlos ihr Sterben erfuhren. Inzwischen sind zwanzig Jahre vergangen, die Palliativmedizin hat sich in dieser Zeit in eine andere Richtung entwickelt.

Die palliative Sedierung

Leider hat sich in dieser Zeit bei vielen Ärzten und Pflegekollegen eine Haltung eingeschlichen, in der die sogenannte palliative Sedierung vorgezogen wird. Manchmal wird diese Möglichkeit, die ganz am Lebensende eingesetzt wird, schon beim Aufnahmegespräch angeboten. Das kann man sich ungefähr so vorstellen: »Herr M., Sie müssen am Ende nicht leiden. Wir haben da etwas für Sie, was Ihnen das Leiden völlig nimmt. Sie erhalten dann dauerhaft Medikamente, die Sie tief schlafen lassen. Dann bekommen Sie vom Sterben gar nichts mit.« Viele Menschen nehmen dieses verführerische Zuckerstückchen an und sind dankbar, wenn sie schlafen gelegt werden. Durch diese hoch dosierten Medikamente kann der Tod im Übrigen auch früher eintreten. Das wird nicht immer mitgeteilt. Diese Maßnahme nennt man »palliative Sedierung« oder »terminale Sedierung«. Sie ist vom Gesetzgeber in Deutschland erlaubt und völlig legal. Sie fällt nicht unter die »aktive Tötung«, die in Deutschland verboten ist.

Palliative Sedierung bedeutet, dass der sterbende Mensch hoch dosiert Schlafmittel in Kombination mit Morphium über eine kleine Nadel zugeführt bekommt, die sich dauerhaft im Unterhautfettgewebe befindet. Durch eine Medikamentenpumpe werden die bewusstseinsraubenden Mittel zugeführt. Oder es werden ihm alle vier bis fünf Stunden die entsprechenden Medikamente, meistens Midazolam (Dormicum) injiziert oder Tavor-Blättchen unter die Zunge gelegt. Diese Medikamente bewirken einen zunehmenden Gedächtnisverlust. Damit ist die Merkfähigkeit für neue Bewusstseinsinhalte massiv reduziert. Neue Dinge können nur noch für ein bis zwei Minuten im Gedächtnis gehalten werden, ehe sie wieder vergessen sind. Das bedeutet, dass dem Sterbenden seine Bewusstseinshelligkeit genommen wird und seine Koordination massiv beeinträchtigt ist. Dies wiederum hat zur Folge, dass er sturzgefährdet ist und im Bett fixiert werden muss. Durch diese Bettlägerigkeit atmet er flacher – als Folge daraus können sich leicht Lungenentzündungen entwickeln, die schnell zum Tode führen können. Es können sich schmerzhafte Druckgeschwüre, besonders an den aufliegenden Hautstellen wie Steiß, Fersen und Hinterkopf bilden. Diese Druckgeschwüre verursachen vermehrte Schmerzen, was wiederum zu höheren Morphingaben führt. Es können sich gefährliche Sepsen bilden, die auch zu einem schnelleren Tode führen. Eine Spirale, die sich immer weiter nach unten dreht – bis zum Tod im Dauertiefschlaf.

Meines Erachtens wird in diesem Teufelskreis von »Das eine bedingt das andere« (diese Formulierung ist angelehnt an Sicely Saunders Konzept der ganzheitlichen Sterbebegleitung) die psychische und spirituelle Dimension des Sterbens völlig außer Acht gelassen. Liegt ein sterbender Mensch durch die palliative Sedierung wie betrunken im Bett, kann er keine bewusste Beziehung aufrechterhalten, weder zu sich selbst noch zu seinen Angehörigen. Diese können ihn nicht mehr so begleiten, wie wenn er bei klarem Verstand wäre. Und er verliert gänzlich die Möglichkeit, sein Bewusstsein im Sterbeprozess zu steuern.

Das Fentanyl-Nasenspray

Es ist ein trauriges Beispiel für unseren Umgang mit sedierenden Mitteln. Viele SAPV-Teams hinterlassen den Sterbenden zu Hause Medikamente, die bei falscher Anwendung sehr gefährlich sein können. Das Fentanyl-Nasenspray gehört dazu. Dieses Spray wird wie ein normales Nasenspray verabreicht. Man muss sehr genau damit umgehen, weil es ein Morphin enthält, also ein rezeptpflichtiges Betäubungsmittel. Wird dieses Medikament überdosiert verabreicht, kann es den Menschen töten. Natürlich erfolgt vor der Übergabe dieses Mittels eine Aufklärung über seine Wirkung, die Nebenwirkungen und die angemessene Häufigkeit der Verabreichung. Und es geht meist auch so lange gut, wie der Sterbende noch nicht den dadurch ausgelösten extremen »Bewusstseinskick« entdeckt hat. Und es geht so lange gut, wie die Angehörigen mit der Versorgung des Sterbenden nicht überfordert sind. Wenn die Angehörigen damit weitgehend allein sind, kann man schon nach einer Woche davon ausgehen, dass sie sich in einer Erschöpfungsphase befinden.

Diese Überlastung kann deshalb so schnell eintreten, weil Sterbende oft einen umgekehrten Tag-Nacht-Rhythmus entwickeln. Ist das der Fall, kann man davon ausgehen, dass die Angehörigen ebenso wach bleiben. Oder der Sterbende ist extrem unruhig. Er will vielleicht aufstehen oder er schreit oder zupft dauernd an sich herum. (Das gehört zu den Symptomen der Auflösung des Erdelements in das Wasserelement, siehe Kapitel »Wie geschieht das Sterben?«.) Um ein eventuelles Herausfallen aus dem Bett zu verhindern, bleibt der Angehörige aufmerksam und hilft. Nach spätestens zwei Wochen kann er diese liebende Unterstützung jedoch nicht mehr geben. Wenn er sich dann keine Hilfe von Angehörigen, Freunden oder Personen aus den ambulanten Hospizdiensten holt, wird er überreagieren. Eine Überreaktion kann ein empathieloses Verhalten, Aggressionen oder Ungeduld gegenüber dem Sterbenden bedeuten. Fast zwangsläufig wird dann vermehrt das Fentanyl-Nasenspray eingesetzt, um den Sterbenden zur Ruhe zu bringen. Sehr oft reicht diese Bedarfsmedikation nicht aus, und es werden weitere Medikamente hinzugegeben, zum Beispiel starke Beruhigungsmittel wie Tavor oder Midazolam. Aber auch dies zeigt manchmal noch keine zufriedenstellende Wirkung, der Patient ist dann eventuell immer noch nicht ruhig. Dann wird er weiter mit diesen starken Medikamenten behandelt, bis er vielleicht irgendwann eine Überdosis erhält, die ihn zu Tode bringt. Mit vielen Palliativärzten habe ich schon darüber gesprochen. Sie alle wissen davon, auch wenn darüber nicht viel geschrieben wird. Es ist eine bittere Grauzone der Palliativmedizin.

Zusätzlich zum Opiat, ob nun in Form eines Nasensprays oder als Schmelztablette, gibt es immer auch die Option, den Sterbenden mit einem starken Beruhigungs- und Schlafmedikament zu versorgen. Üblicherweise wird hier Tavor expidet verabreicht. Diese Schmelztablette hat den Vorteil, dass der Patient sie nicht schlucken muss. Sie wird über die Mundschleimhaut schnell vom Körper aufgenommen. Tavor ist ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine und wirkt angstlösend, sedierend, schlaffördernd und krampflösend. Es wird auch als Beruhigungsmittel bei Angst und Panikstörungen eingesetzt. Üblicherweise wird in der Palliativmedizin Tavor zusätzlich zum Opiat verabreicht. Alle diese Medikamente lassen je nach Dosis das Bewusstsein eintrüben.

Du wirst in diesem Buch noch erfahren, warum es insbesondere aus spiritueller Sicht so enorm wichtig ist, möglichst bewusst, aber symptomarm, bestenfalls symptomfrei, seinen Sterbeprozess erleben zu dürfen. Daher ist es entscheidend zu wissen, wie der Sterbende sterben möchte: bewusst und natürlich oder unter dem Einfluss bewusstseinsraubender Medikamente? Wenn der Begleiter weiß, dass der Sterbende bewusst sterben möchte, kann er mit ihm noch im Stadium kognitiver Klarheit alles Nötige besprechen, was ihm ein solches Sterben ermöglichen kann. Außerdem ist es überhaupt von Vorteil, sich darüber zu informieren, mit welchen Medikamenten in der Palliativmedizin heute behandelt wird (siehe»Medizinische Versorgung«).

Passive Sterbehilfe wird zur aktiven Sterbehilfe

Heute heißt »passive Sterbehilfe«: Sterben zulassen, »aktive Sterbehilfe«: Tötung auf Verlangen. Als ich 1998 von der Intensivstation in das evangelische Hospital für palliative Medizin wechselte, betreuten wir dort zwischen zehn und fünfzehn sterbende Menschen. Wir waren personell extrem gut aufgestellt: Morgens waren wir vier examinierte Palliativ-Care-Pflegekräfte, zusätzlich eine Stationsassistentin, die alle nötigen Arbeiten erledigte wie Patientenpflegeräume auffüllen, Essen verteilen, es anreichen und noch viele andere Tätigkeiten, mit denen sie uns Pflegenden viel Arbeit abnahm. Unser Haus war mit ehrenamtlichen Hospizbegleitern sowohl tagsüber als auch für die Nächte sehr gut abgedeckt. Sollte es mal keinen ehrenamtlichen Hospizbegleiter geben, durften wir Medizinstudenten anrufen, die sich anboten, für etwas Geld Sterbende zu begleiten, besonders in der Nacht und an Wochenenden und bei Sterbenden, die keine Angehörigen hatten.

Das gab uns Pflegekräften ganz viel Sicherheit, weil wir wussten, bei Herrn XY sitzt ein Mensch, der einfach da ist und aufpasst, dass er nicht aus dem Bett fällt, was in der aktiven Sterbephase immer zu befürchten ist. Dies hatte zur Folge, dass der Patient nicht mit starken Beruhigungsmitteln sediert werden musste. Besonders den Menschen, die den Wunsch hatten, ein bewusstes Sterben zu erfahren – und ihre Zahl stieg jährlich an –, konnten wir damit zu fast einhundert Prozent gerecht werden. Palliative Sedierungen hatten wir dort vielleicht nur eine pro Jahr, bei durchschnittlich über zweihundertfünfzig Sterbefällen.

Die Zunahme der palliativen Sedierungen

Die Anzahl palliativer Sedierungen hat sich innerhalb von nur zwanzig Jahren in Deutschland auf geschätzte fünfzig bis siebzig Prozent erhöht. Diese Zahl beruht auf meinen eigenen Beobachtungen und den Aussagen von unzähligen pflegerischen Kolleginnen und Kollegen, die ich immer wieder befrage. Pfleger und Pflegerinnen sprechen nicht gern öffentlich über die ärztliche Anordnung palliativer Sedierungen. Viele haben mir auch berichtet, was es seelisch mit ihnen macht, wenn sie die Sedierung verabreichen müssen (Ärzte selbst spritzen diese Medikamente selten). Manche sprachen hinter vorgehaltener Hand sogar von Missbrauch in dieser Hinsicht.

Seit über fünfzehn Jahren gebe ich Kurse in basaler Stimulation in der Pflege und Sterbebegleitung. Hier begegne ich in ganz Deutschland vielen Pflegekräften, mit denen ich mich immer austausche. Dabei wird mir einiges aus dem Nähkästchen erzählt. Wenn wir im vertrauten Rahmen darüber sprechen, erfahre ich von ihnen, dass palliative Sedierungen in manchen Einrichtungen oder im SAPV (also in der ambulanten Versorgung) sogar schon Standard geworden sind. Wenn die palliative Sedierung nicht mittels Dauermedikationspumpe verordnet wird, dann wird eine subkutane Nadel in den Körper des Sterbenden gelegt und alle vier Stunden Morphium und Midazolam verabreicht, in einer Dosis, die das Bewusstsein tief schlafen lässt. Das sind jene bewusstseinsraubenden Medikamente, die den Tod durch Atemlähmung beschleunigen können. Liegen die Sterbenden zu Hause, dann verabreichen die Angehörigen diese Medikamente im Glauben, dass sie den Sterbenden damit Gutes tun. Nicht selten jedoch erhalten die Sterbenden dann eine tödliche Dosis, gespritzt von ihren Liebsten.

Bei meiner Recherche im Internet fand ich ein paar Artikel von Palliativmedizinern und deren Einschätzung zur palliativen Sedierung. Es wird darüber bis heute nur wenig diskutiert und veröffentlicht. Ich glaube, die meisten der solchermaßen »palliativ Sedierenden« sind sich gar nicht bewusst, auf welches ethische Grenzgebiet sie sich damit begeben.

Focus Online schrieb hierzu: »Für die Befürchtungen von Christof Müller-Busch von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin spricht ein Trend: Im selben Zeitraum, in dem in den Niederlanden die direkte Hilfe beim Sterben abnahm, stieg die Zahl derjenigen, die auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz durch Schmerz- und Beruhigungsmittel zum Lebensende geführt wurden. ›Es sinkt einfach die Hemmschwelle, Menschen schneller sterben zu lassen‹, meint Müller-Busch. (…) Die Gründe für diesen Anstieg hat noch niemand wissenschaftlich untersucht, ›aber ich nehme an, dass die Prozedur für Ärzte schlicht einfacher ist (…) Patienten im Krankenbett einschlafen zu lassen, bedeutet weit weniger Aufwand‹, meint Müller-Busch.«1

Meiner Auffassung nach wird die palliative Sedierung noch viel häufiger durchgeführt, als die Statistiken besagen, oft auch ohne Wissen des Arztes. In meiner Tätigkeit als Krankenschwester in den stationären Einrichtungen und auch im Rahmen der SAPV habe ich es oft miterleben müssen, dass zu hohe Dosierungen von Betäubungsmitteln und Beruhigungsmitteln verabreicht wurden, weil der Patient vielleicht Schmerzen hatte oder unruhig war.

Wie kann es dazu kommen? Jeder Palliativarzt schreibt, nachdem er den Patienten aufgenommen hat, einen Medikamentenplan und hinterlässt ihn dem Pflegepersonal. In diesem Plan wird vom Arzt verordnet, welche Medikamente dem Patienten zu verabreichen sind. Zunächst sind das die Basismedikamente, die der zu Pflegende dauerhaft erhält; hinzu kommen die sogenannten Bedarfsmedikamente. Das sind Medikamente, die im Bedarfsfall und Notfall durch die Pflegekräfte oder Angehörigen verabreicht werden, wenn der Patient zu Hause liegt. Ein Notfall wäre etwa: Schmerzen, Übelkeit, Atemnot, Schlafstörungen. Zu den dafür vorgesehenen Medikamenten zählen unter anderem Morphin, Beruhigungsmittel und Psychopharmaka. Die Pflegekraft bzw. der Angehörige kann dann walten und entscheiden, wie sie oder er es für richtig hält. Zwar gibt es auch für zu Hause einen Bedarfsmedikamentenplan, der durch den Arzt verordnet wird, aber man kann nicht kontrollieren, inwieweit er eingehalten wird.

In den stationären Einrichtungen müssen die Zusatzmedikationen dokumentiert werden, mit genauer Uhrzeit und Begründung der Verabreichung. Für zu Hause wird dies dagegen nicht verlangt; da wird niemand zur Rechenschaft gezogen. Warum auch? Der Mensch wird doch ohnehin sterben, könnte die Antwort lauten.

Von einer spirituellen Sterbebegleitung, die diesen Namen verdient, sind wir mit diesen Praktiken denkbar weit entfernt. Und bedauerlicherweise oftmals auch von einer menschlichen oder ethischen.

Hin zu einem Wandel in der Sterbebegleitung

Wir leben in einem freien und reichen Land. Von daher könnten wir uns eine spirituelle Begleitung tatsächlich leisten. So wie wir auch Gebärenden alles nur Erdenkliche an Unterstützung zukommen lassen, könnten und sollten wir es auch mit Sterbenden tun. Immer noch versterben viel zu viele Menschen im Dämmerschlaf einer Betäubungsspritze. Das aber gleicht dem Sterben eines Betrunkenen. Und Betrunkene sind sich bekanntlich ihrer selbst nicht bewusst.

Es schmerzt mich, immer wieder erfahren zu müssen, dass sogar Menschen mit dem ausdrücklichen Wunsch, bewusst zu sterben, mit starken Beruhigungsmitteln betäubt wurden. Dieser Schmerz hat mir die Energie geschenkt, dieses Buch bestmöglich zu schreiben, sodass viele Menschen von dem Inhalt profitieren können und ihre sterbenden Liebsten anders betreut werden, als es üblicherweise noch viel zu häufig geschieht.

Das Sterben von Peter

Die folgende Beschreibung von Peters Sterben stammt von Nicole Bresnahan, der Leiterin eines ambulanten Pflegedienstes. Ich selbst habe nur beratend im Hintergrund mitgewirkt. Peter ist der reale Name des Patienten.

Freitag, 28. Juli 2017

Heute bat mich mein Chef, zu einer Neuaufnahme in den Riederwald zu fahren. Es war eine Anfrage zur Pflege bzw. Beratung, aber was mich dort erwarten würde, das war zu dem Zeitpunkt noch nicht klar. Wir wussten nur, dass ein junger Mann die Anfrage gestellt hatte. Er schien mit seiner Situation überfordert und bat uns um Hilfe.

Als ich ankomme, erwarten mich zwei junge Männer. Der eine ist der Sohn des Patienten, der andere der Freund des Sohnes; beide schätzungsweise Mitte zwanzig. Sie sind sich nicht sicher, was sie genau brauchen, aber auf jeden Fall Unterstützung. Diese beiden jungen Menschen sind gezeichnet; man kann ihnen ansehen, dass sie in der letzten Zeit viel durchgemacht haben.

Zuallererst versuche ich herauszufinden, was sie sich von uns als Pflegedienst erwarten. Dann darf ich den Patienten kennenlernen: Peter. Er hat Leberkrebs im Endstadium, dessen sind sich alle bewusst. Ich führe ein ruhiges, offenes Gespräch mit den beiden jungen Männern. Beide erscheinen mir sehr abgeklärt, was die Situation von Peter anbelangt. Sie wissen, dass er sterben wird.

Peter liegt in seinem Schlafzimmer und ist kaum ansprechbar. Mein erster Eindruck ist, dass er sich bereits im Sterbeprozess befindet. Das denkt die Familie bis dato auch. Ich stelle mich in meiner Profession vor und frage Peter, ob ich morgen kommen dürfe, um ihm bei der Pflege zu helfen. Er willigt ein.

In dieser Phase ist es für Angehörige schwierig, einen Sterbenden pflegerisch zu versorgen. Meist sind die Sterbenden in dieser Phase schläfrig und bewegen sich kaum noch, oder sie signalisieren, dass sie ihre Ruhe haben möchten. Das verunsichert die Angehörigen, sie wissen dann nicht, wie sie sich verhalten sollen. Was kann man einem Menschen Gutes tun, der im Sterben liegt?

Es ist tatsächlich so, dass die typische pflegerische Versorgung, etwa die Körperpflege von Kopf bis Fuß, in dieser Phase nicht immer angebracht ist. Es gilt herauszufinden, was dem Sterbenden in genau diesem Moment guttut. Oft sind das nur kleine Pflegehandlungen. Zu viel würde ihn überfordern oder in seinem Prozess stören.

Ich schaue mir noch den Medikamentenplan vom Palliativteam an und stelle fest, dass der Patient Beruhigungsmittel nach Bedarf verschrieben bekommen hat, außerdem Fentanylpflaster gegen Schmerzen und bei Atemnot. Sie fühlen sich vom Palliativteam alleingelassen, sagen die beiden jungen Männer. Warum, das werde ich erst viel später in Erfahrung bringen.

Samstag, 29. Juli 2017

Am nächsten Morgen komme ich zur Pflege. Peter ist etwas ansprechbar und reagiert auf mich; er versteht, dass ich ihm helfen will. Nur kann er sich kaum bewegen, leider hat er auch kein Pflegebett, was mir meine Arbeit erschwert. Er ist sehr groß. Ihn in einem normalen Bett zu bewegen ist sehr schwer. Ich schaffe es mit seiner Hilfe, ihn an die Bettkante zu setzen. Er ist sehr schläfrig. Als er sitzt, mache ich ihm das Gesicht frisch und ziehe ihm ein frisches T-Shirt an. Dann will ich ihm unbedingt eine Mundpflege geben, da sein Mund schon voller Soor (Pilzbefall im Mund) und außerdem sehr trocken ist. Dazu bitte ich die jungen Männer, mir Waldhonig zu besorgen, der wirkt desinfizierend und löst die Borken im Mundraum. Vorsichtig wische ich mit einer Kompresse die Borken im Mundraum aus. Peter ist so schwach und schläfrig, dass ich nicht mehr Mundpflege machen kann. Trotz Sedierung nimmt er das, was ich tun kann, wohlwollend an. Das Wechseln der Inkontinenzvorlage ist nicht nötig. Ich lasse ihn für heute in Ruhe.

Sonntag, 30. Juli 2017

Am Sonntag übernimmt ein Kollege die Pflege, ich habe an dem Tag frei. Mir ist klar, dass ich am Montag wieder selbst zu Peter gehen will. Ich kann einfach keinen anderen hinschicken. Der Mann benötigt jetzt eine besondere palliative Pflege.

Montag, 31. Juli 2017

Am Montag kann ich wieder eine kleine Körperpflege durchführen. Die Mundpflege genießt Peter, mehr will er nicht zulassen. Sein Intimbereich bleibt unberührt, anscheinend ist ihm die Pflege dort eher unangenehm. Erst heute erfahre ich, dass er ein Druckgeschwür am Hüftknochen hat. Kein Wunder, er liegt ja auch wie ein Stein im Bett und dämmert vor sich hin. Der Sohn bittet mich, die Wunde zu versorgen. Es ist kaum Material dazu da. Eine Entlastung mit Kissen oder Handtüchern ist zudem zwecklos, er ist so schläfrig und schwerfällig. Es ist unmöglich, ihn im Bett anders zu positionieren. In dieser Phase ist das in der Regel auch nicht mehr nötig, deshalb denke ich, dass ich Peter am besten so liegen lasse, wie er möchte.

Dann frage ich den Sohn, ob Peter Ängste hat oder über Schmerzen klagt. Das wird verneint. Daraufhin rate ich, ihm keine Medikamente zusätzlich zu geben. Er verabreichte seinem Vater bisher, wie vom Palliativteam angeordnet, alle vier Stunden einen Morphinbedarf über eine kleine Nadel im Bauch. Warum das so angeordnet worden war, ist mir nicht einsichtig.

Dienstag, 1. August 2017

Felix, der Freund vom Sohn des Patienten, erzählt mir, dass sie ihm keine Medikamente mehr gegeben haben. Er hat jetzt nur sein Fentanylpflaster mit fünfundzwanzig Mikrogramm. Was sich mir an diesem Morgen zeigt, ist unglaublich: Peter ist viel wacher, ansprechbar und präsent. Es scheint ihm gutzutun, seine Umgebung wieder wahrzunehmen.

Ich frage die beiden, ob ich ehrlich zu ihnen sein dürfe und ob sie mir vertrauen. Ja, ist die Antwort. Dann weise ich sie an, Peter auf keinen Fall mehr an Morphin zu geben als dieses Fentanylpflaster. Nur wenn er Schmerz oder starke Atemnot äußern sollte, solle er das zusätzliche Morphin bekommen.

Mittwoch, 2. August 2017

Peter ist heute noch klarer als gestern. Er will sogar auf die Toilette gehen. Ich begleite ihn ins Bad und mache mit ihm die Pflege am Waschbecken. Er rasiert sich selbstständig. Offensichtlich ist er doch noch nicht sterbend, denke ich mir. Mir wird dabei klar, dass er durch das Palliativteam, von Seiten der Ärzte angeordnet, sediert worden war. Wo war dabei die Selbstbestimmtheit des Patienten geblieben? Ohne ihn nach dem zu fragen, was er will, war er in einen dauerhaften Dämmerzustand versetzt worden.

Donnerstag, 3. August 2017

Peter ist so gut drauf, dass ich ihm Hilfe zum Duschen anbiete. Er willigt ein und erscheint mir dabei noch klarer als gestern. Er genießt das Duschen sichtlich. Dann setzt er sich in die Küche zu seinem Sohn und dessen Freund und will einen Espresso trinken. Die Jungs machen ihm Rühreier zum Frühstück, und er isst alles mit Appetit auf. Sie glauben ihren Augen kaum und freuen sich so sehr, ihn in diesem Zustand zu sehen. Es herrscht eine lockere, fröhliche Stimmung im Raum.

Freitag, 4. August 2017

Heute ist er noch einmal bewusster als gestern, nur seine Stimmung ist eher gereizt. Er fragt, was wir jetzt machen, was wir so anbieten als Pflegedienst. Seltsam, denke ich mir, heute sieht er mich das erste Mal. Irgendwie scheint er mir doch etwas verwirrt. Befindet er sich in einem Entzug von der hohen Schmerzmedikation? Die Familie ist Tag und Nacht bei ihm. Diese Art der Begleitung berührt mich sehr.

Samstag, 5. August 2017