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Der zweite Fall für die Journalistin Liv Mika. Die Journalistin Liv Mika erfährt bei einem Klassentreffen von ungeklärten Todesfällen ehemaliger Mitschüler. Als sie anfängt Nachforschungen anzustellen, kommt sie dabei der Polizei in die Quere, die eine grausame Mordserie in Hannover aufklären muss. Jede neue Frauenleiche erhöht den Druck. Liv ahnt nicht, dass der Täter direkt aus ihrer eigenen Vergangenheit und ihr damit immer näher kommt ...
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Seitenzahl: 450
Über das Buch:
Der zweite Fall für die Journalistin Liv Mika.
Die Journalistin Liv Mika erfährt bei einem Klassentreffen von ungeklärten Todesfällen ehemaliger Mitschüler. Als sie anfängt Nachforschungen anzustellen, kommt sie dabei der Polizei in die Quere, die eine grausame Mordserie in Hannover aufklären muss. Jede neue Frauenleiche erhöht den Druck. Liv ahnt nicht, dass der Täter direkt aus ihrer eigenen Vergangenheit und ihr damit immer näher kommt ...
Tina Voβ
Vergangen
Thriller
Edel Elements
Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2016 by Tina Voβwww.facebook.com/tinavoss1977www.twitter.com/vos_tina
Lektorat: Catherine Beck Korrektorat: Anika Beer Covergestaltung: Designomicon Konvertierung: Datagrafix
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-833-9
Prolog
Afghanistan, Jahre vorher
Freitag, 22. Juni
1. Maria, einige Wochen vorher
2. Liv, vormittags
3. Maria, einige Wochen vorher
Samstag, 23. Juni
4. Liv, nachmittags
5. Maria, nachmittags
6. Liv, abends
7. Oliver, abends
8. Liv, abends
9. Oliver, spätabends
10. Liv, nachts
11. Ein Mann, nachts
12. Maria, nachts
13. Liv, nachts
14. Ein Mann, nachts
Sonntag, 24. Juni
15. Oliver, vor dem Morgengrauen
16. Liv, nachts und morgens
17. Liv, tagsüber
18. Oliver, mittags
19. Liv, nachmittags
20. Esther, nachmittags
21. Liv, nachmittags
22. Oliver, abends
Montag, 25. Juni
23. Liv, morgens
24. Esther, mittags
25. Ein Mann, mittags
26. Liv, mittags
27. Esther, abends
28. Liv, abends
29. Esther, abends
30. Liv, spätabends
Dienstag, 26. Juni
31. Esther, nachts und morgens
32. Liv, vormittags
33. Oliver, nachmittags
34. Liv, nachmittags
35. Liv, spätnachmittags
36. Oliver, spätnachmittags
37. Liv, früher Abend
38. Liv, abends
Mittwoch, 27. Juni
39. Esther, morgens
40. Liv, morgens
41. Liv, mittags
42. Liv, nachmittags und abends
Donnerstag, 28. Juni
43. Liv, morgens
44. Walter, mittags
45. Liv, nachmittags
46. Oliver, nachmittags
47. Liv, nachmittags
48. Walter, abends
49. Esther, spätabends
50. Liv, spätabends
51. Walter, spätabends
Freitag, 29. Juni
52. Liv, morgens
53. Oliver, mittags
54. Liv, mittags
55. Oliver, mittags
56. Esther, mittags
57. Liv, mittags
58. Oliver, mittags
59. Esther, mittags
60. Liv, nachmittags
61. Walter, abends
62. Liv, abends
Samstag, 30. Juni
63. Liv, morgens
64. Ein Mann, mittags
65. Liv, mittags
66. Esther, nachmittags
67. Liv, nachmittags
68. Oliver, abends
69. Liv, abends
Sonntag, 01. Juli
70. Esther, morgens
71. Liv, morgens
72. Liv, mittags
73. Liv, nachmittags
74. Esther, abends
75. Liv, abends
76. Oliver, abends
Montag, 02. Juli
77. Liv, nachts und nächster Morgen
78. Esther, morgens
79. Liv, vormittags
80. Esther, vormittags
81. Liv, mittags
82. Ein Mann, nachmittags
83. Liv, nachmittags
84. Ein Mann, nachmittags
85. Christel, nachmittags
86. Liv, nachmittags
87. Liv, nachmittags
88. Oliver, nachmittags
89. Liv, nachmittags
90. Esther, nachmittags
91. Liv, nachmittags
Freitag, 06. Juli
92. Liv, vormittags
93. Robert, mittags
94. Liv, mittags
Danksagung
Sand, nichts als Sand. Das gesamte Land schien sich in dieser unbarmherzigen Hitze aufzulösen und in winzigen Partikeln durch die Luft zu fliegen. Wenn sie mit den gepanzerten Dingos an Dörfern vorbeifuhren und Wind aufkam, hatte der MG-Schütze immer ein Dreieckstuch vor dem Gesicht getragen. Später besorgten sich die meisten Gunner einen OP-Mundschutz. Am Ende einer solchen Erkundungsfahrt hing ein Teppich aus dunkelbraunen Partikeln in der Membrane fest. Selbst die Scheiße der Einwohner wurde zu Staub und schien sie anzugreifen.
Er versuchte, sich auf dem Beifahrersitz möglichst wenig zu bewegen. Ein Schweiß-Sand-Gemisch rann ihm unter der Splitterschutzweste und dem Einsatzhemd den Rücken runter und scheuerte zwischen seinen Pobacken. Das Außenthermometer zeigte zweiundfünfzig Grad Celsius an. In dem gepanzerten Fahrzeug kletterte die Temperatur noch höher. Unter den Kopfhörern des Bordfunks juckten ihm die Ohren. Während er sich mit dem Ärmel über die Stirn wischte, schlug der Fahrer des Dingos auf das karge Armaturenbrett.
»Diese beschissene Klimaanlage! Wann hat die je funktioniert?«, knarzte es in Chucks Kopfhörern.
»Brenner, fahr einfach und halt die Fresse«, zischte er in das Mikrofon, das ihm wie ein schwarzer aufgespießter Squashball vorm Mund hing.
Chuck hasste Dingos, Greenliner und die ganzen verfluchten Bundeswehrfahrzeuge, mit denen sie durch ausgedörrte Flussbetten und über Bergketten rumpelten. Vor ihnen fuhr der Transportpanzer Fuchs. Seine Störsender, die Jammer, verhinderten, dass Funkbomben gezündet werden konnten, und wackelten bei jedem Schlagloch wie betrunken auf dem Dach. Vor dem Fuchs umkurvte nur noch der andere Dingo die schlimmsten Krater und Felsbrocken. Die Cimic-Einsätze absolvierten sie mit der kleinstmöglichen Mannschaft, um die Einheimischen nicht zu verschrecken.
Als er zum Hauptmann befördert worden war, hatte er sich gemeinsam mit seinem Feldwebel Brenner für die Ausbildung „Zivilmilitärische Zusammenarbeit im Auslandseinsatz“ gemeldet. Tee trinken mit den Dorfältesten, ab und an einen Brunnen versprechen und Hilfsgüter verteilen, das schien ihm der bestmögliche Job in dieser Gluthölle zu sein. Dafür hatten sie Landeskunde, Konvoi-Sicherung und ein paar Brocken der Sprache pauken müssen. Die Cimic-Einsätze kamen ihm mittlerweile vor wie der beschissenste Job der Welt. Die Kameraden dösten auf ihren Feldbetten, und sie mussten währenddessen in die entlegensten Dörfer, immer für endlos scheinende, sinnlose Gespräche. Wut über die Hitze und die Stunden, die er gleich mit alten Männern auf Teppichen herumsitzen würde, stieg in ihm hoch.
»Wenn die Karre während des Treffens in der Sonne steht, werden wir hier drin gegrillt«, meldete sich Brenner erneut über den Bordfunk.
In den Transportpanzern und anderen militärischen Fahrzeugen dröhnten die Maschinen derart laut, dass sie sich nur über die Funkanlage verständigen konnten. So standen sie beim Einschalten des richtigen Funkkreises auch mit den sie begleitenden Einsatzwagen in Verbindung. Falls sie angegriffen wurden, zählte jede Sekunde Kommunikation.
»Dann fahr das Ding im Kreis, bis ich wieder rauskomme«, fuhr er seinen Untergebenen an und riss sich die juckenden, verschwitzten Kopfhörer runter.
Der Konvoi hielt. Sie wurden bereits erwartet. In den verfluchten Hütten stand die Luft, und er hasste das nun folgende stundenlange Sitzen, Nicken und Lächeln jetzt schon.
»Du bleibst hier«, befahl Chuck und kletterte aus dem Dingo.
Nachdem er die gepanzerte Tür zugeknallt hatte, streifte er seine sandfarbenen Handschuhe ab. Bei Temperaturen über fünfzig Grad konnte man nicht mal einen Griff anfassen, ohne sich die Haut zu verbrennen. Aus einem der anderen Wagen sprang der einheimische Dolmetscher, an dem die mörderische Hitze abzuprallen schien. Chuck verschwand mit ihm in einer der Lehmhütten. Brenner zündete sich eine Zigarette an und wartete.
Nach zwei Stunden, die Brenner und seine Kameraden mit Stahlhelm und G36-Sturmgewehr dösend im Schatten des Dingos verbracht hatten, kamen der Dolmetscher und Chuck wieder hinter dem Vorhang der Hütte hervor. Der Hauptmann mahlte mit den Kiefern, die Muskeln traten deutlich hervor. Seine Lippen waren ein zusammengepresster Strich. Brenner sprang auf und schwang sich in das Fahrzeug. Ihm graute vor der Rückfahrt. Ein gut aufgelegter Chuck ließ keinen Spaß aus, vor allem, wenn er gegen die Regeln verstieß. Ein schlecht gelaunter Chuck verstieß gegen die Regeln. Ohne Spaß.
Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und rammte die Faust in die spartanische Türverkleidung.
»Diese beschissenen alten Säcke! Was bilden die sich ein, hier auch noch Forderungen zu stellen?«, brüllte er.
Wieder ein Schlag gegen die Tür.
Brenner schwieg und hoffte, dass der Ausbruch bald vorbei war, obwohl sich die Laune des Hauptmanns in letzter Zeit stetig verschlechterte. Er ließ seine Leute in der Hitze strammstehen und ordnete sinnlose Gefechtstrainings an, in denen die Gewehrläufe durch die Überbeanspruchung heiß geschossen wurden und kein Ziel trafen. Das hatte zur Folge, dass Chuck noch mehr schießen ließ. Als ein Soldat mal bissig bemerkte, dass die Gewehre schossen, wie Mädchen werfen würden, blieb Chuck ganz ruhig. Das hatte Brenner die meiste Angst gemacht. Er fühlte sich in der Nähe seines Hauptmanns jeden Tag unwohler. Als würde man neben einer Autobombe stehen und nie wissen, wann der Attentäter den Zünder betätigte.
Brenner wendete, setzte die Kopfhörer auf und fuhr eine andere Strecke durch einen ausgetrockneten Seitenarm des Flussbetts zurück zum Feldlager. Niemals die gleichen Routen nehmen. Der Befehl war ihm so in Fleisch und Blut übergangen, dass er Sorge hatte, dass er den später in der Heimat auf dem Weg zum Supermarkt nicht wieder loswurde. Chuck schien sich beruhigt zu haben und sah stur geradeaus. Weiter vorne durchquerten einige verschleierte Frauen mit Wasserkanistern den ehemaligen Fluss. Sie lachten und scherzten. Nur Frauen und Mädchen. Keine Männer. Die hüteten die mageren Ziegen in den Bergen und zogen durch die Täler, immer auf der Suche nach Wasser und Vegetation.
Chuck setzte die Kopfhörer auf und schaltete den Hebel von der Nullstellung auf den Zugkreis.
»Asterix an alle. Kommen.«
»Hier Asterix Eins. Kommen.«
»Hier Asterix Zwei. Kommen.«
»Hier Asterix. Eins bis Zwei sofort zurückverlegen ins Lager. Wir folgen in zwei Stunden. Verstanden? Kommen!«
»Asterix Zwei an Asterix. Wiederholen Sie. Kommen«, meldete sich der Fahrer des Fuchses mit den Störsendern auf dem Dach. Brenner meinte, einen ungläubigen Unterton rauszuhören. Es war höchst ungewöhnlich, dass man ohne Not ein Fahrzeug aus dem Konvoi zurückließ.
»Spreche ich irgendwie undeutlich?«
»Nein. Asterix Eins verstanden. Ende.«
Nachdem auch die Besatzung des Fuchses bestätigt hatte, stellte Chuck den Schalthebel der Funkanlage in die Nullstellung, sodass sie sich nur noch miteinander unterhalten konnten. Brenner zog sich der Magen zusammen. Drückte jetzt jemand auf den Zünder der Bombe? Wieso blieben sie in dieser Einöde zurück? Er wagte es nicht, etwas zu fragen, schaute Chuck aber von der Seite an. Der starrte mit funkelnden Augen in Richtung der Frauen.
»Halt an.«
Brenner stoppte. Der Motor brummte im Leerlauf. Sie saßen im Wagen und schwitzten. Kalksteine reflektierten das gleißende Sonnenlicht. Die anderen beiden Fahrzeuge entfernten sich in einer Staubwolke.
»Weiter.«
Brenner legte den Schalthebel auf D und rollte los. Die Frauen schauten dem sich entfernenden Trupp nach und musterten mit vor dem Mund gehaltenen Schleier gestikulierend den langsam auf sie zurollenden Dingo. Eine der Frauen kreischte los, und sie rannten alle aus dem Flussbett in Richtung ihrer Lehmhütten.
»Gib Gas!«
Brenner trat das Pedal durch. Kies spritzte hoch. Die Frauen ließen die Kanister fallen, stolperten, fingen sich und hetzten weiter zu den rettenden Hütten. Chuck schmiss Helm und Kopfhörer nach hinten. Er riss die Klettverschlüsse der Splitterschutzweste auf und warf sie dazu. Dann wühlte er in den Taschen seiner Hose und zog das Messer heraus.
Endlich verstand Brenner, was Chuck vorhatte. In derselben Sekunde versteifte sich sein Glied, und er schluckte. Sein Herz trommelte so sehr, dass es ihm in den Ohren rauschte. Er löste den Kinnriemen des Helms und lenkte den Dingo die ausgetrocknete Böschung hoch. Jagdzeit! Chuck warf einen Blick in Brenners Schritt und grinste.
Ihr Arm zuckte plötzlich nach vorn und fegte eine dampfende Tasse vom Tisch. Kaffee ergoss sich über die weiße Caprihose einer von zu vielen Sonnenstunden verdorrten, blondierten Mittfünfzigerin.
»Was zum Teufel ...«, rief die Frau, sprang auf und ließ die Tageszeitung fallen. »Können Sie nicht aufpassen?«
Maria starrte auf ihren Arm, als hätte er eine gemeinsame Absprache verraten und führe plötzlich ein Eigenleben.
»Sind Sie taub, oder was?«
»Entschuldigung, ich wische das sofort weg«, stammelte Maria.
»Und meine Hose? Die ist doch völlig ruiniert.«
»Reinigung, ich bringe sie in die Reinigung.«
»Das will ich aber auch hoffen«, grummelte die erboste Frau und tupfte mit einem Spitzentaschentuch auf den Flecken herum.
Christel, Marias Chefin, trat mit einem Lappen in der Hand aus dem Hotelkiosk. Sie eilte zu den Bistrotischen, an denen sie, wenn es im Hotel beim Umbau im Speisesaal für ein paar Sekunden kein Essen gab, Getränke und Snacks verkauften.
»Das kann ja mal passieren. Bringen Sie mir die Hose nachher vorbei. Das bekommt die Reinigung vom Hotel wieder raus«, beruhigte sie die Sonnengöttin.
Maria hielt den linken Arm mit der rechten Hand umklammert, als müsste sie einen zähnefletschenden Hund bändigen.
»Alles okay?«, fragte Christel.
Maria nickte, ließ mit der rechten Hand los und wackelte mit den Fingern beider Hände.
»Hinten im Lager haben wir Magnesium. Hol dir mal eine Rolle. Das ist gut bei Muskelproblemen. Und nimm die nasse Zeitung gleich mit.«
Maria griff nach den triefenden Blättern, hielt sie mit gestrecktem Arm vor sich und ging zur Tür des kleinen Ladens. Christel versprach der immer noch vor sich hinschimpfenden Frau die umgehende Reinigung ihrer Hose.
Erst jetzt fiel Marias Blick auf den Namen des Blattes: »Hannoversche Allgemeine«. Ihr Magen zog sich zusammen. Der linke Arm zuckte erneut. Bitte nicht das auch noch. Konnte die Zeitung nicht aus Schweinfurt oder Flensburg sein? Erinnerungen fluteten ihr Gehirn, und Marias Mund wurde trocken. Im Lager ließ sie sich auf einen der ausrangierten Bistrostühle sinken.
»Ich falte die Zeitung, schmeiße sie weg und gut«, murmelte sie.
Beim Zusammenlegen sprang ihr die Headline der ersten Seite ins Auge. Maria erstarrte. Nur ihr feindlicher linker Arm zuckte wieder, als wollte er demonstrieren, dass ihm das nichts ausmachte.
Die Zeitung segelte auf den Boden und blieb mit der Titelgeschichte nach oben liegen: »Achillessehnenmörder tötet und verstümmelt junge Frau«
Maria fasste sich an die Ferse und berührte die weißen dünnen Narben. Um sie herum wurde es dunkel.
Frieda knurrte. Es war nicht das kompromisslose Geräusch, das tief aus ihrem Inneren kam. Es war eher die leise Art Knurren, die sie anstimmte, wenn sie wusste, dass Liv ein Bellen missbilligen würde. Ein Brummen, das sich kaum vom Klappern und Stimmengewirr des Cafés absetzte. Den Mann am Nachbartisch schien das nicht zu beeindrucken. Er hatte die Zeitung sinken lassen und betrachtete die Dobermannhündin mit einem neugierigen Funkeln in den Augen. Frieda setzte sich auf, alle Aufmerksamkeit auf den Fremden konzentriert. Liv streifte den Tischnachbarn mit einem desinteressierten Blick, vergaß ihn wieder und scrollte durch eine endlose Folge unbearbeiteter E-Mails im Posteingang. Irgendetwas war ihr in den letzten Wochen durchgerutscht. Eine Einladung? Ein wichtiger Termin, den sie im Chaos und den Nachwehen der Ereignisse aus Kiew vergessen hatte? Die Betreffzeilen scannend, wusste sie, dass die Lösung zum Greifen nah vor ihr waberte, sich ihr aber immer wieder entzog. Es war, als wollte man mit bloßen Händen Fische fangen.
So kam sie nicht weiter. Besser, sie sorgte für ein wenig Ablenkung. Daher öffnete sie die nächstbeste E-Mail, die Angebote eines Immobilienportals. Vor einigen Tagen hatte sie einen Suchauftrag eingestellt, um die anonyme Festung ihrer Wohnung im Herzen Frankfurts gegen etwas Schönes im Umland zu tauschen. Die Zeit, in der ein Panikraum und eine Alarmanlage zu den Grundbedingungen einer Behausung gehörten, neigte sich dem Ende zu. Hoffentlich. Mit jedem Tag fühlte sich Liv stärker und unabhängiger als zu ihrer Anfangszeit in der anonymen Stadt. Zu der Zeit, als sie nur unsichtbar sein wollte.
Frieda bellte.
Liv zuckte zusammen und verschüttete Wasser auf ihren Rechner.
»Frieda, aus!«
Fluchend hob Liv das Notebook hoch, drehte es seitlich und tupfte mit der Serviette auf der Tastatur herum. Am Tisch gegenüber saß ein typischer Frankfurter Anzugträger, mittelgroß, mittelalt, randlose Brille, und betrachtete unverwandt ihre Hündin. Nicht unfreundlich, nicht ängstlich, eher neugierig. Frieda knurrte mit geschlossener Schnauze, rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Entschuldigung. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Liv den Fremden, der Frieda zunehmend aus der Fassung brachte. »Wenn sie das Tier noch weiter anstarren, wird es übrigens nicht besser.«
»Oh, Verzeihung. Das wollte ich nicht.«
Er ließ den Blick zwischen ihr und dem Hund hin und her wandern. Jetzt, da Frieda die Stimme des Mannes gehört hatte und er das Anstarren einstellte, verstummte sie.
»Ich bin seit Magnum ein Dobermann-Fan und war mir nicht sicher, ob das hier einer ist. Der sieht irgendwie anders aus.«
»Sie, kein er.«
»Oh, ist der Unterschied zwischen Männchen und Weibchen so groß? Ich dachte, dass sowas eher bei Enten eine Rolle spielt.«
Liv lachte los. »Nein, das ist es nicht. Aber früher wurden den Tieren die Ohren und der Schwanz abgeschnitten. So sahen sie gefährlicher aus. Zum Glück ist das jetzt anders.«
Liv streichelte Frieda über den Kopf und fasste ihr an die kaschmirweichen Ohren.
»Darf ich sie streicheln?«
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun.«
»Wieso?«
»Gefährlich sind sie immer noch.«
Der Fremde zog die Hand zurück. Liv genoss die Plauderei im Café. Früher wäre sie schon bei Friedas Knurren zusammengezuckt und hätte panisch die Umgebung nach Bedrohungen abgesucht. Jetzt war sie lediglich verärgert, weil sie einen Schwung Wasser über ihre Tastatur gekippt hatte. Die Angst hatte sich in den letzten Wochen und Monaten verflüchtigt wie Morgennebel. Heute war es für sie einfach nur ein fremder Mann, der ähnliche Erinnerungen an eine amerikanische Fernsehserie mit zwei Dobermännern und einem Schnauzbart teilte. Die Aktentasche schulternd, nickte der Fremde ihr lächelnd zu und verließ das Café.
Zufrieden nahm Liv den letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse und suchte nach der E-Mail, die bereits einige Wochen auf Antwort wartete. Als sie das Schreiben erhalten hatte, hatte sie an einem der aufwühlendsten Artikel ihres Lebens gearbeitet, und die Einladung war ihr vorgekommen wie eine Nachricht aus einer fernen Galaxie. Die Welt hatte sich unbeeindruckt weitergedreht, während Liv in einem Strudel aus Menschenversuchen, Zwangsprostitution und Morden versank.
Erst spät hatte sie sich klargemacht, dass ihr Leben in höchster Gefahr gewesen war. Wochenlang war sie danach von Albträumen aufgewacht. Was Menschen sich aus Profitgier antun können, erschütterte sie noch immer. Es war ihr aber gelungen, nahezu alle Beteiligten zu enttarnen, und mit dem Aufdecken des großen Geheimnisses zerbrach der kleine Kreis des Bösen. Für Liv fühlte sich das an wie eine Befreiung. Sie hatte sich aus der Deckung gewagt und am Ende gesiegt.
Liv fand die E-Mail und erinnerte sich, wie sie beim Eintreffen der Einladung in letzter Minute ihren Artikel verschickt hatte.
»Hallo Liv,
viel Zeit ist vergangen. Hast du nicht Lust, dass wir, die eingeschworene Clique von damals, uns mal wieder treffen? Lass uns trinken, über alte Zeiten plaudern und schauen, was uns die neuen gebracht haben. Ich bin zufällig für einige Tage in Deutschland und würde es schön finden, euch zu sehen ...«
Danach folgte eine kurze Namensliste, und Liv lächelte, als sie Tim dort entdeckte. Himmel! An den hatte sie lange nicht gedacht. Und das Treffen sollte schon morgen stattfinden. Damals waren sie ein bunter Haufen aus ehemaligen Zeitsoldaten, Sachbearbeitern und vielen anderen artverwandten Berufen gewesen, der sich in Betriebswirtschaft weiterbildete.
Nach dem Abschluss wurde Liv zur Expertin der Redaktion für alle Wirtschaftsthemen. Mike, ihr langjähriger Mentor und Chefredakteur, setzte sie ab da bevorzugt bei Firmenreportagen und Bilanzpressekonferenzen ein. Wenn man erstmal verstand, wie Firmen Gelder in Bilanzen versteckten und durch komplizierte Konstrukte Beteiligungen verschleierten, war Wirtschaft höchst spannend.
Weiter vorne im Posteingang wartete die Bestätigung des Klassentreffens. Alle hatten zugesagt, nur sie nicht. Liv griff nach ihrem Telefon und wählte Mikes Nummer, um zu horchen, ob es etwas Dringendes gab. Obwohl sie von ihm Freizeit und Erholung verordnet bekommen hatte, rief sie ihn unregelmäßig an. Eine diffuse Angst, dass die Enthüllung des Jahrhunderts an ihr vorbeigehen könnte, wenn sie keinen Kontakt hielt, ließ sie zum Telefon greifen.
»Dietzmann.«
»Hallo Mike, ich bin es. Liv.«
»Du bist früh auf. Solltest du nicht in einer Art Urlaub sein?«
»Bin ich. Frieda und ich sitzen entspannt in einem Café in der Innenstadt und erschrecken Passanten.«
»Was macht die Wohnungssuche?«
»Die verstopft mir mein Postfach.«
»Sehr gut. Ich bräuchte vielleicht jemanden für die Jahreshauptversammlung einer Firma, die das Innenleben von Windeln herstellt. Hast du Lust?«
»Auf keinen Fall!«
»Das wollte ich hören. Entspann dich weiter und sei auch ein wenig stolz. Das vergisst du manchmal.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, hielt Liv unentschlossen ihr Telefon in der Hand. Auf dem Weg zum Klassentreffen nach Hamburg kam sie an Hannover vorbei. Oliver, ihre Kurzzeitaffäre, kam ihr in den Sinn. Sollte sie ihn anrufen?
Kopfschüttelnd steckte sie ihr Telefon in die Tasche. Auf keinen Fall würde sie ihm nachlaufen. Eindeutig war da etwas zwischen ihnen, aber das Bild stellte sich nie ganz scharf. Vielleicht waren Gefühle, die in extremen Situationen aufpoppten, auch schlicht nicht belastbar. Oliver nahm ihr nach wie vor übel, dass sie sich trotz seiner Warnungen in Lebensgefahr gebracht hatte. Andersrum konnte sie ihm nicht verzeihen, dass er sie zeitweise für eine Mörderin gehalten hatte. Und das, nachdem sie miteinander im Bett gelandet waren.
Bei ihren immer selteneren Treffen hatten sie das Thema rund um die Ermittlungen ausgeklammert und sich nie richtig ausgesprochen. Hatte das unterschwellig die gegenseitige Anziehung vergiftet? Liv war ratlos, konnte aber auch nicht aus ihrer Haut. Wenn er sie nicht als Ganzes akzeptieren wollte, war es schwer, einen Schritt weiter zu denken. Wie sollte das auch gehen? Ein Polizist und eine Journalistin? Das war wie Staatsanwalt und Strafverteidiger. Beide mussten zwangsläufig konträre Sichtweisen auf die Welt haben.
Liv hasste diese Institutionen und die Macht, die sie hatten. Der tödliche Unfall ihrer Eltern und der Freispruch des eindeutig betrunkenen Fahrers, eines bekannten Politikers, hatten ihr Leben bereits als Achtjährige so fundamental verändert, dass sie sich schwertat, Dinge ohne Hinterfragen hinzunehmen. Sie stand sich dabei selbst im Weg, fand aber auch keine Möglichkeit, es zu ändern.
Sie seufzte. Oliver und ihre gemeinsamen Irrwege mussten noch warten. Jetzt freute sie sich lieber auf ein kleines Klassentreffen und schrieb eine verspätete Zusage.
Liv legte einen Schein neben ihre Kaffeetasse und winkte der Kellnerin.
»Stimmt so, danke. Frieda, Fuß.«
Der Briefumschlag mit dem Anwaltslogo zitterte so stark in ihren Händen, dass die Buchstaben vor ihren Augen tanzten. Als sie versuchte, den Umschlag aufzuschlitzen, zuckte ihr Arm zur Seite, und das Küchenmesser schlitterte über das Linoleum. Vielleicht wollte ihr Lieblingsmesser, ein Geschenk von Christel, verhindern, dass sie schlimme Nachrichten las?
Maria schluckte und riss das Papier mit den Fingern auf. Sie strich den Brief glatt, setzte sich auf ihre linke Hand und überflog mit klopfendem Herzen das dreiseitige Schreiben. Dann begann sie wieder von vorne. Wort für Wort arbeitete sie sich durch die Zeilen, während sie langsam die Tragweite der Sätze erfasste.
Es klopfte.
»Maria bist du da?«, rief Christel durch die geschlossene Tür des kleinen Appartements.
»Ja.«
Marias Stimme war nur ein Flüstern, aber durch die dünnen Wände vermutlich trotzdem gut zu hören. Die Tür wurde von außen geöffnet, und Christel trat mit einem Korb voller Süßigkeiten in die Wohnküche mit Schlafnische.
»Die Schokolade ist zwar noch nicht abgelaufen, aber durch falsche Lagerung im Container hat sie zu viel Wärme abbekommen und war geschmolzen. Nimm dir, was du möchtest.«
Maria schaute hoch. Ihr Gesicht war nass von Tränen.
»Himmel, was ist passiert? Du weinst ja«, rief Christel.
Wortlos reichte Maria den Brief weiter. Ihre Hand zuckte unter dem Bein, als würde sie sich befreien wollen. Christel überflog die erste Seite, streifte Maria mit einem Blick und blätterte um.
Seufzend zog sich Christel einen Stuhl heran, legte den Brief auf den Tisch und griff nach Marias rechter Hand. Die Hand, die meistens ihren Dienst tat.
»Das sind doch gute Nachrichten oder? Vielleicht ist das auch der Ruf nach Deutschland, den du gebraucht hast, damit du dich endlich untersuchen lässt?«
»Ich weiß nicht ...«
»Was weißt du nicht?«
»Ob ich nach Hause zurück möchte.«
»Es ist doch nicht für lange. Du gehst zu diesem Anwalt, lässt dir einen Termin bei einem vernünftigen Arzt geben, und dann bist du schon wieder hier.«
Maria blickte auf ihre kooperative Hand und entzog sie Christel. Das Zucken der linken Seite verstärkte sich bei Stress. Immer öfter fing auch ein Fuß an, unwillkürliche Bewegungen zu machen.
»Lass es endlich abklären und regele die andere Sache.«
»Die andere Sache?« Maria lachte freudlos auf.
»Tut es dir weh?«
»Nein. Ich glaube, ich bin erleichtert. Vielleicht spielt es auch keine Rolle mehr. Das war ein anderes Leben.«
»Ich buche dir einen Flug und ein paar Nächte in einem schönen Hotel, okay? Auf meine Kosten. So was gibt es doch hoffentlich in deinem Hannover?«
Alarmiert schreckte Maria hoch. »In Hannover? In dieser Provinz? Lieber nicht. Ähm ... wie wäre es mit Hamburg? Wir warten doch auf einen neuen Container? Dann kann ich den gleich vor Ort bezahlen.«
»Ist dir das nicht zu umständlich? Ich kann das Geld auch wie immer der Botin mitgeben.«
»Besser das, als dahin zurück.«
»Nun gut. Du musst es wissen.«
Christel stand auf, stellte den Korb auf den Kühlschrank und ging in Richtung Tür.
»Geht es dir sonst wirklich gut, bis auf ...« Sie ließ das Ende offen und nickte in Richtung Marias Hände.
»Er ist tot. Ich werde zu seiner Beerdigung fahren und auf den Sarg spucken.«
Nach endlosen, nervtötenden Stunden im Stau traf Liv in Hamburg ein. Zum Glück waren im Hotel Gastwerk Hunde erlaubt. So konnte sie direkt da einchecken, wo sich die alte Clique treffen wollte.
Liv parkte ihren Kombi auf dem Parkplatz neben dem Haupteingang und streckte sich. Im Kofferraum bellte Frieda auffordernd. Auch sie schien genug vom Autofahren zu haben. Liv ließ den Hund raus, schnappte sich ihre grellorange Reisetasche, und gemeinsam gingen sie zur Rezeption. Das Hotel befand sich in einem ehemaligen Gaswerk und war aufwändig mit Stahl und Glas in das alte Gemäuer integriert worden. Die historischen Backsteine ließen den kühlen Industriebau dennoch warm und gemütlich wirken. Teppiche dämpften den Hall der loftartigen Raumgestaltung.
»Guten Tag, Liv Mika mit Hund. Ich hatte eine Juniorsuite reserviert«, begrüßte Liv die Rezeptionistin und hoffte, dass es keine Probleme wegen Frieda geben würde. Manchmal verweigerten Hotels ihr ein Zimmer, wenn sie sahen, dass der mitgeführte Hund weder ein Chihuahua noch ein Mops war.
»Herzlich willkommen im Gastwerk«, begrüßte sie die junge Frau, deren Namensschild sie als »Hanni« auswies und ihr mit Hilfe kleiner aufgedruckter Flaggen vier Fremdsprachen bescheinigte.
Liv widerstand dem Impuls, nach »Nanni« zu fragen, aber auch nur, weil weder Größe noch Rasse von Frieda die Mitarbeiterin beeindruckten.
Ausnahmsweise nahm Liv den Fahrstuhl. Wenn sie schon beschloss, sich von ein paar Ängsten zu befreien, war es ebenso erstrebenswert, das Unwohlsein in engen Räumen loszuwerden. Als sich die Türen schlossen, wurden Livs Handflächen feucht.
»Es ist nur ein Fahrstuhl, es ist nur ein Fahrstuhl«, murmelte sie vor sich hin.
Gesichter blitzten vor Livs geistigem Auge auf. Hämisch grinsende Gesichter, Hände, die sie in den engen, nach Urin stinkenden Schrank schubsten. Dunkelheit, nur unterbrochen von dem schmalen Streifen Licht, der zwischen Tür und Boden kaum die Tageszeit erkennen ließ.
Frieda fühlte Livs Unbehagen und stupste sie mit der Schnauze an. Liv blinzelte einige Male und atmete tief durch. Ein leises Pling verkündete die Ankunft in ihrer Etage.
»Nicht perfekt, aber ein Anfang. Nicht wahr?«, fragte Liv die Hündin, die wedelnd die Entspannung ihres Frauchens registrierte.
Als sie in der Suite eingecheckt hatten, blieb noch genug Zeit für eine große Runde Freerunning. Liv wühlte nach ihren Laufschuhen. Als der erste aus der Tasche auf dem Fußboden landete, kläffte Frieda. Sie wusste genau, was jetzt kam. Beim Anziehen suchte sich Liv eine Strecke im Internet raus und hoffte auf viele Hindernisse. Sie verließen das Hotel über die Treppe. Kreuz und quer durch Hamburg-Bahrenfeld näherten sich Liv und Frieda dem Altonaer Volkspark. Sie rannten und sprangen über Mülltonnen, Parkbänke, eine Minigolfanlage und sprinteten rund um eine Trabrennbahn.
Ein Brummen an ihrem Rücken erinnerte sie erstmals wieder an den Rest der Welt. Die Sprints mit Frieda waren für sie die vollkommene Ablenkung von allen Problemen und Sorgen. Anfangs hatte ihr das gemeinsame Freerunning die Sicherheit gegeben, immer und überall fliehen zu können. Der Privatlehrer, den sie aus ihrem unerwarteten Erbe bezahlen konnte, hatte mit dem Hundeausbilder kooperiert, und so hatten sie hervorragende Tricks und Kniffe gelernt, mit deren Hilfe sie Frieda seitdem auslastete. An die Waffe im Safe dachte sie nur noch selten. Auch das waren Schritte in Richtung Normalität.
Liv griff nach dem Smartphone in ihrem Lauftrikot.
»Liv Mika.«
»Mike Dietzmann, dein Boss.«
»Ich habe Urlaub, schon vergessen?«
»Wo steckst du denn jetzt?«
»Hamburg.«
»Oh! Was treibt dich da hin?«
»Ein Klassentreffen. Die Einladung hatte ich in der Sekunde im Postfach, als ich damals in Hannover den Artikel geschrieben habe. Beinahe hätte ich das übersehen.«
»Hamburg trifft sich gut.«
»Warum?«
»Wenn du auf dem Rückweg bist, halte doch mal für ein paar nachträgliche Interviews in Hannover an.«
»Wieso das so plötzlich?«
»Der Herausgeber bat darum, dass wir kleinen Nachschlag schreiben. Was ist aus dem Pharmaunternehmen geworden? Wie geht es Oxana? Das Übliche halt.«
An das Mädchen hatte sie länger nicht gedacht. Alles war mit Oliver verknüpft, und diese Gedanken verdrängte sie besser. In der gleichen Sekunde schämte sie sich für ihren Egoismus. Sie hatte zwar Oxana gerettet und wusste, dass sie nun eine Zukunft hatte, aber dann hatte sie sich von ihr abgewandt.
»Ich weiß nicht ...«, setzte sie an.
»Es eilt ja nicht. Noch hast du Urlaub. Verbring eine schöne Zeit mit deinen Klassenkameraden, und falls du Lust hast, mach einen Zwischenstopp in Hannover und sammele ein paar O-Töne ein. Okay?«
»Nicht okay. Im Moment nicht.«
»Melde dich einfach, wenn du eine Meinung hast.«
»Verlass dich nicht drauf.«
Sie verabschiedeten sich. Liv war der Spaß am Rennen vergangen. Auf dem Rückweg zwang sie sich mit aller Gewalt weg von den Gedanken an Hannover. Sie brauchte ein eigenes Leben, eines, das nichts mit dieser Reportage und den Folgen zu tun hatte. Lange genug war sie in ihren Ängsten gefangen gewesen. Es war Zeit, nach vorne zu schauen und die letzten Erlebnisse und Enttäuschungen abzuschütteln.
Sie dachte lieber über Esther und die anderen nach. Wer wohl alles kommen würde? Und wie war es den anderen ergangen? Esther, die so zart und fast durchscheinend gewirkt hatte, war immer die Schüchternste der Klasse gewesen. Sprach sie jemand an, wurde sie rot und senkte den Blick. Ihre hellblonden Haare und die helle Haut, unter der man das Aderngeflecht durchschimmern sah, ließen sie wie eine Fee aus einer anderen Zeit wirken, die mit den Anforderungen der realen Welt nicht zurechtkam. Und ausgerechnet Esther hatte sich damals in den Draufgänger der Klasse verliebt. In Jörn.
Wenn es um Spaß und Abenteuer ging, war Jörn immer als Erster dabei gewesen. Er hatte auch mal die halbe Clique am Ende einer Sauftour in eine Tabledancebar geschleppt und Fotos gemacht, die später im Jahrbuch der Weiterbildung auftauchten und großes Gelächter ausgelöst hatten. Oder Bestürzung und Ärger. Je nach Familienstand der Beteiligten. Damals hatten Mobiltelefone noch keine Kamera, aber Jörn hatte zufällig seinen Fotoapparat dabei gehabt. Liv hatte ihn im Verdacht gehabt, das alles vorher geplant zu haben. Er war den ganzen Abend strahlender Laune gewesen und hatte diesen Schalk im Blick. Schade, dass Jörn heute Abend nicht dabei war. Vielleicht war Esther nie drüber weggekommen und vermied deswegen jede Begegnung?
Klaus Hühne würde auch kommen, der kleingewachsene, bullige Hobbyfußballer. Auf dem Platz und im wahren Leben war er keiner Blutgrätsche abgeneigt, und danach hob er stets unschuldig und theatralisch die Hände. Selbst wenn der Gegner blutend am Boden lag und niemand anders in der Nähe war. Den konnte sie sich gut in der Logistik oder auf dem Bau vorstellen. Bisschen rumkrakeelen, mit der Faust auf den Tisch hauen, und danach tranken dann alle ein Bier. Er hatte auch schon vorher in dem Bereich gearbeitet und passte da besser hin als in eine Consultingfirma oder in eine Versicherung.
Liv freute sich auch sehr über die Zusage von Gabriele Stange, genannt Stängel. Gabriele war eine hochaufgeschossene, flachbusige Rothaarige, die vor der Weiterbildung lange Jahre als Gerichtsgutachterin für Sexualstraftäter gearbeitet hatte und damals davon eine Auszeit brauchte. Sie hatte aus nur Liv bekannten Gründen längere Zeit im Krankenhaus gelegen. Liv hatte damals einen Verdacht gehabt und Gabriele drauf angesprochen. Ihre Ahnung wurde nicht ganz bestätigt. Es war Gabriele deutlich schlimmer ergangen, als Liv es sich hätte ausmalen können. Am Ende hatte Gabriele ihre Praxis aufgegeben und sich in Betriebswirtschaft weitergebildet. Eine kluge, ruhige Frau, die im Leben schon eine Menge erlebt hatte. Sie musste jetzt bereits Ende fünfzig sein. Womit sie wohl ihr Geld verdiente?
Blieb noch Tim. Ihre kurze, aber heftige Affäre hatte sie zeitweise aus der Bahn geworfen. Anfangs war sie sicher gewesen, dass er der Mann war, mit dem sie alt werden wollte. Aber bereits nach wenigen Wochen waren der Zauber und die Anziehung verflogen. Attraktives Gesicht, trainiert, schlau und auch noch beziehungstauglich wären zu viel des Guten gewesen. Tim blieb ein liebenswürdiger Filou, der keinem Flirt abgeneigt war und sich nie wirklich festlegen wollte.
Trabend erreichten sie das Gastwerk. Liv sah auf die Uhr. Jetzt aber los. Duschen, umziehen, und dann würde sie schon bald der Truppe gegenübersitzen.
Der Arzt hängte ihren Kopf in die Leuchtkästen. Bild an Bild konnte Maria ihr Innerstes sehen. Sie umklammerte ihr linkes Handgelenk. Seit der Arzt nach der Beschreibung ihrer Symptome die Computertomografie angeordnet hatte, zuckten Arm und Hand in ihrem abgehackten, vom Restkörper entkoppelten Tanz.
Der weiße Kittel blendete Maria beinahe. Wie bekam man die so unglaublich sauber? Während der Arzt auf die Bilder schaute und sich dann zu ihr umdrehte, reflektierte sein kahler Kopf die Neonröhren. Wie ein in Licht getauchter Heiliger.
»Seit wann haben Sie die Symptome?«
»Seit einigen Wochen, vielleicht auch schon ein paar Monate.«
»Ist es nur die Hand?«
»Manchmal zucken auch die Unterschenkel nach vorne. Als würde jemand mit einem Gummihammer meine Reflexe prüfen, nur halt ohne Hammer.«
»Gab es diese Symptome auch in ihrer Familie, speziell bei einem ihrer Elternteile? Oder psychische Auffälligkeiten? Beispielsweise ein plötzlich auftretendes impulsives Verhalten? Oder eine Depression mit suizidalen Tendenzen?«
Eigentlich hielt sie sich kategorisch jedweden Rückblick auf ihre Familie und die Vergangenheit vom Leib. In ihrem Kopf stemmte sie sich mit aller Kraft gegen die Tür, die immer wieder unter der Last der Erinnerungen nachzugeben drohte. Und jetzt saß dieser Arzt da und zwang sie, die Klinke runterzudrücken. Einfach so.
Vielleicht sah man ihre Dämonen auf den Bildern in den leuchtenden Kästen? Ein paar von den schlimmsten hatten möglicherweise ihr Gehirn verlassen und folterten seitdem ihre Gliedmaßen? Wenn sie jetzt mit dem Arzt darüber sprach, war das der Exorzismus, den sie brauchte, um endlich loslassen zu können? Waren nicht heute Morgen auf dem Friedhof und beim Anwalt ihre Arme und Beine ruhig und entspannt gewesen?
Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte sie. Wenn sie jetzt alles bei dem Neurologen abladen könnte, wäre sie geheilt. Ihre widerborstigen Gliedmaßen zuckten, weil sie mit dem Gewicht der Vergangenheit nicht fertig wurden. Das musste es sein. Ihn hatte sie heute Morgen zu Grabe getragen, und sie hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht vor Freude zu tanzen. Jetzt musste sie nur noch ihre Erinnerungen ziehen lassen.
Der Arzt sagte kein Wort und musterte sie. Maria blickte ihm direkt in die Augen und versuchte zu ergründen, was er dachte. Sie fixierte sein Gesicht. Merkwürdig. Es sah aus, als hätte jemand Teile wegradiert. Alles war noch da, aber nicht mehr scharf gestellt. Als würde irgendwer hinter einer milchigen Scheibe stehen, und sie sollte raten, was für eine Grimasse derjenige schnitt. Maria blinzelte einige Male und sah erneut hin. Alles war wie vorher, sie konnte das Bild nicht scharf stellen.
»Frau Froböse, haben Sie mich verstanden? Gab es bereits ähnliche Fälle in Ihrer Familie?«
Maria lächelte. Es war egal, was der Arzt dachte. Hauptsache, er hörte zu und nahm ihr die Last von den Schultern und aus allen anderen Gelenken. Danach würde es ihr besser gehen, und sie würde beruhigt zurückfliegen können. Sie begann zu erzählen.
Mit nachlässig getrockneten Haaren stand Liv in der Tür des Restaurants und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie hatte die prasselnde Dusche zu lange ausgekostet, und so war die Zeit zur Schönheitspflege etwas knapp geworden. Aber ihr blonder Bob erforderte weder Aufmerksamkeit noch Geschick. Wenn es draußen einigermaßen warm war, ließ sie das Föhnen ausfallen.
»Eine neue Frisur kann mich nicht täuschen. Diesen kleinen Hintern erkenne ich unter Tausenden«, raunte ihr jemand ins Ohr.
Liv zuckte zusammen. Frieda versteifte sich und hob knurrend die Lefzen.
»Mensch, Tim! Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden. Frieda, alles fein.«
Tim machte einen Satz zur Seite, als er den zähnefletschenden Dobermann bemerkte.
»Was ist das denn?«
»Ein Hund. Einer, der dich in Stücke reißt, wenn du mich noch mal so erschreckst.«
Da Liv es mit einem deutlichen Lächeln in der Stimme gesagt hatte, wedelte Frieda mit dem Schwanz, stellte das Knurren ein und legte den Kopf schief. Tim zog trotzdem die Hände zurück.
»Es scheint, dass wir die Ersten sind. Lass dich mal in den Arm nehmen.«
»Nur, wenn ich danach weiterleben darf.«
Lachend zog Liv Tim an sich. Er umschlang ihren Nacken und schnupperte genießerisch. »Spätestens jetzt hätte ich dich erkannt.«
»Holla, was geht denn hier ab?«, rief eine bekannte Stimme.
»Hey Klaus, schön, auch dich zu sehen.«
Liv machte sich von Tim los und schüttelte Klaus‘ Hand.
»Hallo zusammen! Machen wir eine Stehparty?«, fragte eine dunkle Frauenstimme. »Und wer ist diese Schönheit?«
Gabriele beugte sich zu Frieda herunter und ließ sie an ihren Händen schnuppern. Liv nickte beiden zu. Frieda wedelte und ließ sich den Kopf streicheln. Währenddessen musterte Liv ihre ehemaligen Klassenkameraden. Sie hatten sich kaum verändert. Hier und da eine kleine Lachfalte, ein paar graue Strähnen oder eine ernste Linie um den Mund. Ihre eigene Frisur war die auffälligste Neuerung in der Runde.
Als alle sich ausreichend gedrückt und geherzt hatten, führte die Kellnerin, die diskret die Wiedersehensfreude abgewartet hatte, die Gruppe zu ihren Plätzen.
»Wo ist eigentlich Esther?«, fragte Tim.
»Sie ist erst zwei Minuten überfällig. Du warst doch früher auch nie pünktlich.«
»Aber sie war es immer. Die stand ständig frierend eine halbe Stunde vor jedem Termin vor der Tür.«
Liv schaute zur Tür, und ihre Augen wurden kugelrund. Tim folgte ihrem Blick. Keuchend atmete er aus. Gabriele und Klaus verstummten, als sie merkten, dass alle zur Tür starrten. Frieda schien zu spüren, dass sich die Menschen um sie herum versteiften, und blickte ebenfalls in die Richtung.
Gabriele schluckte. Klaus blieb der Mund offen stehen. In der Tür stand Esther.
»Es gibt echt so kranke Typen in dieser Stadt. Und seit Wochen kein weiterer Hinweis. Niemand hat etwas gesehen oder gehört.«
Robert schüttelte den Kopf und warf Oliver den Obduktionsbericht auf seine Seite des Schreibtisches. Der legte den Hörer auf und schaute den Aktendeckel an, als könnte eine Horde Vogelspinnen aus den Unterlagen springen.
»Der Doc meinte, er würde uns gern was zeigen. Er hat sich die Leiche mit seinen Studenten noch mal vorgenommen, und sie sind da auf etwas gestoßen.«
Robert stöhnte. »Auch das noch. Ich hatte beim ersten Zusammentreffen mit dem Opfer schon genug. Das muss ich echt nicht noch mal sehen.«
»Fotos. Er zeigt uns Fotos, die er uns dann auch mitgeben will.«
»Wieso hat er sie sich noch mal vorgenommen?«
»Weil ich ihn drum gebeten habe. Die KTU hatte nichts für uns. Ich hatte gehofft, dass er vielleicht eine Winzigkeit übersehen hat. Irgendwas, das uns weiterbringt.«
»Wurde die Leiche denn noch nicht für die Angehörigen freigegeben? Sie liegt doch da schon einige Zeit.«
»Bisher haben wir keine Verwandten ausfindig gemacht. Ihre Eltern sind lange tot, keine Geschwister. Sie lebte seit Jahren allein, arbeitete in der Buchhaltung eines Unternehmens für ...« Oliver blätterte in den Unterlagen. »... für Melamin-Laminat-Kantenstreifen«, las er weiter aus der Akte vor.
»Für was?«
»Keine Ahnung. Hat irgendwas mit Möbeln zu tun. Da wusste man aber auch nur wenig über sie. An Betriebsfeiern hat sie nie teilgenommen, unternahm nichts mit den Kollegen privat, und von einem Freund hat ebenfalls niemand was gehört oder gesehen.«
»Wer hat die Vermisstenmeldung aufgegeben?«
»Der Geschäftsführer der Firma, ein Herr Glück, aber erst nach drei Tagen. Alle dachten bis dahin, dass sie sich bei irgendwem anders krankgemeldet hatte.«
»Also wurde sie nur von ihrem Arbeitgeber vermisst? Keine Freunde auf dem Anrufbeantworter oder ähnliches?«
»Nichts.«
»Was für ein trauriges Leben mit einem so schrecklichen Ende«, seufzte Robert.
»Lass uns hören, was der Pathologe zu sagen hat.«
Oliver und Robert standen im Büro des Rechtsmediziners vor einer Metaplantafel und studierten die Ausdrucke.
»Wir haben uns den Fall wie gewünscht noch mal angesehen, doch leider keine neuen Spuren entdeckt. Aber wir haben einige Theorien zu den Verletzungen aufgestellt, die ich Ihnen gern erörtern möchte. Fangen wir mit den bekannten Fakten an. Das Opfer wurde zwar vergewaltigt, aber es gibt keine verwertbare DNA. Der Täter hatte ein Kondom benutzt.«
»Das steht auch in den Akten«, merkte Robert an.
»Stimmt. Das war, soweit man das sagen darf, normal.«
»Was dann? Die Achillessehnen?«
»Nein, das finde ich logisch und eindeutig.«
»Logisch? Warum hat er das getan? Um sie zu foltern?«, fragte Oliver.
Der Pathologe schob seine Brille hoch und schüttelte stumm den Kopf. Oliver konnte sich gut vorstellen, wie er seine Studenten bei einer falschen Antwort mit dem gleichen missbilligenden Blick bedachte.
»Nein. Damit sie nicht weglaufen konnte.«
»Hätte er sie nicht einfach fesseln können?«
»Aus Sicht des Täters war es vielleicht so am praktischsten, denke ich«, sagte der Pathologe und nahm das anatomische Modell eines Fußes in die Hand. »Mit dem Muskel an der Sehne wird die Fußschaufel nach unten gedrückt. Ohne die Sehne kann man kaum laufen, geschweige denn springen. Es gibt zwar schwächere Muskeln, die die Funktion beim vorsichtigen Gehen übernehmen könnten, aber die Schmerzen wären gigantisch.«
»Und wieso ist das praktisch?«
»Wie sah das Bett im Schlafzimmer aus, in dem die Leiche gefunden wurde?«
»Vollgeblutet.«
»Das ist nachvollziehbar bei den multiplen Verletzungen. Darauf will ich auch nicht hinaus. Gab es Bettpfosten? Ein Gitter?«
Oliver rief sich den Tatort ins Gedächtnis. »Nein, es gab ein Kopfteil, aber am Fußende war nichts dergleichen.«
»Das hat uns auf eine Idee gebracht. Oben hat er sie festgebunden, aber um sie vergewaltigen zu können, wäre es hinderlich, wenn er ihr die Füße zusammenbindet. Und wenn es am Fußteil keine Möglichkeit zum Fesseln gab, macht es durchaus Sinn, die Sehnen zu durchtrennen. Also aus Sicht des Täters, meine ich.«
Robert nickte.
»Wenn man nicht an überbordender Empathie leidet und sein Ziel erreichen will, ist das die einfachste Möglichkeit. Mit durchtrennten Sehnen ist eine Flucht unmöglich. Durch die Schmerzen wird sie sich nicht mehr gewehrt haben. Und durch den Knebel blieb er von ihren Schreien verschont.«
»Das ist widerlich.«
»Ja, aber noch nicht alles. Wir haben uns auch Gedanken über die anderen Stichverletzungen gemacht. Sie erscheinen auf den ersten Blick unnötig und planlos. Außer ...«
»Ja?«, hakte Oliver nach.
»Außer, der Täter wollte einfach schauen, wie das Opfer darauf reagiert. Er hat völlig willkürlich in die unterschiedlichsten Stellen gestochen, auch unterschiedlich tief, manchmal hat er nur gepikst. Foltern sieht anders aus. Gezielter. Verzeihen Sie den Vergleich, aber es wirkt so, als hätte ein experimentierfreudiges Kind die Widerstandskraft eines weiblichen Körpers testen wollen.«
»Wer macht so etwas und warum?«
»Jemand, der ausprobieren möchte, wie weit er gehen kann.«
Robert verzog das Gesicht. »Hoffentlich ist die Frau schnell gestorben.«
»Das ist sie leider nicht. Nahezu alle Wunden sind ihr prämortal zugefügt worden.«
»Irgendwann war sie aber tot und sein kranker Spaß vorbei.«
»Ja, aber wenn ich den Doc richtig verstehe, hat der Täter dabei einiges dazugelernt«, merkte Oliver an. »Wollen wir hoffen, dass er diese Erkenntnisse nicht erneut anwendet.«
»Ein Serientäter? Gott bewahre!«
Der Pathologe putzte seine Brille mit einer Kittelecke, setzte sie wieder auf und nahm wortlos die Bilderreihe von der Tafel.
Nicht starren, lächeln!, befahl Liv ihren Gesichtszügen. Als sie merkte, dass auch Tim fassungslos zum Eingang schaute, trat sie ihm unterm Tisch gegen das Bein.
In der Tür stand Esther und zupfte an ihrem beigefarbenen Cardigan. Der dünne Strickmantel sollte vermutlich kaschieren, was jedem der alten Freunde sofort aufgefallen war. Die wunderschöne, zarte Esther hatte sich verdoppelt. Aber nicht nur das. Ihre feinen, blonden Haare hatte sie in ein schmutziges Braun umgefärbt und trug sie in einer unvorteilhaften strähnigen Pagenkopffrisur. Sie sah aus wie ein gigantisches Playmobilmännchen in Schlammtönen. Wie jemand, der seine Anmut und stille Schönheit mit aller Gewalt verbergen wollte, schoss es Liv durch den Kopf. Zumindest das war ihr gelungen.
Liv zwang sich zu einem Lächeln und winkte. Das löste die anderen aus der kollektiven Erstarrung und machte der Wiedersehensfreude Platz.
Esther kam mit vorsichtigen Schritten zum Tisch und umarmte die alten Freunde der Reihe nach. Sie schwitzte. Liv kam sie wie eine Schmugglerin an einer Grenze vor, die ungeschickt etwas verbergen wollte, aber sich dadurch nur umso auffälliger verhielt. Liv schob den Gedanken zur Seite und ermahnte sich zur Toleranz. Esther durfte aussehen, wie sie mochte. Alle nahmen Platz. Liv schickte Frieda mit einem Kauknochen unter den Tisch.
»Himmel, ich fühle mich gleich wieder jung, wenn ich euch zusammen sehe. Steht morgen nicht eine Klausur in Statistik an? Tim, du musst uns helfen. Jedem von uns!«, lachte Gabriele.
»Ach Stängel, du hast doch schon damals keinerlei Ahnung von der Materie gehabt.« Tim schüttelte den Kopf. »Deine Stärken lagen mehr in den Laber-Fächern. Du hättest auch noch den letzten faulen Auszubildenden zu Höchstleistungen bequatscht.«
»Sag nicht Stängel zu mir. Den Namen bin ich mit Abschluss der Weiterbildung zum Glück losgeworden«, erwiderte Gabriele und knuffte Tim in die Seite.
»Also, ich brauche ein Bier und was Ordentliches zwischen die Zähne«, warf Klaus ein. Er hob die Hand und winkte die Kellnerin mit den Speisekarten zum Tisch.
Nachdem jeder ein gekühltes Getränk vor sich hatte, ergriff Gabriele ein Messer und klopfte gegen ihr Glas. Frieda bellte einmal unter der Tischplatte.
»Alles gut. Platz, Frieda«, sagte Liv mit entspannter Stimme. »Sorry, sie wollte nur fragen, ob hier oben alles okay ist, obwohl es klirrt.«
Esther war bei Friedas Bellen zusammengezuckt und blieb danach weiterhin sehr still. Liv konnte sich nicht erinnern, ob Esther auch Angst vor Hunden hatte. Sie hatte vor einer Menge Dingen Angst. Zumindest früher.
Esther lächelte gezwungen, wenn jemand sie ansprach. Ihre Hände hatte sie unter dem Tisch vergraben oder saß auf ihnen.
»Liebe Esther, vielen Dank für die tolle Idee, dass du uns versammelt hast«, startete Gabriele ihre Rede. »So komme ich endlich mal wieder dazu, Hamburg zu besuchen und ein wenig zu entspannen.«
Liv lauschte der kurzen Ansprache. Zum Glück hatte jemand anders die Initiative ergriffen, genau wie bei der Einladung zu dem Treffen. Niemals hätte sie erwartet, dass ausgerechnet die gehemmte Esther alle zusammentrommeln würde. Warum hatte sie wohl plötzlich so eine Sehnsucht nach alten Zeiten?
»Entspannen? Solltest du vielleicht bald in den Ruhestand gehen?«, unterbrach Klaus Gabrieles Redefluss.
Liv blinzelte, als sie sah, dass sein Glas zwar noch vom kalten Inhalt beschlagen war, ansonsten aber schon leer. Bier wurde bei Klaus nie warm. Manche Dinge änderten sich nicht. Er pöbelte gern, hatte traditionelle Vorstellungen von Mann-Frau-Konstellationen und spielte in der Altherrenliga Fußball. Psychologinnen waren ihm zutiefst suspekt. Während der Weiterbildung hatte er die Angst, dass jeder seiner Sätze analysiert werden könnte, hinter lautem Gehabe versteckt. Auch das schien sich nicht verändert zu haben.
»Lieber Klaus, ich höre zwischen den Zeilen den Vorwurf an die arbeitende, unabhängige Frau und deine Frage auf der Metaebene. Dazu kommen wir später.« Gabriele lächelte breit.
Klaus fixierte sein Bierglas, und Gabriele zwinkerte Liv zu.
»Nun lasst uns einen feinen Abend erleben und sagt mir, wie es euch ergangen ist. Da Klaus schon aktuell nichts zu trinken hat, kann er gleich anfangen.« Gabriele setzte sich und nickte ihm zu.
»So interessant ist das alles nicht«, murmelte er. »Ich bin immer an unfähige Chefs geraten, die versucht haben, meine Erfolge als ihre zu verkaufen und mich auszubooten.«
»Ach? Was heißt das?«, fragte Liv.
Klaus setzte zu einer Schimpftirade an, bei der außer ihm niemand gut wegkam. Ideenklau von Vorgesetzten, Beförderungen der Unfähigen, nicht eingehaltene Versprechen. Liv seufzte in sich hinein. Die Neigung, Schuld bei den anderen zu suchen, war früher bereits dagewesen. Nur hatte er damals noch Humor gehabt und war mit einem Schubs sogar meist in der Lage gewesen, sich zu hinterfragen. Das schien vorbei zu sein. Liv überlegte, ihn in seiner Tirade zu unterbrechen, da wurde das nächste Halbliterglas Hefeweizen geliefert.
»Und dann habe ich wegen sogenannter Urkundenfälschung eine Bewährungsstrafe bekommen. Das war alles ein Trick. So mussten sie mir keine Abfindung zahlen.«
»Was? Hat dir das jemand untergejubelt?«
»Ich wusste, dass ich von meinem Chef nichts zu erwarten hatte. Da habe ich mir das Zeugnis selbst geschrieben. Schließlich kann ich mich am besten beurteilen.«
»Und da wird man gleich verhaftet?«, fragte Tim.
»Na ja, sie haben dann alle Zeugnisse angeschaut.«
»Mann, Klaus«, stöhnte Tim.
»Das musst du gerade sagen.«
»Wieso gerade er?«, hakte Liv nach.
Tim warf Klaus einen giftigen Blick zu. Der prostete in die Runde und sagte: »Der Nächste, bitte.«
Gabriele sah Liv und Esther an und hob die Augenbrauen. Liv schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, worum es hier ging. Esther hob die Achseln. Keine der Frauen wusste, was Klaus da andeutete, und keiner der Anwesenden konnte ahnen, was Liv und Tim verbunden hatte.
Tim räusperte sich, warf Liv einen scheuen Blick zu und begann: »Danke, du Scheusal. Okay, dann fangen wir mit den schrägen Sachen an. Seit einigen Jahren besitze ich eine kleine IT-Firma. Wir haben uns darauf spezialisiert, verlorene Daten wiederherzustellen. Rechner, die ins Wasser gefallen sind, Dateien, die versehentlich gelöscht wurden oder anders beschädigte Speicher. Irgendwann hatten wir einen Kunden, der mir Angst gemacht hatte. Nicht Mafia oder so, aber irgendwie unheimlich. Also habe ich mir im Web eine Schreckschusswaffe bestellt.«
»Im Internet? Boah, Tim. Du solltest doch wissen, dass man das leicht zurückverfolgen kann.«
»Ich sollte aber auch darauf vertrauen, dass ich das verhindern kann. Wie auch immer, eines Morgens um fünf Uhr wurde unsere Tür aufgebrochen, und ein Haufen vermummter Männer stürmte die Wohnung.«
»Seid Ihr tatsächlich überfallen worden? Von dem Typen und seinen Leuten?«, fragte Gabriele.
»Nein, vom SEK. Sie haben mich aus dem Schlafzimmer gezerrt und zum Verhör mitgenommen. Die Kinder haben geschrien wie am Spieß.«
Die Kinder? Liv verschluckte sich beinahe an ihrem Bier. Tim war in den letzten Jahren Vater geworden? Ausgerechnet Tim? Der verantwortungslose Filou? Aus irgendeinem Grund kam ihr das falsch vor. Warum hatte er das nie erwähnt? Er hätte anrufen können, damit sie sich mit ihm freute.
»Das war es dann auch schon. Sie haben die Wohnung durchsucht, mich nach einigen Stunden gehen lassen, und gut. Ich wusste nicht, dass diese Schreckschussdinger seit Jahren verboten sind. Aber meine Firma gibt es noch, alles im grünen Bereich. Gabriele, du bist dran!«
Tim prostete ihr zu.
»Ich habe keine so spektakulären Dinge erlebt. Nach dem Überfall durch einen Patienten vor der Weiterbildung ist danach nichts Dramatisches mehr passiert. Mit dem Betriebswirt in der Tasche konnte ich mir ein Therapiezentrum aufbauen und habe verschiedene Fachrichtungen von Psychologen, Neurologen und verwandten Berufen versammelt. Das läuft mehr als gut. Ich therapiere nur ausgesuchte Patienten, und ansonsten kümmere ich mich um unser Institut für die Seele. Noch ein paar Jahre, dann verkaufe ich meine Anteile an die Kollegen und setze mich zur Ruhe. Vielleicht behandele ich ein paar Bulimikerinnen oder Angstneurosen, aber nur, um im Kopf fit zu bleiben.«
»Du hast eine ganze Firma aufgebaut?«, staunte Liv. »Das ist ja der Wahnsinn. Vor allem in dem Bereich. Darüber würde ich gern mal schreiben.«
»Besser nicht. So viel Aufmerksamkeit kann auch alte Geister wecken. Der Angreifer lebt zwar hinter hohen Mauern, aber ich will nichts provozieren.«
»Stimmt. Entschuldige.«
Liv war mal wieder zu weit nach vorne galoppiert. Sie hatte damals als Einzige gewusst, warum Gabriele plötzlich in der Weiterbildung aufgetaucht war und ihre Praxis geschlossen hatte. Auch wenn sie das jetzt eher nebensächlich erwähnte, wäre das, was sie nach so vielen Jahren am wenigsten gebrauchen könnte, bundesweite Aufmerksamkeit durch einen unbedachten Zeitungsartikel.
»Esther, wie ist es dir ergangen?«, fragte Liv sanft.
»Ich bin nie verhaftet worden und arbeite seit einigen Jahren im Hotelbereich, überwiegend für Destinationen auf den Kanaren. Nichts Aufregendes. Meist geht es um Abrechnungen, Buchungen und den ganzen Kram. Aber wieso hast du so einen gefährlichen Hund?«
»Genau, das wollte ich auch fragen«, schaltete sich Klaus ein und hob prostend das Glas in die Runde.
Alle Blicke richteten sich auf Liv. Esthers Kurzversion schien niemanden zu stören. Sie hatte immer schon ein Talent gehabt, sich mit wenigen Sätzen so uninteressant zu machen, dass sie nie länger als Sekunden der Mittelpunkt einer Gruppe war.
Liv seufzte. »Also gut. Dann bin ich wohl dran. Frieda ist schon meine zweite Hündin. Die erste wurde vergiftet.«
»O je, hat sie irgendwelche Köder gefressen?«, fragte Gabriele.
»Nein, das war eine gezielte Aktion. Ich hatte damals einen Artikel über Wettbetrug im Fußball geschrieben und einige unliebsame Enthüllungen gemacht. Zeitweise stand ich unter Polizeischutz. Am Ende der Verhandlung wurde der aber abgezogen und ich überfallen. Also habe ich mir einen Hund angeschafft. Als ich sie eines Tages allein in der Wohnung gelassen hatte, wurde sie vergiftet.«
»Ach? Deine Artikel hatte ich damals gelesen und war sehr stolz auf dich. Aber ich hatte ja keine Ahnung, was du privat durchmachen musstest.« Gabriele schaute mitfühlend, ganz im Therapeutenmodus.
»Ich hatte mit kaum jemandem Kontakt, weil ich zu viel Angst hatte, dass es für Unschuldige gefährlich werden könnte. Ich zog nach Frankfurt, und dann kam Frieda zu mir. Sie war eine teilweise ausgebildete Schutzhündin. Den Rest der Ausbildung samt Prüfung haben wir dann zusammen absolviert.«
Klaus hob die Tischdecke an und musterte Frieda.
»Was passiert, wenn du jetzt ›Fass‹ rufst?«
»Dann beißt sie dich.«
Schnell ließ er die Decke wieder sinken.
»Aber hast du nicht kürzlich irgendwas Spektakuläres aufgedeckt? Ich bin sicher, dass ich deinen Namen gelesen habe«, fragte Tim.
Also hielt er sich doch auf dem Laufenden. So gesehen hätte er auch jederzeit mal ein paar Kinderbilder schicken können, wenn er gewollt hätte.
»Ein alter Kontakt aus Hannover hat mir ein Vergewaltigungsbild geschickt. Dem bin ich nachgegangen und habe erschütternde Verknüpfungen gefunden. Die Einzelheiten könnt ihr überall nachlesen. Die erspare ich euch und mir.«
Liv blickte in die Runde. Esther schien jedes Wort aufzusaugen und ließ Liv nicht aus den Augen.
»Nach dem Artikel brach eine Lawine los. Dieses Mal stand aber zum Glück etwas anderes im Fokus, nämlich das Verbrechen. Mike, mein alter Mentor, hatte verlauten lassen, dass es eine Teamrecherche war, damit ich nicht durch Talkshows tingeln musste. Und nun bin ich hier und freue mich, euch wiederzusehen.«
»Das war alles ziemlich riskant oder?«, fragte Tim.
»Zeitweise ja. Jetzt scheinen die meisten Beteiligten aus dem Verkehr gezogen worden zu sein. Ich bin unbehelligt geblieben.«
»Als Frau solltest du nicht solche gefährlichen Spiele spielen«, platzte Klaus heraus. »Such dir lieber einen anständigen Kerl, der dich versorgt, dir zwei Kinder macht und gut.«
Alle stöhnten auf.
»Versorgt werden muss ich nicht mehr.« Liv lächelte.
»Haben dich einige der Bösen bestochen, damit du nicht über sie schreibst?«, erkundigte sich Gabriele.