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Der erste Fall für die Journalistin Liv Mika. Bei einer Recherche stößt Journalistin Liv Mika auf einen Fall von Zwangsprostitution, der sie über Deutschland bis in die Ukraine führt. Je weiter sie vordringt, desto grauenhafter werden ihre Entdeckungen - die Täter sind einflußreich und die mit ihnen verbundenen Verbrechen versprechen Milliardengewinne - Zeugen werden ermordet und Freier vorsätzlich infiziert. Doch je weiter Liv bei ihren Ermittlungen rund um den Mädchenhandel vordringt, desto mehr bringt sie sich gleichzeitig selbst in Lebensgefahr ...
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Seitenzahl: 587
Über das Buch:
Bei einer Recherche stößt Journalistin Liv Mika auf einen Fall von Zwangsprostitution, der sie über Deutschland bis in die Ukraine führt. Je weiter sie vordringt, desto grauenhafter werden ihre Entdeckungen - die Täter sind einflußreich und die mit ihnen verbundenen Verbrechen versprechen Milliardengewinne - Zeugen werden ermordet und Freier vorsätzlich infiziert. Doch je weiter Liv bei ihren Ermittlungen rund um den Mädchenhandel vordringt, desto mehr bringt sie sich gleichzeitig selbst in Lebensgefahr ...
Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH
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Copyright © 2015 by Tina Voßwww.facebook.com/tinavoss1977twitter.com/vos_tina Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Covergestaltung: Designomicon Lektorat: Katharina Hierling Korrektorat: Susanne Schindler Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
Vorwort der Autorin
Prolog
Dienstag, 9. April
Mittwoch, 10. April
Donnerstag, 11. April
Freitag, 12. April
Samstag, 13. April
Sonntag, 14. April
Montag, 15. April
Dienstag, 16. April
Mittwoch, 17. April
Donnerstag, 18. April
Montag, 22. April
Danksagung
Danke an ...
Im Gespräch mit der Autorin
"Jede Fotographie ist eine Katastrophe. Wir sehen darin immer auch den Schrecken einer in der Vergangenheit liegenden Zukunft."
Roland Barthes, Philosoph
Versprechen, Verschleppen, Verbrechen
Jede Statistik über Zwangsprostitution kann nur eine Annäherung sein, denn es gibt keine gesicherten Zahlen über die Frauen und Mädchen, die in schäbigen Wohnungen oder Bordellen versklavt werden. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission werden Jahr für Jahr 120.000 Opfer aus aller Welt zur Prostitution nach Westeuropa verschleppt. Eine Studie im Auftrag des niederländischen Justizministeriums hat schon vor Jahren errechnet, dass ein Zuhälter pro Sexsklavin etwa 250.000 Dollar im Jahr verdient.
Die Beschaffungslogistik speziell aus den Ländern Osteuropas ist für deutsche Zuhälter einfach. Die Mädchen werden mit Versprechungen, dass sie als Model oder Verkäuferin arbeiten können, in die Falle gelockt. Dann werden ihnen die Pässe abgenommen und sie müssen das tun, was bis zu 120 Freier in der Woche von ihnen verlangen.
Die Mädchen haben keine Wahl, dürfen keine Praktiken ablehnen und oftmals verweigern die Freier ein Kondom. So stecken sie die jungen Frauen mit HIV an. Den Zuhältern ist es egal, Hauptsache der Preis stimmt. Die nächsten Mädchen stehen schon bereit. Auch, wenn sie noch nicht ahnen, dass der lächelnde Mann, der ein Leben in Wohlstand verspricht, der sein wird, der ihr Leben zerstört.
Viele Opfer eint, dass sie einen Traum von einem anderen, besseren Leben hatten, der brutal zerstört wurde. Als ich von einer deutschen Internistin, die sich in der Ukraine in einem HIV-Selbsthilfeprojekt engagierte, erfuhr, wie rechtlos und elendig diese Mädchen auf der Straße leben, hat mich deren Schicksal erschüttert. Statt einen Thriller über Wettbetrug und Mord im Fußballmilieu zu schreiben, drängte sich mir dieses andere Thema auf, und ließ mich über Monate nicht mehr los. Also verbrachte ich einige Zeit in Kiew, um genauer zu recherchieren. Was dabei herauskam, steht nun hier. Hoffentlich ist keine Wahrheit so grausam, wie die Geschichte, die ich erzähle.
Woran erkennt man(n), dass eine Prostituierte möglicherweise nicht freiwillig anschaffen geht?
Sie wirkt eingeschüchtert, spricht kaum Deutsch, vollzieht alle Praktiken (Fesseln, Gewalt, anal oder oral) ohne Kondom und kassiert nicht selbst ab. Wenn sie ein Mädchen oder eine Frau als Zwangsprostituierte wahrnehmen, helfen Sie! In jeder Stadt gibt es erste Anlaufstellen für die Opfer.
Wie kann man helfen? Mehr Informationen gibt es hier:www.fim-frauenrecht.dewww.solwodi.de
In den Fünfzigerjahren
Er schrie seine Wut durch das Haus. Mariana und ihre Schwester erstarrten in ihrem Zimmer. Sie wappneten sich gegen das Unvermeidliche. Mariana wimmerte und ließ ihre Puppe fallen, die auf dem Rücken landete und mit starren Augen zur Decke blickte. Urin tropfte von Marianas Beinen, sodass sich eine gelbe Pfütze auf den Dielen bildete.
„Bist du wahnsinnig?“, zischte ihre Schwester. „Du wirst es auflecken müssen!“
Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Wegzulaufen und sich zu verstecken wagten die Mädchen schon lange nicht mehr. Wenn er sie dann im Wandschrank oder im Kohlenkeller fand, tat er ihnen Dinge an, die sie mit aller Kraft zu vergessen suchten.
Nachts, wenn sie sich in ihrem ungeheizten Zimmer aneinanderdrückten und die Bilder sich nicht mehr verscheuchen ließen, schlief meist nur Mariana kurz ein, um gleich darauf schreiend wieder hochzuschrecken. Ihre Schwester hörte es oft schon am hechelnden Atmen, dass eine Attacke bevorstand, und legte ihr eine tränenüberströmte Hand auf den Mund.
„Nicht schreien, bitte nicht schreien“, flüsterte sie ihr jedes Mal ins Ohr, während ihr Gesicht und das Kopfkissen nass vom Weinen waren.
Morgens warteten die Schwestern, bis er krachend die Haustür zuschmiss, und zitterten, bis das Knattern des Autos nicht mehr zu hören war. Das große Haus schien aufzuatmen. In den wenigen Stunden der Freiheit hatten sie früher Fangen gespielt. Das taten sie nicht mehr, seit er eines Tages früher als sonst nach Hause gekommen war. Sie hatten den Wagen nicht gehört, den knirschenden Kies in der Einfahrt nicht wahrgenommen.
Während Mariana in den Tagen danach immer apathischer und blasser wurde, hatte ihre Schwester der Hass gepackt. Sie hatte sich gewünscht, dass der Vater nach dem Zuschlagen der Tür niemals zurückkehren würde. Ihre Angst, dass Mariana sich eines Tages einfach auflösen würde, wuchs mit jedem Tag. Ihre Haut war so durchscheinend geworden, dass sich die Adern wie ein blaues Netz über den Körper und die hervorstehenden Knochen zogen.
Mariana blieb stumm, während es von ihren Beinen unaufhörlich tropfte. Die blauen Flecken von den Stiefelspitzen grenzten sich scharf gegen die weiße Haut ab und wirkten wie dunkle Seen. Sie ließ sich auf den Fleck sinken. Ihr Blick wurde leer und sie schaukelte vor und zurück. Immer im gleichen Rhythmus. Vor und zurück. Da, wo Mariana jetzt war, würde sie für Stunden unerreichbar bleiben. Vielleicht kehrte sie nie mehr zurück, und die Angst ihrer Schwester wurde Realität.
Schritte knallten auf dem Flur. Die Tür flog auf. Die Schwester fuhr zusammen. Mariana schaukelte schneller. Er kam ins Zimmer und trat ihr mit seinen auf Hochglanz polierten Stiefeln in den Brustkorb. Es knackte. Mariana fiel ohne einen Laut zur Seite und blieb mit offenen Augen neben ihrer Puppe liegen.
„Du kommst mit. Sofort!“ Ein Zeigefinger streckte sich drohend dem anderen Mädchen entgegen. Der Kiefer ihres Vaters mahlte, und jeder Muskel im Körper schien angespannt.
„Ja, Vater.“ Sie erhob sich und ging mit gesenktem Kopf auf ihn zu.
Ungeduldig packte er sie am weißen Kragen ihres Kleides und zog sie mit sich. Ihre Füße berührten kaum den Boden. Sie bekam keine Luft. Mit seinen Stiefeln stieß er die Badezimmertür auf, die gegen die Badewanne krachte. Etwas splitterte. Er beachtete die Tür nicht, umklammerte den Nacken seiner Tochter und zwang sie so, hochzuschauen.
Sie schrie auf. Überall war Blut. Es tropfte vom wunderschönen, zarten Arm ihrer Mutter auf den Boden. Der andere Arm lag in der Wanne und färbte das Wasser rot.
„Alfred, du Schwein ... Bring ... bring sie hier raus“, wimmerte ihre Mutter. Ihr Kopf pendelte, und ihre Augen fielen immer wieder zu.
„Nein! Sie bleibt. Sie wird zusehen, wie das hysterische Weib, das sich ihre Mutter nennt, sie im Stich lässt. Sie soll sehen, wie es ist, wenn man zu schwach ist, um ein Recht auf Leben zu haben.“
Das Mädchen sah seine Mutter nur selten. Meist lag sie im Bett und weinte. Bis er sie schlug und sie zwang, aufzustehen. Danach verschwand sie für Tage im Keller. Dann ging alles von vorne los.
Ein Zittern kroch in ihr hoch, als würde jemand sie schütteln. Ihre Zähne schlugen wieder unkontrolliert aufeinander. Sie konnte nichts sagen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf all das Blut und auf die Wanne. Sie wollte zu ihrer Mutter laufen und sie in den Arm nehmen, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie zitterte und würgte. Dann verlor sich der Blick ihrer Mutter, und ihre Augen schauten ins Leere.
Liv rannte. Ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug. Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus den Augen. Achtung! Beinahe hätte sie die Bank übersehen. Sie stieß sich ab, erwischte mit einem Fuß die Rückenlehne und sprang mit rudernden Armen auf die andere Seite. Als sie in einer tiefen Hocke landete, wurde die Luft aus ihren Lungen gepresst. Keuchend sprintete sie weiter. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass der Dobermann mit großen, kraftvollen Sprüngen aufholte. Die Zunge des Hundes flatterte wie eine Fahne seitlich aus dem Maul. Nur noch Sekunden, dann würde er sie eingeholt haben.
Ohne das Tempo zu verlangsamen, segelte das Tier mit einem einzigen Sprung über die Bank. Jetzt rannten sie auf einer Höhe. Bellend und hechelnd schnitt ihr der schwarz glänzende Hund den Weg ab und sprang mit wilden Bocksprüngen um sie herum.
Liv lächelte und verfiel in einen langsameren Trab.
„Frieda, fein gemacht!“, rief sie der Hündin zu, die ihr Tempo ebenfalls drosselte, mit gleichmäßigen Bewegungen bei Fuß lief und sie mit der Schnauze auffordernd anstupste. Liv griff in die Tasche ihrer Laufjacke, nahm ein Leckerli heraus und hielt es Frieda hin. Mit samtweicher Schnauze angelte die Hündin danach.
„So, meine Schöne. Das war es für heute.“
Als hätte auch ihr Telefon auf dieses Zeichen gewartet, brummte es in der Jacke.
„Mika“, keuchte Liv in den Hörer und stoppte.
„Liv, wann kommst du rein?“ Die Stimme ihres Praktikanten André klang unsicher. „Da ist was in deinem Posteingang, das du schnell sehen solltest. Kommt von einem Edgar aus Hannover.“
Edgar? Liv schluckte. Dieser Name stieß in ihrem Kopf eine Tür auf, die sie nie mehr öffnen wollte.
„Was will er?“
„Tja … Ich weiß nicht. Schau mal lieber selber.“
„Okay. Ich beeile mich. Bis gleich.“ Liv legte auf.
Was konnten das für Nachrichten aus Hannover sein? War Edgar in Schwierigkeiten? Und falls ja, was ginge es sie an? Seit damals war sie nur wenige Male in Hannover gewesen. Es war ihre Heimat, aber seit zwei Jahren schauderte sie beim Gedanken an die Stadt. Tante Ruthi hatte früher immer gesagt, dass man sich seinen bösen Geistern stellen müsse. Nur dann würden sie schrumpfen und beherrschbar bleiben. War jetzt schon der Zeitpunkt gekommen, um diesen Rat umzusetzen?
Frieda saß wie eine Sphinx eine Armeslänge von Liv entfernt im feuchten Gras und musterte sie interessiert. Es war neblig, und um diese Zeit lag der Park beinahe verlassen da. Nur einsame Jogger spulten bei diesem Wetter auf den knirschenden Kieswegen missmutig ihr Programm ab. Wie Gefangene beim Hofgang. Sie schüttelte das Bild ab und rannte unvermittelt los. Frieda sprang alarmiert auf und setzte ihr nach. Schnell merkte die Hündin, dass es nur ein Spiel war und lief immer kreuz und quer bockend vor Liv her und versuchte, deren Schnürbänder zu schnappen.
Liv bog in ihre Straße ein, sprang die Treppenstufen zur Haustür des alten Jugendstilhauses hoch und öffnete die Haustür.
Als sie gemeinsam, den Fahrstuhl ignorierend, die Treppen zum Penthouse hochjagten, gewann Frieda das Rennen mit einem Stockwerk Vorsprung. Liv öffnete die Sicherheitsschlösser an der Tür und gab den Alarmcode ein. Sie zog sich die durchgeschwitzten Sachen aus und kickte die Laufschuhe unter die Garderobe.
Mit zittrigen Fingern drehte Liv die Dusche auf die heißeste Stufe und stellte sich unter den Strahl. Ihre Gedanken ließen sich nicht mehr einfangen und tasteten sich näher an die verbotene Tür in ihrem Kopf.
Noch während sie sich abtrocknete, schaltete Liv die Espressomaschine ein und schäumte Milch auf. Das gemütliche Frühstück mit Zeitung und Cappuccino fiel heute aus. Ihre Nerven flatterten. Sie wollte wissen, was Edgar geschrieben hatte.
Frieda schlabberte das Wasser aus ihrem Napf, wobei wie meist ein See drum herum zurückblieb.
Liv hockte sich mit ihrer Tasse neben Frieda und kraulte ihr die weichen Ohren. Nur noch einen Moment so tun, als wäre das ein ganz normaler Morgen, bevor sie in die Redaktion ging. Nur noch einen kleinen Moment.
Liv fuhr den Rechner hoch, schickte Frieda auf ihre Decke und holte sich am glänzenden Hightech-Automaten in der Kaffeeküche einen Cappuccino. Mit Mike, ihrem langjährigen Chefredakteur, der sie nach den damaligen Vorfällen in Hannover sofort zu sich nach Frankfurt geholt hatte, verband sie eine ausgeprägte Koffein-Leidenschaft. Heute war sie froh, dass sie seinem Ruf gefolgt war. Für ein Wochenmagazin zu arbeiten, das sich mit großen Reportagen aus Wirtschaft und Politik beschäftigt, zog sie mittlerweile der Hektik einer Tageszeitung vor. Themen zu suchen, Zeit für Recherche zu haben, Firmen auch mal langfristig zu begleiten und darüber fundiert zu berichten, war ihre Berufung. Mike hatte an sie geglaubt und aus einem zitternden Angstbündel wieder eine neugierige Journalistin gemacht.
Das Magazin hatte in der Vergangenheit einige Korruptionsskandale aufgedeckt. Mike und sein Team hatten dank der Geduld und des Vermögens seitens des Verlegers fundierter recherchieren und Preise für ihre Reportagen einheimsen können. In den letzten Monaten war ihnen kein großer Wurf mehr gelungen. Dem Verleger ging zwar nicht das Geld, aber langsam die Geduld aus.
Liv füllte noch den Wassernapf und schob ihn beim Hinsetzen ein Stück unter den Schreibtisch, wo Frieda in einer Traumphase im Schlaf aufjaulte und mit den Pfoten zuckte. Lächelnd beobachtete Liv die hektischen Augenbewegungen. Was sie wohl gerade jagte?
Am Cappuccino nippend, fand Liv keine weiteren Ablenkungen mehr. Sie würde sich dieser E-Mail in ihrem Postfach stellen müssen. Er hatte sie an die allgemeine Redaktionsadresse und an ihren privaten Account geschickt.
Betreff: Neues aus Hannover
„Hallo, erinnern Sie sich noch an unsere Deals vor zwei Jahren? Ich habe eine neue Story für Sie. Aber die gibt’s nicht umsonst. Sehen Sie sich das Foto an! Das ist nur einer der Kerle. Ein paar von den anderen werden Sie kennen. 20.000 Euro in bar, und Sie bekommen mehr Bilder. Rufen Sie mich an.“
Die kurze Nachricht enthielt keine Unterschrift, nur eine Mobilnummer und einen jpg-Anhang. Nun wich das Unbehagen Livs professioneller Neugier. Sie klickte auf den Anhang und schaute zu, wie das Bild sich langsam von oben nach unten aufbaute. Es zeigte ein teigiges Männergesicht, auf dem der Schweiß glänzte, umrundet von blonden, dünnen Haaren, die die Kopfhaut durchschimmern ließen. Die Augen waren mit einer Ledermaske verdeckt, das Gesicht nur halb der Kamera zugewandt. Doch das war es nicht, was Liv die Kehle zuschnürte. Langsam beugte sie sich nach vorne, ihre Hände umklammerten die Tischkante. Unter dem Kerl lag bäuchlings … ein Mädchen.
Liv zuckte zurück. Ekel stieg ihr bitter die Kehle hoch. Es konnte kaum älter als fünfzehn sein. Über sein verweintes Gesicht liefen dicke Mascara-Spuren. Waren da nicht sogar Abdrücke von Zähnen auf der weißen Haut zu erkennen? Livs Augen rasten hektisch über den Bildschirm. Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich. Du bist Journalistin. Ein Profi! Liv schloss die Augen, atmete tief ein und sammelte sich. Dann sah sie noch einmal genauer hin. Die Kamera fing den Schrei und die Qualen des Mädchens ein. Ihre blonden Haare waren zu einem eigentümlichen Zopf rund um den Kopf gelegt. Wo hatte sie so was schon mal gesehen? Bei einer Politikerin! Wie hieß die noch gleich?
Die Szene schien in einem Hotelzimmer aufgenommen zu sein. Das Fenster war nicht verdunkelt, dahinter schimmerte Wasser. War das ein Fluss? Oder ein See? Ihr Blick wanderte zurück in den Raum. Das schwarze Metallbett schätzte Liv auf zwei Meter Breite. Im Hintergrund erkannte sie noch zwei schwarze Türen und gut versteckte Einbauschränke. Auf einem kleinen Tisch standen Kristallflaschen in unterschiedlichem Design, die mit verschiedenen Flüssigkeiten von bernsteinfarben bis durchsichtig gefüllt waren.
Alle Hotelarchitekten der Welt schienen die gleiche Schule besucht zu haben. Nur der Preis der Kunstdrucke und der Einrichtung unterschied die jeweiligen Sterne-Klassifizierungen. Liv schätzte, dass dieses Zimmer eindeutig im oberen Preissegment lag. Der Raum hatte wenig mit einem Stundenhotel oder einer Kiez-Absteige zu tun, und das Mädchen sah nicht aus wie eine Prostituierte, eher wie ein Vergewaltigungsopfer. Liv zwang ihren Blick wieder zu der Szene auf dem Bett. Der Kerl schien das Mädchen so brutal zu vergewaltigen, dass er es verletzte. Deutlich waren Blutspritzer auf dem Bett zu erkennen. Livs Herzschlag beschleunigte sich, und sie fühlte, wie sich ein Zittern aus ihrem Inneren auf die Hände übertrug. Mühsam löste sie die Hände von der Schreibtischkante und fuhr sich durch die Haare. Längst vergessene Bilder und Gefühle kratzten am Rand ihres Bewusstseins. Sie fühlte wieder die Scham, die sie empfunden hatte, als sie sie in die Ecke des Zimmers drängten, ihr ein Bein stellten, sodass sie mit dem Kopf hart auf das durchgetretene graue Linoleum schlug. Sie fasste sich unbewusst an die verblasste Narbe direkt unter dem Kinn. Genug! Hastig drückte sie die Kurzwahltaste des Telefons und wartete, dass Mike ranging.
„Komm schon. Nimm ab. Nimm ab, Herrgott!“, flüsterte Liv in den Hörer.
Frieda witterte die Stimmungsänderung und kroch halb unter dem Schreibtisch hervor. Bereit, Liv gegen alle Gefahren zu verteidigen.
„Ich höre.“
„Mike, kommst du mal rüber? Ich hab hier was.“ Liv riss sich zusammen und hoffte, dass das Zittern in ihrer Stimme nicht durch den Hörer transportiert wurde.
„Sicher?“
„Mehr als das.“
Mike beugte sich hinter Liv über den Schreibtisch und studierte mit unbeweglicher Miene das Bild am Rechner. Er schüttelte den Kopf. „Ich hasse diesen Mist! Wer ist der Typ? Kennt man den?“
„Mir kommt er bekannt vor.“
„Wie viel will dein Informant für weitere Bilder?“
„Zwanzig.“ Livs Stimme war belegt.
„Und wenn das hier ein Fake ist?“
Sie zuckte mit den Schultern. Mike rieb sich über die grauen Bartstoppeln, die ihn täglich ab mittags so aussehen ließen, als hätte er sich morgens nicht rasiert. Er zog sich den Besucherstuhl heran und musterte Livs angespanntes Gesicht.
„Ist alles okay mit dir?“
Liv räusperte sich. „Natürlich. Ich sehe nur nicht jeden Tag, wie junge Frauen vergewaltigt werden.“ Sie schauderte, als sie das Bild erneut betrachtete.
„Ich schon, oder wie?“ Mike klang entrüstet.
Frieda verließ endgültig ihren Platz unter dem Schreibtisch und heftete ihren Blick auf Mike.
„Frieda, sitz!“
„Warum hast du dir statt des Hundes eigentlich keinen Revolver gekauft? Den musst du nicht füttern und zum Kacken rausbringen?“
„Wer sagt, dass ich keinen habe?“ Liv lächelte.
Mike hob die Augenbrauen. Ein Schnipsen, gefolgt von einem ausgestreckten Zeigefinger, und Frieda kroch wieder auf ihre Decke. Die Hündin legte sich allerdings so hin, dass sie alles im Blick behielt. Ihre Augen leuchteten im Dämmerlicht unter dem Schreibtisch wie bei einem Wolf, der sich im Unterholz auf einen Angriff vorbereitete.
„Ich habe nichts gegen deinen Leibwächter, ich habe nur etwas dagegen, wie sie mich ansieht, wenn sie dich beschützt.“ Er blickte auf Liv und fragte sie ruhig: „Liv, wer hat dieses Bild gemacht? Und warum? Woher hat es der Typ, der es verkaufen will? Diese Fragen sollten wir klären, bevor du irgendetwas unternimmst. Es könnten genauso gut Fälschungen sein.“
„Gefälscht? Das glaubst du doch selber nicht. Wie soll man eine solche Qual nachstellen?“ Liv riss die Augen auf und zeigte ohne hinzusehen auf das Bild. Ihr Finger zitterte. Verärgert, dass die Szene sie so mitnahm, legte sie ihre Arme auf die Beine und ballte die Fäuste.
„Falls sie echt sind, begibst du dich in Gefahr. Hast du das mal bedacht?“
„Ich? Wohl kaum. Das Mädchen auf dem Bild ist ein Teenager. Ich falle nicht in die Zielgruppe dieser perversen alten Säcke.“
„Das meine ich nicht, und das weißt du ganz genau!“
„Wir könnten einen Knüller aber ganz gut gebrauchen …“ Liv ließ das Ende des Satzes offen.
Mike stöhnte. „Vor allem brauche ich lebendige Redakteure! Das Ding hier bereitet mir Unbehagen. Lass die Finger davon.“
„Unbehagen? Na, immerhin.“ Liv schnaubte.
„Herrgott, Liv. Wir wissen nichts über die Hintergründe, und ich soll dich da hinschicken wie zu einer Bilanzpressekonferenz?“
„Die Einladung zu einer Bilanz-PK haben alle Redaktionen. Dieses hier habe nur ich. Damit könnten wir eine echte Enthüllung liefern. Mike, denk doch mal nach. Auflagenzahl, sinkende Abos, der Verleger sitzt dir im Nacken. Lass mich das machen.“
Mike fuhr sich wieder mit der Hand über das Kinn. Gleich hab ich ihn, dachte Liv und suchte fieberhaft nach dem letzten Killer-Argument.
Sie holte tief Luft. „Wie alt ist Sarah jetzt? Was würdest du tun, wenn das auf dem Bild deine Tochter wäre?“
„Vorsichtig … ganz dünnes Eis, Liv.“ Mikes Stimme wurde sehr leise.
Liv fühlte, dass sie den Bogen gleich überspannt hatte, aber trotzdem konnte sie jetzt nicht zurückrudern. „Dieses Mädchen hier hatte auch Träume und Wünsche, die ihr irgendein perverses Schwein rausgevögelt hat.“ Sie wusste, dass sie das Bild nicht mehr loslassen würde. Wenn sie der Sache nicht nachging, würde sie sich dafür hassen. „Ich nehme Frieda mit. Das sollte Schutz genug sein.“
Mike schüttelte resigniert den Kopf.
Liv wusste, dass ihm ihre Sicherheit wichtig war. Er war immer ihr Mentor gewesen. Nur ihm hatte sie zumindest Teile ihrer Vergangenheit anvertraut. Er war derjenige, der sich vor sie gestellt hatte, als es keiner mehr tat, und sie zu sich geholt hatte, als es in Hannover zu gefährlich wurde. Mike hatte gewusst, dass sie nicht ohne ihre Arbeit sein konnte, und ihr durch sein Jobangebot die Chance gegeben, sich emotional zu stabilisieren. Da sie durch den Tod ihrer Tante und die damit verbundene überraschende Erbschaft den Verdienst längst nicht mehr nötig hatte, ließ er sie als freie Mitarbeiterin an der langen Leine laufen.
„Ich find’s nach wie vor nicht gut. Aber okay, geh der Sache nach. Ich lasse dir das Geld auszahlen. Mach nichts, was ich nicht auch tun würde, und pass bloß auf dich auf. Ich will dich jeden Tag morgens und abends am Telefon hören. Verstanden?“
Liv schluckte, dann nickte sie. Mike ahnte vermutlich, dass sie entschlossen genug war, um auch ihr privates Geld für diese Bilder einzusetzen.
Mike hob die Hand, um ihr aufmunternd auf die Schulter zu klopfen, aber Frieda beobachtete ihn dabei so aufmerksam, dass er den Arm wieder sinken ließ.
„Sorg dafür, dass ich das hier nicht bereue!“ Er schob den Stuhl mit Schwung nach hinten und stand auf.
Liv drehte sich zum Rechner. Im Kopf fertigte sie bereits eine To-do-Liste an und zwang ihre aufgeregten Gedankensprünge damit in sinnvolle Bahnen. Sie war gerade dabei, die E-Mail und das Foto auszudrucken, als Mike sich hinter ihr räusperte.
„Liv?“
Sie zuckte zusammen. Sie hatte gedacht, er wäre längst gegangen. „Äh ... ja?“
„Woher hat der Typ deine private Mailadresse? Kennst du ihn so gut?“
Er ließ wie üblich die letzte Columbo-Frage im Raum stehen, drehte sich um und ging, während Liv ihm nachdenklich hinterherschaute.
Liv wählte die angegebene Mobilnummer und ließ es dreimal klingeln. Dann schaltete sich die Mailbox ein, und eine Computerstimme wiederholte monoton die einzelnen Ziffern und bat den Anrufer um eine Nachricht.
„Guten Tag, Edgar. Sie hatten mir eine E-Mail geschickt. Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen und reden. Ich melde mich wieder.“ Liv legte auf. Was könnte sie jetzt am besten tun? Eigentlich war sie mitten in der Vorbereitung zu zwei großartigen Unternehmer-Storys. Ein Typ, der mit einem Reiseportal im Internet die Konkurrenz das Fürchten lehrte, und eine junge Frau, die an der Börse alle männlichen Kollegen an die Wand spielte. Gestern hatte sie sich noch auf die Interviews gefreut. Aber nun war ihr Jagdinstinkt unwiderruflich geweckt. Sie drückte auf Wahlwiederholung und lauschte auf das Freizeichen.
„Ja?“
Livs Herz machte einen Sprung. Wer sagt’s denn!
„Hallo, Edgar? Sind Sie das? Sie haben mir eine E-Mail geschickt.“
Schweigen und atmen. Also weiter.
„Können wir uns treffen?“ Sie legte all ihre professionelle Freundlichkeit in ihre Stimme, die sie in sich finden konnte.
„Ja.“
Gott sei Dank. Er sprach mit ihr. Die erste Hürde war genommen.
„Wo soll ich hinkommen? Wann haben Sie Zeit?“
„Hier in Hannover. Smartcity-Hotel am Thielenplatz. Ist direkt am Bahnhof. Heute noch.“
Hannover? Sie hatte es geahnt. Verdammter Mist. Edgar wusste sicher nicht, dass sie diesen Ort mied wie ein Hornissennest. Liv schluckte schwer. Sie schaute auf die Uhr an ihrem Bildschirm und rechnete. „Ich schaffe 15 Uhr. Bin noch nicht in der Stadt.“
„Nehmen Sie sich dort ein Zimmer und rufen Sie mich dann an.“ Er legte auf.
Noch lange, nachdem er aufgelegt hatte, fand er keine Ruhe und konnte sich nicht ablenken. Er stopfte das Telefon in seine Jacke und wanderte rastlos durchs Zimmer. Immer wieder schaute er auf das Display. Würde sie kommen? Warum brauchte sie so viel Zeit? Hielt sie ihn etwa hin? Er seufzte. Das war ein Tag für die stärkeren Getränke. Wenn er wollte, und das wollte er oft, fand er allerdings an jedem beliebigen Tag einen Grund zum Trinken. Edgar goss sein Glas randvoll. Mit geschlossenen Augen kippte er die goldgelbe Flüssigkeit runter. Der Kognak brannte sich den Weg durch die Speiseröhre. Im Magen angekommen, verwandelte sich das Brennen in eine behagliche Wärme, die sich überall im Körper ausbreitete und jedes ungute Gefühl wie mit Watte ummantelte.
Alkoholiker waren in seinen Augen immer schon die klügeren Menschen. Die wussten, wie man in jeder Situation die Nerven beruhigen und die Außenwelt weichzeichnen konnte.
Noch immer schüttelte er ungläubig den Kopf über seinen guten Fang. Wie doof konnte man bloß sein, wenn man an einem Zahlenschloss den Werkscode eingestellt ließ oder den einfachsten Code der Welt benutzte, den jeder als Erstes ausprobieren würde? Nur aus Spaß hat er eins, zwei, drei, vier getippt und sich danach vor Lachen den Bauch gehalten. Er, der sich als Dieb der guten alten Zeit ansah, in der man Tresore einfach aufschweißen konnte und Banken überfiel, die nicht bis aufs Klo mit Kameras gesichert waren, hatte einen iPad-Code geknackt. Einfach so. Darauf einen Kognak.
Der Lederkoffer hatte schon von Weitem teuer ausgesehen, und dann war der Besitzer ein solcher Idiot. Und das bei dessen Hobby. Edgar kicherte. Er würde das iPad und das Notebook teuer verkaufen können und sogar noch Teile der Daten. Er selbst stand auf Vollweiber mit schweren Brüsten und schwingenden Hinterteilen, wo man beim Vögeln reingreifen und sich festkrallen konnte. Er wollte Weiber, die beim Sex Spaß hatten und ihn anfeuerten. Sein Ding waren diese schreienden Mädchen, fast noch Kinder, nicht. Durch seine Kontakte konnte er aber zumindest Profit aus den Vorlieben dieser Typen schlagen. Wenn der geile Bock erst mal einsaß, würde der danach nie wieder Lust haben, schreiende Mädchen zu vögeln. Da verstanden die Jungs im Knast keinen Spaß. Das wusste jeder. Er kicherte vor sich hin, wenn er daran dachte, was die mit diesem Kerl anstellen würden.
Nach dem vierten Kognak wurde Edgar ruhiger. Es war alles erledigt. Nun musste er nur noch abwarten. Leicht schwankend schaute er auf sein Spiegelbild über der kleinen Hausbar, auf deren Kunstlederhockern er gerne mit seinen Kumpels trank. Sah er dem jungen Helmut Schmidt mit seiner vollen Haarpracht nicht immer ähnlicher? Ihm gefiel, was er sah. Seine geschwungenen Lippen wurden sogar von den Nutten bewundert. Das mussten die nicht sagen, schließlich bezahlte er nur für die Nummer, nicht für die Komplimente. Seine Tätowierungen verbarg er außerhalb seiner Wohnung unter langen Ärmeln. Jede einzelne erzählte von einem Knastaufenthalt. Der ehemalige Kofferbesitzer würde wohl kaum Zeit haben, sich schmückende Körperbilder stechen zu lassen. Der sollte besser zusehen, dass beim Duschen die Aufseher in der Nähe waren. Das und die Aussicht auf den Batzen Geld, den er in den nächsten Tagen erhalten würde, ließen ihn wohlig grinsen.
Er stolperte ins Bad. Hoppla! Das waren doch nur ein paar Kognaks gewesen. Das schrille Klingeln der Türglocke ließ ihn zusammenfahren. Was sollte das denn? Er erwartete keinen Besuch, und die Zeugen Jehovas sollten ihren bescheuerten Wachturm der fetten Planschkuh über ihm andrehen. Seine Blase duldete auch keinen Aufschub mehr. Grummelnd fingerte er in seinem Hosenschlitz herum und stellte sich breitbeinig vor die hochgeklappte Klobrille.
Es hämmerte gegen seine Wohnungstür. Edgar erschreckte sich so sehr, dass er auf seine Hand urinierte.
„Verfluchte Scheiße. Ich kaufe nichts!“
„Paketdienst! Ich habe eine Lieferung für Sie.“
„Ich erwarte nichts. Verpiss dich!“ Fluchend wischte er sich die Hand an der Hose ab und drückte auf die Spülung.
„Das Paket ist aber an Sie adressiert, und ich brauche eine Unterschrift.“ Die Stimme klang gelangweilt.
„Hat man denn nie seine Ruhe …“, murmelte Edgar und zog die Tür auf.
Vor seinen Augen explodierte alles. Seine Nase brach mit einem knirschenden Geräusch. Er taumelte und hielt sich die Hände vors Gesicht. Tränen schossen ihm in die Augen. Verschwommen erkannte er, wie ein Mann die Tür von innen abschloss und ein Schatten an ihm vorbeihuschte.
„Was zur Hölle ... “ Weiter kam er nicht. Krachend landete eine Faust auf seiner Kinnspitze. Sein Kopf flog nach hinten. Er fiel um wie ein gefällter Baum und lag benommen am Boden. Als er sich stöhnend auf die Seite rollte, traf ihn ein Stiefel in den Bauch. Er japste nach Luft. Was war hier los? Er versuchte, einen Blick auf den unbekannten Hünen zu werfen.
„Wo ist der Computer und das andere Zeug?“ Der Mann sprach völlig emotionslos mit einem harten Akzent und setzte sich breitbeinig in Edgars Lieblingssessel. Panik überfiel ihn. Er blinzelte und versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Mühsam rappelte er sich hoch. Ein tiefes Knurren ließ ihn erstarren. Direkt neben dem Sessel zog ein riesiger schwarzer Köter die Lefzen hoch und zeigte geifernd seine Fangzähne. Niemals zuvor war Edgar ein solcher Koloss untergekommen. War das wirklich ein Hund?
Edgars Gefängnis-Reflex, alles abzustreiten, bis jemand das Gegenteil beweisen konnte, schaltete sich ein, noch ehe er über eine klügere Antwort nachdenken konnte.
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, keuchte er. Das Atmen fiel ihm schwer. Er versuchte, sich langsam in eine aufrechtere Position zu ziehen. Wie ein Hammer streckte ihn der nächste gezielte Tritt an den Kopf erneut nieder. Er spuckte Blut und einen Zahn aus, dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Er musste kurz weggedämmert sein. Als er mühsam versuchte, die zugeschwollenen Augen aufzuschlagen, sah er, wie durch eine Milchglasscheibe, den schwarz gekleideten Mann systematisch die Wohnung durchsuchen und Kissen aufschlitzen. Er blinzelte wie verrückt, um seinen Blick scharf zu stellen.
Edgar wollte sich auf einen Ellbogen stützen, doch der Hund fing sofort wieder an zu knurren.
„Verkauft, alles verkauft …“ Im gleichen Moment zog der Hüne aus Edgars Jacke am Garderobenhaken erst sein billiges Mobiltelefon, das er an die Wand schmiss, und fand dann einen schwarzen Montblanc-Füller. Der hatte ihm so gut gefallen! Edgar erstarrte, als er den Blick des Mannes sah. Fehler! Verdammter Mist, der Stift war aus dem Koffer!
Mit zwei schnellen Schritten näherte sich der Muskelberg. Er holte aus. Der Füller bohrte sich in Edgars Auge. Bevor sein Gehirn begriff, was geschah, legte sich die Pranke des Mannes auf Edgars Mund. Er schrie, aber es drang nur ein gedämpftes Gurgeln nach draußen. Edgar fühlte, dass er gleich ohnmächtig werden würde.
Der Hund bellte zwar nicht ein einziges Mal, gebärdete sich aber wie ein Verrückter und zog die Lefzen noch höher. Er strahlte Mordlust aus.
„Wo sind die anderen Sachen?“ Mit einem Ruck wurde Edgar an den Haaren hochgezogen. Er war dem Gesicht des Mannes nun ganz nah und konnte mit dem unverletzten Auge jede Pore wie unter einer Lupe erkennen.
Edgar wimmerte. Speichel und Blut tropften ihm aus dem Mund. Reflexartig wollte er blinzeln und fühlte, wie das Lid sich nur auf einer Seite schloss. Aus dem verletzten Auge lief eine warme Flüssigkeit über seine Wange. Der Schmerz explodierte in seinem Kopf wie eine Urgewalt. Er schrie. Die Faust knallte wieder auf die gebrochene Nase. Der Hüne ließ seine Haare nicht los und wartete. Gleich würde der Wahnsinnige ihn skalpieren!
„Nein“, stöhnte er. „Warte, der Koffer ist … er ist …“
Edgars Zeigefinger zeigte auf die Bar.
Der Blick des Angreifers folgte Edgars Finger. Er fasste an seine Wade, und plötzlich fühlte Edgar einen scharfen Schmerz in der Brust. Bevor er realisieren konnte, was das war, sackte er mit erstauntem Blick nach vorne. Alles wurde schwarz.
Ohne jegliche Emotion zog der Mann das zwei Zentimeter breite Stück Metall zwischen den Rippen hervor und trug es mit seinen durchsichtigen Handschuhen in Richtung Bad. Er schaltete die Stereoanlage an, drehte die Musik lauter und gab dem Hund einen Befehl.
Das schwarze Tier hechtete in Richtung Edgar und fing an, Stücke aus dessen leblosem Körper herauszureißen. Der Mann beobachtete den Hund, bevor er sich zum Waschbecken umdrehte und heißes Wasser über das Stilett laufen ließ. Dann ging er hinter die Bar und fand den gesuchten Koffer samt iPad, Notebook und einem Stapel Unterlagen. Er lächelte. Unter der Heizung blinkte lautlos das Prepaid-Handy.
Liv lauschte dem Freizeichen und legte auf, als der Lärm am Gleis anschwoll. Wo steckte Edgar bloß? Langsam fing sie an, sich Sorgen zu machen. Wieso war er nicht mehr erreichbar? Weitere Anrufversuche aus dem Zug heraus waren sinnlos, wenn es die Leitung immer wieder zerriss. Mist. Sie würde ihn daher erst wieder vom Hotel aus anrufen können. Himmel! Langsam ergriff sie das Jagdfieber. Er hatte so seltsam geklungen. Womit er wohl jetzt sein Geld verdiente? Als ihm damals im Strudel des aufgedeckten Wettbetruges das ganze Geschäft wegbrach, hatte er nie ihr die Schuld daran gegeben und ihr sogar sehr interessante Zusammenhänge gesteckt. Jetzt wollte er das erste Mal Geld und versprach, dass sie es nicht bereuen würde. Liv seufzte. Gelassenheit und Geduld würde sie in einer Kontaktanzeige nicht als ihre großen Stärken angeben.
Frieda schaute angriffslustig auf den einfahrenden ICE, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Dank des Kopfbahnhofes in Frankfurt rauschten dort keine Züge durch, was Frieda stets aufbrachte. So saß sie nur wie eine Statue neben Koffer und Reisetasche, während sie ihre Ohren anlegte und ihr Blick versuchte, dem Zug zu folgen. Trotz Maulkorb würde es niemand wagen, sich an dem Gepäck zu vergreifen. Für einen Kurztrip hatte Liv viel zu viele Klamotten eingepackt. Aber sie war gerne für alle Eventualitäten gerüstet.
In den ersten Wochen in Frankfurt hatte eine lähmende Angst sie an ihre Wohnung gefesselt. Ihre Briefe kamen postlagernd, niemand besaß ihre Adresse. Mike hatte sie anfangs zur Arbeit abholen lassen. Sie wartete jeden Morgen an einer anderen Stelle auf den Fahrer und war Mike für seine Fürsorge unendlich dankbar. Dann trat Frieda in ihr Leben. Sie war teilweise schon als Personenschutzhund ausgebildet und absolvierte den Rest bis zur Prüfung mit Liv gemeinsam. Die ruhige Selbstverständlichkeit des Hundes entspannte Liv jeden Tag mehr. Sie schlief nicht mehr im nachträglich eingebauten Panikraum, und sie musste jeden Tag mit dem Hund raus. Da war kein Raum mehr für eine Panikattacke. Nie hätte Liv gedacht, dass sie sich nach Lottes Vergiftung noch einmal so auf ein Tier einlassen könnte. Aber sie liebte Frieda abgöttisch und strich ihr nun über den Kopf und die kaschmirweichen Ohren.
Liv saß alleine im Abteil. Die Mitreisenden eilten nach einem kurzen Blick auf den Dobermann schnell weiter. Nicht mal die beiden reservierten Plätze wollte jemand beanspruchen.
Über zwei Jahre war ihr letzter Besuch in Hannover her. Sie hatte das Gefühl, dass der Zug sie mit Überschallgeschwindigkeit zurück in die Stadt und in die Vergangenheit katapultierte. Die Welt drehte sich weiter und produzierte andere Skandale, versuchte Liv sich zu beruhigen. Ihre Hände zitterten, und ihr Mund wurde trocken. Rollte eine Panikattacke auf sie zu? Sie schloss die Augen und versuchte, gleichmäßig zu atmen. Die Attacke zog sich mit jedem kontrollierten Atemzug weiter zurück. Liv schwitzte.
„Frieda, bleib“, wies sie den Hund an und kletterte über ihn hinüber.
Als sie die Zugtoilette erreichte, ließ Liv kaltes Wasser über ihre Unterarme rinnen und musterte ihr Gesicht im Spiegel. Der dunkle Kurzhaarschnitt war verschwunden. Sie trug ihre Haare jetzt blond und schulterlang. Eine braune Nerd-Brille, ein grauer Hosenanzug und Sneakers ließen sie wie eine Führungskraft der Kreativbranche aussehen. Die Turnschuhe in allen Variationen waren ihrem stets unter der Oberfläche lauernden Fluchtinstinkt geschuldet. Sie musste das Gefühl haben, jederzeit wegrennen zu können. Ihr Urvertrauen in die eigene Sicherheit hatte durch die Angriffe großen Schaden genommen. Als sie ihre Therapie abgeschlossen hatte, war sie mit der Psychologin übereingekommen, dass sie diese eine Neurose bewusst beibehalten würde und regelmäßig hinterfragen wollte. Wenn sie sich irgendwann in ihrem Leben sicher fühlen sollte, wäre ein feierlicher Gang ins Schuhgeschäft ihre erste Handlung. Dort würde sie sich ein Paar wahnwitzige High Heels, die sie immer Sitzschuhe nannte, kaufen und mit ungelenken Bewegungen durch die Stadt stöckeln.
Liv putzte mit den Papierhandtüchern ihre Brille. Sie hatte keine Sehschwäche, sondern benutzte die Brille als eine Art Tarnung. Würde sie jemand erkennen? Ihr wurde wieder mulmig. Nein, bestimmt nicht, beruhigte sie sich. Menschen schauten immer nach vertrauten Details, und sie war schon lange aus der Stadt verschwunden. Es gab zwar neuere Fotos im Internet, aber wer sollte sich nach der langen Zeit noch dafür interessieren? Liv ging zurück an ihren Platz und versuchte, sich zu entspannen.
„Hier noch jemand zugestiegen? Den Fahrschein, bitte.“ Ein Zugbegleiter, der Liv mit seiner ausladenden Birnenform sofort an Barbapapa erinnerte, zog die Abteiltür auf und hielt dann in der Vorwärtsbewegung abrupt inne, als er Frieda am Boden liegen sah. Die hob nur kurz den Kopf und stufte ihn sogleich als langweilig ein.
„Was ist das denn?“
„Ein Hund?“ Was sollte denn die Frage?
„Der darf hier überhaupt nicht sein.“
„Wie bitte? Ich habe eine Fahrkarte für mich und den Hund gekauft. Der, wie Sie sicherlich wissen, zum Kindertarif mitfährt.“
„Ich möchte Sie bitten, an der nächsten Station auszusteigen. Wir befördern keine gefährlichen Kampfhunde.“
Hatte sie sich gerade verhört? Sie durfte nicht weiterfahren? Ihre Handflächen wurden nass.
„Der Hund trägt einen Maulkorb.“
„Trotzdem darf er hier nicht mitfahren. Sie versperren Sitzplätze, weil wegen dem da keine Fahrgäste ins Abteil können.“
Liv starrte den Zugbegleiter an und konnte seine Worte kaum begreifen. Was sollte sie jetzt machen? Edgar hockte in Hannover und erwartete sie.
Die Lautsprecherdurchsage durchbrach die angespannte Stille und kündigte den nächsten Halt an. Der Schaffner schob die Unterlippe vor und hob das Kinn, als er sagte: „Ich erwarte, dass sie hier den Zug mitsamt ihrem gefährlichen Tier verlassen.“
Frieda stand nun doch auf. Der angespannte Ton des Mannes schien sie zu interessieren. Der Mann zog den Kopf zurück und ließ die Tür nur noch einen Spalt offen.
„Sehen Sie! Deswegen muss das Tier hier raus. Das ist doch gemeingefährlich.“ Seine Stimme wurde schriller.
„Frieda, hier, sitz.“ Liv klopfte an ihr Bein. Die Hündin ließ sich direkt vor ihr nieder. Sie fühlte die Anspannung und knurrte in Richtung des Zugbegleiters.
„Raus hier!“, kreischte er und zog die Abteiltür ganz zu. Er gestikulierte von draußen und zeigte auf den Ausgang, als der Zug langsamer wurde. Was sollte sie jetzt tun? Holte der am Ende den Sicherheitsdienst? Was hatte sie nur verkehrt gemacht? Sie war noch nicht oft mit Frieda Zug gefahren, weil sie meist froh war, wenn sie Frankfurt nicht verlassen musste. Vielleicht hatten sich nach irgendwelchen Hundeattacken die Regeln für die Beförderung geändert. Das wusste der mit Sicherheit besser als sie. Das stand hier alles unter keinem freundlichen Stern. Sollte sie Edgar anrufen und ihm sagen, dass sie nicht kam? Mike hatte ihr doch auch abgeraten.
Seufzend stand sie auf, schnappte sich ihr Gepäck und wartete, bis die Leute, die auf dem Gang Richtung Ausgang strömten, raus waren. In Liv breitete sich ein altbekanntes Ohnmachtsgefühl aus. Wieder hatte ihr jemand, der eine Scheißinstitution vertrat, vorgeschrieben, was sie zu tun hatte. Sie hasste dieses Gefühl seit ihrer Kindheit. Seit dem Unfall damals schien sich alles wieder und wieder gegen sie zu wenden. Sie sah sich nochmals im Abteil um, ob sie nichts vergessen hatte.
Draußen am Fenster ging der Schaffner mit einem DB-Rucksack am Zug vorbei Richtung Ausgang. Wo wollte der denn hin? Liv stolperte ans Fenster und sah nur noch, wie er einem Kollegen zunickte und weitermarschierte. Personalwechsel? Er hatte kein Wort mit dem anderen Mitarbeiter gewechselt. Sollte sie es wagen?
„Frieda, hier“, rief Liv den Hund von der Tür zurück und wuchtete das Gepäck wieder auf die Ablage im Abteil. Sofort durchrieselte sie ein Gefühl von Stolz. Sie hatte dagegengehalten, sie war nicht ausgestiegen! Der Idiot sollte sich seine Kampfhund-Phobie sonst wo hinstecken.
Der ICE ruckelte wieder los. Sie loggte sich in den Hot Spot des Zuges ein und rief die Homepage der Bahn auf. Ungläubig scrollte sie durch die Beförderungsregeln. Definitiv stand hier absolut nichts davon, dass bestimmte Hunderassen nicht mitgenommen wurden. Was war das dann für eine Nummer? Wollte Barbapapa nur mal jemandem den Tag versauen? Okay, egal. Das war jetzt nicht wichtig. Es gab größere Probleme als diesen Idioten. Livs Finger schwebten über der Tastatur. So lange hatte sie vermieden, irgendetwas über Hannover zu erfahren. Das Ausmaß der Ungerechtigkeit, die sie überrollte, die Bloßstellung beim Prozess und der Anschlag auf ihren Hund durchzuckten Liv, als wäre es gestern gewesen, dass sie geflohen war. Was tat sie hier eigentlich? Genauso gut konnte sie an der nächsten Station aussteigen und zurückfahren. Mike wäre erleichtert.
Nein, es reicht!, rief sie sich zur Ordnung. Es wurde Zeit, sich den Dingen zu stellen und die Angst vor der Angst zu besiegen. Entschlossen gab sie ein paar Begriffe in die Suchmaske ein und ließ sich die Neuigkeiten der letzten Monate aus ihrer alten Heimatstadt anzeigen. Liv flog über einen Querschnitt aus Politik, Wirtschaft und Lokalem. Hier wurde ein Gebäude eröffnet, dort ging eine Firma pleite. Die Meldungen unterschieden sich nicht von denen anderer Großstädte. Einige Namen kamen Liv bekannt vor. Sie klickte alle Artikel rund um Fußball, Wetten und Justiz sofort weiter. Darüber wollte sie nie wieder etwas lesen oder schreiben.
„In wenigen Minuten erreichen wir Göttingen Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss …“ Liv schloss die Augen und blendete die Ansage aus. Je näher sie Hannover kam, desto hartnäckiger kroch ihr die Erinnerung den Nacken hoch. Hörte das nie auf? Sie wollte keine Angst mehr haben.
„Du Schlampe!“ Die hasserfüllten Worte hatten seit damals in ihrem Kopf widergehallt. Die Angreifer konnte sie nie eindeutig identifizieren. Eben noch verließ sie zum Feierabend des Spätdienstes das Redaktionsgebäude, und nur Sekunden später riss ihr jemand den Arm so gewaltsam nach hinten, dass er aus dem Gelenk sprang, und presste ihren Kopf auf das nasse Kopfsteinpflaster.
„Das wirst du noch bereuen. Wir machen dich alle!“ Er spuckte beim Sprechen und verstärkte den Druck auf den schmerzenden Arm. Vor ihren Augen ließ er mit der freien Hand ein obszön großes Messer aufblitzen und drehte es hin und her. Liv wurde übel. Im Stahl des Messers spiegelten sich die Parkplatzlampen. Sollte das das Letzte sein, was sie von der Welt sah? Bitte nicht!
„Hey! Was wird das denn da?“ Ihr Kollege Niels ließ seine Tasche fallen und rannte in ihre Richtung. Sofort sprang der Angreifer auf und flüchtete in das angrenzende Gewerbegebiet, das um diese Zeit verlassen dalag. Niels lief einige Schritte in die Richtung des Flüchtenden, stoppte aber sofort neben Liv.
„Alles okay bei dir?“ Er half ihr vorsichtig auf.
„Mein Arm ... verdammt …“ Liv zog sich an seiner Hand hoch und sah Sterne. Sie taumelte, und Niels sah, dass ihr Arm in einer unnatürlichen Haltung herunterhing.
„Oh! Mist. Das sieht nicht gut aus. Wir fahren sofort in die Notaufnahme und rufen die Polizei“, bestimmte Niels. „Wer war der Typ? Kanntest du den?“
„Nee, aua. Das tut scheiße weh!“
Als sie Stunden später aus dem Polizeirevier traten, gähnte Niels und Liv rieb sich den verbundenen Arm, der nun wieder an der dafür vorgegebenen Stelle saß. Einrenken kam auf die Liste der Dinge, die sie niemals wiederholen wollte. Magenspiegelung, Weisheitszahn-Ziehen und Fallschirmsprünge waren da bereits vermerkt.
„Ich schreibe ab jetzt nur noch Nachrufe und Gebrauchsanweisungen.“
„Denkst du, es hat immer noch mit den Artikeln zu tun?“
Liv zuckte mit den Schultern und stöhnte vor Schmerz auf. Nachdem sie mit ihrer Enthüllung über einen groß angelegten Wettbetrug im Fußball viel Staub aufgewirbelten hatte und es Morddrohungen gab, wurde sie für Wochen unter Polizeischutz gestellt. Ihr Chefredakteur war seinerzeit hoch erfreut, weil die ganze Republik über kaum was anderes sprach und sein Blatt mit Livs Artikeln immer wieder zitiert wurde. Liv jedoch war über den Hass, der ihr von einigen Ultra-Gruppierungen entgegenschlug, erschüttert. Dennoch wollte sie sich nicht einschüchtern lassen. Sie hatte das Richtige getan. Bis heute war nicht klar, ob alle Hintermänner im Zuge der dem Artikel folgenden Ermittlungen entdeckt wurden. Viel zu oft hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht abschütteln können. Nie hatte sie jemanden gesehen, aber die Angst saß ihr noch heute in den Knochen. Wenn die Dämmerung einsetzte, war es am schlimmsten. Ohne den Personenschutz wäre sie vor Angst verrückt geworden und hätte ihre Wohnung niemals verlassen.
Als das Verfahren fast vorbei war, sah die Polizei keine Notwendigkeit mehr, Steuergelder in ihre Sicherheit zu investieren. Eines Morgens stellte Liv fest, dass keine Beamten mehr vor ihrer Tür waren, und griff sofort zum Hörer. Das konnte nur ein Irrtum sein! Man hatte ihr doch umfassende Bewachung zugesagt.
„Frau Mika, ihre Aussage ist gemacht, der Staatsanwalt hat sein Plädoyer gehalten, und es gibt daher keinen nachvollziehbaren Grund mehr, dass Sie in Gefahr sind. Dieser Meinung ist auch unser stellvertretender Präsident Heinz Rachow. Er hat den Rückzug persönlich angeordnet“, klärte der Beamte sie seinerzeit lapidar auf.
Liv schluckte und ließ den Hörer fallen. Sie zitterte und fühlte sich völlig nackt.
„Hast du schon mal über einen Schutzhund nachgedacht?“, fragte Niels und brachte damit bei ihr einen Gedankengang ins Rollen.
„Zeus? Apollo? Oder besser beide?“, hatte Liv lachend gefragt. Beide erinnerten sich gerne an Magnum, den Ferrari und die knurrenden Dobermänner.
Mit einem Ruck kam der ICE in Hannover zum Stehen, und Liv packte hastig ihre Sachen zusammen. Hatte der Schaffner den nächsten Halt gar nicht angesagt? Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie beinahe den Ausstieg verpasst hätte. Rasch schob sie sich samt Hund und Gepäckstücken polternd durch die Tür.
Liv spähte auf das krakelig geschriebene Kennzeichen im Formular des Mietvertrages, suchte mithilfe des Schlüssels den richtigen Kombi heraus und legte die Hundedecke im Kofferraum aus. Sie probierte mehrfach die Kofferraumautomatik und war zufrieden, wenn die Klappe jedes Mal hochsurrte wie eine Zugbrücke. Dass ihr Verhalten leicht zwanghaft wirkte, war ihr bewusst, aber dieses Feature am Schlüssel eines BMWs sorgte dafür, dass sie bei Gefahr Frieda rausspringen lassen konnte. Die beobachtete mit schief gelegtem Kopf, wie Liv den Leihwagen mit der Fernbedienung verriegelte, und trottete zu ihr, als Liv sanft gegen ihr Bein klopfte. Das Hotel war so nah am Bahnhof, dass das Umparken des Wagens länger gedauert hätte als der kurze Fußweg. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und freute sich auf den Spaziergang.
In ihrer Suite angekommen, sah sie sich erfreut um. Hier würde sie es einige Zeit aushalten können. Das Hotel hatte versichert, dass sie das Upgrade von den Spesen trennten und an sie persönlich in eine separate Rechnung packen würden. Liv hasste enge Räume und genoss die finanzielle Freiheit, zu buchen, was sie wollte.
Wieder und wieder wählte sie erfolglos die Nummer ihres Informanten.
„Verdammt. Wo steckst du?“ Genervt lief sie vor dem Fenster auf und ab. Sie setzte sich, sprang aber sofort wie ein Flummi wieder auf. Liv griff in ihre Reisetasche und zog die Laufsachen heraus. Sie brauchte ein Ventil, um ihre Unruhe abzuschütteln. Frieda bellte die Sportschuhe an, als Liv die Schnürsenkel verknotete, und drückte so ihre Begeisterung aus.
Liv rannte schon ihr ganzes Leben. Früher hatte sie hin und wieder vorsichtig in sich hineingehorcht mit der Frage, wovor sie überhaupt wegrannte. Sie hatte immer Angst gehabt, die Antwort darauf genauer zu erforschen. Seit zwei Jahren lag die Lösung vor ihr. Anders als erwartet. Es gab einen Grund, zu fliehen. Keine diffusen Kindheitserinnerungen, die sie gemeinsam mit einem Profi ans Licht zerren musste. Seit der Reportage und dem Überfall auf sie, war die Bedrohung real. Rennen alleine reichte Liv nicht mehr aus. Ein Lehrer in Frankfurt brachte ihr die aus Frankreich stammende Sportart Parkour bei. Einige Jahre zuvor war sie durch einen James-Bond-Film auf diesen Sport aufmerksam geworden. Liv hatte fasziniert den Verfolgungsjagden über Baugerüste und Autos zugesehen. Die Geschicklichkeit und das Training, das den ganzen Körper forderte, begeisterten sie. Seitdem hechtete sie über jede Art von Hindernis, die sie in einer Stadt finden konnte. Müllcontainer, Parkhausrampen, Einzäunungen, Bänke. Alles konnte überwunden werden.
Als klar wurde, dass sie mit ihrer Vorgeschichte, der Bedrohung und dem amtlich bekannten Personenschutz niemals einen Waffenschein bekommen würde, hatte sie sich zudem illegal eine Waffe besorgt. Das war in Frankfurt beängstigend einfach. Der Verkäufer hatte ihr auch einen ausreichend zwielichtigen Verein gezeigt, in dem sie mit ihrer Glock 17 trainieren konnte. Aber die Waffe war für sie nur die allerletzte Möglichkeit, wenn sie mit dem Rücken an der Wand stehen würde und jeder anderen Fluchtmöglichkeit beraubt war. Das Wegrennen und das Überwinden von Hindernissen liebte sie. Die Waffe nicht.
Liv sprang mit Frieda die Treppen hinunter und joggte zum Stadtwald. Sie checkte, dass ihr Blackberry so eingestellt war, dass er einen Anruf in voller Lautstärke ankündigte, was sie sogar neben einem startenden Flugzeug hören würde. Kaum erreichten sie den ersten Baum, tauchten sie in eine andere, friedvollere Welt ein. Im Wald vergaß sie, dass sie mitten in der Stadt war. Der Boden federte, es roch nach Moos und feuchtem Laub. Nach wenigen Metern wurden die Straßengeräusche von engagiertem Vogelgeträller überlagert und waren kaum noch zu hören.
„Und los“, rief Liv und spurtete sofort zur ersten Bank. Frieda setzte ihr nach.
Nachdem sie eine Stunde lang jedes Hindernis bezwungen hatten, stand Liv deutlich ruhiger unter der Dusche. Der Blackberry lag auf einem Hocker immer in Reichweite und schwieg. Was sollte sie jetzt als Nächstes tun?
Nachdem sie sich angezogen hatte, rief sie nochmals Edgars E-Mail auf und betrachtete das Vergewaltigungsbild. Wieso kam ihr der Typ nur so bekannt vor? Sie vergrößerte den Gesichtsausschnitt und rief ihre Fotodatenbank auf. Seit den Anfängen als Journalistin pflegte sie Visitenkarten, Fotos und Informationen über Politiker, Wirtschaftsbosse und andere Meinungsbildner dort ein. Wenn sie nach Pressekonferenzen über Konzerne einen Artikel schreiben wollte, hatte sie die Gesichter zu den Visitenkarten meist wieder vergessen. Schauspieler oder Sänger legten viel Wert auf ihre Individualität, aber Wirtschaftsbosse sahen fast alle gleich aus und trugen die gleichen Anzüge.
Liv öffnete zusätzlich ein professionelles Bildbearbeitungsprogramm. Wenn es früher schnell gehen sollte und die Zeitung ihr keinen Fotografen zur Seite gestellt hatte, musste sie damals auch die Fotos machen, bearbeiten und mit dem Artikel in die Redaktion schicken. Vorsichtig entfernte sie die schwarze Augenmaske aus dem vergrößerten Ausschnitt. Welche Augen könnte ein hellhäutiger Mann mit so blonden Haaren haben? Sie scrollte durch ein paar Modelle und wählte ein blassblaues Paar. Nachdem Liv die Augen in das Bild eingefügt und die Ränder retuschiert hatte, kribbelte es ihr bis unter die Haarspitzen.
„Dich kenn ich doch irgendwoher …“
Sie wählte aus ihrem Ordner eine seit Langem nicht genutzte Datei namens „Hannover“ und studierte bei den darin enthaltenen Porträtaufnahmen Bild für Bild. Ab und an wählte sie ein Foto aus, zog ihr selbstgebasteltes Bild daneben und schüttelte jedes Mal den Kopf. Also weiter. Liv wechselte zu den Gruppenbildern, vergrößerte die Aufnahmen und musterte jeden Kopf. Da! Sie klickte das Bastel-Bild daneben, vergrößerte den Kopf und klatschte so laut in die Hände, dass Frieda erschrocken den Kopf auf ihrer Decke hob.
„Hab ich dich!“
Oliver balancierte das Tablett in einer Hand und suchte in seiner Hosentasche nach dem vibrierenden Telefon. Den Klingelton konnte er im Geklirre und Geschepper der Kantine sowieso nicht hören.
„Klauenberg.“ Er schob das Tablett auf eine Tischecke und steuerte den Ausgang an. Es quakte aus dem Hörer, aber er hätte noch nicht mal sagen können, in welcher Sprache.
„Moment, hier ist es zu laut. So, jetzt bitte noch mal von vorn.“
„Zentrale hier. Wir haben ein Tötungsdelikt in Vahrenwald. Muss eine ziemliche Sauerei sein. Ist Robert in deiner Nähe?“
Oliver ging mit dem Hörer am Ohr zurück in die Kantine. Sein Kollege schaufelte sich alleine am Tisch Pommes in den Mund, als würde es nie wieder etwas zu essen geben, und verfolgte das Telefonat.
„Jep, er ist hier in der Kantine.“ Oliver zeigte auf das Telefon in seiner Hand und nickte. Robert verdrehte die Augen. Er umwickelte die eine Seite des panierten Schnitzels mit einer Serviette, kam zum Ausgang und biss von der anderen ab.
„Du fährst, ich esse.“ Robert schmiss Oliver den Wagenschlüssel rüber.
Oliver warf einen bedauernden Blick auf sein volles Tablett.
Rund um das abgesperrte Hochhaus reckten die Schaulustigen ihre Köpfe wie Erdmännchen in die Luft. Jedes Mal, wenn sich die Haustür bewegte, hielten sie wie auf ein unsichtbares Kommando ihre Smartphones hoch. Reihen von Klingelschildern, mehrfach überklebt, ungeleerte Briefkästen mit welliger heraushängender Werbung dokumentierten den Niedergang des Viertels. Oliver Klauenberg und sein Kollege duckten sich unter der Absperrung hindurch und stiegen die Treppen hoch. Graffitis zierten die schmutzig gelben Wände, und Dreck knirschte unter ihren Schuhen.
„Der Tod aller Mietergemeinschaften ist das Nichteinhalten der Hauswoche“, murmelte Oliver und stieg über eine zerknüllte McDonalds-Tüte. Die Kollegen standen auf dem Flur vor der Wohnung eines Edgar Szumanski.
„Mahlzeit. Was haben wir hier?“ Oliver nickte den Uniformierten zu. Eine junge Beamtin, die Oliver noch nie gesehen hatte, löste sich aus der Gruppe. Sie blätterte in ihrem Notizblock. „Tötungsdelikt. Vermutlich handelt es sich um den Mieter der Wohnung, Edgar Szumanski. Er ist ein alter Bekannter. Einbruch, Hehlerei – das Übliche. Seine direkte Nachbarin hat den Hausmeister informiert, weil in seiner Wohnung stundenlang Musik hämmerte und sie die Kinder nicht schlafen legen konnte. Da der Nachbar aber sonst eher zurückgezogen lebte und sie keinen Ärger mit der Polizei wollte, hat sie nur den Hausmeister angerufen. Auf das Klingeln hat Herr Szumanski dann nicht reagiert. Geht ruhig rein, dann wisst ihr auch gleich, warum.“ Sie trat einen Schritt zur Seite. „Ich warte gerne hier auf euch.“
„Hier, nehmt die Anzüge.“ Eine Kriminaltechnikerin reichte ihnen weiße Papieroveralls. „Ist dieses Mal auch zum Schutz eurer Klamotten.“ Sie hielt den Kollegen außerdem eine Dose Tigerbalm unter die Nase. War sie neu? Beide schüttelten den Kopf und gingen durch die Wohnungstür. Niemand, der länger als drei Leichen bei der Mordkommission blieb, würde sich Mentholzeug unter die Nase reiben. Beinahe bereute Oliver jedoch, dass er die olfaktorische Betäubungskeule ausgeschlagen hatte. Der süßliche Blutgeruch, das Ammoniak des Urins, gepaart mit dem Geruch nach der Darmentleerung ließen ihn sofort flach atmen. Neben ihm würgte Robert.
„Ich will dein Schnitzel jetzt auch nicht mehr. Reiß dich zusammen und behalte es drin.“ Oliver wollte auf keinen Fall vollgekotzt werden und trat einen Schritt von Robert weg.
In der Mitte des Zimmers lag ein Mensch in einer Blutlache. Das Gesicht bestand nur noch aus rohem Fleisch, wenn man von dem Kuli im Auge absah, der dort steckte wie in einer Halterung auf einem Schreibtisch. Die Nase war weggerissen. Da, wo mal die Wangen waren, konnte Oliver die Zähne wie durch ein Guckloch sehen. Er schlug die Hand vor den Mund und würgte nun auch. Blick an die Decke, flach durch den Mund atmen, ganz ruhig, befahl er sich.
Was war hier passiert? Oliver ließ den Blick über das Chaos in dem Zimmer wandern. Lampen, Matratzen und anderes Mobiliar lagen kreuz und quer auf dem Fußboden. Die Kissen waren aufgeschlitzt. Federn waren auf den Toten gefallen und hatten sich mit Blut vollgesogen. Es sah aus, als hätte er mit einem Schwarm tollwütiger Gänse gekämpft. Bloß nicht in das Blut treten. Er wich den dunklen Stellen auf dem vollgesogenen Teppich aus. Der Mann, der vermutlich bis vor wenigen Stunden Edgar Szumanski war, hatte vor allem am Oberkörper und im Gesicht schlimme Fleischwunden. An den Armen, wo sich noch unversehrte Haut befand, sah Oliver Bruchstücke von Tätowierungen.
Systematisch durchsuchte die Spurensicherung die verwüstete Wohnung. Als sie unter dem Couchtisch eine Fernbedienung fanden, wussten sie, dass vor ihnen bereits jemand professionell gesucht hatte. Das Gehäuse war aufgebrochen und das Batteriefach ausgeräumt. In einer Fernbedienung konnte man problemlos etwas verstecken. Oliver drehte sich noch einmal um die eigene Achse und musterte die Einzimmerwohnung. Seinen Ekel mühsam beherrschend, trat er wieder an die Leiche heran, wo der Geruch nach Exkrementen ihm Gallenflüssigkeit die Speiseröhre hochjagte. Er überprüfte die Hosentaschen der blutigen Jeans des Toten. Nichts. Der Inhalt des Kleiderschrankes war auf dem Boden verstreut. Außer einigen persönlichen Hygieneartikeln wie Zahnbürste oder Deo war das Bad leer und schmuddelig.
Er ließ seinen Blick den Raum durchwandern und sah unter der Heizung ein Handy liegen. Die Kollegen tüteten es in einen Beutel und gaben es Oliver. Er entsperrte die Tastatur. Der letzte Anruf ohne Rufnummer war erst vor wenigen Minuten eingegangen. Insgesamt waren es elf verpasste Anrufe. Hatte Edgar eine Verabredung versäumt? Oliver wechselte das Menü und scrollte durch die gewählten Nummern und fand als letzten Eintrag eine Telefonnummer aus Frankfurt, die der Tote am Vortag gewählt hatte. Er tippte die Nummer in sein Telefon und wartete auf das Freizeichen.
„Wirtschaftsredaktion, Apparat Liv Mika, André Spiel am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“ Die Stimme klang jung.
„Guten Tag, ich hätte gerne Frau Mika gesprochen.“ Oliver verzichtete auf die Nennung seines Namens.
„Oh, das tut mir leid. Die ist nach Hannover gefahren, und ich weiß nicht, wann sie wieder in der Redaktion ist. Kann ich Ihnen helfen?“
„Seit wann ist sie denn weg?“
„Wie war doch gleich Ihr Name?“ Der junge Mann klang nun alarmiert.
Oliver legte auf und notierte sich den Namen Liv Mika mit einem Fragezeichen. Warum kam ihm der Name bekannt vor? Er konnte Journalisten nicht ausstehen. Vor allem nicht die weiblichen, die immer glaubten, dass sie noch eine Spur bissiger sein mussten, um die männlichen Kollegen zu übertrumpfen. Aber was hatte eine Frankfurter Wirtschaftsjournalistin mit einem Kleinkriminellen aus Hannover zu schaffen? War sie die Anruferin mit unterdrückter Nummer? Hatte sie sogar etwas mit diesem Gemetzel hier zu tun? Oder war sie eine Verabredung, die Edgar nun nicht mehr wahrnehmen konnte?
Isolde Züchner strich ihren Kostümrock glatt und setzte sich in die erste der langen Stuhlreihen, in der noch ein einziger Platz unbesetzt war. Dass der Stuhl frei war, lag an dem mit Klebeband befestigten DIN-A4-Blatt, auf dem der Hinweis „RESERVIERT FÜR REDNERIN“ vor Benutzung warnte.
Während vorne ein sehr junges, aber schon vielfach ausgezeichnetes Streichquartett die betuchten Gäste auf den Abend einstimmte, überflog Isolde ihre Notizen. Die Lesebrille, die ihr immer wieder auf die Nasenspitze rutschte, trug sie erst seit Kurzem, und sie hatte die Kette, die die gepiercte Verkäuferin ihr dazu geschenkt hatte, sofort entsorgt. Eine Oma, der die Lesebrille stets parat vorm Busen baumelte, war sie dann doch noch nicht. Mit großer Disziplin hielt sie ihren Körper in Form, und ihr Unternehmerdasein sorgte dafür, dass ihr Geist genauso fit blieb. Obwohl, was hatte es ihrem Vater genützt? Geistige oder körperliche Trägheit konnte man ihm nun wirklich nicht vorwerfen. Vielleicht war die Erkrankung eine späte Rache für seine Taten? Quasi eine göttliche Gerechtigkeit, dass er, der die Nazis so glühend verehrt und begleitet hatte, nun statt Teil einer Herrenrasse zu sein, immer weiter ins Vergessen rutschte.
Isolde drehte sich zur Seite und ließ ihren Blick über die Stuhlreihen wandern. Wenn die Frauen gezwungen würden, ihre mitgeführten Pelze und den Schmuck zu spenden, hätte man sofort eine ansehnlich ausgestattete Stiftung, die umgehend mit der Arbeit beginnen könnte. Sie sah auf ihre Hände. Gut, diese beiden Ringe, deren fein gearbeitete Diamanten bei jedem Lichteinfall anders funkelten, müsste sie dann auch abgeben. Seit wann sahen ihre Hände aus wie Klauen? Schlank waren sie immer noch, aber Adern durchzogen dicht unter der Haut ihre Handrücken wie Lianen. Sie riss sich vom Anblick ihrer Finger los und schaute zur Bühne, wo der Ministerpräsident sein Grußwort begann.
Ein zweiter Politiker wartete mit seinem Redemanuskript neben der Bühne. Er blickte von seinen Notizen hoch, als sein Vorredner mit Applaus entlassen wurde. Sein Blick blieb kurz bei Isolde hängen, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er seine Lippen zusammenpresste. Es wirkte, als müsse er seinen Körper mit Gewalt daran hindern, etwas Unflätiges zu sagen. Isolde erwiderte lächelnd den Blick. Er schaute weg und ging mit großen Schritten zur Bühne. Isolde wusste, dass seine Weste nicht mal im Ansatz weiß war, und er wusste, dass sie es wusste. Sie zuckte mit den Schultern. Irgendwann würde er mit all seinen Täuschungen auffliegen, und dann nutzte ihm auch seine brillante Rhetorik nichts mehr.
Endlich war sie an der Reihe. Ihr Magen zog sich zusammen, ihre Finger zitterten. Es war genau diese Mischung aus Konzentration und Lampenfieber, die sie inspirierte. Der Veranstalter kündigte sie an.