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Nach »Vergewisserungen« nun ein weiterer Essayband von Bernhard Schlink: Das Thema, das sein literarisches Werk durchzieht, wird hier theoretisch und zugleich anschaulich erörtert. Schuld kann nicht nur einzelne Menschen betreffen, sondern ganze Generationen, nicht nur einzelne Taten, sondern ganze Abschnitte der Geschichte sie kann als Vergangenheitsschuld die Gegenwart belasten.
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Seitenzahl: 198
Bernhard Schlink
Vergangenheitsschuld
Beiträge zu einemdeutschen Thema
Editorischer Hinweis am Ende des Bandes
Die Erstausgabe erschien 2007
im Diogenes Verlag
Umschlagillustration:
August Macke, ›Weiden am Bach‹, 1912
Copyright © Stiftung Saarländischer Kulturbesitz/
Saarlandmuseum Saarbrücken
Foto: Gerhard Heisler, Saarbrücken
Für Michael Schröter
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2013
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 06597 8 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60390 3
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Inhalt
Vorwort [7]
Kollektivschuld? [11]
Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit [34]
Vergangenheit als Zumutung? [54]
Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht [80]
Die Gegenwart der Vergangenheit [112]
Unfähigkeit der Staatsrechtswissenschaft zu trauern? [124]
Sommer 1970 [142]
Vergeben und Versöhnen [170]
[7] Vorwort
Schuld kann nicht nur einzelne Menschen betreffen, sondern ganze Generationen, nicht nur einzelne Taten, sondern ganze Abschnitte der Geschichte. Die Abschnitte werden Vergangenheit und verdunkeln gleichwohl die Gegenwart – sie werden Vergangenheitsschuld.
Nach dem Dritten Reich ist Vergangenheitsschuld zur deutschen Erfahrung und zum deutschen Thema geworden, und sie ist es bis heute geblieben. Das liegt nicht allein an dem langen Schatten, den Krieg und Holocaust werfen. Ohne der nationalsozialistischen Vergangenheit zu gleichen, lastet auch die kommunistische Vergangenheit nicht nur auf einzelnen Tätern und betrifft nicht nur einzelne Taten, und sogar das studentische Aufbegehren und die terroristischen Anschläge der sechziger bis achtziger Jahre werden gelegentlich als Verirrung einer ganzen Generation wahrgenommen. Aber ihre eigentliche Bedeutung haben die Erfahrung und das Thema der Vergangenheitsschuld im Gefolge des Dritten Reichs gewonnen. Auch die Beiträge des Bandes gehen hiervon aus und kehren immer wieder hierher zurück.
Sie sind in den letzten 20Jahren entstanden. Die Erfahrung der Vergangenheitsschuld habe ich, wie viele meiner Generation, während der Schul- und Studienzeit in den sechziger und siebziger Jahren gemacht. Das Bedürfnis, [8] mich theoretisch mit ihr zu beschäftigen, haben in den achtziger Jahren wiederholte Aufenthalte in Amerika geweckt. Auch darin geht es mir wie vielen meiner Generation: Ich habe mich erst im Ausland als Deutscher entdeckt und akzeptiert.
Die Beiträge beginnen mit der Frage nach der Kollektivschuld der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration, wenden sich der Bewältigung von Vergangenheit durch Recht zu, der Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit und der Bewältigung schuldbelasteter Vergangenheit überhaupt, kehren zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zurück und bilanzieren die Bemühungen durch meine Generation und in meiner Wissenschaft, berichten von einem Stück Vergangenheit der siebziger Jahre und dem Problem, das seine Bewältigung in den Neunzigern gestellt hat, und schließen mit der Frage nach der Möglichkeit von Vergebung und Versöhnung ab. Sie folgen in der Reihenfolge aufeinander, in der ich sie geschrieben habe.
Manche Einsicht hat im Lauf der Jahre und Beiträge deutlichere Gestalt gewonnen. Die Vorstellung einer Kollektivschuld hat einen rationalen Gehalt; es gibt eine Verstrickung des einzelnen in die Schuld seiner und auch einer früheren Generation, und sie wirkt länger nach, als ich zunächst gedacht hatte. Vergangenheit wird weniger verdrängt und wurde auch in Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren weniger verdrängt, als ich gedacht hatte; wie ich schon in Amerika nach dem Vietnamkrieg hätte lernen können und in den neuen Ländern nach dem Fall der Mauer gelernt habe, gibt es nach historischen Veränderungen eine Erschöpfung, die bei den vielfältigen [9] Herausforderungen der Zukunft für die Beschäftigung mit der Vergangenheit einfach keine Kraft läßt. Das Recht hat einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung von Vergangenheit zu leisten, aber er liegt weniger, als ich gedacht hatte, in bestimmten Entscheidungen als in der Bereitstellung von Formen und Verfahren für das Finden der notwendigen Entscheidungen. Die kleine Episode aus den siebziger Jahren und ihr Nachspiel in den Neunzigern haben mich milder über die Schuld denken lassen, in die uns unsere gute Absicht verstrickt.
Mein Weggefährte bei der theoretischen wie literarischen Beschäftigung mit dem Thema der Vergangenheitsschuld war von Anfang an mein Freund Michael Schröter. Ich widme ihm den Band in Dankbarkeit für seine Kritik und seinen Rat und in Freude über das Glück unserer Freundschaft.
[11] Kollektivschuld?
I.
Für den Juristen bedeutet Schuld Vorwerfbarkeit. Schuldig ist, wen der Vorwurf trifft, er habe sich rechtswidrig verhalten, obwohl er zu rechtmäßigem Verhalten fähig war. Die Fähigkeit zu rechtmäßigem Verhalten setzt Einsicht und das Vermögen voraus, entsprechend der Einsicht zu handeln. Nach geltendem Recht eignet sie dem Erwachsenen voll, dem Jugendlichen bedingt und fehlt sie dem Kind; bis zum Alter von 13Jahren ist man schuldunfähig und strafunmündig, zwischen 14 und 17Jahren richten sich Schuldfähigkeit und Strafmündigkeit nach der individuellen Reife, und der Heranwachsende, der 18- bis 20jährige, wird zwar wie ein Erwachsener als schuldfähig und strafmündig angesehen, aber je nach individueller Entwicklung, Umweltbedingungen und Tatqualität u.U. wie ein Jugendlicher behandelt.
Juristisch und arithmetisch korrekt läßt sich die folgende Rechnung aufmachen: Von den gegenwärtig lebenden Deutschen können vor dem 9.Mai 1945 nur die schuldhaft gehandelt haben, die damals mindestens 14Jahre alt waren. Sie machen rund 15% der Deutschen des Jahres 2000 und rund 7% der Deutschen des Jahres 2010 aus; im Jahr 2025 wird kein Deutscher mehr leben, der im juristischen Sinn Schuld an dem tragen kann, was vor dem 9.Mai 1945 [12] geschehen ist. Das Ergebnis der Rechnung ist, daß die Deutschen ihre Schuld einfach aussitzen können, daß Freiheit von Schuld nicht die Gnade, sondern das Recht der späten Geburt ist.
Im juristischen Sinn kann nur der einzelne und kann der einzelne nur für sein eigenes Verhalten schuldig sein. Auch wenn er nicht Täter, sondern Teilnehmer ist, d.h. jemand anderen anstiftet oder durch Beihilfe unterstützt, ist es das eigene Anstifter- oder Beihelferverhalten, dessen er sich schuldig macht. Juristisch gibt es keinen Schluß von der Schuld eines Menschen auf die Schuld eines anderen; es gibt Schuldübertragungen weder in der Horizontalen, unter den Angehörigen einer Generation, noch in der Vertikalen, von der einen Generation auf die nächste. Kollektivschuld, bei der alle Glieder des Kollektivs schuldig sind, weil einige schuldig sind, ist mit dem juristischen Begriff der Schuld unvereinbar.
Das hat nichts mit juristischer Borniertheit zu tun. Es liegt nicht an der engen Sicht und dem kleinen Blick des Juristen, wenn der eingangs vorgestellte Schuldbegriff zu klein und zu eng ist, Schuld in der Horizontalen und in der Vertikalen, zwischen den Angehörigen einer Generation und zwischen den Generationen zu übertragen. Was den alltäglichen Begriff der Schuld vom juristischen unterscheidet, ist nur der Bezugspunkt: Der Vorwurf bezieht sich einmal auf Handlungen und Unterlassungen, die in Widerspruch zu Normen des geltenden Rechts stehen, das andere Mal auf Verhalten, das andere Normen verletzt, Normen der Religion, der Moral, des Takts, der Sitte und des Funktionierens von Kommunikation und Interaktion. Beidemal [13] wird an das eigene Verhalten eines einzelnen angeknüpft und für den Schuldvorwurf vorausgesetzt, daß der einzelne sich normwidrig verhalten hat, obwohl er zu normgemäßem Verhalten fähig war.
Mit diesem Schuldbegriff können für die Zeit zwischen 1933 und 1945 neben denen, die die Verbrechen begangen haben oder an ihnen beteiligt waren, auch die als Schuldige identifiziert werden, die Widerstand und Widerspruch unterlassen haben, obwohl sie dazu fähig waren. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der Norm, Verbrechen nicht nur nicht zu begehen, sich an ihnen nicht nur nicht zu beteiligen, sondern ihnen mit Widerstand und Widerspruch entgegenzutreten. Ich halte diese Norm auch für begründungsfähig und anerkennungswürdig. Aber der Vorwurf, gegen sie verstoßen zu haben, trifft wieder nicht alle Deutschen und ergibt keine Kollektivschuld. Denn auch er kann nur bei Fähigkeit zu normgemäßem Verhalten erhoben werden, und mögen noch so viele Deutsche ihr Mitlaufen und Mitjubeln kläglich und mit erfundenen Gefährdungen zu entschuldigen versucht haben, oft fehlte es an der Fähigkeit zu Widerstand und Widerspruch tatsächlich.
Die Angehörigen der nächsten Generation können nicht nur nicht der Täterschaft und Teilnahme an den nationalsozialistischen Verbrechen, sondern auch nicht des unterlassenen Widerstands und Widerspruchs schuldig sein. Gleichwohl empfinden viele von ihnen Betroffenheit und Befangenheit, Peinlichkeit und Scham: Betroffenheit bei der Konfrontation mit den Spuren der Verbrechen, Befangenheit bei der persönlichen Begegnung mit den Opfern, Peinlichkeit angesichts eines selbstgerechten und [14] selbstzufriedenen Auftrumpfens mit der Freiheit von Schuld und Scham, wenn man sich selbst oder diejenigen beim Auftrumpfen ertappt, die einem nahestehen und denen man sich zugehörig fühlt. Beispiele sind zahllos; ich empfand immer als beschämend, daß gerade die deutsche Linke sich in der Verurteilung der israelischen Politik besonders hervortun mußte, empfand als peinlich, daß Bundeskanzler Helmut Kohl in Israel die Gnade der späten Geburt wie ein Recht einforderte, und bin jedesmal wieder befangen, wenn ich dem von der Verfolgung gezeichneten Vater meines jüdischen Freundes begegne. Aber der Horizont dieser Empfindungen und der korrespondierenden Erwartungen ist einer des Takts und nicht des Rechts. Gewiß, auch der Taktlosigkeit kann man sich schuldig machen. Aber Taktlosigkeit ist doch nur Taktlosigkeit. Außerdem gilt wieder, daß ihrer nur die einzelnen schuldig sind, die sie selbst begehen, sich an ihr beteiligen oder ihr zu widerstehen oder zu widersprechen unterlassen.
II.
So scheint der kleine und enge, juristische wie alltägliche Schuldbegriff mit dem zusammenzustimmen, was in den achtziger Jahren ohnehin im Trend liegt: Aussitzen der schuldbeladenen Vergangenheit, Aussitzen in der fröhlichen Gewißheit, daß die Angelegenheit bald erledigt ist. Die Begleiterscheinungen des Trends lassen jedoch fragen, ob die Schuld wirklich derart begriffen und erledigt werden kann.
Der Trend wird begleitet und befördert von der [15] Bemühung um die Etablierung einer neuen, einer bundesrepublikanischen deutschen Identität. Der Bundestag will nicht mehr im Provisorium einer ehemaligen pädagogischen Akademie hausen, sondern in einem repräsentativen Symbol bundesrepublikanischer Staatlichkeit residieren; zum Abschluß des Fernsehprogramms schwenkt die Kamera unter den Klängen des Deutschlandlieds durch das weitwinkelvergrößerte Regierungsviertel am Rhein; Bonn will 1989 dem Grundgesetz ein Jubeljahr mit folkloristischem bis akademischem Pomp ausrichten; für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird ein Museum gebaut. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Die Geschichte, mit der wir leben, soll auf die Zeit seit 1949 verkürzt, die Zeit bis 1949 zur Vorgeschichte erklärt werden. Es liegt nicht an Fehlern der Regie, des Bühnenbilds oder der Choreographie, daß die Schaustellungen bundesrepublikanischer Staatlichkeit auf geschmacklose Weise an entsprechende Veranstaltungen der DDR erinnern. Es geht um die gleiche Sache. Die Bundesrepublik Deutschland holt die Etablierung einer eigenen Identität und Geschichte nach, die in der DDR vorgemacht wurde. Dort wurde sie von Anfang an nicht zuletzt darum betrieben, weil sie von Schuld entlasten sollte. Wenn die eigene Geschichte erst nach dem Krieg beginnt, kann es keinen Schuldzusammenhang mit dem geben, was in und vor dem Krieg geschah. Das leuchtet ein und setzt doch zugleich die Möglichkeit eines Schuldzusammenhangs und einer Schuldübertragung voraus, die mit dem eingangs vorgestellten Schuldbegriff eigentlich nicht vereinbar ist. Warum muß ein Schuldzusammenhang zerrissen werden, den es gar nicht gibt?
[16] Auch in meiner Disziplin, der Wissenschaft vom Staats- und Verwaltungsrecht, bildet sich die geschilderte Entwicklung ab. Zunehmend werden alte, seit dem Spätkonstitutionalismus tradierte Probleme behandelt, als seien sie erstmals in den frühen fünfziger Jahren aufgetaucht. Schon gleich nach dem Krieg setzte der Versuch, die Rechtswissenschaft auf neue Fundamente zu stellen, darauf, den Zusammenhang der Geschichte und damit auch der Schuld zu zerreißen. Er machte den juristischen Positivismus dafür verantwortlich, daß die Verbrechen des Dritten Reichs als rechtens ausgegeben werden konnten, und setzte ihm das Naturrecht entgegen. Der in der Weimarer Republik zum Positivisten ausgebildete Jurist habe jeden Befehl des nationalsozialistischen Staats als Recht anerkennen und ausführen müssen; nur in den Normen des Naturrechts finde der Jurist den Maßstab, der staatliche Befehle auf ihre Rechtlichkeit zu befragen gestatte. Sollte daher die im Dritten Reich sichtbar gewordene Verantwortungs- und Hilflosigkeit des Juristen für die Zukunft vermieden werden, gelte es, ihn und die Rechtswissenschaft auf das Naturrecht zu verpflichten. Diese Naturrechtsrenaissance hatte sowohl in der wissenschaftlichen Behandlung juristischer Probleme als auch in der Praxis der Gerichte erhebliche Bedeutung. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde durch sie auf Jahrzehnte geprägt; zwar hat das Bundesverfassungsgericht nur selten ausdrücklich von naturrechtlichen Ge- oder Verboten gehandelt, es hat aber die Ge- und Verbote des Grundgesetzes als Ausdruck von Werten und Niederschlag einer Wertordnung verstanden und sich mit dieser naturrechtlichen Betrachtungsart, [17] die hinter dem geschriebenen das eigentliche Recht sieht, den größten Freiraum gegenüber dem Text und der Struktur der Verfassung erobert.
Die Prämisse der Naturrechtsrenaissance war jedoch falsch. Der juristische Positivismus, der im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gepflogen wurde, war keine Befehlsbefolgungs- und -vollzugsideologie, vielmehr eine durch Formalität, Rationalität und Liberalität ausgezeichnete Methode der Bearbeitung und Anwendung des Rechts, die gegenüber der Irrationalität und dem Chaos nationalsozialistischen Rechts einige Sperrigkeit zeigte. Die nationalsozialistischen Juristen nannten und bekämpften Positivismus und Liberalismus in einem Atemzug, und ihre wissenschaftlichen Vertreter rekrutierten sich nicht aus denen, die in der Weimarer Republik Positivisten gewesen waren, sondern aus den anderen, die schon vor 1933 die Überwindung des Positivismus und die Orientierung der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft an neuen politischen Inhalten, Entscheidungen und Werten gefordert hatten. Der antipositivistische Affekt der Naturrechtsrenaissance war also keine Errungenschaft des Zusammenbruchs von 1945, sondern ein Erbstück des Umbruchs von 1933, und sogar die Werthaftigkeit und Wehrhaftigkeit der grundgesetzlichen Rechtsordnung konnte in Begriffen und Konstruktionen entfaltet werden, die vor 1945 entsprechend für die nationalsozialistische Rechtsordnung entwickelt worden waren. Das bekannte Beispiel ist das Beamtenrecht, wo die Formulierungen, die im Nationalsozialismus geprägt wurden, um den Beamten auf umfassende Gesinnungs- und Bekenntnistreue gegenüber dem nationalsozialistischen Staat [18] einzuschwören, unter Austauschung des nationalen Staats gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bis heute beibehalten werden. Ein anderes Beispiel bietet das Staatskirchenrecht, wo nach 1945 das gleichberechtigte Nebeneinander von Staat und Kirche wieder ebenso konstruiert wurde, wie im Dritten Reich das gleichberechtigte Nebeneinander von Staat und NSDAP nach staatskirchenrechtlichem Vorbild konstruiert worden war; wie ehedem die NSDAP sollte jetzt die Kirche, obwohl Körperschaft des öffentlichen Rechts, dem Staat nicht untergeordnet sein, sondern aus eigener Wesens- und Legitimationssphäre von gleich zu gleich gegenübertreten. Wieder ließen sich die Beispiele fortführen, und der Kontinuität der Begriffe und Konstruktionen entspricht die Kontinuität der die Begriffe und Konstruktionen ersinnenden und verwendenden Personen.
Als Versuch, den Zusammenhang der Geschichte und damit auch der Schuld zu zerreißen, hatte ich die Naturrechtsrenaissance gekennzeichnet. Was ich eben berichtet habe, klingt nicht nach Zerreißen, sondern nach Bewahren des geschichtlichen Zusammenhangs. Dies ist kein Widerspruch. Es zeigt an, daß der geschichtliche Zusammenhang nicht zerrissen, sondern nur im Versuch des Zerreißens verleugnet werden konnte. Mit der Wiederbesinnung auf das Naturrecht wurde versucht, die Vergangenheit zu verleugnen und einen neuen Anfang zu behaupten, die Integrität der Natur gegen die Schuld der Geschichte zu setzen. Wieder stellt sich die gleiche Frage: Warum muß ein Schuldzusammenhang verleugnet werden, den es nach dem eingangs vorgestellten Schuldbegriff gar nicht gibt?
Offensichtlich kann und konnte man sich nicht damit [19] beruhigen, daß unser Schuldbegriff weder in der Vertikalen noch in der Horizontalen Schuldzusammenhänge stiftet. Auch die Nachkriegsdiskussion um die Kollektivschuld zeigt, daß man damals keinen anderen Schuldbegriff, aber ein Schuldgefühl hatte, das die Grenzen unseres Schuldbegriffs zu sprengen scheint. Dasselbe Schuldgefühl mag sich auch in den erwähnten Empfindungen von Betroffenheit und Befangenheit, Peinlichkeit und Scham, Taktlosigkeit und Geschmacklosigkeit geltend machen.
Um Klarheit darüber zu gewinnen, was es mit diesem Schuldgefühl auf sich hat, werde ich hinter unseren Schuldbegriff zurückfragen. Rechtsgeschichtlich liegt ihm ein weiter gefaßter Begriff von Verantwortung, Haftung und Sühne voraus, der in dem unseren Schuldbegriff anscheinend sprengenden Schuldgefühl bewahrt sein könnte.
III.
Im alten germanischen Recht störte begangenes Unrecht den Rechtsfrieden nicht nur zwischen dem einzelnen Täter und seinem einzelnen Opfer, sondern zwischen der Sippe des Täters und der Sippe des Opfers. Nicht nur der Täter, sondern die Tätersippe war der Rache oder Fehde ausgesetzt, die umgekehrt nicht nur vom Opfer, sondern von der Opfersippe durchgeführt wurde. Entsprechend hatte auch die Tätersippe das Sühnegeld zu leisten und die Opfersippe es zu fordern. Diese kollektive Verantwortung, Haftung und Sühne, wirkte in der Horizontalen wie in der Vertikalen, ergriff Erwachsene wie Kinder. War das Opfer der [20] Tat ein Kind, so wurde als Racheopfer oft nicht der Täter selbst, sondern ein Kind der Tätersippe ausgewählt. Friedlosigkeit, Sanktion bei gegenüber der Gesamtheit begangenem Unrecht, entzog Frau und Kindern des Täters durch Wüstung und Fronung die Lebensgrundlage. Über dieses tatsächliche Betroffensein hinaus war ein rechtliches Einstehenmüssen der Kinder für die Taten der Eltern bei Hochverrat sowie später bei Häresie üblich, und aus dem Jahre 1320 ist für Nürnberg das Privileg überliefert, gemeingefährliche Bürger mitsamt ihren Kindern im Sack ersäufen zu dürfen. Wenn Familie und Sippe fehlten und auch als das Band der Sippe und der Familie schwächer wurde, ergriffen Verantwortung, Haftung und Sühne das nächstliegende und nächstwichtige Kollektiv; das germanische Recht kannte entsprechende Strafsanktionen gegen Gilden und Gemeinden.
Seit dem späten Mittelalter trat der Gedanke kollektiver Verantwortung, Haftung und Sühne zurück, um schließlich zu verschwinden. Aber noch im 19.Jahrhundert wurde in Deutschland darüber, ob Personenverbände schuldig und bestraft werden können, immerhin diskutiert, und der angelsächsische Rechtskreis kennt bis heute die Verhängung von Geldstrafen als Verbandsstrafen. Das heutige Völkerrecht verbietet Kollektivstrafen. Es läßt aber Repressalien gegen Kollektive zu, denen auch Vergeltungselemente eignen dürfen; feinsinnig heißt es in einem Handbuch des Völkerrechts, zwar erleide das einzelne Opfer der Repressalie, z.B. als Sühnegeisel, eine Strafe für eine Tat, deren es nicht schuldig sei, gleichwohl bleibe diese Strafe gegenüber dem Kollektiv eine bloße Repressalie.
[21] Die Gründe für das Zurücktreten und schließliche Verschwinden des Gedankens kollektiver Verantwortung, Haftung und Sühne sind vielfältig. Meist wird das kollektive Einstehenmüssen für eine Tat gar nicht unter den Schuldbegriff gefaßt. Wenn Schuld individuell und subjektiv definiert wird, dann liegt es nahe, das Einstehenmüssen für einen Erfolg, den ein anderer verursacht hat, als Erfolgshaftung von der Verschuldenshaftung zu unterscheiden. Schon das Einstehenmüssen des anderen knüpft an sein Verursachen des Erfolgs und nicht an sein Wissen und Wollen der Tat an und ist insofern Erfolgs- und nicht Verschuldenshaftung. Die Entwicklung, in der die kollektive Erfolgshaftung zurücktritt, erscheint dann zugleich als Entwicklung, in der sich die individuelle Verschuldenshaftung oder einfach der Schuldbegriff und das Schuldprinzip durchsetzen. Als Gründe für die Entwicklung treten dabei die Durchsetzung der christlichen Sündenlehre, die auf das subjektive Tatmoment und den Sanktionszweck der individuellen Läuterung abstellt, die Rezeption des römischen Rechts, das individualistisch konzipiert ist und außerdem für die Erfassung der subjektiven Tatseite das begriffliche und konstruktive Gerüst bereitstellt, und der Individualismus und Subjektivismus der Aufklärung hervor. Dabei kann der Schuldbegriff, wenn überhaupt, im Zusammenhang kollektiver Verantwortung, Haftung und Sühne nur als irrationaler Schuldbegriff anerkannt werden; als psychisches Phänomen, so heißt es in einer juristischen Abhandlung in Anlehnung an C. G. Jung, dehne sich die Schuld über den Täter auf die weitere menschliche und sogar örtliche Umgebung aus, ergreife Haus und Dorf und [22] Wald, wo die Tat geschehen, und sei ebenso irrational wie elementar.
Aber die Entwicklung, die unseren Schuldbegriff hervorgebracht hat, ist nicht nur durch die Durchsetzung der christlichen Sündenlehre, die Rezeption des römischen Rechts, das Wachsen und Blühen der Aufklärung gekennzeichnet und als Entwicklung von Irrationalität zu Rationalität zu sehen. Das Verschwinden der Sippenhaftung fällt mit der Auflösung der Sippenverbände zusammen; der mit der Feudalisierung verbundene Abstieg der Landbevölkerung läßt viele »für die Fehde zu niedrig und für die Buße zu arm« werden. Das Erstarken territorialer Herrschaft, die Monopolisierung der Anwendung von Gewalt beim Territorialherrn verlangen Rache- und Fehdeverbote. Ökonomisch wie politisch wandelt sich die Gesellschaft derart, daß der einzelne als einzelner Rechtsperson wird. Davor ist er Rechtsperson nicht aus sich selbst, sondern nur aus seiner Zugehörigkeit zum Rechts- und Schutzverband der Sippe oder auch Gilde und Gemeinde.
Diesen Rechts- und Schutzverband als Haftungsverband zu begreifen und zu gestalten ist nicht irrational. Die spezifische Rationalität, die dem Gedanken kollektiver Verantwortung, Haftung und Sühne innewohnt, zeigt sich besonders an den Möglichkeiten der Enthaftung, die das germanische Recht kannte. Die Tätersippe wurde von der Haftung frei, wenn sie sich vom Täter lossagte, ihn verstieß oder der Opfersippe preisgab. Dabei ging es auch um den Täter als Wirtschaftsfaktor; die Sippe war Wirtschaftsverband, lebte von der Arbeitskraft und -leistung ihrer Glieder und sollte von der Tat und dem Täter nicht auch noch [23] wirtschaftlich profitieren. Der Täter fiel mit der Preisgabe an die Opfersippe nach deren Wahl der Tötung oder Verknechtung anheim. Zu späterer Zeit trat an die Stelle der Preisgabe des Täters an die Opfersippe die an die öffentliche Gewalt. Die öffentliche Gewalt strafte auch die Gilde und die Gemeinde, wenn und weil sie sich vom Täter nicht losgesagt, ihn nicht bestraft oder ausgeliefert hatte. Der Gedanke, der hinter den Möglichkeiten der Enthaftung steht, ist klar: Das Kollektiv haftet, soweit es die Solidar- und auch Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Täter aufrechterhält, von ihm profitiert, ihn begünstigt und seine Bestrafung vereitelt. Die hier verwandten Begriffe der Strafvereitelung und der Begünstigung sind modern, und daß die öffentliche Gewalt die Gemeinschaft straft, wenn und weil diese nicht selbst das Verbrechen aufgeklärt und den Täter bestraft oder ausgeliefert hat, setzt die Existenz einer öffentlichen Gewalt voraus, von der im frühen germanischen Recht nur unzureichend und erst im Lauf des Mittelalters gesprochen werden kann. Aber die Enthaftung der Tätersippe durch Lossagung, Verstoßung und Preisgabe des Täters ist alt, und schon in ihr ist der Gedanke der Haftung des Kollektivs für selbstgewählte Solidarität und um dieser willen zu erkennen. Dieser Gedanke ist nicht auf den Begriff einer bloßen Erfolgshaftung im Gegensatz zur Verschuldenshaftung zu bringen. Hier wird nicht einfach für eine fremde Tat, sondern für die eigene Solidarität mit dem Täter eingestanden.
[24] IV.
Die Netze der Schuld, zu denen sich Handlungen derart verflechten, reichen weit. In ihnen verfängt sich nicht nur der Täter, sondern jeder, der zum Täter in Solidargemeinschaft steht und diese nach der Tat aufrechterhält. Juristisch verfängt er sich darin heute nur noch dann, wenn die Aufrechterhaltung oder Herstellung von Solidarität nach geltendem Recht als Strafvereitelung, Begünstigung oder Hehlerei zu beurteilen ist. Aber wir hatten schon oben gesehen, daß der Schuldbegriff nicht nur an die Normen des geltenden Rechts, sondern auch an andere Normen anknüpft, an Normen der Religion und der Moral, des Takts und der Sitte sowie des Funktionierens von Kommunikation und Interaktion. Die schuldstiftende Akzessorietät zur Tat, die in der Aufrechterhaltung oder Herstellung von Solidarität mit dem Täter liegt, muß zwar nach der geltenden Rechtsordnung die Gestalt der Strafvereitelung, Begünstigung oder Hehlerei annehmen. Das schließt aber nicht aus, daß sie nach anderen Normen schon in anderen, weniger direkten und intensiven Erscheinungsformen identifiziert und sanktioniert werden kann.
Ich meine, daß es diese Normen gibt. Die Aufrechterhaltung und Herstellung von Solidarität ist ein normativer Vorgang. Sie wird von normativen Erwartungen getragen und begleitet. Dabei sind unter normativen die Erwartungen zu verstehen, die kontrafaktisch, lernunwillig durchgehalten werden, im Unterschied zu den anderen Erwartungen, die lernbereit an den Tatsachen orientiert sind. Erklärt einer seine Solidarität mit einem anderen, dann erklärt er [25] damit, daß er mit dem anderen gleich geachtet und gleich behandelt werden will, obwohl er faktisch in einer anderen Situation als der andere ist. Jeder kann sehen, daß die beiden Situationen verschieden sind und daß insofern die Erwartung gleicher Achtung und gleicher Behandlung falsch ist. Gleichwohl wird die Erwartung nicht lernbereit aufgegeben, sondern lernunwillig durchgehalten; wer sich solidarisch erklärt, ist ebensowenig bereit zu lernen, daß er wegen der Andersartigkeit der Situation nicht gleich geachtet und behandelt werden kann wie der Außenstehende, der die Erklärung der Solidarität ernst nimmt. Der Preis für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Solidarität ist allerdings, daß man auch da gleich geachtet und behandelt wird, wo man es lieber nicht würde. Solange man die Solidarität mit einem anderen nicht aufkündigt, wird einem alles Verhalten des anderen zugerechnet.