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Du glaubst, niemand erinnert sich an die Wahrheit? Du irrst dich ...
Eine junge Frau steigt in einem kleinen englischen Dorf aus dem Zug. Ihre Tasche wurde gestohlen und mit ihr ihre Identität. Sie kann sich an nichts mehr erinnern. Noch nicht einmal an ihren Namen. Nur eines weiß sie noch: wo sie wohnt. Jetzt steht sie vor Tonys und Lauras Tür. Sie behauptet, dort zu leben. Die beiden behaupten, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Einer von ihnen lügt – und die Wahrheit ist so schockierend, dass sie das Leben der drei für immer zerstören könnte …
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Seitenzahl: 514
Buch
Eine junge Frau steigt in einem kleinen englischen Dorf aus dem Zug. Ihre Tasche wurde gestohlen und mit ihr ihre Identität. Sie kann sich an nichts mehr erinnern. Noch nicht einmal an ihren Namen. Nur eines weiß sie noch: wo sie wohnt. Jetzt steht sie vor Tonys und Lauras Tür. Sie behauptet, dort zu leben. Die beiden behaupten, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Einer von ihnen lügt – und die Wahrheit ist so schockierend, dass sie das Leben der drei für immer zerstören könnte …
Autor
J. S. Monroe studierte Englisch in Cambridge und schrieb nach dem Studium für fast alle renommierten Tageszeitungen Großbritanniens. Er arbeitete u. a. als Auslandskorrespondent für den »Daily Telegraph« und als Redakteur für »BBC Radio 4«. J. S. Monroe lebt mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern in Wiltshire.
Von J. S. Monroe bereits erschienen
Finde mich – bevor sie es tun
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J. S. Monroe
Vergiss nie
Ich weiß, wer du wirklich bist
Thriller
Deutsch von Christoph Göhler
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Forget my name« bei Head of Zeus, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2018 by J. S. Monroe
All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von oneinchpunch/Shutterstock.com und micharoth/photocase.de
JaB · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-24743-0V001
www.blanvalet.de
In Gedenken an Len Heath
Die zweite Art des Behaltens besteht in der Kraft, diese Vorstellungen in der Seele wieder zu erwecken, die nach deren Empfang verschwunden oder gleichsam bei Seite gelegt worden sind … Die menschliche Seele ist zu eng, um viele Vorstellungen auf einmal gegenwärtig zu haben; deshalb war eine Niederlage nöthig für die Vorstellungen, um sie zur gelegenen Zeit wieder hervorzusuchen.
John Locke über das Erinnern, in: Versuch über den menschlichen Verstand. Band 1, Berlin 1872, übersetzt von J. H. von Kirchmann.
Tag eins
1
Ich weiß meinen Namen nicht mehr.
Ich wiederhole den Satz wie ein Mantra, bemühe mich, ruhig zu bleiben, bemühe mich, ihn in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen. Losgerissen von den Ufermauern meines alten Lebens, kann ich mich nun nur noch von der Gegenwart treiben lassen.
Hinter dem Zugfenster gleitet die Landschaft vorbei. Starrt mein Gegenüber mich an? Ich studiere sein Spiegelbild in der Scheibe. So muss es sich anfühlen, wenn man den Verstand verliert. Irgendwo aus meinem Hinterkopf rollen Kopfschmerzen an. Atme. Du schaffst das.
Meine Beine beginnen zu zittern. Ich presse die Füße gegen den Abteilboden, immer abwechselnd, und konzentriere mich auf den Kanal, der jetzt entlang der Bahnstrecke verläuft. Ich muss wachsam bleiben, tapfer bleiben. Wie würden sich normale Menschen in so einer Situation verhalten? Sie würden sich eine Auszeit nehmen, den Gedanken eine Zeitlang einfach ihren Lauf lassen. Die Synapsen feuern lassen. Wahrscheinlich hat jeder Zweite in diesem Abteil schon irgendwelche Dinge vergessen: den Geburtstag des Partners, Hochzeitstage, PIN-Nummern, den eigenen Namen …
Als wir die Station erreichen, deren Name auf meiner Fahrkarte steht, steige ich aus, fülle meine Lunge mit frischer Landluft und marschiere in einer Kolonne müder Pendler im Zickzack zur Straße hinauf. Müsste ich einen von ihnen kennen? Die Rushhour hat gerade erst begonnen. Links tastet sich ein Fluss durch eine Wiese, das flache Wasser funkelt in der Sommersonne. Schafe blöken in der Ferne, von dem Cricketfeld bei der Kirche steigt ein Jubelschrei auf. Dahinter Rapsfelder, gelb wie englischer Senf. Und dann ist da noch der Kanal, an dessen Uferpfad reihenweise bunt lackierte Kanalboote vertäut liegen.
Das Dorf liegt nur eine Stunde Bahnfahrt von London entfernt, aber es ist ungeheuer ländlich. Idyllisch. Ich nehme die Brücke über die Gleise, dann gehe ich die Hauptstraße hinauf, an einem Briefkasten vorbei und versuche dabei einen klaren Gedanken zu fassen. Ich weiß, dass ich das Richtige tue. Als ich am Flughafen meine verloren gegangene Handtasche melden wollte, sagte der Mann am Schalter, dass eine temporäre Amnesie durch alles Mögliche ausgelöst werden könne, aber dass arbeitsbedingter Stress einer der häufigsten Gründe sei. In so einem Fall sei man zu Hause am besten aufgehoben. Wo die Post auf der Fußmatte hinter der Tür liegt, Briefe mit einem Namen auf dem Umschlag. Und als er mich fragte, ob ich nach Hause finden würde, zog ich ein Zugticket aus der Jackentasche, und wir kamen beide überein, dass ich dort wohnen muss.
Am Pub, dem Slaughtered Lamb, biege ich nach rechts in eine schmale Straße mit alten strohgedeckten Häusern ab. Eigentlich sollte ich erleichtert sein, während ich auf das letzte Haus auf der rechten Seite zusteuere, ein kleines Cottage mit petrolgrüner Tür und Girlanden von Glyzinien, aber ich bin es nicht.
Ich habe entsetzliche Angst.
Ich versuche mir auszumalen, wie ich die Haustür hinter mir schließe, mich mit einem großen Glas kaltem Sauvignon blanc aufs Sofa fallen lasse und mir irgendwelchen Trash im Fernsehen ansehe. Nur dass ich keinen Schlüssel habe. Ich bleibe vor dem Haus stehen, schaue die Straße auf und ab und höre plötzlich eine Stimme hinter der Haustür. Mit amerikanischem Akzent. Mich überläuft ein eisiger Schauer.
Ich trete vor das Fenster und versuche etwas zu erkennen. Zwei Menschen bewegen sich in der Küche, zwei Silhouetten im Licht der tief stehenden Sonne, die durch die doppelte Glastür zum Garten hereinstrahlt. Ich starre die beiden an und kann kaum atmen. Mein Blick bleibt an dem Mann hängen, der mit einem großen Stahlmesser, in dem sich das Licht spiegelt, an einer Kücheninsel Salat hackt. Ich will mich abwenden, die Flucht über die Straße antreten, aber ich zwinge mich, ihm beim Schneiden zuzusehen. Hinter ihm steht eine Frau an einem Keramikspülbecken und füllt einen Stieltopf mit Wasser.
Ich gehe zurück zur Haustür, überprüfe die Nummer. Es ist das richtige Haus. Meine Finger zittern zu stark, als dass ich die Klingel drücken könnte. Stattdessen umklammere ich mit beiden Händen den schmiedeeisernen Klopfer und schlage ihn gegen die Tür, den Kopf gesenkt wie eine Bittstellerin beim Gebet. Om mani padme hum. Keine Reaktion, also klopfe ich noch mal.
»Ich gehe schon«, sagt der Mann.
Ich trete einen Schritt zurück auf die Straße und kippe fast hintenüber, als die Tür aufgeht.
»Ja bitte?« Der Mann lächelt schwach und unsicher.
Mir wird schwindlig. Wir starren einander eine Sekunde an, suchen beide nach irgendetwas, einer Erklärung, einem Erkennen. Ich merke, dass ich den Atem anhalte. Er schaut auf meinen Koffer und dann wieder mich an. Ich sehe ihn so lange an, wie ich kann – eine Sekunde, zwei, drei –, dann wende ich mich ab.
Ich weiß, dass ich jetzt etwas sagen sollte – Wer sind Sie? Was zum Teufel tun Sie in meinem Haus? Bitte sagen Sie mir, dass das alles nicht wahr ist, nicht nach allem, was ich heute durchgemacht habe –, aber ich bleibe stumm. Sprachlos.
»Falls Sie etwas zu verkaufen haben, wir sind nicht interessiert«, sagt er und macht Anstalten, die Tür zu schließen. »Tut mir leid.«
Ich erkenne den Akzent wieder. Die arroganten, vertrauten New Yorker Laute. Noch einmal sieht er auf meinen Koffer. Bestimmt denkt er, er sei voller Ofenhandschuhe und Bügelbrettbezüge oder was auch immer heutzutage noch an der Haustür verkauft wird.
»Warten Sie«, bitte ich ihn, dankbar, dass ich nicht vergessen habe, wie man spricht. Meine Stimme irritiert ihn. Brülle ich vielleicht? In meinen Ohren beginnt es zu klingeln.
»Ja?«, fragt er. Sein Gesicht ist hager, aufmerksam, die tief liegenden Augen himmelblau, ein gepflegter Goatee, die Haare zum Pferdeschwanz gebündelt. Ich spüre, dass es ihm schwerfällt, jemandem die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
»Wer ist da, Schatz?«, ruft eine Frauenstimme hinter ihm. Eine englische Stimme.
Sein Lächeln wirkt nun in seiner Intensität fast heiter. Fleurs Gesicht schwebt mir vor Augen, ebenfalls mit einem flüchtigen Lächeln auf den Lippen. Ich lege einen Finger auf das Tattoo an meinem Handgelenk, das verborgen unter meinem Blusenärmel liegt. Ich weiß, dass wir das gemeinsam haben: eine wunderschöne Lotosblüte, lila, halb geöffnet. Wenn ich mich nur an mehr erinnern könnte.
»Ich wohne hier«, bringe ich schließlich heraus. »Ich war auf Geschäftsreise. Das ist mein Haus.«
»Ihr Haus?« Er verschränkt die Arme und lehnt sich in den Türrahmen. Er ist gut gekleidet – mit einem floral gemusterten Hemd, das bis zum Kragen zugeknöpft ist, einer dünnen dunkelgrauen Strickjacke und irgendwelchen Designerjeans. Er findet meine Behauptung eher amüsant als befremdlich und schaut die Straße einmal hoch und runter – hält er vielleicht Ausschau nach versteckten Fernsehkameras, einem Moderator mit einem Mikrofon in der Hand? Vielleicht ist er einfach nur froh, dass ich ihm keine Aloe vera verkaufen will.
»Mein Hausschlüssel war in meiner Handtasche, aber die ging auf dem Flughafen verloren, zusammen mit meinem Pass, Laptop, iPhone, Geldbeutel …« Meine Worte verhallen, das Klingeln in meinen Ohren ist inzwischen unerträglich. »Ich wollte mir gerade den Ersatzschlüssel bei den Nachbarn holen und dann die Polizei anrufen …«
Der Boden kommt mir entgegen. Ich zwinge mich, den Mann wieder anzusehen, aber ich sehe nur Fleur, die in ihrer Wohnungstür steht und fragt, ob ich hereinkommen möchte. Ich hole tief Luft, visualisiere einen Bodhi-Baum, eine lagernde Gestalt unter den kraftspendenden, heiligen Ästen. Es hilft nichts. Nichts funktioniert. Ich dachte, ich könnte es schaffen, aber ich habe mich getäuscht.
»Kann ich reinkommen?«, frage ich, denn mein Körper schwankt unkontrollierbar. »Bitte?«
Eine Hand an meinem Ellbogen fängt meinen Sturz ab.
2
»Sie ist schön.«
»Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Hör schon auf, sie sieht umwerfend aus.«
»Sie braucht Hilfe.«
»Die Arzthelferin hat gesagt, sie würden in fünfzehn Minuten zurückrufen.«
Ich liege mit geschlossenen Augen da und lausche. Sie sind in der Küche, wo ich sie bei meinem ersten Blick durchs Fenster sah, und ich bin in dem kleinen Wohnzimmer auf der Vorderseite des Hauses. Seine Stimme klingt zuversichtlich, selbstbewusst. Sie spricht zögerlicher, leiser. Nach meinem Ohnmachtsanfall an der Türschwelle bin ich auf dem Sofa wieder zu mir gekommen und habe ein paar Worte mit der Frau gewechselt, die übrigens Laura heißt. Ich versicherte ihr, dass mir nichts weiter fehlen würde und ich nur ein paar Minuten die Augen schließen müsste, bis sich der Schwindel legen würde. Das war vor fünf Minuten.
»Geht es Ihnen wieder besser?«, fragt Laura, die eben ins Wohnzimmer kommt.
»Ein bisschen«, antworte ich. »Vielen Dank.«
Sie hat eine große Tasse mit frischem Pfefferminztee in der Hand. Mir wird bewusst, dass mein Blusenärmel nach oben gerutscht ist und das Lotos-Tattoo zur Hälfte zu sehen ist.
»Der ist für Sie«, sagt Laura und stellt den Tee auf dem niedrigen indischen Tisch vor dem Sofa ab. Die Tasse ist mit einer gezeichneten Yogakatze in der Stellung des Kriegers bedruckt. Unwillkürlich strecke ich den Rücken durch.
»Wir haben die Arztpraxis hier im Ort angerufen«, fährt Laura fort und sieht dabei auf mein Handgelenk. »Die Ärztin will gleich zurückrufen.«
»Danke«, sage ich wieder mit schwacher Stimme.
»Immer noch schwindlig?«
»Ein wenig.«
Ich beuge mich vor und greife nach dem Tee. Laura ist Anfang dreißig. Sie trägt dreiviertellange Leggins und ein fluoreszierendes Sporttop, als wollte sie gleich joggen gehen; und sie ist in Form: groß und geschminkt, das Haar zu einem straffen Knoten zusammengefasst, leuchtende Haut. Fast zu gut, um wahr zu sein, wären da nicht die auffälligen Ringe unter ihren Augen.
»Tony sagt, Sie hätten geglaubt, das sei Ihr Haus«, erklärt sie mir möglichst fröhlich. Ich trinke einen Schluck heißen, honigsüßen Pfefferminztee und wünsche mir, er würde die eisige Furcht in meinem Magen vertreiben. »Er meinte, Sie wollten einen Schlüssel holen. Von unseren Nachbarn.«
Sie bringt ein kurzes Lachen heraus, hält dann inne und dreht sich weg.
»Es ist mein Haus«, flüstere ich, während ich meine Hände an der Tasse zu wärmen versuche.
Ich spüre, wie sie sich sträubt. Nicht sichtbar – dafür kommt sie mir zu freundlich vor –, es ist nur eine ganz leichte Kalibrierung. Tony, der offenbar zugehört hat, tritt in die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche.
»Danke für den Tee«, versuche ich herzlich zu bleiben. »Und dass Sie einen Arzt angerufen habe. Bestimmt geht es mir gleich wieder besser.«
»Nicht wenn Sie immer noch glauben, dies wäre Ihr Haus«, erklärt Tony. Er lächelt, aber in seinem Tonfall liegt ein Anflug von Besitzanspruch. Mein Tattoo ist immer noch sichtbar. Nach ein paar Sekunden ziehe ich beiläufig den Ärmel nach unten, um es zu bedecken.
Ich nehme noch einen Schluck Tee und schaue mich in dem niedrigen Raum um. Nirgendwo liegt ein Staubfusel, alles steht an seinem Platz. Ein großer, in die Wand eingelassener Kamin mit einem integrierten Holzofen; auf der einen Seite ein Stapel Scheite, rund wie Gebetsrollen und akkurat aufgeschichtet; eine Kollektion von Yoga- und Selbsthilfebüchern in einem kleinen Regal, der Größe nach geordnet; ein hölzernes Solitaire-Brettspiel mit allen Kugeln in Position. Selbst die Raumduftstäbchen aus der Seychellen-Kollektion der The White Company stehen in perfektem Abstand zueinander. Die Ausstattung mag ungewohnt sein, aber die Proportionen des kleinen Hauses sind mir vertraut.
»Ich bin hergekommen, weil …« Das tiefe Gefühl in meiner Stimme überrascht mich, und ich zögere kurz. »Meine Arbeit hat mich in letzter Zeit sehr gefordert. Und heute, nach dem Rückflug von einer Konferenz, ist auf dem Flughafen meine Handtasche verschwunden. Ich wollte das melden, aber auf einmal fiel mir nicht mehr ein, wie ich heiße.« Wieder halte ich inne.
»Aber jetzt wissen Sie es wieder?«, fragt Laura und wendet sich an Tony. »Wir haben alle unsere blonden Momente.«
Tony wendet den Blick ab.
Ich schüttele den Kopf. Ich weiß meinen Namen nicht mehr. »Das Einzige, woran ich mich am Flughafen erinnern konnte, war meine Adresse. Ich dachte, wenn ich es nur hierherschaffe, in mein Haus, diesen Zufluchtsort, würde sich alles andere schon finden. Und das Einzige, was mir geblieben war, war das Zugticket hierher. Es war in meiner Tasche.«
»Ihren Koffer hatten Sie auch noch.« Tony deutet zur Haustür, wo er aufrecht stehend wartet, mit hochgerecktem Griff. »Wo war denn diese Konferenz?«, fragt er. Inzwischen klingt Tony interessierter, weniger abweisend.
Ich merke, wie mir die Tränen einschießen, und tue nichts, um sie aufzuhalten. »Das weiß ich nicht mehr.«
»Schon okay«, sagt Laura und setzt sich neben mir aufs Sofa. Ich merke, dass ich froh bin über den Arm, den sie um meine Schultern legt. Es war ein schwieriger Tag.
»Es müsste ein Gepäckanhänger am Griff sein«, sagt Tony und geht zum Koffer.
»Der ging unterwegs verloren. Noch bevor ich den Koffer vom Gepäckband nahm.«
Er sieht mich an, während mir die Stimme versagt. Ich sehe mich wieder in der Ankunftshalle auf einem abgestellten Gepäckkarren sitzen und auf dieselben fünf, sechs Koffer starren, die vor mir Karussell fuhren. Bis irgendwann meiner auftauchte, vor einem großen, unförmigen, in blaues Plastik und Packband gehüllten Paket. Kurz leuchtete in meinem Kopf ein Bild von Fleur auf, mit eingefaltetem Körper wie ein Schlangenmensch, nichts als Ellbogen und Knie.
»Und Sie können sich absolut nicht erinnern, wo diese Konferenz war?«, fragt Tony.
»Möglicherweise in Berlin.« Wieder treibt ein Bild von Fleur an die Oberfläche: wild tanzend und mit strahlenden Augen. Ich blinzele, und sie ist verschwunden, in schwarzer Tiefe versunken.
»Berlin?«, wiederholt er, unfähig, seine Überraschung zu verhehlen. »Das ist doch ein Anfang. Fluglinie?«
»Ich kam am Terminal 5 an.«
»British Airways. Wissen Sie noch, um welche Uhrzeit?«
»Heute Morgen.«
»Früh?«
»Ich weiß es nicht. Tut mir leid. Ich bin direkt hierhergefahren. Vielleicht am späten Vormittag? Frühen Mittag?«
»Und Sie wissen nicht mehr, wie Sie heißen?«
»Tony«, mischt sich Laura ein.
Ich fange wieder an zu schluchzen, denn wenn jemand anderes es ausspricht, klingt es viel schlimmer. Ich muss stark bleiben, einen Schritt nach dem anderen tun. Laura nimmt mich wieder in den Arm.
»Ich weiß nur, dass ich hier zu Hause bin«, sage ich und tupfe mit dem Taschentuch, das sie mir hinhält, meine Augen trocken. »Im Moment kann ich mich ausschließlich daran erinnern. An mein Heim.«
»Aber Sie wissen, dass das unmöglich ist«, wendet Tony ein. »Ich kann Ihnen die Kaufurkunde zeigen.«
»Schon okay«, fällt ihm Laura ins Wort und schaut wieder zu Tony auf, der sich daraufhin uns gegenüber auf ein zweites Sofa fallen lässt. »Wir sollten die Polizei rufen«, schlägt sie vor. »Ihre Telefonnummer hinterlassen – falls Ihre Tasche am Flughafen abgegeben wird.«
Es bleibt still, während ihre Worte sich wie Staub im Raum setzen und von den uralten Schamottesteinen am Kamin absorbiert werden, bis nichts mehr davon übrig ist.
»Das würde wohl wenig bringen, oder?«, meint Tony nach ein paar Sekunden deutlich leiser. »Nicht solange sie nicht weiß, wie sie heißt.«
Wieder Schweigen. Ich muss ihnen alles erzählen, was ich über dieses Haus weiß, alle Details nennen, die ich mir ins Gedächtnis rufen kann.
»Mein Schlafzimmer ist oben links auf dem Flur, das zweite Zimmer gegenüber ist gerade groß genug für ein Doppelbett«, beginne ich. »Daneben ist das Bad – Duschkabine in der Ecke, eine Badewanne unter dem Fenster. Hinter dem Bad gibt es noch ein kleines Zimmer, eher eine Kammer als ein Schlafzimmer, und darüber einen Speicher.«
Laura sieht Tony an, der mich ungläubig anstarrt.
»Hinten im Garten steht ein Backsteinhäuschen, wie geschaffen für ein Arbeitszimmer«, fahre ich fort. »Und im unteren Bad gibt es noch eine Dusche.«
Ich will noch weiterreden, ihnen von der Speisekammer neben der Küche erzählen, aber da läutet das Telefon.
»Das wird die Arztpraxis sein«, sagt Laura und nimmt das Telefon von dem Kaffeetisch vor uns. Ich ahne, dass sie froh über die Unterbrechung ist.
Ich sitze still da, während Laura der Ärztin von der Unbekannten erzählt, die eben vor ihrem Haus aufgetaucht ist und behauptet, sie würde darin wohnen. Tony ist wieder aufgestanden und massiert ihr den Rücken, während sie redet. Ich wende den Blick ab, schließe die Augen. Das alles ist zu viel für mich.
»Genau, sie sagt, dass sie sich nicht erinnern kann, wie sie heißt … wo sie war … Sie behauptet, dass sie hier wohnen würde … Das habe ich sie nicht gefragt.« Sie deckt das Telefon mit einer Hand ab. »Die Ärztin fragt nach Ihrem Geburtsdatum?«
Lauras Miene lässt darauf schließen, dass sie schon weiß, wie zwecklos diese Frage ist. Ich schüttele den Kopf.
»Weiß sie auch nicht.« Laura hört eine Weile zu und spricht dann weiter: »Sie hat ihren Pass am Flughafen verloren und dazu ihre Bankkarten, den Laptop« – ein kurzer Blick auf mich – »und alle anderen Ausweise.« Ich nicke. Sie lauscht wieder, diesmal länger. Offenbar kennt sie die Ärztin recht gut, vielleicht sind sie befreundet. Noch einmal schließe ich die Augen, blende das Gespräch für ein paar Sekunden aus und konzentriere mich auf meine Atmung.
»Danke, Susie. Das weiß ich wirklich zu schätzen.« Sie legt das Telefon ab. »Dr. Patterson, eine der Ärztinnen hier in der Praxis, wird Sie heute Abend untersuchen. Ein persönlicher Gefallen. Sie wollte Sie direkt in die Notaufnahme schicken, damit Sie sich dort auf mögliche physische Ursachen untersuchen lassen – Kopfverletzung, Schlaganfall, so etwas –, aber ich habe ihr das ausgeredet. Wir waren letzte Woche dort, und es war die reinste Hölle, nicht wahr, Schatz?« Sie sieht Tony an, der mitfühlend nickt.
»Sechs Stunden«, sagt sie dann.
Ich verziehe das Gesicht bei der Vorstellung, so lang in dem Warteraum eines Krankenhauses zu sitzen.
»Weil Sie in der Praxis nicht registriert sind, läuft der Termin unter meinem Namen.«
»Danke«, sage ich. »Bitte verzeihen Sie, dass ich einfach so hier auftauche.«
»Haben Sie schon mal von einer sogenannten psychogenen Amnesie gehört?«, fragt Laura.
Tony sieht auf.
»Susie, ich meine Dr. Patterson, hat das eben erwähnt. Ein größeres Trauma oder Stress können einen vorübergehenden Gedächtnisverlust auslösen. Fugue-Zustand nannte sie das, glaube ich. Sie wird Ihnen das genauer erklären. Aber die Erinnerung kommt zurück. Im Lauf der Zeit. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Sie berührt meine Hand.
»Gut zu wissen«, sage ich. »Darf ich Ihre Toilette benutzen?«
»Natürlich.«
»Sie wissen ja, wo sie ist«, sagt Tony und tritt einen Schritt zurück, damit ich vorbeikann.
Ich antworte nicht. Von der Küche aus die erste Tür links.
3
Als ich ins Zimmer zurückkomme, ist Tony am Telefon und wartet darauf, mit jemandem verbunden zu werden. Sobald er mich sieht, dreht er mir den Rücken zu.
»Tony ruft eben bei der Polizei in Heathrow an«, sagt Laura. »Und meldet dort Ihre verlorene Handtasche. Er will ihnen erklären, dass Sie bei uns sind und Schwierigkeiten haben, sich zu erinnern. Bestimmt wurde bei der Passkontrolle aufgezeichnet, wer heute aus Berlin angekommen ist, und sie können Ihr Foto mit den Aufnahmen abgleichen.«
»Ich hänge gerade in der Warteschleife des Heathrow Terminal 5 Safer Neighbourhoods Teams.« Tony hat mit einer Hand das Mobilteil abgedeckt und verdreht die Augen. »Nicht gerade vertrauenerweckend, wie?« Doch seine Frustration schmilzt sichtbar dahin, als er mich ansieht. »Wie geht es Ihnen?«
Ich lächle matt und setze mich neben Laura auf das Sofa. »Wann ist der Termin bei der Ärztin?«
Laura sieht auf ihre Uhr, eine lila Fitbit. »In zwanzig Minuten. Ich überlege die ganze Zeit, ob wir sonst noch jemanden anrufen könnten. Vielleicht Ihre Eltern? Freunde? Einen Partner?«
Ich senke den Kopf, meine Unterlippe beginnt zu beben.
»Tut mir leid«, sagt Laura. »Das wird bestimmt wieder. Sie müssen Ihren Geist nur zur Ruhe kommen lassen.«
»Wurde auch Zeit«, sagt Tony und verschwindet mit dem Telefon in die Küche. Er dreht sich kurz zu Laura um und lächelt.
»Er ist kein großer Fan der Polizei.« Laura sieht von Tony auf mich und kann ein kurzes Kichern nicht unterdrücken. »Dauernd wird er geblitzt.«
»Ich hatte wirklich eine Freundin«, sage ich. »Ich hatte ein Foto von ihr in meiner Handtasche.«
»Wissen Sie, wo sie wohnt?«, fragt Laura hoffnungsvoll. »Dann könnten wir sie anrufen.«
»Sie ist gestorben.«
Ich verstumme und versuche, mir Fleurs Gesicht vor Augen zu rufen. Und dann sehe ich sie mit angezogenen Knien in der Badewanne sitzen und weinen. Ich versuche das Bild festzuhalten, es zu erweitern, doch es löst sich gleich wieder auf.
»Mehr weiß ich nicht«, ergänze ich.
In dem betretenen Schweigen, das daraufhin einsetzt, hören wir beide Tony in der Küche telefonieren. Er erklärt, dass meine Handtasche verloren ging und ich mich nicht an meinen Namen erinnern kann; anschließend liefert er eine kurze Beschreibung von mir, wobei er durch die Glastür zu uns herüberschaut. »Kurze dunkle Haare, vielleicht Ende zwanzig? Businesskostüm, ein Koffer … Wir werden gleich mal reinschauen … Sie ist heute Vormittag, vielleicht auch am frühen Mittag, am Terminal 5 gelandet. Vermutlich mit einem British-Airways-Flug aus Berlin … Sie sagt, die Handtasche sei in der Ankunftshalle verloren gegangen oder vielleicht gestohlen worden.«
Wieder wird mir übel, als ich höre, wie mich jemand anders beschreibt. Laura spürt mein Unbehagen und legt eine Hand auf meinen Arm. Sie ist sehr berührungsfreudig. Ihr Gesicht schwebt dicht vor meinem. Zu dicht.
»Noch einen Tee?«
»Ich bin okay, danke.«
»Sollen wir Ihren Koffer aufmachen?«
Ich will aufstehen, aber Laura ist schon aufgesprungen.
»Ich hole ihn«, sagt sie.
Gerade als Laura den Koffer ins Zimmer rollt, hat Tony sein Telefonat beendet.
»Sie haben mir eine Webseite genannt, auf der alle Fundstücke auf dem Flughafen aufgeführt werden«, sagt er zu uns beiden, »aber keine voreiligen Hoffnungen. Es dauert bis zu achtundvierzig Stunden, bevor ein Gegenstand dort registriert wird.«
»Was ist mit ihrem Namen? Werden die Passagierlisten überprüft?«, fragt Laura.
»Die Polizei hat Besseres zu tun. Niemand ist in Gefahr, der Frieden ist nicht bedroht. Sie meinten, das sei eher was für den Sozialdienst. Irgendwas Brauchbares da drin?«
Laura lässt mich den Koffer öffnen.
»Nur Kleidung, glaube ich.« Ich gehe auf die Knie und hebe den Kofferdeckel an. Obenauf liegen zwei schwarze Höschen, ein cremefarbenes Leibchen und ein schwarzer BH. Laura sieht zu Tony auf, der in respektvollem Abstand hinter ihr steht. Ich durchsuche die Kleider darunter: ein weiteres schwarzes Kostüm wie das, das ich trage, mit korrekt gefaltetem Blazer und dem Rock darunter; drei Blusen, eine Jeans, zwei T-Shirts, noch ein BH, ein Paar Highheels, zwei Taschenbücher, eine Schachtel Tampons, ein Kulturbeutel, Sportsachen, eine Plastiktüte voller schmutziger Strumpfhosen und eine aufgerollte Yogamatte.
»Offenbar waren Sie länger weg«, stellt Laura fest.
»Sieht so aus«, sage ich und fange hektischer an zu suchen. »Hier drin muss doch irgendwas sein, das mir verrät, wer ich bin.«
»Sie machen Yoga?«
»Sieht so aus«, wiederhole ich und wühle weiter. Om mani padme hum.
»Ich unterrichte Yoga. Vinyasa. Vielleicht machen wir zusammen eine Session? Das könnte helfen.«
»Das wäre nett.«
Laura macht mir ein immer schlechteres Gewissen. Seit ich auf ihrer Türschwelle aufgetaucht bin, war sie die Güte in Person. Ich lasse mich auf die Fersen sinken und klappe in einer resignierten Geste den Koffer zu.
»Keine Angst«, sagt sie und hat schon wieder die Hand auf meinen Unterarm gelegt.
»Kein Tagebuch?«, fragt Tony, während er sich neben Laura auf das Sofa setzt. »Keine Hotelrechnung?«
»Ich glaube, das war alles in der Handtasche. Tut mir leid.«
»Sie können doch nichts dafür«, sagt Laura.
»Darf ich Sie etwas fragen?« Tony sieht Laura an. Ich habe den Eindruck, dass sie manchmal Bedenken hat, was er als Nächstes sagen könnte. »Können Sie sich an irgendwas erinnern, was heute früher am Tag passiert ist? Bevor Sie vor einer halben Stunde an unsere Tür geklopft haben?«
Ich nicke.
»An Ihre Fahrt hierher?«
»Ja.«
»Aber nicht an den Flug?«
»Tony?«, unterbricht ihn Laura, eine Hand auf seinem Knie. Er legt seine Hand auf ihre.
»Schon okay«, sage ich.
Laura will mich schützen, sie meint es gut mit mir, aber ich muss Tonys Fragen beantworten, so schwierig ich sie auch finde.
»Ich glaube, es ist passiert, als ich zum Schalter für verloren gegangenes Gepäck ging. Als mich der Mann am Schalter nach meinem Namen fragte und ich ihm nicht antworten konnte, brach von einem Augenblick zum nächsten alles zusammen.«
»Das überrascht mich nicht«, sagt Laura. »Kein Wunder, dass man da die Orientierung verliert.«
»Ein Albtraum«, pflichtet Tony ihr mitfühlender bei.
»Die paar Minuten zuvor, als mein Koffer auf dem Gepäckband auftauchte, sind mir noch im Gedächtnis, aber … davor rein gar nichts.« Mir wird wieder schwindlig.
»Und an Ihre Familie können Sie sich überhaupt nicht erinnern?«, fragt Tony.
»Ich glaube, wir sollten es gut sein lassen«, sagt Laura und steht auf. »Bis sie untersucht wurde. Wir müssen langsam los.«
»Ich bin okay, ehrlich.« Ich sehe Tony an, der mich aufmerksam betrachtet.
»Und Ihr Name? Rein gar nichts?«
Ich schüttele den Kopf.
»Für mich sehen Sie wie eine Jemma aus«, fährt Tony fort und lässt sich ins Sofa zurückfallen. »Sie sind definitiv eine Jemma.«
Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Jemma mit J«, stellt er klar.
Laura sieht erst mich, dann Tony an.
»Also, Jemma, du kannst bei uns bleiben, wenn du möchtest, im Gästezimmer«, erklärt er verbindlich. Ein Aufblitzen des heiteren Lächelns, das er mir vorhin geschenkt hat, als ich vor seiner Tür stand. »Ein paar Tage, bis sich alles geklärt hat. Das ist bestimmt nicht einfach für dich.«
»Absolut«, sagt Laura. Beinahe so, als hätte sie nur darauf gewartet, dass er das Angebot macht.
»Aber das ist nur vorübergehend«, ergänzt er. »Nicht dass das zum Gewohnheitsrecht wird.« Das soll wohl witzig gemeint sein.
Eine Minute später sind wir an der Haustür. Dass ich ins Freie treten soll, aus dem Haus heraus und zurück in die Welt, macht mich nervös. Laura spürt mein Unbehagen.
»Kein Problem, ich komme mit«, sagt sie.
»Bestimmt kann Susie helfen«, ergänzt Tony. »Sie ist gut. Und sie wird dir bestätigen, dass wir hier wohnen.«
Gerade als wir die Tür aufziehen, spaziert ein Mann vorbei.
»Guten Abend«, sagt der Mann zu Laura. »Und, schon eingelebt?«
4
Tony verliert keine Zeit, nachdem die Haustür ins Schloss gefallen ist. Eigentlich ist das überflüssig, das steht für ihn fest, aber Laura wird Gewissheit haben wollen, dass nicht sie beide verrückt sind, sondern die Frau, die heute vor ihrer Tür aufgetaucht ist. Inzwischen hat Laura ihre Panikattacken wirklich gut im Griff – alles dank ihrem Yoga –, aber Tony weiß aus Erfahrung, dass er ihr die Sorgen besser gleich nimmt, ehe sie sich festkrallen können.
Er geht in den ersten Stock, entriegelt eine Luke in der Decke vom Flur und klappt eine Trittleiter aus. Der kleine Speicher ist sein Rückzugsraum, seine Männerhöhle, wie Laura sie nennt. Sie ist so gut wie nie hier oben. Jeder Quadratmeter Boden ist mit Kartons vollgestellt, und auf jedem einzelnen steht eine Jahreszahl. In den Kartons sind Negativbögen aus prädigitalen Zeiten. Auf den meisten sind Fotos von Hochzeiten, aber besonders stolz ist er auf die Kartonreihe auf der linken Seite des Speichers: seine Sammlung von alltäglichen Bildern, dreihundertfünfundsechzig Aufnahmen im Jahr. Ein Foto der schlafenden Laura; von hohen, filigranen Wolken; Muscheln an einem Strand.
Laura zieht ihn oft auf, die Bilder seien ein Zeichen, dass er sich nicht weiterentwickeln will, dass er nicht im Augenblick zu leben vermag, doch darum geht es ihm nicht. Sondern um das Erinnern. Darum, nicht zu vergessen. Manche Menschen führen Tagebuch; er macht sein tägliches Foto. Keine große Sache. Seit einigen Jahren postet er die Fotos auf Instagram, statt sie auszudrucken.
Er beugt sich vor, wählt aufs Geratewohl einen Karton aus und zieht ein Foto heraus; ein Baum, schwer beladen mit Spätmärzschnee, nur einige Wochen vor ihrer Hochzeit. Er kann sich den Tag ins Gedächtnis rufen, sogar den genauen Moment. Seine Synapsen funktionieren einwandfrei; der neuronale Verkehr fließt immer noch ungehindert. Ein paar Minuten nach der Aufnahme hatte er Laura geholfen, den Schnee von ihrem VW-Käfer zu fegen. Sie hatten sich lachend mit Schneebällen beworfen. Es war einen Monat nach einer weiteren Fehlgeburt gewesen, und sie hatte sich alle Mühe gegeben, tapfer zu sein. Doch beide hatten genau gewusst, wie glücklich der Schnee ein Kind gemacht hätte und wie glücklich ein Kind sie gemacht hätte.
Er steckt das Foto zurück und öffnet einen Karton mit Dokumenten über das Haus: einem Immobiliengutachten, der Energiebilanz, den Eigentumsverhältnissen und schließlich einer Kopie des Kaufvertrags. Alles in Ordnung. Wie zu erwarten. Was hat sie sich gedacht? Er fotografiert alles mit dem Handy und schickt Laura das Bild.
Sie hat den Verdacht, dass die Frau, die er Jemma nennt, irgendwann hier gewohnt haben könnte. Sie hat mit ihm über diese Möglichkeit gesprochen, während Jemma im Bad war, denn das hätte ihre beunruhigenden Kenntnisse über ihr Haus erklärt.
Der Vorbesitzer hat Laura ein Bündel historischer Dokumente übergeben, die ganz unten im Karton liegen, und dazu eine Liste mit allen Vorbesitzern. Als eifrige Amateurgenealogen in Immobilienfragen hatten sie sämtliche Eigentümer ausfindig gemacht, und zwar bis zurück ins Jahr 1780, als das Haus als gutseigenes Cottage errichtet worden war. Tony findet die Namensliste und überfliegt sie. Kein Grund, Laura ein Foto davon zu schicken.
5
»Wir sind vor einem Monat eingezogen«, sagt Laura, während wir auf der Straße in Richtung Pub gehen. »Ein Jahr haben wir hier im Ort zur Miete gewohnt und darauf gewartet, dass das Haus auf den Markt kommt.«
»Es ist alt, nicht wahr?«, frage ich.
»Aus dem achtzehnten Jahrhundert, glaube ich. Tony hatte sich sofort in das Cottage verliebt – in die Vorstellung, ein Stück englische Geschichte zu besitzen.«
Wir passieren ein junges Paar, das einen Hightech-Kinderwagen schiebt, während ein zweites Kind hinter ihnen auf einem hölzernen Laufrad über den Gehweg mäandert. Das Slaughtered Lamb an der Ecke zur Hauptstraße ist voll, die Gäste stehen vor der Tür auf dem Gehweg. Tony ist zu Hause geblieben und kocht Abendessen, das bei unserer Rückkehr fertig sein wird, falls ich mit ihnen essen möchte.
»Weißt du, wer vor euch in dem Haus gewohnt hat?«, frage ich.
»Ein junges Paar mit einem Kleinkind. Er arbeitete für Vodafone und wurde versetzt. Sie war Grundschullehrerin.«
»Also nicht ich«, bringe ich mit einem schwachen Lächeln heraus.
»Genau das haben Tony und ich uns auch gedacht. Dabei wäre dann alles viel leichter zu erklären.«
Wir erreichen einen strahlenden Neubau mit Glasfront, Stufen und einer Rollstuhlrampe zum Haupteingang. Es kann nur eine medizinische Institution sein, die hiesige Praxis des staatlichen Gesundheitsdienstes, ein Ort voller Ärzte und Desinfektionsmittel. Scharfer Instrumente. Mein Magen zieht sich zusammen. Mein Geist ist wie ein Vogel, der die offene See sucht und gelegentlich auf winzigen Inseln der Erinnerung landet.
»Vielleicht hast du als Kind in dem Haus gelebt?«, fragt Laura, während wir die Stufen hochsteigen. »Ganz offensichtlich verbindet dich etwas damit.«
»Ich wusste nur, dass ich dorthin zurückmuss«, sage ich und setze mich auf einen Stuhl im Wartebereich.
»Wir haben auf dem Speicher eine Liste mit allen früheren Besitzern. Wir können deinen Namen darauf suchen – wenn du dich erst daran erinnert hast.«
Ich greife nach einer Zeitschrift, während Laura sich anmeldet, indem sie ihr Geburtsdatum in einen Computerbildschirm eintippt. Es ist eine alte Ausgabe von Country Living voller geschmackvoller Cottages mit Rosen vor der Tür. Ich fühle mich orientierungslos. Abgeschnitten. Was tue ich hier, in einer Arztpraxis im englischen Hinterland?
»Bitte entschuldigen Sie die Störung …«, sagt eine Männerstimme. Sie klingt zögerlich, unsicher.
Ich blicke auf und sehe einen Mann – Ende vierzig, vielleicht noch älter – über mir stehen. Er trägt einen cremefarbenen Leinenanzug über einem weißen, kragenlosen Hemd ohne Krawatte und dazu braune Wildlederschuhe. Über seiner Schulter hängt eine braune Kuriertasche. Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen – wenigstens glaube ich das.
»Kennen wir uns nicht?«, fährt er fort.
Ich schüttele in offenkundiger Konfusion den Kopf. Versucht er mich etwa anzuquatschen?
»O Gott, ich bitte um Entschuldigung«, sagt der Mann und sieht mich erschrocken und betreten an. »Ich habe Sie offenbar mit jemandem verwechselt.«
»Luke«, sagt Laura und eilt herbei.
»Laura, ich hatte dich gar nicht gesehen.« Er küsst sie auf beide Wangen. »Ich habe deine Freundin wohl mit jemandem verwechselt.« Er lacht nervös, scheint unsere Begegnung aber alles andere als lustig zu finden. »Aus uralten Zeiten«, ergänzt er, und seine Stimme versiegt.
Laura sieht mich an, sucht vergeblich nach einem Flackern des Wiedererkennens. Ich zermartere mir das Hirn, doch es bleibt leer. Sein Gesicht sagt mir rein gar nichts.
»Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss«, sage ich und duze ihn dabei ganz selbstverständlich. Selbst erschrocken hat Luke ein sympathisches Lächeln, und einen flüchtigen Moment wünsche ich mir, wir würden einander tatsächlich kennen.
»Das braucht dir doch nicht leidzutun«, sagt er.
Er wartet still darauf, dass ich ihm vorgestellt werde, und sieht dabei erst Laura und dann wieder mich an. Sein Lächeln erlischt, als sein Blick länger auf mir liegen bleibt. Was geht ihm durch den Kopf?
»Mein Fehler«, ergänzt er leiser, um das Schweigen zu füllen. »Merkwürdiges Konstrukt, das Gedächtnis.«
Laura setzt sich neben mich, während Luke davongeht.
»War das peinlich«, sage ich und rutsche verlegen auf meinem Stuhl herum.
»Ich konnte dich nicht vorstellen, weil …«
»Ich weiß, ist schon okay.«
»Ganz kurz dachte ich, wir hätten das Mysterium gelöst. Als er sagte, er würde dich irgendwoher kennen.«
»Ich auch«, sage ich und lehne mich zurück. »Vielleicht kenne ich ihn ja wirklich? Er schien mir ganz nett.«
»Luke? Er ist super.«
»Laura Masters?«, ruft eine Stimme durch den Gang.
»Das sind wir«, sagt Laura im Aufstehen. »Luke ist Journalist. Hat einen Artikel über den Vikar in unserem Ort geschrieben, nachdem der meinen Yogakurs aus dem Gemeindesaal verbannt hatte, weil Yoga ›im Hinduismus‹ verwurzelt wäre.«
»Klingt nicht besonders christlich«, sage ich.
»Es gab einen Aufschrei. Offenbar hatte der Vikar Angst, man könnte ihm nachsagen, dass er alternative Weltanschauungen unterstützt. Kein Wunder, dass niemand mehr in die Kirche geht.«
Gerade als wir aus dem Wartebereich gehen, taucht Luke wieder neben mir auf. »Entschuldige, ich wollte dir noch eine von denen geben«, sagt er und drückt mir eine kleine Visitenkarte in die Hand.
»Danke«, sage ich, doch seine Aufmerksamkeit beunruhigt mich.
»Du weißt schon, nur für alle Fälle.«
6
Als wir in Dr. Susie Pattersons Sprechzimmer treten, beginnt Lauras Handy zu summen. Sie wirft einen Blick aufs Display und zeigt es mir, während sie sich auf einen der beiden freien Stühle setzt. Es ist eine Nachricht von Luke.
Wer ist die neue Frau in der Stadt? Kommt mir merkwürdig bekannt vor. X
Wir lächeln beide, obwohl mich ehrlich gesagt sein Interesse nervös macht. Ich setze mich auf den anderen Stuhl. Der Raum fühlt sich beklemmend sauber an, ich spüre sofort, wie mir die Brust eng wird. An einer Wand steht eine mit weißem Rollenpapier abgedeckte Liege. Und auf dem Schreibtisch liegt, akkurat angeordnet wie Essbesteck, Dr. Pattersons ärztliches Handwerkszeug. Ich wende den Blick ab und presse die Hände zusammen. Ich hatte mich im Geist auf ein unschuldiges Sprechzimmer vorbereitet. Mühsam sehe ich wieder auf.
»Danke, dass du so kurzfristig Zeit für uns hattest, Susie«, sagt Laura.
»Kein Problem«, antwortet Dr. Patterson. Dem Aussehen nach ist sie Anfang fünfzig; selbstbewusst, höflich, aber nicht arrogant. Gradlinig. Sie trägt einen enganliegenden, taupefarbenen Kaschmirpullover und eine schlichte Perlenkette um den Hals. Wie Laura erzählt hat, war sie früher Partnerin in einer Privatpraxis in Devizes, arbeitet jetzt aber als Vertretungsärztin beim staatlichen Gesundheitsdienst. Die beiden sind befreundet, genau wie ich vermutet habe.
»Danke«, sage ich noch.
»Also, erzählen Sie mir, was passierte, als Sie bemerkten, dass Ihnen Ihr Name entfallen war.«
Ich schildere ihr genau das, was ich auch Laura und Tony erzählt habe. »Es macht mich ganz fertig«, schließe ich meinen Bericht. »Nichts mehr zu wissen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagt Dr. Patterson.
»Immer wenn ich mich zu erinnern versuche, ist da nur ein schwarzes Loch in meinem Hirn.« Ich schaffe es, ruhig zu sprechen, aber mein Bein zittert.
»Konnten Sie dem Angestellten im Fundbüro überhaupt etwas sagen?«
»Rein gar nichts.« Ich verstumme und muss an die Begegnung mit Luke draußen im Wartebereich denken. Für wen hat er mich gehalten? »Ich finde es einfacher, wenn man mich Jemma nennt.«
»Jemma? Wieso Jemma?«
»Ich werde einen Namen brauchen und …«
»Tony fand, dass sie wie eine Jemma aussieht«, erklärt Laura und lacht nervös. »Mit J.«
»Und Sie?«, fragt Dr. Patterson. »Was sagen Sie dazu?«
»Für mich ist das in Ordnung. Vorerst.« Irgendeinen Namen brauche ich.
»Und wie fühlen Sie sich jetzt?«
Ich hole tief Luft. »Abgeschnitten. Isoliert. Verängstigt.«
Dr. Patterson lehnt sich zurück und schaut auf den Computerbildschirm auf ihrem Schreibtisch. Hinter ihr hängt eine große Weltkarte mit den empfohlenen Impfungen für die verschiedenen Länder. Südindien – Diphtherie, Hepatitis A, Tetanus, Typhus – wird teilweise von ihrem Kopf verdeckt.
»Es ist ganz normal, dass jemand in Ihrer Lage so empfindet«, sagt sie. »Ihr Gefühl der Abgeschnittenheit kann auch in Frustration und Depression übergehen.«
»Ich weiß gar nicht, was ich getan hätte, wenn ich Laura nicht begegnet wäre«, sage ich und spüre wieder einen Gewissensbiss gegenüber der Frau, die so nett zu mir ist, obwohl sie mich überhaupt nicht kennt.
Die Ärztin sieht erst Laura und dann mich an.
»Wir haben uns vorhin am Telefon über die verschiedenen Typen von Amnesie unterhalten. In den meisten Fällen behebt sich ein Gedächtnisverlust wie dieser recht schnell wieder, manchmal innerhalb von Stunden. Falls sich an Ihrem Zustand nichts ändert, werden wir ein paar Tests durchführen müssen, um festzustellen, ob Ihr Gehirn eine physische Schädigung erlitten hat. Außerdem müssen wir andere organische Auslöser ausschließen, etwa einen Schlaganfall, einen Hirntumor, eine epileptische Episode, Enzephalitis oder Störungen der Schilddrüse, möglicherweise sogar einen Vitamin-B-Mangel. Drogen und Alkohol können ebenfalls zum Gedächtnisverlust führen. Meine Vermutung ist allerdings, dass Sie unter einem Phänomen leiden, das wir als psychogene oder dissoziative Amnesie bezeichnen – und die wird sehr oft durch Stress ausgelöst.«
Ich setze mich in meinem Stuhl auf und sehe die Menschen draußen vor dem Fenster vorbeigehen. So klinisch diagnostiziert zu werden ist eindeutig verstörend.
»Möchten Sie vielleicht etwas Wasser?« Dr. Patterson spürt mein Unbehagen.
Ich nicke und schaue zu, wie sie etwas aus einer Plastikflasche in ein Glas gießt und es mir dann reicht.
»Vorerst werde ich nur Ihren Blutdruck messen«, sagt sie und steht auf. »Ihren Puls kontrollieren, Ihre Lunge abhören.«
Noch im Reden legt sie die Manschette um meinen Arm, befestigt den Klettverschluss, beginnt sie aufzupumpen. Ich versuche mich zu entspannen, meine Atmung zu kontrollieren, tief in die Lunge zu atmen.
»Können Sie mir das heutige Datum nennen?«, fragt sie. Ich schüttele den Kopf. »Den Monat? Das Jahr?«
»Tut mir leid«, sage ich. Das fällt mir alles so schwer.
»Wo sind wir?«
Noch ein Kopfschütteln. Fleurs Stimme klingt mir in den Ohren. Im Moment will ich mich nur im Bett zusammenrollen und heulen.
»Schon okay«, sagt Dr. Patterson und löst den Klettverschluss wieder. »Außerdem würde ich gern eine kurze neurologische Untersuchung durchführen.«
Meine Hand spannt sich an, als sie das Stethoskop von ihrem Schreibtisch nimmt. Nachdem sie mein Herz abgehört hat, führt sie eine Reihe von Tests durch, prüft meinen Gleichgewichtssinn, die Augenbewegungen, mein Sichtfeld, leuchtet mit der Taschenlampe in meine Pupillen und tastet die Gesichts- und Halsmuskulatur ab. Danach greift sie nach ihrem Ophthalmoskop. Das Bild eines weißen Kittels taucht auf und verschwindet.
»Ich muss nur Ihre Retina prüfen«, sagt sie, als sie mich zurückzucken sieht. »Und untersuchen, ob eventuell Ihr Hirndruck erhöht ist«, fährt sie fort, ihre Wange dicht an meiner. »Sieht aber alles ganz normal aus.«
Sie setzt sich wieder und legt das Instrument auf den Schreibtisch zurück. Mein Blick bleibt kurz darauf liegen, dann wende ich ihn ab.
»Manche Menschen erleiden eine sogenannte anterograde Amnesie, das heißt, sie können keine neuen Erinnerungen bilden. Sie können sich an die Vergangenheit erinnern, an alles vor dem Ereignis, das die Amnesie ausgelöst hat, aber an nichts danach. Wir werden sehen, woran Sie sich morgen erinnern können, nachdem Sie eine Nacht geschlafen haben.«
»Wie meinen Sie das?«, frage ich.
»Es besteht die Möglichkeit, dass Sie alles vergessen werden, was heute passiert ist.«
Sie sieht Laura an.
»Daneben gibt es hauptsächlich die retrograde Amnesie, bei der sich die Betroffenen an nichts erinnern können, was vor dem Ereignis geschah, das den Gedächtnisverlust ausgelöst hat. Autobiografische Details, Namen, Adresse, Familie, Freunde und so weiter. Diese Menschen sind aber in der Lage, neue Erinnerungen zu bilden. Ich vermute, Sie leiden momentan an dieser Form von Amnesie.«
»Aber wird sie sich erholen?«, fragt Laura.
»In diesem Stadium ist das schwer zu sagen«, sagt sie zu mir. »Ich würde eindeutig weitergehende Untersuchungen empfehlen, vielleicht einen MRT-Scan des Hirns. Falls die Amnesie durch Stress ausgelöst wurde, sollte sie sich irgendwann wieder auflösen, doch das könnte dauern. Vielleicht machen Sie gerade das durch, was wir als dissoziative Fugue bezeichnen. Einen vorübergehenden Identitätsverlust, begleitet von ungeplanten Reisen, Konfusion und Amnesie. Im Moment sollten Sie sich einfach entspannen, vielleicht zusammen mit Laura Yoga machen? Ich glaube, sie hat Ihnen das bereits angeboten.«
Laura nickt lächelnd.
»Gern«, sage ich. Laura ist so freundlich, dass ich heulen könnte.
»Ich halte es nicht für unbedingt nötig, dass Sie heute im Krankenhaus übernachten – selbst wenn es ein Bett frei hätte, was aber ohnehin nicht der Fall ist. Die einzige andere Option wäre eine Nacht auf dem Gang in der Notaufnahme.«
»Lieber nicht«, werfe ich ein.
»Das war grausam da oben letzte Woche«, sagt Laura.
»Ihr Blutdruck ist leicht erhöht«, fährt Dr. Patterson fort, ohne ihre Freundin zu beachten, »was unter diesen Umständen zu erwarten ist, aber Ihre Atemwege sind frei, und ich finde nichts, was auf einen Schlaganfall oder eine Infektion hindeuten würde.« Sie wendet sich an Laura. »Und es ist wirklich okay für dich, wenn sie heute Abend bei euch übernachtet?«
»Das ist ehrlich kein Problem«, sagt Laura.
Auch wenn ich ein schlechtes Gewissen gegenüber Laura habe, ist es viel besser, wenn ich bei ihr übernachte.
»Normalerweise würde ich erst alle organischen Ursachen ausschließen wollen, aber zufällig ist morgen die psychiatrische Fachkraft bei uns in der Praxis. Und wir haben Glück – es gab eine Terminabsage um neun Uhr. Würde Ihnen das passen?«
Ich nicke und sehe Laura an, die mich anlächelt.
»Meist ist in Fällen wie Ihrem das semantische Gedächtnis nicht betroffen. Sie sollten noch in der Lage sein, Worte, Farben, Funktionsweisen, allgemeines Wissen, also alle derartigen Dinge abzurufen. Und ich rechne nicht mit weiteren kognitiven Einschränkungen. Es besteht für Sie kein erhöhtes Risiko.«
»Ich wusste, was ich heute mit meinem Zugticket machen musste«, sage ich. »Falls Sie so etwas meinen.«
»Wenn du Zeit hast«, wendet sich Dr. Patterson an Laura, »dann macht doch einen Spaziergang durch den Ort.« Sie sieht mich wieder an. »Versuchen Sie, sich zu entspannen, damit sich die Synapsen wieder verbinden können. Oft braucht unser Gedächtnis nur einen Auslöser, ein vertrautes Gesicht, damit alles zurückkehrt. Eventuell könnten Sie sogar heute Abend zum Pubquiz gehen. Man kann nie wissen, vielleicht erkennt Sie jemand. So etwas kann sich ganz schnell wieder lösen.«
»Sie hat sich an den Grundriss unseres Hauses erinnert«, sagt Laura und drückt die Stimmung damit wieder.
»Wirklich?«
»Die Zimmer oben, die Dusche in der Toilette unten – bevor sie irgendwas davon zu sehen bekam.«
Dr. Patterson sieht mich gedankenversunken an und dann wieder auf ihren Bildschirm.
»Wir haben uns gefragt, ob sie vielleicht dort gewohnt hat, vor langer Zeit.«
»Normalerweise gehen bei einer retrograden Amnesie derartige episodische Erinnerungen verloren«, sagt Dr. Patterson. »Allerdings können sich Patienten manchmal an Dinge aus der weit zurückliegenden Vergangenheit erinnern.«
»Vielleicht ist es das«, sagt Laura zu mir. »Vielleicht hast du als Kind in dem Haus gewohnt.«
Dr. Patterson hört Lauras Theorie entweder nicht, oder sie ignoriert sie lieber. »Nebenbei bemerkt, wir haben drei Jemmas in unserer Praxis registriert, darunter eine mit J …« Sie verstummt, sieht vom Bildschirm auf und mich an.
Laura und ich stutzen beide, verdattert über die plötzliche Veränderung in Dr. Pattersons Miene. Stumm und verschlossen scrollt sie weiter.
»Was ist denn?«, fragt Laura.
Ich starre Dr. Patterson an und merke, dass ich mich vor ihrer Antwort fürchte.
»Nichts weiter«, sagt sie nur und wendet sich uns zerstreut zu, während sie eindeutig zu verarbeiten versucht, was sie gerade gelesen hat.
Wir wissen beide, dass sie lügt.
7
»Ich nehme an, ich könnte tatsächlich Jemma heißen«, sage ich, während wir im Abendsonnenschein von der Praxis weggehen. »Obwohl es mir ein Rätsel wäre, wie Tony das erraten konnte.« In der Kirche auf der anderen Straßenseite probt eine Handglockengruppe, das Läuten perlt in kurzen Abständen die Tonleiter hinab.
»Er passt zu dir«, sagt Laura. »Und Tony ist gut im Namenraten. Manchmal direkt unheimlich.«
»Geht ihr manchmal zum Pubquiz?«
»Mein Ding ist das ehrlich gesagt nicht. Tony ist besessen davon. Er ist erst vierzig, lebt aber in der Angst, er könnte Alzheimer bekommen – sein Vater ist daran gestorben. Dieses Quiz ist sein persönliches Fitnesstraining fürs Gehirn, allerdings würde er das nie zugeben. Er spricht nicht gern darüber.« Laura beginnt zu kichern. »Ach ja, und er singt gern.«
»Er singt?«
»Sie beenden das Quiz regelmäßig mit einer Open-Mic-Session. Das Siegerteam darf zuerst antreten. Niemand kann ihn davon abhalten, ich am allerwenigsten. Singen ist Tonys Ding.«
»Und dir gefällt das nicht?« Auch ich muss lächeln. »Ist es seine Stimme?«
»›Gestattet einander Freiräume in eurem Beisammensein‹, und so was in der Art.«
»›Und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen.‹«
Ich sehe Laura verdutzt an. Ich habe das Gedicht zu Ende gebracht, ohne auch nur nachzudenken.
»Siehst du – alles bestens mit deinem Gedächtnis.« Sie verstummt kurz, während wir abwarten, bis wir bei der Kirche die Straße überqueren können. »Als Tony zu fotografieren anfing, hat er oft Bands aufgenommen, weil er immer hoffte, dass ihn irgendwann eine als Sänger aufnehmen könnte. Außerdem hat er seinem Dad oft vorgesungen. Kurz vor dessen Tod. Offenbar hat das die Symptome gelindert – falls so etwas bei Alzheimer möglich ist.«
Wir folgen dem Weg am Friedhof vorbei und durch eine Flussaue abwärts bis zur Bahnstrecke, die am Kanal entlang verläuft. Ein Zug steht mit laufendem Motor auf einem Abstellgleis. Nachdem wir die Gleise überquert haben, zeigt Laura mir den Hang, an dem sie und Tony an ihrem ersten Wochenende im Dorf mit dem Schlitten heruntergefahren sind.
»Habt ihr Kinder?«, frage ich – und bereue die Frage augenblicklich. Hinter uns kommen die Glocken in der Kirche kurz aus dem Rhythmus. In ihrem makellosen Haus deutete nichts auf ein Kind hin.
»Wir haben es versucht«, sagt Laura.
»Tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen.«
»Kein Problem. Wir versuchen es weiter.«
Wir gehen am Kanal entlang und kommen an einer Reihe vertäuter Kanalboote vorbei, über denen Blumenranken hängen wie festliche Girlanden.
»Ich weiß, das klingt jetzt schräg«, sagt sie, »aber glaubst du, dass du Kinder hast?«
Ich stutze und überlege. »Ich weiß nicht genau, woran ich das erkennen sollte.«
»Schlaffe Brüste, rund um die Uhr müde und gepeinigt von Schuldgefühlen?«, schlägt sie lachend vor. »Jedenfalls behaupten das die Mütter in meinen Kursen.«
Danach plätschert unsere Unterhaltung dahin, während sie mir die zugige Pfadfinderhütte zeigt, in der sie ihre Yogastunden gibt. Ich frage mich, ob sie an Susie Patterson denkt und daran, was die Ärztin wohl auf ihrem Computer entdeckt hat. Etwas hat sie aufgewühlt, ihre professionelle Ruhe erschüttert. Auf dem Rückweg über die Hauptstraße bleiben wir vor einem Café stehen.
»Das ist Tonys Café«, erklärt sie. »Sein ganzer Stolz. Er hat immer davon geträumt, sein eigenes veganes Café im New-York-Stil zu haben, wo er zudem noch seine Bilder aufhängen kann. Wir haben es vor ein paar Monaten gekauft.«
Ich schaue hoch und lese das Schild: The Seahorse Gallery & Café. Vorn gibt es eine Theke mit Vitrinen, hinten stehen ein paar Tische und Stühle und hängen große, gerahmte Fotos an den Wänden.
»Davor war das der Dorfladen«, sagt Laura.
»Sind das seine Fotos?« Ich versuche durch das Schaufenster die Bilder an der Wand zu erkennen.
»Tony liebt Seepferdchen.«
»Mal was anderes«, sage ich und will schnell weitergehen. »War hier immer schon ein Laden?«
»Ganz früher war es die Dorfbäckerei – vor vielen Jahren. Läutet da was bei dir?«
Ich schüttele den Kopf. »Der einzige Fleck, den ich schon mal gesehen zu haben meine, ist der Pub.«
»Und unser Haus.«
»Und euer Haus«, wiederhole ich leise und bleibe an der Straße stehen, um mich umzusehen. »Ich wünschte nur, ich wüsste, weshalb ich hergekommen bin. Wer ich bin.«
Laura berührt meinen Arm und bringt ein schwaches Lächeln zustande, ehe sie weitergeht. Es ist eine schwierige Situation für mich, aber auch für sie ist es nicht einfach. Eine Fremde, die plötzlich vor ihrer Haustür steht. Als wir in die School Road biegen, durchströmt mich wieder das Adrenalin, weil ich daran denken muss, wie ich an ihre Tür klopfte. Ich lasse den Blick wandern, um mich irgendwie abzulenken. Weiter vorn arbeitet ein Dachdecker auf dem Dach, Strohballen säumen den Straßenrand.
»Und es ist ganz bestimmt in Ordnung, wenn ich über Nacht bleibe?«, frage ich. »Tony schien ein bisschen …«
»Natürlich ist das in Ordnung. Er will dir gern helfen. Wir beide wollen das.«
»Wie lange seid ihr schon zusammen?«
»Wir haben letztes Jahr geheiratet. Sechs Monate nachdem wir uns kennengelernt hatten. Wir hatten uns Hals über Kopf verliebt.«
»Eine Hochzeit in Weiß?«
»Nicht ganz.« Sie lacht. Ein paar Passanten gehen an uns vorbei, vielleicht auf dem Weg zum Pubquiz.
»Entschuldige, ich hätte nicht fragen sollen.« Offenbar bin ich besessen von der Vergangenheit anderer Menschen, nachdem ich über meine eigene nicht sprechen kann.
»Kein Problem. Es war ein wunderschöner Tag. Ich dachte immer, ich würde mir eine weiße Hochzeit wünschen, aber er hat es mir ausgeredet.«
»Wieso?«
»Er ist Hochzeitsfotograf – wenigstens war er es damals. Er hatte zu viele lieblose Hochzeiten in Weiß gesehen, als dass er selbst traditionell heiraten wollte. Also hat er mich auf ein Feld in Cornwall entführt, mit Blick auf die Veryan Bay, wo ich herkomme. Es war wahnsinnig romantisch. Zwanzig Freunde schauten zu, wie wir in einem alten gemauerten Posten der Küstenwache getraut wurden – den ganzen Abend wurde zwischen Heuballen und neugeborenen Lämmern getanzt und getrunken, während draußen die Sonne im Meer versank.«
Zu meiner Überraschung merke ich, dass bei Lauras Schilderung eine unerträgliche Traurigkeit in mir aufsteigt. Ich schlucke sie hinunter. »Klingt himmlisch«, sage ich. »Und immerhin waren die Lämmer weiß.«
Laura lächelt, während wir vor der Haustür zu stehen kommen, vor der ich in Ohnmacht gefallen bin. Dann hält sie plötzlich inne.
»Ich habe übrigens dein schönes Tattoo gesehen.«
»Danke.« Ich senke den Blick und betrachte das Tattoo, als sähe ich es zum ersten Mal.
»Warum eine Lotosblüte?«, fragt sie und schiebt den Schlüssel ins Schloss.
Ich blinzele, und Fleur lächelt. »Kann ich dir nicht sagen.«
Ich wünschte, ich wüsste es. Ich hole tief Luft und folge Laura ins Haus.
8
Tony steht am Küchenherd, hinter der Kochinsel ist ein kleiner Tisch für drei gedeckt. Auf einem Bose-System spielt ein Klavierkonzert, Duftkerzen brennen. Eine Szene häuslichen Friedens, trotzdem macht es mich nervös, wieder in diesem Haus zu sein. Geplant ist ein frühes Abendessen, dann zieht Tony los zum Pubquiz.
»Wie war’s beim Arzt?«, fragt er.
»Susie war sehr hilfsbereit«, sagt Laura und springt damit ein weiteres Mal für mich ein. Sie meint es gut, aber ich muss für mich selbst sprechen. Meine Stimme klingt nicht so laut oder selbstbewusst, wie ich es gern hätte.
»So wie es aussieht, könnte ich eine dissoziative Fugue durchmachen«, sage ich.
»Interessant.« Tony greift nach einem Porzellankrug, der als aufrecht tanzender Lachs modelliert ist. Er schenkt Wasser aus dem Fischmaul in drei Gläser. »Das könnte die Reise erklären. Es kam schon vor, dass Menschen im Fugue-Zustand Hunderte von Kilometern gereist sind. Und eine komplett neue Identität annahmen. Kannst du dich immer noch erinnern, wie du heute hier angekommen bist?«
»Bis jetzt ja«, erwidere ich, wie gebannt vom Gluckern des Kruges.
»Aber Susie meint, morgen früh könnte das ganz anders aussehen«, ergänzt Laura.
»Wieso das?« Seine blauen Augen fixieren mich, bis ich wegsehen muss.
»Dann werden wir wissen, ob ich neue Erinnerungen bilden kann oder nicht.«
»Anterograde Amnesie«, sagt Tony.
»Tony ist davon besessen, nichts zu vergessen«, liefert Laura nebenbei als Erklärung. Mir fällt auf, dass sie nichts von Tonys Vater und seiner Alzheimer-Erkrankung sagt.
»Ach ja?« Plötzlich beginnt meine Kopfhaut zu kribbeln, aber er geht nicht auf Lauras Bemerkung ein.
»Ich habe gegoogelt, während ihr unterwegs wart«, sagt er, den Blick auf Laura gerichtet. »Sollen wir essen?«
Tony serviert frisch gegrillten Wolfsbarsch mit Jersey-Kartoffeln und dazu einen Salat aus Strauchtomaten und Avocado mit Fencheldressing. Laura scheint ihm gern die Küche zu überlassen.
»Ich wusste nicht, ob du Vegetarierin bist oder nicht, darum habe ich als Kompromiss Fisch gemacht«, sagt er und reicht mir die Platte mit dem Barsch.
»Ich weiß es auch nicht«, murmele ich und bediene mich.
»Das ganze Dorf glaubt, Tony sei Hardcore-Veganer, dabei ist er zu Hause heimlicher Pescetarier«, sagt Laura. »Ich kann ohne Fisch nicht leben.«
»Das ist wahre Liebe«, scherzt Tony. »In unserer Hochzeitsnacht habe ich sogar ein Steak gegessen.«
»Hast du nicht«, widerspricht Laura lachend.
»War nur Spaß.« Er beugt sich vor und küsst sie. »Hauptsache, du erzählst meinen Kunden nichts von dem Fisch.«
»Bestimmt nicht«, verspreche ich.
Alle Vorbehalte, die Tony anfangs gegen mich gehabt haben mag, scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Er verhält sich vollkommen anders, viel offener. Ich hoffe, dass das so bleibt.
»Das muss so unglaublich seltsam für dich sein«, sagt er. Er sitzt mir gegenüber, Laura rechts von mir.
»Lass den Fisch einfach liegen, wenn er dir nicht schmeckt«, sagt Laura.
»Er sieht köstlich aus«, erwidere ich und reiche die Fischplatte weiter.
»Wo hast du den Wolfsbarsch gekauft, Schatz?«, fragt sie.
»Auf dem Markt natürlich. Leinenfang von einem einzelnen Boot in Brixham. Für dich nur das Allerbeste.«
Allmählich fühle ich mich wie das dritte Rad bei ihrer nicht so weißen Hochzeit.
»Apropos Gedächtnis«, sagt Tony und sieht mich an. »Hast du nicht Lust, heute Abend zum Quiz mitzukommen? Mal sehen, ob du ein, zwei Antworten weißt.«
»Aber gern«, höre ich mich sagen. Ich bin müde, aber ich möchte Luke wiedersehen und nachforschen, ob er etwas darüber weiß, wer ich bin.
»Verpass nur nicht, vor dem Singen zu türmen«, sagt Laura.
»Pass auf, wenn du frech wirst, fange ich gleich hier an zu singen«, erwidert Tony.
»Dr. Patterson meinte, vielleicht könnte irgendetwas die Gedächtnisblockade lösen«, sage ich. »Ein vertrautes Gesicht. Vielleicht erkenne ich jemanden im Pub – oder ich werde erkannt.«
»Ganz genau«, sagt Tony.
»Eine ärztliche Verschreibung.« Laura lächelt mich an und wendet sich dann an Tony. »Und sie ist einverstanden, dass wir sie Jemma nennen.«
»Sehr gut«, sagt er.
»Ich glaube, das macht es für alle einfacher«, sage ich.
»Habe ich nicht gesagt, dass sie eine Jemma ist?«, meint er noch, doch Laura wird von einer eingehenden Nachricht abgelenkt. Ihr Handy liegt zwischen uns offen auf dem Tisch.
»Entschuldigt, die ist von Susie«, sagt sie nach einem Blick aufs Display.
»Ich habe ihr vergeblich zu erklären versucht, dass das Handy auf dem Esstisch nichts verloren hat«, seufzt Tony ironisch. »Aber hört sie auf mich?«
»Die sollte ich lieber lesen«, sagt sie und wischt beiläufig übers Display.
Auch ich will wissen, was darin steht, nachdem unser Arztbesuch so merkwürdig endete. Ich versuche, den Text möglichst unauffällig mitzulesen. Es ist eine lange Nachricht, ich kann nur den Anfang entziffern, doch schon dabei krampft sich mein Magen zu einem steinharten Kloß zusammen.
Sei vorsichtig mit unserer neuen Freundin. Ich glaube, ich weiß, wer sie ist.
Laura nimmt das Handy hoch und sieht mich an. Ich habe mich schon abgewandt.
»Was ist?«, fragt Tony.
Mein Mund ist wie ausgetrocknet, trotzdem schaffe ich es, erst ihn und danach Laura anzulächeln. Sie erwidert mein Lächeln nicht. Es ist, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen, ihr Gesicht hat sich all seiner Freundlichkeit entledigt, und nur ein kalter, harter Blick ist zurückgeblieben.
9
Es ist ein grober Fehler, zum Quiz mitzukommen. Seit Dr. Pattersons Nachricht an Laura fühle ich mich noch verletzlicher. Und ich hätte nicht erwartet, dass es im Pub so laut ist und uns ein so großer Empfang bereitet wird. Tony spürt mein Unbehagen. Während wir uns zur Bar vorarbeiten und dabei praktisch von jedem Gast begrüßt werden, sieht er regelmäßig nach mir, um sich zu überzeugen, dass mit mir alles in Ordnung ist.
Ich frage mich, ob die Leute hier schon von mir wissen. Der Pub ist alt, überall nur Ziegel und Holzdielen, außerdem eine Schiefertafel über einem offenen Kamin mit einer handgeschriebenen Speisekarte von hausgemachten Pizzen und Pasteten. Das Tagesangebot ist »Abduls paschtunisches Lammcurry«. Der Einzige, den ich erkenne, ist Luke. Er fängt meinen Blick auf und wendet sich gleich darauf einem anderen Mann an der Bar zu.
Tony bestellt zwei Virgin Marys, eine für mich, eine für ihn, wobei er die Zutaten mit forensischer Präzision auflistet: drei Spritzer Tabasco, eine Prise Selleriesalz, zwei Spritzer Zitrone.
»Ist mit Laura alles in Ordnung?«, frage ich, als er mir meinen Drink überreicht. Meine Hand zittert, als ich nach dem Glas greife.
»Sie ist nur müde. Und ein bisschen aufgewühlt, nachdem du aufgetaucht bist.«
»Worum ging es denn in der Nachricht von Dr. Patterson?«, frage ich und kann gerade noch verhindern, dass mein Drink im Gedränge verschüttet wird. Ich muss hier raus. Es ist zu eng hier. Kurz steht mir ein verschwommenes Bild von einer anderen Nacht im Gedränge vor Augen, einem Tanz mit tausend schönen Fremden, von Fleur, die zu hämmernden Beats die Arme über dem Kopf schwenkt. »Nicht um mich, hoffe ich.« Mir schwirrt der Kopf über der Erinnerung, die genauso schnell verblasst, wie sie kam.
Mir ist klar, dass ich unmöglich bei Laura bleiben konnte. Nachdem sie die Nachricht gelesen hatte, verschwand sie sofort nach oben. Tony folgte ihr, doch als er wieder herunterkam, war es, als wäre gar nichts passiert. Er war freundlich und gesprächig, wollte mich unbedingt zum Quiz mitnehmen und erklärte mir, dass Laura nur früh schlafen gehen wollte.
»Um den Yogakrieg«, antwortet Tony jetzt. »Es gibt eine neue Lehrerin im Ort. Und weil Laura Laura ist, wollte sie ihr unbedingt helfen – und wird dadurch Kunden verlieren, meint Susie Patterson.«
Will Tony einfach nur nett sein? Mich beschützen? Vielleicht habe ich den Text falsch gelesen.