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Kathleen und Grace sind Schwestern, wie sie verschiedener gar nicht sein können. Während die unbekümmerte Grace als Krimiautorin Karriere macht, arbeitet die kühle, überlegte Kathleen nach einer gescheiterten Ehe als Lehrerin an einer Klosterschule. Doch da sie dringend Geld benötigt, heuert Kathleen bei einer Telefonhotline an. Ein lebensgefährlicher Nebenjob, wie sich herausstellt, der ihr schließlich zum Verhängnis wird …
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Seitenzahl: 552
Nora Roberts
Verlorene Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Marcel Bieger
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Copyright © 1988 by Nora Roberts Copyright © 1995 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Covergestaltung: t.mutzenbach design
ISBN 978-3-641-15666-4 V002
www.heyne.de
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DAS BUCH
Als Grace McCabe, eine erfolgreiche Krimiautorin, ihre gerade geschiedene Schwester Kathleen besucht, um sie ein wenig aufzuheitern, eröffnet ihr Kathleen Ungeheuerliches: Seit zwölf Monaten arbeitet sie bei Fantasy Incorporated, einem Anbieter von Telefonsex. Zunächst ist Grace schockiert, doch dann erwacht ihr professionelles Interesse als Krimiautorin. Als Kathleen ihr versichert, nie könne ihre Adresse an Kunden gelangen, ist Grace sogar ein bisschen stolz auf ihre selbständige Schwester.
Auch Kathleens Nachbar, der attraktive Polizeibeamte Ed Jackson, ist für Grace zunächst vor allem von beruflichem Interesse. Sie will von ihm mehr über die Arbeitsweise des Morddezernats von Washington erfahren. Noch ahnt sie nicht, dass sie Jackson auch in einer anderen Angelegenheit brauchen wird, denn als Grace von einem Restaurantbesuch mit Ed zum Haus ihrer Schwester zurückkommt, macht sie eine furchtbare Entdeckung: Im Arbeitszimmer findet sie Kathleen, mit einem Telefonkabel erdrosselt.
Gemeinsam mit Ed Jackson macht sich Grace auf die Suche nach dem Mörder – und gerät dabei selbst in allerhöchste Gefahr.
Für Amy Berkower in Dankbarkeit und Zuneigung
»Und was möchten Sie, daß ich für Sie tue?« fragte die Frau, die sich Desiree nannte. Ihre Stimme war weich und sanft wie Rosenblätter. Sie erledigte ihre Arbeit gut, sehr gut sogar, und immer mehr Kunden verlangten nur sie. Im Moment hatte sie einen ihrer Stammkunden am Apparat, und sie kannte seine Vorlieben. »Das will ich gerne tun«, flüsterte sie. »Schließen Sie jetzt Ihre Augen und entspannen Sie sich. Schließen Sie die Augen. Ich möchte, daß Sie alles vergessen. Ihr Büro, Ihre Frau und Ihren Geschäftspartner. Es gibt nur noch Sie und mich.«
Als er wieder sprach, lachte sie leise und rauchig. »Ja, Sie wissen, daß ich das will. Habe ich das nicht immer gewollt? Schließen Sie nur die Augen, und lauschen Sie meiner Stimme. Wir befinden uns in einem Raum voller Kerzenlicht. Dutzende von weißen, duftenden Kerzen brennen. Können Sie sie riechen?« Sie lachte wieder leise, rauh und verlockend. »Ganz richtig. Weiß. Auch das Bett ist weiß. Groß, rund und weiß. Sie liegen darauf, nackt und bereit. Sind Sie bereit, Mr. Drake?«
Desiree verdrehte die Augen. Es nervte sie, daß der Mann wünschte, gesiezt und mit Mister angeredet zu werden. Aber in diesem Job kamen einem alle Arten von Männern unter. »Ich verlasse gerade die Dusche. Mein Haar ist naß, und kleine Wassertropfen bedecken meinen nackten Körper. Ein Tropfen hängt an meiner Brustwarze. Als ich mich aufs Bett knie, fällt er auf Sie herab. Können Sie den Tropfen fühlen? Ja, genau, er ist so kühl, und Sie sind so heiß.« Sie unterdrückte ein Gähnen. Mr. Drake keuchte bereits wie eine Dampfmaschine. Dem Himmel sei Dank, daß er sich so leicht hochbringen ließ. »Oh, wie ich Sie will. Meine Hände wollen Sie unablässig berühren. Ich will Sie spüren und schmecken. Ja, o ja, es bringt mich um den Verstand, wenn Sie das tun. Ohhh, Mr. Drake, Sie sind wahrhaftig der Größte. Der Allergrößte.«
Während der nächsten Minuten lauschte sie nur seinem lustvollen Stöhnen. Zuhören machte den größten Teil ihrer Arbeit aus. Mr. Drake stand kurz vor dem Höhepunkt, und Desiree warf dankbar einen Blick auf ihre Uhr. Seine Zeit war fast abgelaufen, und er war heute abend ihr letzter Kunde. Sie flüsterte ihm leise etwas zu und brachte ihn so zum Ziel.
»Ja, Mr. Drake, es war ganz wundervoll. Sie sind wirklich der Tollste. Nein, morgen arbeite ich nicht. Am Freitag? Ja, ich freue mich schon darauf. Gute Nacht, Mr. Drake.«
Sie wartete aufs Klicken, legte dann auf, und aus Desiree wurde Kathleen. Zweiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig, dachte sie seufzend. Um dreiundzwanzig Uhr war Schluß, und somit waren heute keine Anrufe mehr zu erwarten. Kathleen mußte noch Klassenarbeiten korrigieren und für ihre Schüler ein Pop-Quiz vorbereiten. Als sie aufstand, warf sie einen Blick auf den Telefonapparat. Dank der Telefongesellschaft und der Firma Fantasy, Incorporated, hatte sie heute abend zweihundert Dollar verdient. Lachend packte sie ihre Kaffeetasse ein. Diese Arbeit war eindeutig besser, als irgendwo hinter einer Theke Kunden zu bedienen.
Ein paar Meilen entfernt betrachtete auch ein Mann sein Telefon. Seine Hand war feucht, und in seinem Zimmer roch es nach Sex, obwohl er sich allein hier aufhielt. Nur in seiner Vorstellung war Desiree bei ihm gewesen. Desiree mit ihrem weißen, tropfnassen Körper und ihrer süßen, leisen Stimme.
Desiree ...
Sein Herz klopfte noch immer schnell, als er sich auf dem Bett ausstreckte.
Desiree.
Das Flugzeug sauste über das Lincoln Memorial hinweg. Grace’ Aktenkoffer lag offen auf ihrem Schoß. Dutzende Dinge wollten eingepackt werden, doch sie blickte in aller Ruhe aus dem Fenster und freute sich zu sehen, wie der Boden näher kam. Was sie betraf, gab es nichts, das sich mit dem Fliegen vergleichen ließe.
Das Flugzeug hatte Verspätung. Grace wußte das, weil der Mann auf Sitzplatz 3B sich ständig darüber beschwerte. Sie war versucht, sich über den Mittelgang zu beugen, seine Hand zu tätscheln und ihm zu versichern, daß eine zehnminütige Verspätung nun wirklich nicht den Untergang der Welt bedeutete. Aber er machte nicht den Eindruck, als sei er für solchen Trost empfänglich.
Kathleen würde bestimmt auch schon ungehalten sein, dachte Grace. Natürlich würde sie sich nicht lautstark beschweren oder ihrem Unmut sonstwie Luft machen, sagte sie sich mit einem Lächeln und lehnte sich zurück, um sich für die Landung anzuschnallen. Kathleen mochte genauso irritiert sein wie der Herr auf 3B, aber sie war viel zu sehr Dame, um sich wie der Mann in lautstarken Beschwerden zu ergehen.
Grace kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, daß Kathleen eine Stunde vor der Zeit das Haus verlassen hatte, weil sie natürlich damit rechnete, irgendwo im unvorhersehbaren Verkehr von Washington steckenzubleiben. Grace hatte deutlich aus der Stimme ihrer Schwester einen Vorwurf darüber herausgehört, daß sie sich ausgerechnet einen Flug ausgesucht hatte, der um achtzehn Uhr fünfzehn landen sollte, wenn die Rush Hour ihren Höhepunkt erreichte. Kathleen war bestimmt zwanzig Minuten zu früh angekommen, hatte ihren Wagen auf den Platz für Kurzparker abgestellt, das Fenster hochgekurbelt, kontrolliert, ob alle Türen verriegelt waren, und sich dann, ohne sich von den Auslagen der Geschäfte ablenken zu lassen, direkt auf den Weg zur Ankunftshalle gemacht. Kathleen würde nie vor dem falschen Gate warten oder die Ankunftszeit durcheinanderbringen.
Kathleen war stets pünktlich. Grace hingegen kam ständig und überall zu spät. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.
Trotzdem hoffte Grace jetzt aus tiefstem Herzen, daß es zwischen ihnen ein paar Gemeinsamkeiten geben würde. Sie waren zwar Schwestern, hätten aber unterschiedlicher nicht sein können.
Das Flugzeug setzte auf, und Grace fing an, alles, was ihr zwischen die Finger kam, in den Aktenkoffer zu werfen: Lippenstift und Streichholzbriefchen, Kugelschreiber und Pinzette. Das war auch eines der Dinge, die eine so ordentliche Frau wie Kathleen nie verstehen konnte. Bei ihr hatte alles seinen festen Platz. Grace stimmte ihr da im Prinzip durchaus zu, aber irgendwie schienen sich bei ihr die Plätze für die Dinge von Mal zu Mal zu ändern.
Mehr als einmal hatte Grace sich gefragt, wie zwei so verschiedene Frauen Schwestern sein konnten. Sie selbst war sorglos, saumselig und erfolgreich, Kathleen hingegen liebte die Ordnung, war praktisch veranlagt und hatte es im Leben nie leicht gehabt. Dabei hatten sie dieselben Eltern, waren im selben Einfamilienhaus in einem Vorort von Washington aufgewachsen und hatten dieselben Schulen besucht.
Die Nonnen in der Schule hatten es nie vermocht, Grace beizubringen, ihre Hefte ordentlich zu führen. Aber schon in der sechsten Klasse waren sie davon fasziniert, wie geschickt und spannend das Mädchen Geschichten erfinden und erzählen konnte.
Als das Flugzeug am Gate stand, blieb Grace sitzen, während die eiligeren Passagiere bereits den Mittelgang verstopften. Sie wußte, daß Kathleen jetzt nervös vor dem Ausgang auf und ab lief und sich bereits fragte, ob ihre schusselige Schwester womöglich den Flug verpaßt hatte. Aber Grace brauchte noch eine Minute, um sich zu sammeln. Wenn sie gleich ihrer Schwester gegenüberstand, wollte sie an die schönen Momente und nicht an die Wortgefechte denken.
Wie Grace es vermutet hatte, wartete Kathleen unmittelbar am Ausgang. Sie verfolgte, wie die Passagiere einer nach dem anderen herausströmten, und spürte eine neue Aufwallung von Arger. Die ersten fünfzig Personen hatten sie passiert, und Grace war nicht unter ihnen gewesen. Vermutlich hält sie gerade mit den Flugbegleitern ein Schwätzchen, dachte Kathleen und bemühte sich, den Neid zu unterdrücken, der bei dieser Vorstellung in ihr hochstieg.
Grace hatte nie Mühe gehabt, Freunde zu finden. Im Gegenteil, die Menschen fühlten sich sofort zu ihr hingezogen. Schon zwei Jahre nach ihrem Abschluß hatte Grace, die auf der Wolke ihres Charmes durch die Schule geschwebt war, ihre Karriere begonnen. Ein halbes Leben später arbeitete Kathleen, die ihren Abschluß mit Auszeichnung bestanden hatte, an derselben High-School, die sie und ihre Schwester früher besucht hatten. Sie saß zwar heute auf der anderen Seite des Lehrerpults, aber sonst hatte sich seit damals wenig geändert.
Aus dem Lautsprecher ertönten in endloser Folge Ankunfts- und Abflugzeiten. Änderungen der Gate-Nummer und Verspätungen wurden durchgegeben, und noch immer war keine Grace in Sicht. Gerade als Kathleen sich entschloß, an der Information nach ihrer Schwester zu fragen, kam Grace heranmarschiert. Der Neid in Kathleen verging, und ebenso verflog ihre Irritation. Es war unmöglich, auf Grace böse zu sein, wenn man ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Warum sah Grace immer so aus, als käme sie gerade aus einem schweren Sturm? Ihr Haar, genauso tiefschwarz wie das von Kathleen, reichte bis auf Kinnhöhe herab und wirkte in seinem kühnen Schwung, als hätten sich diverse Böen daran ausgetobt. Beide Frauen besaßen den gleichen Körper, doch während er bei Kathleen zu stämmig aussah, wirkte er bei Grace schlank und biegsam. Sie ähnelte einer Weide, die sich geschmeidig im Wind beugt. Allerdings machte sie im Moment einen etwas verknitterten Eindruck. Sie trug einen hüftlangen Pullover über Leggings, eine Sonnenbrille, die von der Nase zu rutschen drohte, und gelbe hohe Turnschuhe, die farblich zum Pullover paßten. Kathleen hingegen hatte noch immer den Rock und das Jackett an, in denen sie zum Unterricht erschienen war.
»Kath!« Kaum hatte Grace ihre Schwester erspäht, ließ sie alle Taschen fallen, die sie mit sich schleppte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie den nachfolgenden Passagieren dadurch den Weg versperrte. Sie umarmte Kathleen mit dem Enthusiasmus, mit dem sie alles anzugehen pflegte. »Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Du siehst großartig aus. Oh, ein neues Parfüm.« Sie schnüffelte intensiv. »Hm, gefällt mir.«
»Lady, geht es heute nochmal weiter?«
Ohne Kathleen loszulassen, lächelte Grace den entnervten Geschäftsmann hinter ihr an und riet ihm: »Steigen Sie doch einfach über die Sachen.« Knurrend befolgte er ihren Vorschlag. Grace hatte ihn schon vergessen, so wie ihr Unannehmlichkeiten nie lange etwas anhaben konnten. »Und, wie gefällt dir mein Outfit?« fragte sie ihre Schwester. »Was sagst du zu meiner neuen Frisur? Ich hoffe, du magst sie, denn ich habe ein wahres Vermögen für die Publicity-Aufnahmen hingeblättert.«
»Ich hoffe, du hast dich vorher wenigstens gekämmt.«
Grace fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wahrscheinlich.«
»Die neue Frisur steht dir gut«, urteilte Kathleen. »Und jetzt komm. Gleich bricht hier ein Aufstand los, wenn wir deine Sachen nicht endlich aus dem Weg räumen. Was ist denn das?« Sie hob einen klobigen Aktenkoffer.
»Maxwell«, antwortete Grace und sammelte ihre Taschen ein. Mein tragbarer Computer. Maxwell und ich haben die wundervollste Affäre, die du dir nur vorstellen kannst.«
»Ich dachte, du wolltest Urlaub machen.« Kathleen gelang es, sich den wiederaufkeimenden Ärger nicht anmerken zu lassen. Der Computer war ein zu deutliches Symbol für Grace’ Erfolg und ihr eigenes Scheitern.
»Ich will ja auch Urlaub machen. Aber irgendwie muß ich mir doch die Zeit vertreiben, wenn du in der Schule unterrichtest. Hätte das Flugzeug noch weitere zehn Minuten Verspätung gehabt, wäre das Kapitel zu Ende geschrieben.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, stellte fest, daß sie schon wieder stehengeblieben war, und vergaß sie im nächsten Moment. »Ehrlich, Kath, das wird der sensationelleste Mord, von dem du je gelesen hast.«
»Wo ist dein Gepäck?« unterbrach Kathleen sie rasch, weil sie wußte, daß Grace ihr sonst den ganzen Roman erzählt hätte.
»Meine Kiste wird morgen bei dir zu Hause abgeliefert.«
Die Kiste. In Kathleens Augen eine weitere Exzentrizität ihrer Schwester. »Grace, wann fängst du endlich an, wie normale Menschen mit Koffern zu verreisen?«
Sie liefen am Gepäckförderband vorbei, wo die Menschen dicht gedrängt standen, um sich beim Anblick ihres geliebten Samsonite-Koffers gegenseitig totzutrampeln. Erst wenn die Hölle zufriert, verreise ich so wie alle normalen Menschen, dachte Grace und lächelte. »Du siehst wirklich gut aus. Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Doch weil sie schließlich ihre Schwester vor sich hatte, fügte Kathleen hinzu: »Eigentlich schon besser.«
»Du bist ohne den Mistkerl auch wirklich besser dran«, sagte Grace, als sie durch die automatischen Türen gingen. »Ich sage das nicht gern, weil ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, aber es ist die Wahrheit.« Eine kalte Brise wehte aus dem Norden heran und ließ die Menschen vergessen, daß es bereits Frühling war. Über ihnen dröhnten startende und landende Flugzeuge. Grace lief, ohne sich nach links oder rechts umzusehen, auf die Straße und zum Parkplatz. »Das einzige Schöne, was er in dein Leben gebracht hat, war Kevin. Wo steckt mein Neffe eigentlich? Ich hatte gehofft, du würdest ihn mitbringen.«
Der schmerzhafte Stich kam und verging. »Er ist bei seinem Vater. Wir sind übereingekommen, daß es für ihn besser ist, wenn er während der Schulzeit bei Jonathan bleibt.«
»Wie bitte?« Grace blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Eine Hupe ertönte, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Kathleen, das kann doch unmöglich dein Ernst sein. Kevin ist erst sechs! Er sollte bei seiner Mutter sein. Jonathan läßt ihn wahrscheinlich nicht die Sesamstraße, sondern irgendwelche Schundcomics gucken.«
»Die Entscheidung ist getroffen. Wir sind der festen Überzeugung, daß es so für alle am besten ist.«
Grace kannte den Gesichtsausdruck, den ihre Schwester bei diesen Worten aufsetzte. Er besagte, daß Kathleen jetzt nicht mehr darüber reden wollte. Sie würde das Thema erst dann wiederaufnehmen, wenn sie sich dazu bereit fühlte. »Okay«, sagte Grace und lief neben ihr her. Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, während Kathleen über den Parkplatz raste. Ihre Schwester hatte es immer eilig. Sie selbst hingegen wanderte eher ziellos hierhin und dahin. »Du weißt, daß du immer mit mir reden kannst, wenn du das Bedürfnis dazu hast.«
»Ja, das weiß ich.« Kathleen blieb neben ihrem gebrauchten Toyota stehen. Vor einem Jahr noch hatte sie einen Mercedes gefahren. Aber dieser Verlust war noch der geringste gewesen. »Tut mir leid, wenn ich eben etwas barsch geklungen habe, Grace. Es ist nur so, daß ich im Moment nicht daran erinnert werden möchte. Ich habe mein Leben fast wieder in den Griff bekommen.«
Grace sagte nichts dazu und stellte ihre Taschen in den Kofferraum. Sie sah dem Wagen an, daß er seine besten Jahre hinter sich hatte, und sie wußte, daß er bei weitem nicht dem Lebensstil entsprach, den ihre Schwester früher gepflegt hatte. Aber weitaus mehr als dieser soziale Abstieg besorgte sie der angespannte Unterton in Kathleens Stimme. Am liebsten hätte Grace sie jetzt in den Arm genommen, unterließ das aber, weil sie wußte, daß ihre Schwester Mitgefühl für eine Form von Mitleid hielt. »Hast du in der letzten Zeit mit Mom und Dad gesprochen?«
»Ja, letzte Woche. Es geht ihnen gut.« Kathleen setzte sich hinters Steuer und legte den Sicherheitsgurt an. »Wenn man sie hört, könnte man annehmen, Phoenix sei das Paradis auf Erden.«
»Solang es ihnen nur gutgeht.« Grace nahm auf dem Beifahrersitz Platz und fand zum erstenmal Gelegenheit, sich umzusehen. National Airport. Von hier aus war sie abgeflogen, vor acht, nein, großer Gott, schon vor zehn Jahren. Was für eine Angst sie damals gehabt hatte. Sie wünschte, sie könnte diese Mischung aus Elan und Bangen vor der Zukunft in all ihrer Unschuld und Frische noch einmal erleben.
Bist du es langsam müde, Gracie? fragte sie sich, die zu vielen Flüge, die zu vielen Städte, die zu vielen Gesichter? Nun war sie zurückgekehrt, nur noch wenige Meilen von dem Haus entfernt, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und Seite an Seite mit ihrer Schwester. Eigenartig, daß sie nicht das Gefühl hatte heimzukommen.
»Was hat dich eigentlich dazu bewogen, nach Washington zurückzukehren, Kath?«
»Ich mußte dringend raus aus Kalifornien. Und das hier war der einzige Ort, den ich kannte.«
Aber warum wolltest du nicht bei deinem Sohn bleiben? Wie kannst du als Mutter dein Kind zurücklassen? dachte Grace, und sie mußte an sich halten, das nicht laut auszusprechen; sie wußte aber, das dies nicht der rechte Moment war, ihre Schwester danach zu fragen. »Und jetzt unterrichtest du wieder an der Our Lady of Hope? Auch vertrautes Terrain, nicht wahr, obwohl sich dort so manches verändert hat.«
»Es gefällt mir da sehr gut. Vermutlich brauche ich die Disziplin, die das Unterrichten von mir fordert.« Kathleen fuhr den Toyota mit gewohnter Präzision aus der Parklücke und zum Schalter. Hinter dem Sonnenschutz steckten der Parkschein und drei Ein-Dollar-Noten. Grace fiel ein, daß Kathleen immer schon ihr Geld abgezählt bereitgelegt hatte.
»Und gefällt es dir im Haus?«
»Die Miete ist erträglich, und von dort fahre ich nur fünfzehn Minuten bis zur Schule.«
Grace unterdrückte das Bedürfnis zu seufzen. Konnte Kathleen denn nie Freude über etwas zeigen? »Und, hast du jemand Neues kennengelernt?«
»Nein.« Aber Kathleen setzte wenigstens ein leises Lächeln auf, als sie sich in den Verkehr einfädelte. »Sex interessiert mich nicht mehr.«
Grace zog die Brauen hoch. »Aber jeder interessiert sich doch für Sex. Was glaubst du denn, warum die Bücher von Jackie Collins immer auf den Bestsellerlisten landen? Aber davon abgesehen, ich meinte, ob du jemanden kennst, der hin und wieder mal mit dir etwas unternimmt, mit dem du reden kannst.«
»Im Moment steht mir nicht der Sinn danach, mit jemandem zusammenzusein.« Dann legte sie eine Hand auf die ihrer Schwester, und das war mehr, als sie, mit Ausnahme von ihrem Mann und Kevin, je einem Menschen zu geben vermocht hatte. »Damit meine ich natürlich nicht dich. Im Gegenteil, ich bin richtig froh, daß du gekommen bist.«
Wie stets reagierte Grace ihrerseits mit Wärme, sobald sie solche empfing. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn du mich gelassen hättest.«
»Du warst doch mitten in einer Tournee.«
»Tourneen kann man auch absagen.« Sie rutschte auf dem Sitz hin und her. Sie hätte die Tournee platzen lassen, wenn das ihrer Schwester hätte weiterhelfen können. »Na ja, jetzt ist die Sache ja ausgestanden, und ich bin hier.« Sie kurbelte das Fenster herunter und spürt den Aprilwind, der noch genauso wie der im März biß. »Frühling in Washington. Was machen die Kirschblüten?«
»Der späte Frosteinbruch hat ihnen großen Schaden zugefügt.«
»Hier bleibt doch stets alles gleich.« Hatten sie sich eigentlich immer noch so wenig zu sagen? Grace drehte das Radio auf, um die Kluft zwischen ihnen zu füllen. Wie konnten zwei Menschen miteinander aufwachsen, zusammen leben, miteinander streiten und sich doch fremd bleiben? Jedesmal, wenn sie ihre Schwester sah, hoffte sie, diesmal würde es anders. Und regelmäßig wurde sie enttäuscht.
Als der Toyota die Fourteenth Street Bridge überquerte, erinnerte sich Grace an das Zimmer, das sie sich in der Kindheit mit Kathleen geteilt hatte: die eine Hälfte stets adrett und ordentlich, die andere ein immerwährendes Chaos. Dieser krasse Gegensatz war zwischen ihnen ein stetiger Stein des Anstoßes gewesen. Ein anderer waren die Spiele, die Grace sich ausdachte und die ihre Schwester mehr frustrierten als erfreuten. Wie lauten die Regeln? Kathleen hatte bei allem und jedem stets zuerst die Regeln auswendig gelernt. Und wenn es keine gab – oder zumindest keine klaren –, war Kathleen nicht in der Lage, das Spiel an sich zu begreifen.
Immer nur Regeln, Kath, dachte Grace, während sie schweigend neben ihrer Schwester saß. In der Schule, in der Kirche und im Leben. Kein Wunder, daß eine Regeländerung sie in tiefste Verwirrung stürzte. Und jetzt hatten sich die Regeln im Spiel ihres Lebens schon wieder gewandelt.
Hast du deine Familie einfach verlassen, Kath, so wie du früher immer aufgestanden und gegangen bist, wenn dir die Regeln eines Spiels nicht zusagten? Bist du hierher an den Anfang zurückgekehrt, um alle bisherigen Ergebnisse zu tilgen und nach deinen eigenen Regeln von vorn anzufangen? Ja, das ist deine Art, die Dinge anzugehen, dachte Grace und hoffte für ihre Schwester, daß es so endlich funktionieren würde.
Aber dann war sie doch überrascht, als sie die Straße sah, in die Kathleen gezogen war. Grace hatte ein hochmodernes Apartmenthaus erwartet. Die modernsten Einrichtungen und vierundzwanzigstündiger Hausmeisterdienst entsprachen mehr Kathleens Stil als diese altmodischen, leicht heruntergekommenen Häuser inmitten von hohen Bäumen.
Kathleens Haus war eines der kleinsten auf dieser Straßenseite. Obwohl Grace sich kaum vorstellen konnte, daß ihre Schwester mehr im Garten getan hatte, als den Rasen zu mähen, schoben sich am Rand des gepflegten Bürgersteigs die ersten Blüten aus dem Boden.
Als Grace neben dem Wagen stand, ließ sie den Blick über die Straße wandern. Vor jedem Haus lagen Fahrräder und standen mehrere Jahre alte Kombiwagen. Hier und da war ein frischer Farbanstrich auszumachen. Man sah den Häusern an, daß die Familien schon lange in ihnen wohnten, und die Gegend lag irgendwo in der Mitte zwischen frisch renoviert und altersschwach. Grace gefiel diese Straße; irgendwie fühlte man sich hier gleich wie zu Hause und geborgen.
Genau ein solches Viertel hätte Grace sich ausgesucht, wenn sie hierher zurückgezogen wäre. Und ihr Lieblingshaus wäre das nebenan gewesen, entschied sie sofort und ohne länger darüber nachzudenken. Das Gebäude mußte dringend generalüberholt werden. Eines der Fenster war mit Brettern vernagelt, und auf dem Dach fehlten ein paar Ziegel. Aber im Garten hatte jemand Azaleen gepflanzt. Die Erde sah noch frisch umgegraben aus, und die Pflanzen waren in kleine Hügel eingebettet. Noch erreichten die Sträucher kaum einen halben Meter Höhe, aber schon zeigten sich die ersten Knospen, die bald aufblühen würden. Während Grace sie betrachtete, hoffte sie, sie könnte lange genug bleiben, um die Azaleen in voller Blütenpracht zu erleben.
»Oh, Kath, es ist wunderschön hier.«
»Na ja, ist nicht ganz Palm Springs«, entgegnete Kathleen, doch ohne Bitterkeit in der Stimme, und fing an, Grace’ Sachen auszupacken.
»Nein, meine Liebe, ich meine es ernst. So stelle ich mir ein richtiges Zuhause vor.« Und sie sagte das wirklich nicht aus Höflichkeit. Ihre Fantasie und ihr Schriftstellerauge malten sich bereits aus, wie es sein mußte, hier zu leben.
»Ich wollte Kevin etwas bieten ... wenn er zu mir kommt.«
»Er wird sich sofort darin verlieben«, verkündete Grace mit der für sie typischen Selbstverständlichkeit. »Der Bürgersteig ist wie geschaffen für Skateboards und erst die vielen Bäume.« Ein Stück weiter stand ein Baum, der aussah, als sei der Blitz in ihn eingeschlagen, aber davon ließ Grace sich nicht beeinträchtigen. »Kath, wenn ich dieses wunderbare Haus so sehe, frage ich mich ernsthaft, was ich eigentlich noch in Upper Manhattan will.«
»Reich und berühmt werden.« Wieder war ihr nichts von ihrer Bitterkeit anzumerken. Sie reichte ihrer Schwester die Taschen.
Grace blickte abermals zum Nachbarhaus. »Ich denke, ein paar Azaleen könnte ich mir auch zulegen.« Sie hakte sich bei Kathleen ein. »Und jetzt mußt du mir unbedingt zeigen, wie es drinnen aussieht.«
Die Einrichtung entsprach dem, was Grace erwartet hatte. Kathleen hatte es gern, wenn alles ordentlich war und hübsch an seinem Platz stand. Das Mobiliar war eine Spur zu wuchtig, aber geschmackvoll (und natürlich entstaubt und poliert). Genauso wie Kath, dachte Grace mit einer Spur Bedauern. Die vielen kleinen Zimmer, die irgendwie ineinander verschachtelt wirkten, gefielen ihr sehr.
Kathleen hatte in einem Raum ein Arbeitszimmer eingerichtet. Der Schreibtisch wirkte noch sehr neu. Sie hat wirklich nichts aus Kalifornien mitgenommen, sagte sich Grace. Nicht einmal ihren Sohn. Ihr fiel auf, daß auf dem Schreibtisch ein Telefon stand und nicht weit davon auf einem Stuhl noch eins. Aber sie schwieg dazu, wußte sie doch, daß Kathleen bestimmt eine durchaus einleuchtende Erklärung dafür hatte.
»Spaghetti-Soße!« Der Duft führte Grace geradewegs in die Küche. Wenn jemand sie nach ihrer Lieblingsfreizeitbeschäftigung fragen würde, hätte Essen bestimmt ganz oben auf der Liste gestanden.
Die Küche war genauso makellos gepflegt wie der Rest des Hauses. Grace war fest davon überzeugt, daß sich im Toaster kein einziger Krümel finden ließe, darauf hätte sie sogar gewettet. Ihre Schwester hob immer noch alle Reste in Plastikdosen auf und stellte sie ordentlich etikettiert in den Kühlschrank; die Gläser waren bestimmt der Größe nach geordnet im Küchenschrank untergebracht. So hatte Kathleen es immer schon gehalten und sich in dieser Hinsicht in dreißig Jahren um keinen Deut geändert.
Während Grace über den alten Linoleumboden lief, hoffte sie, daß sie nicht vergessen hatte, sich vor der Tür die Füße abzutreten. Dann hob sie den Deckel vom Topf auf dem Herd und sog das Aroma lange und tief ein. »Ich würde sagen, du hast deine Kochkünste nicht verlernt.«
»Ich habe mich wieder auf sie besonnen.« Und das nach Jahren in einem Haushalt voller Bediensteter und Köche. »Hast du Hunger mitgebracht?« Zum erstenmal wirkte Kathleens Lächeln ehrlich und entspannt. »Was frage ich überhaupt.«
»Ach je, ich habe völlig vergessen, daß ich dir etwas mitgebracht habe.«
Während Grace in die Diele zurückeilte, stellte sich Kathleen ans Fenster. Warum nur wurde ihr nun, da Grace gekommen war, bewußt, wie leer sich ihr Haus vorher angefühlt hatte? Welchen besonderen Zauber besaß ihre Schwester, mit dem sie einen Raum, ein Haus, ja vermutlich eine ganze Arena ausfüllen konnte? Und was um alles in der Welt sollte sie nur anfangen, wenn Grace wieder abgereist war?
»Valpolicella!« verkündete sie, als sie in die Küche zurückkehrte. »Du siehst, ich habe schon mit einem italienischen Essen gerechnet.« Als Kathleen sich vom Fenster abwandte und zu ihr umdrehte, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ach, du armes Liebes.« Mit der Flasche in der Hand lief Grace auf sie zu.
»Gracie, ich vermisse ihn so furchtbar, daß ich manchmal am liebsten sterben möchte.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ach, Kleines, mir tut es so leid für dich.« Sie fuhr ihrer Schwester übers Haar, und Kathleen strich die Strähnen sofort wieder gerade. »Laß mich dir helfen, Kath. Sag mir, was ich für dich tun kann.«
»Ach, da ist nichts.« Diese Worte auszusprechen, kostete sie mehr Kraft, als sie je zuzugeben bereit gewesen wäre, aber wenigstens hörten die Tränen auf. »Ich mache mich jetzt besser an den Salat.«
»Nein, tust du nicht.« Grace nahm ihren Arm und führte sie zu dem kleinen Küchentisch. »Setz dich hin. Es ist mir ernst, Kath.«
Obwohl sie ein Jahr älter war als ihre Schwester, gehorchte sie. So war es zwischen ihnen immer schon gewesen, und beide konnten es sich nicht anders vorstellen. »Ich möchte eigentlich nicht darüber reden, Grace.«
»Dann scheint es ja wirklich schlimm um dich zu stehen. Wo bewahrst du den Korkenzieher auf?«
»In der obersten Schublade links vom Ausguß.«
»Und die Gläser?«
»Im zweiten Fach im Schrank neben dem Kühlschrank.«
Grace entkorkte die Flasche. Obwohl draußen bereits die Dämmerung einsetzte, machte sie sich nicht die Mühe, in der Küche das Licht einzuschalten. Sie stellte ein Glas vor ihre Schwester und füllte es bis fast an den Rand. »Jetzt trink. Ist ein ziemlich edler Tropfen.« Sie fand ein leeres Mayonnaiseglas (an dem Platz, an dem ihre Mutter sie aufzubewahren pflegte) und schraubte den Deckel ab, um ihn als Aschenbecher zu benutzen. Grace wußte, wie sehr Kathleen das Rauchen ablehnte, und sie hatte sich auch fest vorgenommen, sich in dieser Hinsicht zurückzuhalten. Aber wie die meisten Vorsätze brach sie auch diesen ohne Anflug eines schlechten Gewissens. Sie zündete sich eine Zigarette an, füllte das zweite Glas und nahm am Tisch Platz. »Erzähl mir alles, Kath. Sonst muß ich dich so lange piesacken, bis du endlich den Mund aufmachst.«
Dazu war sie durchaus fähig, wußte Kathleen. Und sie hatte das schon gewußt, bevor sie zugestimmt hatte, daß Grace sie besuchen kam. Möglicherweise war das sogar der Grund dafür gewesen, dem Ansinnen ihrer Schwester zuzustimmen. »Ich wollte die Trennung nicht. Und du brauchst mir jetzt gar nicht vorzuwerfen, ich sei blöd, weil ich an einem Mann hänge, der mich nicht will. Ich weiß nämlich selbst, wie dumm das von mir ist.«
»Ich halte dich bestimmt nicht für dumm.« Grace stieß den Zigarettenrauch aus und verbarg sich schuldbewußt dahinter, denn sie hatte ihrer Schwester schon mehr als einmal mangelnde Intelligenz unterstellt. »Du liebst Jonathan und Kevin. Sie haben dir gehört, und du willst sie behalten.«
»Ich glaube, das trifft den Punkt.« Sie nahm einen großen Schluck. Grace hatte wie so oft recht. Der Wein war wirklich gut. Es widerstrebte ihr zutiefst, das zuzugeben, und sie hatte sich lange genug dagegen gewehrt, aber jetzt war es soweit: Sie mußte dringend mit jemandem reden. Und dieser jemand sollte Grace sein; denn ihre Schwester würde trotz aller Differenzen, die zwischen ihnen bestanden hatten und immer noch bestanden, bedingungslos auf ihrer Seite stehen. »Eines Tages kam der Moment, an dem ich der Trennung zustimmte, zustimmen mußte.« Sie war noch nicht in der Lage, das Wort »Scheidung« auszusprechen. »Jonathan war ... grausam zu mir.«
»Was soll das heißen?« Grace’ leicht rauchige Stimme war wie Stacheldraht. »Hat er dich mißhandelt, gar geschlagen?« Sie war aufgesprungen und bereit, sich sofort ins nächste Flugzeug nach Kalifornien zu setzen.
»Es gibt mehrere Arten von Grausamkeit«, antwortete Kathleen müde. »Zum Beispiel seelische. Er hat mich gedemütigt. Da waren andere Frauen, recht viele sogar. Oh, Jonathan war überaus diskret. Ich glaube, nicht einmal seine besten Freunde haben davon gewußt. Aber er hat dafür gesorgt, daß ich es erfahre ... hat mich geradezu mit der Nase draufgestoßen.«
»Das tut mir so leid.« Grace setzte sich wieder hin. Sie wußte, daß es eigentlich Kathleens Art gewesen wäre, ihm dafür eine runterzuhauen. Und wenn sie darüber nachdachte, mußte sie zugeben, daß sie und ihre Schwester wenigstens in puncto ehelicher Untreue die gleiche Meinung vertraten.
»Du hast ihn doch nie gemocht.«
»Habe ich auch nicht, und es tut mir auch nicht leid.« Grace schnippte heruntergefallene Asche in den Mayonnaisedeckel.
»Das spielt ja jetzt auch keine Rolle mehr. Wie dem auch sei, als ich in die Trennung eingewilligt habe, hat Jonathan deutlich klargemacht, daß sie zu seinen Bedingungen erfolgen würde. Er wollte die Vereinbarungen aufsetzen, und darüber sollte es keine Diskussion geben. Acht Jahre meines Lebens sind ausgelöscht, und niemandem ist ein Vorwurf zu machen.«
»Kath, du weißt, daß du diesen Bedingungen nicht zustimmen mußtest! Wenn er dich betrogen hat, kannst du erst recht Ansprüche an ihn geltend machen.«
»Wie hätte ich ihm denn seine Seitensprünge nachweisen können?« Diesmal war flammende und scharfe Verbitterung in ihrer Stimme. Kathleen war anzumerken, daß sie sehr lange gewartet hatte, bis sie all die aufgestaute Enttäuschung herauslassen konnte. »Du weißt nicht, in was für einer Welt ich dort gelebt habe, Grace. Jonathan Breezewood der Dritte ist nicht wie jeder x-beliebige Normalbürger zu belangen. Er ist Anwalt, verdammt nochmal, und Partner in einer Familienkanzlei, die sogar Satan gegen Gott den Allmächtigen vertreten und eine gütliche Vereinbarung herausholen würde. Selbst wenn jemand von seinen Affären gewußt oder sie zumindest geahnt hätte, wäre er mir nicht zu Hilfe geeilt. Für unsere Freunde und Bekannten war ich nicht Kathleen, sondern Jonathans Frau, Mrs. Jonathan Breezewood III. Das war in den vergangenen acht Jahren meine ganze Identität.« Und abgesehen von Kevin war sie am schwierigsten aufzugeben gewesen. »Kein einziger von ihnen würde einer Kathleen McCabe zur Seite stehen. Aber es war schließlich meine eigene Schuld. Ich bin ganz darin aufgegangen, Mrs. Breezewood zu sein, ich wollte es unbedingt. Ich wollte die perfekte Ehefrau, die perfekte Gastgeberin, die perfekte Mutter und die Frau sein, die ihrer Familie ein perfektes Heim beschert. Und damit bin ich immer langweiliger geworden. Als ich ihm schließlich zu langweilig war, wollte er mich nur noch loswerden.«
»Verdammt nochmal, Kathleen, warum mußt du dich selbst immer so runtermachen?« Grace drückte erregt die Zigarette aus und griff nach ihrem Weinglas. »Es war seine Schuld, Himmel nochmal, und nicht deine. Du hast ihm genau das gegeben, was er von dir verlangte. Du hast deine Karriere, deine Familie, dein Zuhause, einfach alles für ihn aufgegeben und dein ganzes Leben auf ihn ausgerichtet. Und jetzt ist es damit vorbei. Du verzichtest wieder mal auf alles und bist sogar bereit, Kevin herzugeben.«
»Ich gebe Kevin nicht her!«
»Aber du hast doch gesagt ...«
»Ich habe mit Jonathan nicht um Kevin gestritten. Ich konnte es nicht, weil ich viel zuviel Angst davor hatte, was er dann tun würde.«
Grace war so wütend, daß sie ihr Weinglas lieber wieder hinstellte. »Angst davor, was er dir oder was er Kevin antun würde?«
»Nein, nicht Kevin«, antwortete Kathleen rasch. »Was immer Jonathan tun wird oder zu tun imstande ist, er wird dem Jungen kein Haar krümmen. Er liebt ihn über alles. Und mag er auch noch so ein schlechter Ehemann sein, als Vater ist er einfach wunderbar.«
»Na gut.« Grace wollte sich einstweilen ein Urteil darüber vorbehalten. »Aber du hattest Angst vor dem, was er dir antun könnte. Meinst du damit, er hätte dich körperlich angegriffen?«
»Jonathan hat nur sehr selten die Beherrschung verloren. Er hat sich gut im Griff, vermutlich weil er weiß, daß er sonst zur Gewalttätigkeit neigt. Einmal, als Kevin noch sehr klein war, habe ich ihm ein kleines Kätzchen geschenkt.« Kathleen erzählte vorsichtig und mit Bedacht, wußte sie doch, daß ihre Schwester voreilige Schlüsse zog und aus diesen eine ganze Geschichte zusammensetzte, von der man sie nur schwer wieder abbringen konnte. »Die beiden haben miteinander gespielt, und plötzlich hat das Kätzchen Kevin gekratzt. Als Jonathan später die Spuren davon auf Kevins Wange entdeckt hat, ist er so außer sich geraten, daß er das Tier vom Balkon geworfen hat. Und das aus dem dritten Stock.«
»Ich wußte ja immer, daß er etwas ganz Besonderes ist«, bemerkte Grace ironisch und nahm noch einen Schluck von dem Wein.
»Dann war da die Sache mit dem Aushilfsgärtner. Der Mann hatte aus Versehen einen Rosenstrauch ausgegraben. Es war wirklich nur ein Mißverständnis, denn er sprach nicht sehr gut Englisch. Jonathan hat ihn auf der Stelle entlassen. Darüber sind die beiden in Streit geraten. Jonathan hat ihn so furchtbar verprügelt, daß der Mann ins Krankenhaus mußte.«
»Allmächtiger!«
»Natürlich hat Jonathan später die Krankenhauskosten in voller Höhe übernommen.«
»Natürlich«, sagte Grace spitz, wußte aber, daß ihr Sarkasmus gar nicht zu Kathleen durchdrang.
»Jonathan hat ihm dann noch ein Schweigegeld bezahlt, damit er die Presse aus dem Spiel ließe. Dabei ging es doch nur um einen Rosenstrauch. Ich weiß nicht, wozu Jonathan fähig wäre, wenn ich ihm Kevin wegnehmen würde.«
»Kath, Liebes, du bist doch seine Mutter. Und du hast Rechte. Ich bin mir sicher, daß es hier in Washington ein paar ausgezeichnete Anwälte gibt. Wir suchen einige von ihnen auf und lassen uns beraten. Es gibt doch bestimmt einiges, was du unternehmen kannst.«
»Ich habe mir bereits einen Anwalt genommen«, erklärte Kathleen und mußte einen Schluck trinken, weil ihr Mund wie ausgetrocknet war. Der Wein half ihr, die Worte leichter über die Zunge zu bringen. »Und ich habe einen Privatdetektiv beauftragt. Es wird bestimmt nicht einfach, und man hat mir auch schon gesagt, daß die ganze Geschichte mich viel Zeit und Geld kosten wird. Aber so habe ich wenigstens eine Chance.«
»Ich bin sehr stolz auf dich.« Grace legte die Hände auf die ihrer Schwester und verschränkte die Finger ineinander. Die Sonne war fast untergegangen, und in der Küche breiteten sich Schatten aus. Grace’ graue Augen leuchteten jedoch auf: »Liebes, Jonathan Breezewood III. erwartet eine unliebsame Uberraschung, wenn er es mit den McCabes zu tun bekommt. Ich verfüge hier auch über die eine oder andere Verbindung.«
»Nein, Grace, ich muß sehr vorsichtig vorgehen. Niemand darf von der Aktion erfahren, nicht einmal Mom und Dad. Ich darf kein Risiko eingehen.«
Grace dachte einen Moment darüber nach, was sie über Familien wie die Breezewoods wußte. Alteingesessene Familien, Geldadel, Klans mit langen Tentakeln. »Also gut, vermutlich ist es am besten so. Ich kann dir trotzdem helfen. Anwälte und Detektive kosten ein Vermögen. Und ich habe mehr Geld, als ich brauche.«
Zum zweitenmal seit dem Wiedersehen füllten sich Kathleens Augen mit Tränen. Doch diesmal gelang es ihr, sie zurückzuhalten. Sie wußte, daß Grace über ein kleines Vermögen verfügte, und sie wollte ihr das auch nicht übelnehmen. Doch genau dieses Gefühl beherrschte sie, auch wenn ihr bewußt war, daß ihre Schwester es sich redlich verdient hatte. O Gott, warum konnte sie es ihr nicht einfach gönnen? »Ich muß da allein durch.«
»Kath, jetzt ist nicht der richtige Moment für falschen Stolz. Du kannst eine Schlacht wie diese nicht mit einem Lehrergehalt gewinnen. Und bloß, weil du dich wie eine Idiotin benommen und dich ohne einen Penny von Jonathan hast vor die Tür setzen lassen, mußt du noch lange nicht meinen, du könntest jetzt auf meine finanzielle Hilfe verzichten.«
»Ich wollte nichts von Jonathan haben. Ich habe die Ehe mit genau dem verlassen, was ich in sie eingebracht habe: dreitausend Dollar.«
»Ich will dir jetzt gar nicht groß mit der Frauenemanzipation kommen, aber der Umstand bleibt bestehen, daß du dir nach acht Jahren Ehe mindestens eine Abfindung verdient hast. Und hier geht es doch nur darum, daß ich deine Schwester bin und dir helfen will.«
»Aber nicht mit Geld. Du kannst es falschen Stolz nennen, aber es ist sehr wichtig für mich, die Sache allein durchzustehen. Davon abgesehen habe ich mir eine Beschäftigung nach Feierabend gesucht.«
»Was denn? Etwa Tupperware-Partys abhalten? Oder denkfaulen Kindern Nachhilfe geben? Oder gehst du gar auf den Strich?«
Zum erstenmal seit Wochen lachte Kathleen befreit auf. Sie schenkte für sie beide Wein nach. »Du hast ins Schwarze getroffen.«
»Du verkaufst wirklich Tupperware?« Grace brauchte eine halbe Sekunde, um das zu verdauen. »Führen sie immer noch diese kleinen Cornflakes-Schüsseln mit den undurchlässigen Deckeln?«
»Keine Ahnung. Ich vertreibe keine Tupperware.« Sie nahm einen langen Schluck. »Ich arbeite in Sachen Liebe.«
Sie erhob sich, um das Licht einzuschalten, und Grace mußte dringend etwas trinken. Es kam selten genug vor, daß Kathleen einen Witz machte. Deshalb wußte sie jetzt nicht, ob sie lachen sollte. Sie entschied sich dafür, erst einmal nachzufragen: »Hast du nicht vorhin gesagt, du seist an Sex nicht mehr interessiert?«
»Auf mich persönlich trifft das auch voll und ganz zu, wenigstens für den Augenblick. Ich bekomme für einen siebenminütigen Anruf sieben Dollar, und wenn ich einen Stammkunden dranhabe, muß er insgesamt zehn ausspucken. Die meisten meiner Anrufer sind Stammkunden. Im Durchschnitt führe ich pro Abend zwanzig Telefonate, und das an drei Tagen in der Woche. Hinzu kommen fünfundzwanzig bis dreißig Anrufe an den Wochenenden. So komme ich in der Woche locker auf neunhundert Dollar.«
»Großer Gott!« Grace’ erster Gedanke war, daß sie ihrer Schwester so viel Energie nie zugetraut hätte. Doch dann kam ihr gleich in den Sinn, daß Kathleen sich einen Scherz mit ihr erlaubte, um sie davon abzubringen, ihr Geld geben zu wollen.
Grace starrte ihre Schwester in dem grellen Neonlicht an. Nichts in ihrer Miene oder in ihrem Blick ließ den Schluß zu, daß sie scherzte. Im Gegenteil, sie machte einen durchaus selbstzufriedenen Eindruck. So wie damals, in ihrer Kindheit, als sie fünf Schachteln Pfadfinder-Plätzchen mehr verkauft hatte als Grace.
»Allmächtiger!« stöhnte Grace wieder und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Kommt keine Moralpredigt, Gracie?« »Nein.« Sie schluckte hart und mußte etwas trinken. Grace war sich noch lange nicht im klaren darüber, welchen moralischen Standpunkt sie in diesem Fall einnehmen sollte. »Tut mir leid, Kath, aber das muß sich erst in mir setzen. Hast du das eben wirklich ernst gemeint?«
»Absolut ernst.«
Natürlich, Kathleen machte nie Witze. Zwanzig Anrufe in der Nacht, dachte Grace und schüttelte sich, um das Bild aus ihren Gedanken zu vertreiben. »Nein, du bekommst von mir keine Moralpredigt, aber ich werde dir wohl etwas über gesunden Menschenverstand erzählen müssen. Mein Gott, Kathleen, hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Irre und Spinner sich da draußen herumtreiben? Selbst ich weiß das, und ich hatte seit sechs Monaten keine richtige Verabredung mehr, nur geschäftliche Treffen und so. Und ich rede hier nicht davon, daß du dir dabei etwas holen kannst, das du neun Monate später auf den Knien schaukelst. Was du da treibst, Kathleen, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Und wenn du nicht auf der Stelle damit aufhörst, werde ich ...«
»Mom davon erzählen?«
»Mir ist es auch ernst!« Grace rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her, denn ihr hatte genau das auf der Zunge gelegen, was Kath gesagt hatte. »Und wenn du schon nicht an dich selbst denken willst, dann wenigstens an Kevin. Falls Jonathan davon Wind bekommen sollte, kannst du es dir abschminken, deinen Sohn jemals wiederzusehen.«
»Ich denke dabei an Kevin. Er ist alles, woran ich in diesen Zeiten überhaupt denken kann. Jetzt trink deinen Wein, Grace, und hör mir zu. Du hast immer schon dazu geneigt, vorschnell zu urteilen, noch bevor du alle Fakten kanntest.«
»Eines dieser Fakten lautet ja wohl, daß meine Schwester nach Feierabend als Callgirl tätig ist.«
»Damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich bin ein ›Callgirl‹, eine Frau, die man anruft. Ich verkaufe meine Stimme, Grace, nicht meinen Körper.«
»Nach zwei bis drei Gläsern Wein arbeitet mein Verstand anscheinend nicht mehr so gut. Warum erklärst du es mir nicht in ganz einfachen Worten, Kath?«
»Ich arbeite für Fantasy, Incorporated. Eine Firma, die sich auf Telefonservice aller Art spezialisiert hat.«
»Telefonservice?« rief Grace. Sie zog kräftig an der Zigarette. »Du redest doch nicht etwa von Telefonsex, oder?«
»Über Sex zu reden, ist alles, was ich in den letzten zwölf Monaten gemacht habe.«
»In einem ganzen Jahr?« Grace mußte jetzt erst recht schlucken. »Ich würde dir ja gern mein Beileid aussprechen, aber im Moment muß ich das erst einmal verdauen. Jetzt mal im Ernst: Du tust das, wofür im hinteren Anzeigenteil von Herrenmagazinen immer geworben wird?«
»Woher kennst du dich denn so gut mit Herrenmagazinen aus?«
»Im Rahmen von Recherchen mußte ich mich auch einmal damit befassen. Und du willst mir sagen, bloß dafür, dich mit ein paar Männern am Telefon zu unterhalten, bekommst du tausend Dollar in der Woche?«
»Ich hatte immer schon eine besonders angenehme Stimme.«
»Ja.« Grace lehnte sich zurück und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß ihre Schwester auch nur einmal in ihrem Leben etwas Unkonventionelles gemacht hatte. Kathleen hatte sogar bis zur Hochzeitsnacht gewartet, ehe sie mit Jonathan ins Bett gegangen war. (Grace wußte das, weil sie gefragt hatte, sowohl sie als auch ihn.) Dann fiel ihr etwas ein, das sie zum Lachen brachte, weil es so komisch war. »Schwester Mary Francis hat damals in der achten Klasse erklärt, du hättest die sauberste und klarste Stimme der ganzen Jahrgangsstufe. Ich würde gerne wissen, was die treue Seele wohl sagen würde, wenn sie wüßte, daß diese wunderbare Stimme heute als Telefonhure arbeitet.«
»Ich finde diesen Ausdruck nicht besonders nett, Grace.«
»Ach, hab dich nicht so. Hört sich doch irgendwie lustig an.« Sie kicherte. »Tut mir leid. Dann erzähl mir doch bitte, wie das alles vor sich geht.«
Kathleen hätte wissen müssen, daß Grace sich erst einmal darüber amüsieren würde. Von ihrer Schwester hatte man selten Vorwürfe oder Anschuldigungen zu erwarten. Die Verspannung zwischen Kathleens Schultern löste sich langsam, als sie das Glas erneut zum Mund führte. »Also gut: Die Männer rufen bei der Nummer von Fantasy an, und wenn sie Stammkunden sind, verlangen sie eine bestimmte Frau. Erstanrufer werden gebeten, ihre persönlichen Vorlieben anzugeben, und dann sucht man dort die passende Dame für sie aus.«
»Was sind das denn für Vorlieben?«
Kathleen kannte Grace’ Neigung, alles ganz genau erfahren zu wollen und notfalls nachzubohren. Doch nach drei Gläsern Wein ärgerte sie sich nicht mehr darüber. »Manche Männer reden lieber selber und erzählen dir dann, was sie sich gerade vorstellen, das sie mit dir machen, und was sie an sich selbst anstellen. Aber es gibt auch solche, die der Frau das Reden überlassen. Es heizt sie auf, wenn die Frau ihnen erzählt, wie sie aussieht, was sie anhat und wie es in dem Zimmer aussieht, in dem sie sich aufhält. Und dann gibt es Männer, die auf Sadomasochismus, Fesseln und ähnliches stehen. Aber solche Kunden nehme ich nicht.«
Grace verzog das Gesicht, um nicht loszuprusten. »Du sprichst nur mit denen, die ehrlichen, schweißtreibenden Sex wollen.«
Zum erstenmal seit sehr langer Zeit fühlte Kathleen sich auf die angenehmste Weise entspannt. »Ganz recht. Und ich bin sogar ziemlich gut auf meinem Gebiet. Viele Anrufer verlangen mich.«
»Da kann man ja nur gratulieren.«
»Weiter: Also die Männer rufen an und hinterlassen ihre Telefonnummer und die Nummer ihrer Kreditkarte. Das Büro überprüft dann die Karte und tritt mit einer von uns in Kontakt, zum Beispiel mit mir. Wenn ich zustimme und Zeit habe, rufe ich den Herrn von dem Telefon aus an, das Fantasy hier installiert hat und das über das Büro läuft.«
»Klar. Und dann?«
»Dann unterhalten wir uns.«
»Dann unterhaltet ihr euch ... Deshalb hast du in deinem Arbeitszimmer auch den zweiten Apparat stehen, oder?«
»Dir entgeht auch nichts, was?« Kathleen stellte fest, wenn auch vollkommen ohne Reue, daß sie auf dem besten Wege war, einen Schwips zu bekommen. Es fühlte sich so gut an, Watte im Kopf zu haben, keine Last mehr auf den Schultern zu spüren und der eigenen Schwester am Tisch gegenüberzusitzen.
»Kath, was hindert diese Kerle denn daran, an deinen Namen und deine Adresse zu gelangen? Einer von ihnen könnte doch auf die Idee kommen, daß ihm deine Stimme nicht mehr ausreicht.«
Kathleen schüttelte langsam den Kopf und wischte mit einem Finger den feuchten Kranz vom Tisch, den das Glas hinterlassen hatte. »Alle Akten von Mitarbeitern der Firma stehen unter strengstem Verschluß. Einem Anrufer wird nie, unter gar keinen Umständen, unsere Privatnummer gegeben. Und fast alle von uns benutzen falsche Namen. Ich zum Beispiel melde mich als Desiree.«
»Desiree ...« Grace wiederholte den Namen mit einiger Bewunderung.
»Ich bin ein Meter sechzig groß und blond. Und ich habe einen absoluten Traumkörper.«
»Was?« Normalerweise vertrug Grace Alkohol besser als ihre Schwester, aber sie hatte heute nicht mehr als einen Schokoladenriegel auf dem Weg zum Flughafen zu sich genommen. Die Vorstellung, ihre Schwester habe ein Alter ego, erschien ihr jetzt nicht nur plausibel, sondern auch logisch. »Dazu kann man dir ja wirklich nur gratulieren. Aber was passiert, wenn einer der männlichen Angestellten von Fantasy, Incorporated, beschließt, das Arbeitsverhältnis zu einer der weiblichen Angestellten auf eine mehr private Ebene zu verlagern?«
»Du arbeitest schon wieder an einem neuen Roman, was?«
»Schon möglich, aber trotzdem ...«
»Grace, wir sind wirklich perfekt geschützt. Alles läuft streng auf rein geschäftlicher Ebene ab. Ich rede am Telefon, der Kunde bekommt das, wofür er bezahlt hat, die Firma macht dabei auch ihren Schnitt, und so sind alle Beteiligten glücklich und zufrieden.«
»Klingt vernünftig.« Grace schwenkte den Wein in ihrem Glas und versuchte, alle Zweifel zu verdrängen. »Und damit liegst du voll im Trend. Das neue Sexualverhalten der Neunziger. Von einem Telefongespräch kann man schließlich kein AIDS bekommen.«
»Ja, vom medizinischen Standpunkt ist das sehr vernünftig. Worüber lachst du denn?«
»Ich stelle mir das nur gerade vor.« Grace wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »›Haben Sie Angst vor einer festen Bindung? Sind Sie die Single-Bars leid? Dann rufen Sie Fantasy, Incorporated, an und sprechen Sie mit Desiree, Delilah oder Dee-Dee. Orgasmus garantiert oder Geld zurück. Wir akzeptieren alle gebräuchlichen Kreditkarten.‹ Himmel, ich sollte wirklich auf Werbetexter umsatteln.«
»Ich habe diese Sache nie als Witz angesehen.«
»Du hast überhaupt nur sehr wenige Dinge im Leben leichtgenommen«, entgegnete Grace, wenn auch freundlich. »Hör mal, wenn der nächste Kunde anruft, darf ich dann neben dir sitzen und mithören?«
»Nein.«
Grace zuckte nach dieser Ablehnung nur die Achseln. »Na ja, da können wir später nochmal drüber reden. Wann essen wir denn?«
Als sie in dieser Nacht, angefüllt mit Pasta und Wein, in das Bett in Kathleens Gästezimmer schlüpfte, fühlte Grace eine Nähe zu ihrer Schwester, wie sie sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Wann war Kathleen zuletzt so lange aufgeblieben, hatte mit ihr getrunken und wie mit ihrer besten Freundin geredet? Es fiel Grace nicht leicht, sich einzugestehen, daß es eigentlich nie so zwischen ihnen abgelaufen war.
Kathleen unternahm endlich etwas Außergewöhnliches, und parallel dazu fing sie endlich an, auf eigenen Beinen zu stehen und sich um sich selbst zu kümmern. Solange ihre Schwester sich damit nicht in Schwierigkeiten brachte, war Grace nicht nur vollauf damit einverstanden, sondern geradezu begeistert darüber. Kathleen übernahm die Kontrolle über ihr Leben. Und allem Anschein nach ging es ihr richtig gut dabei.
Grace hörte das leise Dröhnen, das nicht vergehen wollte, und machte den Wein dafür verantwortlich. Sie stöhnte nicht und beschwerte sich auch nicht über den Kater; schließlich hatte man ihr schon in früher Kindheit beigebracht, daß jeder Sünde, gleichgültig, ob läßlich oder schwer, die Bestrafung folgte. Dieser Grundsatz war einer der wenigen Aspekte ihrer katholischen Erziehung, die sie auch als Erwachsene nicht abgelegt hatte.
Die Sonne stand schon am Himmel, und ihre Strahlen drangen mühelos durch den dünnen Vorhang am Fenster. Um dem grellen Schein zu entgehen, vergrub sie ihr Gesicht im Kissen. Dem Licht entfloh sie damit, dem Dröhnen jedoch nicht. Grace konnte nicht mehr einschlafen, und das ärgerte sie wirklich.
Mit dem Gedanken an Aspirin und Kaffee stieg sie schließlich aus dem Bett. Erst jetzt erkannte sie, daß das schreckliche Geräusch nicht in ihrem Kopf war, sondern von draußen kam. Grace kramte in ihrer Tasche und zog schließlich einen abgetragenen Samtmorgenmantel heraus. Zu Hause in ihrem begehbaren Kleiderschrank hing einer aus Seide, ein Geschenk eines früheren Liebhabers. Ihre Erinnerungen an ihn waren voller Zärtlichkeit, aber trotzdem bevorzugte sie den alten Morgenmantel. Noch nicht ganz wach, stolperte sie zum Fenster und zog den Vorhang auf.
Ein wunderbarer Tag erwartete sie, leicht kühl und voll von den Düften des Frühlings und der erwachenden Erde. Ein Maschendrahtzaun trennte Kathleens Garten vom Nachbargrundstück. Ein vernachlässigter und leicht verwilderter Forsythienstrauch wuchs daran. Er gab sich redliche Mühe zu erblühen, und in Grace’ Augen wirkten die kleinen gelben Knospen mutig und kühn. In diesem Moment wurde ihr bewußt, wie sehr sie Treibhaus- und Zuchtblumen mit ihren perfekten Blüten satt hatte. Herzhaft gähnend ließ sie den Blick über das Grundstück auf der anderen Seite wandern.
Und dann sah sie ihn nicht weit von der Hintertür des Nachbarhauses. Lange schmale Bretter ruhten auf Sägeböcken, und der Mann maß, markierte und schnitt sie mit einem lässigen Sachverstand, den Grace als überaus anziehend empfand. Fasziniert öffnete sie das Fenster, um besser sehen zu können. Die Morgenluft war kühler, als sie erwartet hatte, aber sie genoß die frische Brise dennoch, blies sie doch Klarheit in ihren Kopf. Wie der Forsythienbusch war der Mann den Anblick durchaus wert.
Paul Bunyan fiel ihr ein, und sie mußte grinsen. Der Mann war ein Meter neunzig groß und besaß die Figur eines Footballspielers. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, wie sich die starken Muskeln unter seiner Jacke bewegten. Er hatte dichtes rotes Haar und trug einen Bart – nicht einen modisch getrimmten Dreitagebart, sondern einen richtigen Vollbart. Grace bemerkte, daß sich seine Lippen in diesem Haargewirr zum Gesang der Country-Musik bewegten, die aus einem Kofferradio drang.
Als das Dröhnen aufhörte, hatte sie sich aus dem Fenster gebeugt, stützte sich auf den Ellenbogen auf und lächelte ihm zu. »Hi!« rief Grace. Ihr Lächeln wurde breiter, als er sich umdrehte und zu ihr hinaufblickte. Ihr fiel auf, wie sein Körper sich dabei anspannte, nicht so sehr aus Überraschung, sondern eher wie bereit zur Aktion. »Ihr Haus gefällt mir!«
Ed entspannte sich, als er die Frau im Fenster entdeckte. In dieser Woche hatte er sechzig Stunden gearbeitet und einen Menschen getötet. Der Anblick einer hübschen Frau, die ihm vom ersten Stock des Nachbarhauses zulächelte, beruhigte seine strapazierten Nerven. »Danke.«
»Renovieren Sie gerade?«
»Ja, Stück für Stück.« Er schirmte die Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab und betrachtete sie. Nein, das war nicht seine Nachbarin. Obwohl er und Kathleen kaum mehr als ein Dutzend Wörter miteinander gewechselt hatten, war ihm ihr Anblick vertraut. Allerdings sah die Frau im Fenster mit dem fröhlichen Gesicht und dem zerzausten Haar ihr ähnlich. »Sie sind zu Besuch hier?«
»Ja, Kathy ist meine Schwester. Ich schätze, sie hat das Haus schon verlassen. Sie ist nämlich Lehrerin.«
»Ach so.« In zwei Sekunden hatte er mehr über seine Nachbarin erfahren als zuvor in zwei Monaten: Die Kurzform ihres Namens lautete Kathy, sie hatte eine Schwester, und sie war Lehrerin. Ed legte das nächste Brett auf die Böcke. »Bleiben Sie länger?«
»Ich weiß noch nicht.« Sie beugte sich etwas weiter nach draußen, damit der Wind durch ihr Haar fahren konnte – ein Genuß, der ihr im temporeichen New York versagt blieb. »Haben Sie die Azaleen im Vorgarten angepflanzt?«
»Ja, letzte Woche.«
»Sie sehen toll aus. Ich denke, ich werde auch ein paar einsetzen, für Kath.« Grace lächelte wieder breit. »Bis bald.« Sie zog den Kopf ein und war verschwunden.
Ed starrte mindestens noch eine Minute auf das leere Fenster. Die Unbekannte hatte es offengelassen, obwohl die Tagestemperatur noch nicht einmal fünfzehn Grad erreicht hatte. Er zückte einen dicken Bleistift und zog wieder Markierungsstriche. Das Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor. Die Gabe, nie ein Gesicht zu vergessen, kam ihm bei seiner Arbeit sehr zugute. Er wußte, daß ihm über kurz oder lang der Name zu diesen Zügen einfallen würde.
Im Haus zog Grace sich einen Pullover an. Ihre Haare waren vom Duschen noch feucht, aber sie hatte keine Lust, sich jetzt lange mit Fön und Stylingbürsten aufzuhalten. Schließlich warteten Kaffee und die Zeitung auf sie. Und dann mußte noch ein Mord aufgeklärt werden. Wenn nichts dazwischenkam, konnte sie gleich ihren Maxwell einschalten und genug Arbeit erledigt haben, bis Kathleen von der Our Lady of Hope zurückkehrte.
Unten in der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein und suchte im Kühlschrank nach etwas Eßbarem. Am ehesten kamen noch die Spaghetti in Frage, die von gestern abend übriggeblieben waren. Grace griff hinter die Eier und zog den praktischen Plastikbehälter heraus. Nach einminütiger Inspektion der Küche stand fest, daß Kaths Einrichtung den Anschluß an das elektronische Zeitalter noch nicht so weit vollzogen hatte, um über so etwas wie eine Mikrowelle zu verfügen. Sie warf den Deckel des Behälters in die Spüle und war bereit, die Spaghetti kalt zu essen. Beim ersten Bissen entdeckte sie auf dem Küchentisch eine Nachricht. Kathleen hatte immer schon gern Zettel zurückgelassen.
Nimm dir in der Küche, was du brauchst. Grace lächelte und schob sich die nächste Gabelladung kalter Pasta in den Mund. Mach dir keine Gedanken um das Abendbrot, ich besorge uns unterwegs ein paar Steaks. Sie wußte, daß ihre Schwester sie damit höflich darum bat, in der Küche keine Unordnung anzurichten. Heute nachmittag haben wir eine Sitzung. Ich werde so gegen halb sechs wieder da sein. Benutz auf gar keinen Fall das Telefon in meinem Arbeitszimmer.
Grace zog die Nase kraus, als sie die Notiz einsteckte. Es würde viel Zeit kosten und einiger Überredungskünste bedürfen, um mehr über diese nächtlichen Abenteuer in Erfahrung zu bringen. Und dann mußte sie auch noch den Namen von Kathleens Anwalt ausfindig machen. Trotz der Bedenken und des dummen Stolzes ihrer Schwester wollte Grace unbedingt persönlich mit dem Mann sprechen. Wenn sie es nur vorsichtig genug anginge, hätte Kathleen keinen Grund, sich bevormundet zu fühlen. Außerdem mußte man gelegentlich kleine Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen und direkt auf das Ziel vorstoßen. Solange ihre Schwester Kevin nicht zurückhatte, würde es ihr nie gelingen, ihr Leben in Ordnung zu bringen. Dieser elende Breezewood hatte nicht das geringste Recht, den Sohn als Waffe gegen seine Frau zu benutzen.
Er hat immer schon gewußt, dachte Grace, wie er das bekommt, was er haben will. Jonathan Breezewood III. war ein kalter und berechnender Manipulator, der seinen Familiennamen und sein Geld dazu einzusetzen wußte, seine Ziele zu erreichen. Aber dieses Mal sollte er nicht triumphieren. Grace würde schon eine Möglichkeit finden, alles zum Guten zu fügen, auch wenn sie sich dabei unter Umständen der gleichen Mittel wie Jonathan bedienen mußte.
Als sie die Warmhalteplatte an der Kaffeemaschine einschaltete, klopfte es an der Tür.
Meine Kiste, schoß es ihr gleich in den Sinn. Sie eilte mit Gabel und Spaghettidose in die Diele. Zehn Dollar müßten eigentlich ausreichen, den Lieferanten zu überreden, das gute Stück hinauf in den ersten Stock zu befördern. Als sie die Tür öffnete, hatte sie schon ihr überzeugendstes Lächeln aufgesetzt.
»G. B. McCabe, habe ich recht?« Ed stand draußen und hielt ein Exemplar von Murder in Style in der Hand. Er hatte sich fast einen Finger abgesägt, als ihm der Name zu dem Gesicht endlich eingefallen war.
»Ja, stimmt.« Sie warf einen Blick auf das Autorenfoto auf dem Cover. Darauf war sie mit einer sehr modischen, gekräuselten Frisur abgebildet. Der Fotograf hatte die Schatten betont, um sie geheimnisvoll erscheinen zu lassen. »Sie haben aber ein gutes Auge. Auf dem Bild würde ich mich selbst kaum wiedererkennen.«
Jetzt, da er vor ihrer Tür stand, wußte er nicht mehr so recht weiter. So etwas widerfuhr ihm regelmäßig, wenn er aus einem Impuls heraus handelte; ganz besonders bei Frauen. »Ich mag Ihre Bücher. Die meisten davon habe ich gelesen.«
»Nur die meisten?« Sie lächelte ihn an und stieß die Gabel in die Pasta. »Wissen Sie denn nicht, daß Schriftsteller ein ebenso großes wie empfindliches Ego ihr eigen nennen? In solchen Fällen müssen Sie sagen, daß sie jedes Wort von mir verschlungen haben und gar nicht genug davon bekommen können.«
Er entspannte sich ein wenig, weil ihr Lächeln ihn aufzufordern schien, das jetzt schleunigst nachzuholen. »Wie fallen Ihnen nur immer wieder so mörderisch gute Geschichten ein?«
»Ich bin ein Naturtalent.«
»Als mir eingefallen ist, wer Sie sind, verspürte ich sofort den Wunsch hierherzukommen, um festzustellen, ob ich richtig gelegen habe.«
»Tja, dann haben Sie jetzt den ersten Preis gewonnen. Aber warum kommen Sie denn nicht herein?«
»Danke.« Er schob das Buch von der einen in die andere Hand und kam sich vor wie ein Idiot. »Ich wollte aber eigentlich nicht stören.«
Grace betrachtete ihn für einen langen Moment. Aus der Nähe wirkte er sogar noch beeindruckender. Und seine Augen waren blau, ein dunkles, sehr interessantes Blau. »Wie, soll das heißen, Sie wollen kein Autogramm von mir?«
»Ja, doch, nur ...«
»Dann müssen Sie aber hereinkommen.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm und zog ihn in die Diele. »Der Kaffee ist noch warm.«
»Das trinke ich nicht.«