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Adriana erlebt in ihrer Kindheit Traumatisches, doch sie geht als starke Frau daraus hervor. Schon mit siebzehn gründet sie ein Fitness-Unternehmen in New York. Mit der Fanpost erreicht sie auch ein Drohbrief, dem jedes Jahr ein weiterer folgen wird. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolges beschließt sie nach Traveler’s Creek zurückzukehren, wo ihre Großeltern leben. In dem malerischen Städtchen in Maryland begegnet sie unverhofft ihrem Jugendfreund Raylan wieder. Während Familie und Freunde zusammenrücken und alte Wunden heilen, wird die Gefahr durch Adrianas Stalker immer größer und wirft einen Schatten auf das Paradies. Doch diesmal ist sie bereit, sich zu verteidigen.
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Seitenzahl: 651
Zum Buch
Adriana erlebt in ihrer Kindheit Traumatisches, doch sie geht als starke Frau daraus hervor. Schon mit siebzehn gründet sie ein gefeiertes Fitnessunternehmen in New York. Alles scheint perfekt, aber dann erreicht Adriana ein Drohbrief, dem jedes Jahr ein weiterer folgen wird. Um Abstand zu gewinnen, beschließt sie, nach Traveler’s Creek zurückzukehren, wo ihre Großeltern leben. Während Familie und Freunde zusammenrücken und alte Wunden heilen, kommt Adrianas Stalker immer näher. Doch diesmal ist sie bereit, sich zu verteidigen.
Zur Autorin
Nora Roberts wurde 1950 geboren und gehört heute zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 500 Millionen Exemplaren, und auch in Deutschland erobert sie mit ihren Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland, USA.
nora
roberts
Vermächtnis
der Dunkelheit
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Christiane Burkhardt
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Copyright © 2021 by Nora Roberts
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
Legacy bei St. Martin’s Press, New York.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Redaktion: Claudia Krader
Covergestaltung: t.mutzenbach design, München
Covermotive: © Trevillion Images (© Drunaa; © Sandra Cunningham);
Shutterstock.com (ANP; hermitis; Auchitya Ray)
Autorenfoto: © Bruce Wilder
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-28146-5V003
www.diana-verlag.de
Für meine Kinder und deren Kinder.
Und für alle, die danach kommen.
Teil 1
Aufstieg
Die Fähigkeit, Gutes zu tun, ist der eigentliche
und rechtmäßige Sinn und Zweck allen Strebens.
Sir Francis Bacon
1
GEORGETOWN
Als Adriana Rizzo ihrem Vater das erste Mal begegnete, versuchte er, sie umzubringen.
Mit sieben bestand ihr Leben hauptsächlich darin, unterwegs zu sein. Sie wohnte überwiegend in New York bei ihrer Mutter und Mimi, die sich um sie beide kümmerte. Manchmal blieben sie auch für ein paar Wochen in L.A., Chicago oder Miami.
Im Sommer besuchte sie für mindestens zwei Wochen ihre Großeltern in Maryland. Das gefiel ihr am besten, weil es dort Hunde gab, einen großen Garten, in dem man spielen konnte, und eine Reifenschaukel.
Wenn sie in Manhattan waren, ging sie zur Schule. Das fand sie toll. Sie bekam Ballett- und Turnunterricht, was noch viel besser war als Schule.
Mussten sie wegen der Arbeit ihrer Mutter reisen, wurde sie von Mimi unterrichtet, denn sie sollte schließlich etwas lernen. Mimi bezog den Ort, an dem sie sich gerade aufhielten, stets in ihre Lektionen mit ein. Da sie sich einen ganzen Monat in Washington, D. C., befanden, bestand ein Teil des Unterrichts darin, Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, eine Führung durchs Weiße Haus zu machen und sich das Smithsonian Museum anzuschauen.
Manchmal durfte sie ihre Mutter zur Arbeit begleiten, auch das gefiel ihr sehr. Immer wenn sie an einem der Fitnessvideos ihrer Mutter mitwirken durfte, musste sie einen Bewegungsablauf einstudieren, zum Beispiel für Cardio Dance oder Yoga.
Sie lernte gern, sie tanzte gern.
Bereits mit fünf hatte sie zusammen mit ihrer Mutter ein Video gedreht, das sich an Familien mit Kindern richtete. Ein Yoga-Video, bei dem sie sozusagen das »Baby« in Baby Yoga war und die Partnerin ihrer Mutter. Darauf war sie stolz und außerdem aufgeregt, weil ihre Mutter angekündigt hatte, noch eines zu drehen. Vielleicht wenn sie zehn wäre, um diese Altersgruppe anzusprechen.
Ihre Mutter wusste alles über Altersgruppen, Bevölkerungsstatistiken und solche Sachen. Adriana hörte, wie sie mit ihrem Manager und ihren Produzenten darüber redete. Ihre Mutter wusste auch viel über Fitness, über das Zusammenspiel von Körper und Geist, über Ernährung und Meditation und so.
Nur vom Kochen verstand sie nichts – im Gegensatz zu Popi und Nonna, denen ein Restaurant gehörte. Und im Gegensatz zu Mimi spielte sie nicht gerne Spiele, weil sie schwer damit beschäftigt war, ihre Karriere voranzutreiben.
Sie hatte viele Meetings und Proben, Vorbereitungstreffen, öffentliche Auftritte und Interviews. Schon mit sieben wusste Adriana, dass Lina Rizzo kein sehr mütterlicher Typ war.
Dafür hatte sie nichts dagegen, wenn Adriana mit ihrem Make-up spielte. Solange sie alles wieder dorthin zurückräumte, wo es hingehörte. Sie wurde auch nie böse, wenn sie einen Bewegungsablauf einübten und Adriana Fehler machte.
Das Schönste an dieser Reise war, dass sie nach Ende der Dreharbeiten, nach all den Interviews und Besprechungen nicht gleich wieder nach New York zurückfliegen, sondern für ein verlängertes Wochenende zu ihren Großeltern fahren würden. Adriana wollte sie dazu überreden, eine ganze Woche zu bleiben. Doch noch saß sie in der Tür auf dem Fußboden und sah zu, wie ihre Mutter eine neue Choreografie einstudierte.
Lina hatte sich für dieses Haus entschieden, weil es über einen Fitnessraum mit verspiegelten Wänden verfügte, was für sie genauso wichtig war wie die Anzahl der Zimmer. Sie machte Squats und Ausfallschritte, Kneelifts und Burpees – alles Fachausdrücke, die Adriana kannte. Lina sprach mit dem Spiegel, ihren Zuschauern, erteilte Anweisungen und feuerte sie an. Ab und zu fluchte sie und begann wieder von vorn.
Adriana fand sie wunderschön. Sie sah aus wie eine verschwitzte Prinzessin, obwohl sie ungeschminkt war, weil weder Leute noch Kameras zugegen waren.
Sie hatte grüne Augen wie Nonna und einen Teint wie von der Sonne geküsst, die sie in Wahrheit mied. Ihr Haar, das mit einem elastischen Band zusammengefasst war, hatte die Farbe jener Kastanien, die man zur Weihnachtszeit warm und duftend in einer Papiertüte kaufen konnte. Sie war groß, wenn auch nicht so groß wie Popi. Adriana hoffte, eines Tages auch so groß zu werden.
Sie trug enge, knappe Shorts und einen Sport-BH, würde aber bei ihren Videos oder Auftritten nie etwas anziehen, das zu viel zeigte. Das sei stillos, pflegte Lina zu sagen.
Da sie dazu erzogen worden war, auf die Gesundheit von Körper und Seele zu achten, wusste Adriana, dass ihre Mutter fit, durchtrainiert und einfach super war.
Lina murmelte leise vor sich hin und machte sich Notizen zum Konzept des Videos, wie Adriana wusste. Es würde aus drei Teilen bestehen – Ausdauer, Kraft und Yoga, jeder Teil dreißig Minuten lang. Dazu kam noch eine Viertelstunde Ganzkörpertraining als Bonusmaterial.
Lina griff nach einem Handtuch, um sich das Gesicht abzutupfen, und bemerkte ihre Tochter. »Huch, Adriana, hast du mich erschreckt! Ich wusste gar nicht, dass du hier bist. Wo steckt Mimi?«
»Die ist in der Küche. Heute gibt es Hühnchen mit Reis und Spargel zum Abendessen.«
»Super. Wieso hilfst du ihr nicht ein bisschen? Ich muss dringend unter die Dusche.«
»Wieso bist du sauer?«
»Ich bin nicht sauer.«
»Du warst sauer, als du vorhin mit Harry telefoniert hast. Du hast ihn angeschrien, dass du niemandem was gesagt hast. Schon gar keinem geschwätzigen Klatschreporter.«
Lina riss sich das Band aus den Haaren, wie immer, wenn sie Kopfweh hatte. »Du solltest keine Privatgespräche belauschen.«
»Ich habe nicht gelauscht. Ich habe es mit angehört. Bist du sauer auf Harry?« Adriana mochte den PR-Mann wirklich gern. Er steckte ihr immer kleine Tütchen mit Schokolinsen oder Kaubonbons zu und erzählte lustige Witze.
»Nein, ich bin nicht sauer auf Harry. Los, hilf Mimi. Sag ihr, in einer halben Stunde bin ich da.«
Und ob sie sauer ist, richtig sauer, dachte Adriana, als ihre Mutter ging. Vielleicht nicht auf Harry, aber auf jemand anders, weil sie jede Menge Fehler beim Üben gemacht und viel geflucht hatte. Ihre Mutter machte nur sehr selten Fehler. Oder sie hatte bloß Kopfweh. Mimi meinte, die Leute bekämen manchmal Kopfweh, wenn sie sich zu viele Sorgen machten.
Adriana stand auf. Weil es langweilig war, beim Kochen zu helfen, ging sie in den Fitnessraum. Sie stellte sich vor die Spiegel. Sie war recht groß für ihr Alter und hatte lockiges Haar, das aus einem grünen Haargummi rutschte. Es war schwarz wie das ihres Großvaters früher. Ihre Augen waren zu golden, um noch als grün durchzugehen wie die ihrer Mutter. Doch sie hoffte, dass sich das noch ändern würde.
In ihren knallrosa Shorts und dem geblümten T-Shirt posierte sie und tanzte zur Musik in ihrem Kopf. Sie liebte ihre Tanz- und Gymnastikkurse in New York. Doch jetzt stellte sie sich nicht vor, sie hätte Unterricht, sondern würde selbst welchen geben. Sie wirbelte um die eigene Achse, machte Kicks, einen Handstand, Spagat, Cross-Steps, legte Salsaschritte sowie ein paar Sprünge ein und dachte sich spontan eine Choreografie aus.
Zwanzig Minuten vertrieb sie sich so die Zeit. Die letzten unbeschwerten zwanzig Minuten ihres Lebens.
Dann klingelte jemand an der Haustür. Und hörte gar nicht mehr damit auf. Das Klingeln klang wütend – ein Geräusch, das sie nie mehr vergessen würde. Sie durfte nicht selbst aufmachen, aber das hieß nicht, dass sie nicht nachschauen konnte. Sie ging ins Wohnzimmer und von dort in den Flur.
Mimi kam aus der Küche. Sie trocknete sich die Hände an einem knallroten Geschirrtuch ab, während sie zur Tür eilte. »Meine Güte, brennt’s, oder was?« Rasch steckte sie das Geschirrtuch in den Bund ihrer Jeans, sah Adriana an und verdrehte die Augen. Dann rief die kleine Frau mit kräftiger Stimme: »Immer mit der Ruhe!«
Adriana wusste, dass Mimi genauso alt war wie ihre Mutter, weil die beiden zusammen auf dem College gewesen waren.
»Was haben Sie nur für ein Problem?«, giftete Mimi und schob den Riegel zurück.
Adriana sah, wie Mimis Gesichtsausdruck von gereizt zu verängstigt wechselte. Dann ging alles ganz schnell.
Mimi versuchte, die Tür wieder zu schließen, aber ein Mann drückte sie auf und stieß sie zur Seite. Er war groß, sehr viel größer als Mimi. Er hatte ein kleines, leicht grau meliertes Bärtchen und noch graueres Haar. Silberfäden durchzogen das Goldblond. Aber sein Gesicht war knallrot, als wäre er gerannt.
Vor lauter Schreck, dass der große Mann Mimi einen Stoß versetzte, erstarrte Adriana.
»Wo zum Teufel steckt sie?«
»Sie ist nicht da. Du kannst hier nicht einfach so reinplatzen, Jon. Verschwinde. Verschwinde auf der Stelle, sonst ruf ich die Polizei.«
»Du verlogene Schlampe.« Er packte Mimi am Arm und schüttelte sie. »Wo ist sie? Glaubt sie etwa, sie kann sich verplappern und damit mein ganzes Leben ruinieren?«
»Lass mich los. Du bist ja betrunken.« Als sie versuchte, sich zu befreien, ohrfeigte er sie.
Der dumpfe Schlag hallte in Adrianas Kopf wider wie ein Schuss. Sie machte einen Satz nach vorn. »Nicht schlagen! Lassen Sie uns in Ruhe!«
»Adriana, geh nach oben. Sofort.«
Doch Adriana war wütend und ballte die Fäuste. »Er soll verschwinden.«
»Wegen der da«, zischte der Mann. »Wegen der da ruiniert sie mir das ganze Leben? Die ähnelt mir kein bisschen. Sie hat rumgehurt und versucht jetzt, mir den kleinen Bastard unterzujubeln. Verflucht, die soll mich kennenlernen.«
»Nach oben, Adriana.« Mimi wirbelte zu ihr herum.
Adriana hätte erwartet, dass auch Mimi wütend war, doch sie entdeckte etwas ganz anderes in ihrem Gesicht: Angst.
»Auf der Stelle rauf da!«
»Die Schlampe ist oben, stimmt’s? Lügnerin. So geh ich mit Lügnern um.« Diesmal gab er Mimi keine Ohrfeige, sondern versetzte ihr ein, zwei Fausthiebe mitten ins Gesicht.
Als sie zu Boden ging, bekam es Adriana mit der Angst zu tun. Hilfe, sie musste Hilfe holen! Aber er erwischte sie auf der Treppe, riss ihr den Kopf nach hinten, indem er ihren gelockten Pferdeschwanz packte und daran zerrte. Sie schrie nach ihrer Mutter.
»Ja, schrei nur nach deiner Mami.« Er ohrfeigte sie. Es brannte wie die Hölle. »Wir wollen mit Mami reden.« Während er sie die Treppe hochzerrte, kam Lina aus dem Schlafzimmer gerannt – im Bademantel, das Haar nass von der Dusche.
»Adriana Rizzo, was zum …« Sie verstummte und erstarrte, als sie den Blick des Mannes auffing. »Lass sie los, Jon. Dann können wir reden.«
»Du hast genug geredet. Du hast mein Leben ruiniert, du blöde Schlampe.«
»Ich habe nie mit diesem Reporter über dich gesprochen – und auch mit niemandem sonst. Die Geschichte kommt nicht von mir.«
»Lügnerin!« Erneut riss er an Adrianas Haaren, so fest, dass ihr Kopf in Flammen zu stehen schien.
Lina machte zwei vorsichtige Schritte auf ihn zu. »Lass sie los. Wir kriegen das hin, ich kann das aus der Welt schaffen.«
»Dafür ist es verdammt nochmal zu spät. Die Universität hat mich heute Morgen entlassen. Meine Frau ist entsetzt. Meine Kinder sind in Tränen aufgelöst. Ich glaube keine Sekunde, dass diese kleine Schlampe von mir ist. Du bist zurückgekommen, in meine Stadt, nur um mir das anzutun.«
»Nein, Jon, ich bin der Arbeit wegen da. Ich habe nicht mit dem Reporter gesprochen. Das Ganze ist sieben Jahre her, Jon, warum sollte ich das tun, ausgerechnet jetzt? Wieso? Du tust ihr weh. Hör auf, meiner Tochter wehzutun.«
»Er hat Mimi geschlagen.« Adriana konnte das Duschgel und das Shampoo ihrer Mutter riechen, es duftete dezent nach Orangenblüten. Der Fremde hingegen stank nach Schweiß und Bourbon. »Er hat sie ins Gesicht geschlagen, und sie ist hingefallen.«
»Was hast du …?« Lina blickte über das Treppengeländer und sah, wie Mimi mit einem blutigen Gesicht hinter ein Sofa kroch. Erneut schaute sie Jon an. »Du musst damit aufhören, Jon, bevor jemand zu Schaden kommt.«
»Ich bin bereits zu Schaden gekommen, du verdammte Nutte!« Seine Stimme zitterte vor Wut, sein Gesicht glühte genau wie Adrianas Kopfhaut.
»Tut mir leid, dass das passiert ist, aber …«
»Meine Familie ist zu Schaden gekommen! Willst du sehen, wie jemand zu Schaden kommt? Fangen wir mit deinem kleinen Bastard an.«
Er warf sie förmlich durch die Luft. Adriana hatte das Gefühl zu fliegen, einen kurzen, angsteinflößenden Moment lang, bevor sie auf die Kante der obersten Stufe prallte. Zusätzlich zu dem in ihrem Kopf explodierte jetzt ein Schmerz in ihrem Handgelenk, der bis in den Arm hinaufzog. Dann knallte ihr Schädel auf die Holzdielen.
Trotzdem sah sie, wie ihre Mutter von dem Mann angegriffen wurde. Er schlug auf sie ein. Ihre Mutter schlug zurück und trat um sich, begleitet von schrecklichen Geräuschen. Sie waren so schrecklich, dass Adriana sich die Ohren zuhalten wollte. Doch sie konnte sich nicht bewegen, nur zitternd auf den Stufen liegen. Selbst als ihre Mutter ihr zurief, sie solle davonrennen, war das unmöglich.
Er legte die Hände um den Hals ihrer Mutter und schüttelte sie, während ihre Mutter ihm einen Fausthieb ins Gesicht versetzte, so wie er das bei Mimi getan hatte. Blut, überall Blut, auf ihrer Mutter, auf dem Mann. Sie hielten sich umklammert, als umarmten sie sich, aber auf eine brutale Art. Dann trat ihre Mutter ihm fest auf den Fuß und rammte ihm das Knie in den Unterleib. Als der Mann zurücktaumelte, versetzte sie ihm einen Stoß. Er prallte gegen das Geländer, und dann flog auch er.
Adriana verfolgte, wie er mit fuchtelnden Armen in die Tiefe stürzte, auf den Tisch, den ihre Mutter stets mit Blumen und Kerzen schmückte. Sie hörte die schrecklichen Geräusche, sah, wie ihm das Blut aus dem Kopf lief, aus den Ohren, aus der Nase.
Dann nahm ihre Mutter sie in den Arm, presste das Gesicht an ihre Brust. »Nicht hinschauen, Adriana. Alles ist gut.«
»Es tut weh.«
»Ich weiß.« Lina nahm Adrianas Handgelenk. »Ich mach es wieder gut. Mimi, ach, Mimi!«
»Die Polizei ist unterwegs.« Mit geschwollenen, halb geschlossenen Lidern, die sich bereits schwarz verfärbten, wankte Mimi die Treppe hinauf, setzte sich dann hin und umarmte sie beide. »Hilfe ist unterwegs.«
Über Adrianas Kopf hinweg formten Mimis Lippen drei Wörter: Er ist tot.
***
Adriana würde den Schmerz ebenso wenig vergessen wie den beruhigenden Blick aus den blauen Augen des Sanitäters, der ihr angebrochenes Handgelenk schiente. Seine Stimme klang ebenfalls beruhigend, als er ihr mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen leuchtete und sie fragte, wie viele Finger er gerade hochhalte. Auch die Polizisten würde sie nicht vergessen, die Ersten, die kamen, nachdem die Sirenen verklungen waren. Die in den dunkelblauen Uniformen. Das meiste blieb jedoch verschwommen, wie etwas in weiter Ferne.
Sie drängten sich im Wohnzimmer im Obergeschoss, mit Blick auf den Garten und den kleinen Koi-Teich. Die Uniformierten redeten überwiegend mit ihrer Mutter, da Mimi ins Krankenhaus musste. Ihre Mutter nannte ihnen den Namen des Mannes. Jonathan Bennett. Sie sagte, dass er Englische Literatur an der Georgetown University gelehrt habe, als sie ihn damals kennenlernte.
Ihre Mutter wollte gerade schildern, was genau passiert war. In diesem Moment kamen ein Mann und eine Frau herein. Er war recht groß und trug eine braune Krawatte. Seine Hautfarbe war dunkel und seine Zähne waren richtig weiß. Die Frau hatte eine rote Kurzhaarfrisur und ein Gesicht voller Sommersprossen. Sie zeigten ihre Dienstmarken, genau wie in den Fernsehkrimis.
»Ms. Rizzo, ich bin Detective Riley, und das ist mein Kollege, Detective Cannon.« Die Frau befestigte die Dienstmarke wieder am Gürtel. »Wir wissen, dass das schwer ist, aber wir müssen Ihnen und Ihrer Tochter ein paar Fragen stellen.« Dann schenkte sie Adriana ein Lächeln. »Du heißt Adriana, stimmt’s?«
Als Adriana nickte, schaute Riley zu Lina. »Ist es okay, wenn Adriana mir ihr Zimmer zeigt, wenn wir uns dort unterhalten, während Sie mit Detective Cannon sprechen?«
»Geht es dann schneller? Meine Freundin, das Kindermädchen meiner Tochter, wurde ins Krankenhaus gebracht. Eine gebrochene Nase, Blutergüsse. Adriana hat vermutlich ein angebrochenes Handgelenk, außerdem ist sie mit dem Kopf aufgeschlagen.«
»Sie sehen auch etwas mitgenommen aus«, bemerkte Cannon, und Lina zuckte nur mit den Schultern, um dann erst recht zusammenzuzucken.
»Geprellte Rippen, die heilen wieder. Dasselbe gilt für mein Gesicht. Er hat sich ganz bewusst auf mein Gesicht konzentriert.«
»Wir können Sie auch gleich ins Krankenhaus bringen lassen und reden, nachdem Sie von einem Arzt untersucht worden sind.«
»Ich würde lieber erst gehen, wenn Sie da unten fertig sind.«
»Verstehe.« Riley schaute zu Adriana hinüber. »Ist es in Ordnung, wenn wir uns mit deiner Mutter unterhalten, Adriana?«
»Ich glaub schon.« Sie stand auf, presste den in der Schlinge hängenden Arm an die Brust. »Aber ins Gefängnis dürfen Sie meine Mutter nicht bringen.«
»Sei nicht albern, Adriana.«
Ohne ihre Mutter weiter zu beachten, sah Adriana Riley tief in die Augen. Sie waren grün, aber heller als die ihrer Mutter. »Das werde ich nämlich nicht zulassen.«
»Verstanden. Wir reden bloß, okay? Ist dein Zimmer oben?«
»Zwei Türen weiter auf der rechten Seite«, sagte Lina. »Geh schon, Adriana, geh mit Detective Riley. Danach besuchen wir Mimi. Alles wird gut.«
Adriana ging voraus. Riley setzte wieder ihr Lächeln auf, als sie das Zimmer in hellen Rosa- und Grüntönen betraten. Ein großer Stoffhund lag auf dem Bett. »Das ist aber ein schönes großes Zimmer. Und wirklich gut aufgeräumt.«
»Das musste ich heute Morgen machen, sonst hätten wir die Kirschblüte nicht angeschaut und kein Softeis gegessen.« Sie zuckte zusammen, so ähnlich wie Lina. »Das mit dem Softeis bitte nicht verraten! Wir sollten Frozen Yogurt nehmen.«
»Das bleibt unser Geheimnis. Ist deine Mom wirklich so streng mit dem Essen?«
»Manchmal. Meistens.« Ihr traten Tränen in die Augen. »Wird Mimi sterben so wie der Mann?«
»Sie wurde verletzt, aber nicht so schlimm. Ich weiß, dass man sich gerade gut um sie kümmert. Wie wär’s, wenn wir uns zu ihm hier setzen?« Riley nahm auf der Bettkante Platz und tätschelte den Stoffhund. »Wie heißt er?«
»Barkley. Harry hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt. Wir können keinen echten Hund haben, weil wir in New York leben und so viel unterwegs sind.«
»Er sieht nach einem tollen Hund aus. Kannst du Barkley und mir erzählen, was passiert ist?«
Da sprudelte alles nur so aus ihr heraus.
»Der Mann stand vor der Tür. Er hat Sturm geklingelt, also ging ich nachschauen. Ich darf nicht aufmachen, deshalb hab ich auf Mimi gewartet. Sie kam aus der Küche und hat die Haustür aufgemacht. Dann hat sie ganz schnell versucht, wieder zuzumachen, aber er hat die Tür aufgestoßen und Mimi geschubst. Er hat sie fast umgehauen.«
»Kennst du ihn?«
»Nö, aber Mimi schon. Sie hat ihn Jon genannt und gesagt, dass er verschwinden soll. Er war außer sich, hat gebrüllt und geflucht. Er hat Worte benutzt, die ich nicht sagen darf.«
»Das geht schon in Ordnung.« Riley hörte nicht auf, Barkley zu tätscheln, als wäre er ein richtiger Hund. »Ich kann es mir vorstellen.«
»Er wollte zu meiner Mom, aber Mimi hat gesagt, sie sei nicht da, obwohl sie da war. Sie war oben und hat geduscht. Er hat nicht aufgehört zu brüllen und ihr eine Ohrfeige verpasst. Er hat sie geschlagen. Das darf man nicht. Das ist falsch.«
»Es war falsch.«
»Ich habe ihn angeschrien, dass er sie in Ruhe lassen soll, weil er sie am Arm gepackt und ihr wehgetan hat. Dann hat er mich angeschaut. Er hatte mich erst gar nicht gesehen, aber dann hat er mich angeschaut. Sein Blick hat mir Angst gemacht. Aber weil er Mimi wehgetan hat, bin ich sauer geworden. Mimi hat befohlen, nach oben zu gehen, also mir, meine ich. Dann hat er ihr einen Fausthieb versetzt.«
Mit ihrer gesunden Hand ballte Adriana eine Faust, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Überall war Blut, und sie ist gestürzt. Da bin ich losgerannt. Ich wollte Mom holen, aber er hat mich erwischt. Er hat mich an den Haaren gezogen, ganz fest, und mich die Treppe runtergezerrt. Die ganze Zeit über habe ich nach meiner Mom geschrien.«
»Möchtest du eine Pause machen, Schätzchen? Wir können kurz warten, bevor du mir den Rest erzählst.«
»Nein, nein. Mom ist rausgerannt und hat ihn gesehen. Dauernd hat sie gesagt, dass er mich loslassen soll, aber das hat er nicht. Immer wieder hat er behauptet, sie habe sein Leben ruiniert. Er hat laut geflucht, richtig schlimm, und sie hat behauptet, dass sie niemandem was gesagt hat, dass sie es wiedergutmacht, dass er mich loslassen soll. Er hat mir wehgetan, mich übel beschimpft, und dann hat er mich geworfen.«
»Geworfen?«
»Die Treppe runter. Er hat mich die Treppe runtergeworfen. Da bin ich gegen die Stufen geprallt, auf mein Handgelenk. Das hat angefangen zu brennen. Den Kopf hab ich mir auch angeschlagen, aber ich bin nicht viele Stufen runtergefallen, nur ein paar. Meine Mom hat ihn angeschrien und ist auf ihn losgegangen. Er hat sie ins Gesicht geschlagen und hat mit den Händen so gemacht …« Sie ahmte ein Würgen nach. »Ich konnte mich nicht bewegen, und er hat ihr ins Gesicht geschlagen. Sie hat sich gewehrt, ganz fest zurückgehauen, ihn getreten … Das ging immer so weiter und dann … Dann ist er übers Geländer gefallen. Sie hat ihm einen Stoß gegeben, um sich zu befreien, weil sie zu mir wollte. Ihr Gesicht war voller Blut, und sie hat ihn geschubst. Da ist er übers Geländer gestürzt. Es war seine Schuld.«
»Verstehe.«
»Mimi ist die Stufen hochgekrochen und Mom zu mir gekommen und hat mich umarmt. Mimi hat gesagt, Hilfe sei schon unterwegs. Alle waren voller Blut. Vor ihm hat mich noch nie jemand geschlagen. Ich hasse es, dass er mein Vater war.«
»Woher weißt du das?«
»Wegen dem, was er gebrüllt und zu mir gesagt hat. Ich bin schließlich nicht blöd. Außerdem unterrichtet er an dem College, auf dem meine Mom war. Sie hat mir erzählt, dass sie meinen Vater auf dem College kennengelernt hat. Deshalb.« Adriana zuckte mit den Schultern. »So war das. Er hat alle geschlagen, außerdem hat er gestunken. Er hat mich die Treppe runtergeworfen. Ich bin gestürzt, weil er böse war.«
Riley legte den Arm um Adrianas Schultern und dachte: Das dürfte ungefähr hinkommen.
***
Mimi musste über Nacht im Krankenhaus bleiben. Lina kaufte ihr den schönsten Blumenstrauß, den sie finden konnte, und brachte ihn ihr aufs Zimmer. Adriana wurde zum ersten Mal geröntgt und würde den ersten Gips ihres Lebens bekommen, sobald die Schwellung abgeklungen war.
Statt zu versuchen, Mimis Essen fertig zu kochen, bestellte Lina lieber Pizza. Das Kind hatte es weiß Gott verdient. So, wie sie ein echt großes Glas Wein verdient hatte!
Sie schenkte sich eines ein. Während ihre Tochter aß, verstieß sie gegen die Regel, die sie seit Jahren beherzigte, und goss sich ein zweites Glas ein. Zwar musste sie zig Anrufe erledigen, aber das konnte warten. Alles konnte warten, bis sie sich wieder etwas gefasst hatte.
Sie aßen im Garten mit seinen Schatten spendenden Bäumen und dem hohen Sichtschutz. Besser gesagt, Adriana aß, während Lina zwischen den Schlucken Wein an einem Stück Pizza knabberte.
Gut möglich, dass es etwas zu kühl war, um draußen zu essen, und etwas zu spät, um Adriana mit Pizza vollzustopfen. Aber ein schlimmer Tag war ein schlimmer Tag. Hoffentlich konnte ihre Tochter gleich schlafen. Offen gestanden wusste sie nicht genau, wie das Zubettgehritual aussah, das Mimi sonst übernahm.
Vielleicht war ja ein Schaumbad okay, wenn die stützende Plastikschiene trocken blieb? Beim Gedanken daran, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können, wollte sie erneut zum Weinglas greifen. Doch sie widerstand. Lina besaß sehr viel Selbstdisziplin.
»Wie kommt es, dass er mein Vater war?«
Lina sah sie an, in diese goldgrünen Augen, die sie musterten. »Weil ich einmal jung und naiv war. Tut mir leid, ich wünschte, es wäre anders gewesen. Doch dann gäbe es dich nicht, stimmt’s? Was damals passiert ist, kann ich nicht beeinflussen, nur Gegenwart und Zukunft.«
»War er netter, als du jung und naiv warst?«
Lina stieß ein schrilles Lachen aus. Ihre Rippen machten sich schmerzhaft bemerkbar. Sie fragte sich, was sie einer Siebenjährigen zumuten konnte. »Das dachte ich zumindest.«
»Hat er dich schon mal geschlagen?«
»Einmal. Danach wollte ich ihn nie mehr wiedersehen. Wenn ein Mann dich einmal schlägt, wird er dich vermutlich wieder schlagen.«
»Du hast mir immer erzählt, dass du meinen Dad geliebt hast, es aber nicht funktioniert hat. Dass er uns nicht wollte. Dass er deshalb keine Rolle mehr spielt.«
»Ich habe mir eingebildet, ihn zu lieben. Vielleicht hätte ich das eher so formulieren sollen. Damals war ich erst zwanzig, Adriana. Er war älter, gut aussehend, charmant und intelligent. Ein junger Professor. Ich habe mich in den Menschen verliebt, für den ich ihn hielt. Danach hat er keine Rolle mehr gespielt.«
»Warum war er heute so sauer?«
»Weil irgend so ein Reporter etwas rausgefunden und einen Artikel darüber geschrieben hat. Keine Ahnung, wie. Keine Ahnung, wer ihm das gesteckt hat. Ich jedenfalls nicht.«
»Eben weil er keine Rolle mehr gespielt hat.«
»Ganz genau.« Wie viel kann man einem Kind zumuten?, fragte sich Lina erneut. Unter den gegebenen Umständen vielleicht die ganze Wahrheit. »Er war verheiratet, Adriana. Er hatte eine Frau und zwei Kinder. Ich wusste das nicht. Er hat mich belogen und behauptet, er würde sich gerade scheiden lassen. Ich habe ihm geglaubt.«
Habe ich das wirklich?, dachte Lina. Sie konnte sich kaum daran erinnern. »Vielleicht wollte ich es gerne glauben. Er hatte eine eigene kleine Wohnung unweit des Colleges. Deshalb hab ich angenommen, dass er im Grunde Single ist. Später fand ich heraus, dass ich nicht die Einzige war, die er belogen hat. Als ich die Wahrheit erfuhr, habe ich Schluss gemacht. Ihm war das ziemlich egal.«
So ganz entsprach das nicht den Tatsachen. Er hatte gebrüllt, geschubst, gedroht.
»Dann habe ich gemerkt, dass ich schwanger bin. Später, viel später, als ich es hätte merken müssen. Ich habe geglaubt, es ihm sagen zu müssen. Da hat er mich geschlagen. Im Gegensatz zu heute war er damals nicht betrunken.« Er hat zwar etwas getrunken gehabt, aber nicht so, dass er betrunken gewesen wäre. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts mehr von ihm will, dass ich mich nicht so weit erniedrigen würde, jemandem zu sagen, dass er der leibliche Vater ist. Dann bin ich gegangen.«
Die Drohungen ließ Lina weg. Seine Forderung, das Kind wegmachen zu lassen und all die anderen Abscheulichkeiten. Das brachte nichts.
»Ich habe das Semester beendet, meinen Abschluss gemacht und bin nach Hause zurück. Popi und Nonna haben mir geholfen. Den Rest kennst du. Mit den Kursen und Videos habe ich angefangen, als ich mit dir schwanger war. Zuerst haben sie sich an Schwangere gerichtet, anschließend an Mütter mit Kindern.«
»Yoga Baby.«
»Ganz genau.«
»Aber er war immer böse. Heißt das, dass ich eines Tages auch böse sein werde?«
Meine Güte, wie überfordert sie sich als Mutter fühlte! Verzweifelt überlegte sie, was ihre Mutter in so einer Situation sagen würde. »Fühlst du dich denn böse?«
»Manchmal werde ich wütend.«
»Wem sagst du das.« Lina lächelte. »So wie ich das sehe, ist das Bösesein eine freie Entscheidung. Du entscheidest dich anders. Außerdem hatte er recht: Du ähnelst ihm kein bisschen. Du kommst ganz nach den Rizzos.« Lina nahm Adrianas gesunde Hand. Vielleicht war das eher eine Unterhaltung für Erwachsene, aber besser konnte sie es nicht. »Er spielt keine Rolle, Adriana, außer wir lassen es zu. Und das werden wir nicht.«
»Musst du ins Gefängnis?«
Lina prostete ihr mit dem Weinglas zu. »Das lässt du doch nicht zu, oder?« Da sah sie Angst, die über das Gesicht ihrer Tochter huschte, und drückte ihre Hand. »Ich mach bloß Spaß, Adriana. Nein, die Polizei hat verstanden, was passiert ist. Du hast der Polizistin doch die Wahrheit gesagt, oder?«
»Ja, Ehrenwort.«
»Ich auch und Mimi ebenfalls. Vergiss es! Das Ganze ist nur wegen dieses Artikels passiert, und jetzt wird es weitere Artikel geben. Ich werde mit Harry reden. Er wird mir helfen, das zu regeln.«
»Fahren wir trotzdem zu Popi und Nonna?«
»Ja. Sobald es Mimi besser geht, du deinen Gips hast und ich ein paar Dinge erledigt habe, fahren wir zu ihnen.«
»Schon bald? Ganz bald?«
»Sobald es geht. In ein paar Tagen.«
»Das ist bald. Dort wird alles besser.«
Es dürfte dauern, bis es wirklich besser wird, dachte Lina. Sie trank ihren Wein aus. »Und ob!«
2
Linas Karriere war auf ihre ungeplante Schwangerschaft zurückzuführen. Innerhalb weniger Monate wurde aus der Studentin und Teilzeit-Fitnesstrainerin jemand, der Fitnessvideos drehte. Es dauerte eine Weile, bis sie in der neuen Welt Fuß fasste. Aber dank ihres starken Willens, ihrer Ausdauer und ihres ausgeprägten Geschäftssinns hatte sie Erfolg.
In den Monaten bevor Jon Bennett sich gewaltsam Zutritt zu dem Haus in Georgetown verschaffte, hatte sie mit Yoga-Baby-Videos, DVDs, öffentlichen Auftritten und einem Buch über zwei Millionen US-Dollar verdient. Attraktiv und schlagfertig, wie sie war, profitierte sie besonders von Auftritten in den Vormittagssendungen verschiedener Fernsehsender. Irgendwann war sie dann auch in Talkshows zu später Stunde zu sehen. Sie schrieb Artikel für Fitnessmagazine und bestückte sie mit Material aus eigenen Fotoshootings. Als junge, gut aussehende Frau mit einem schlanken, straffen Körper wusste sie ihre Vorzüge zu ihrem Vorteil einzusetzen. Es gelang ihr sogar, ein paar kurze Auftritte in TV-Serien zu ergattern.
Sie liebte das Rampenlicht und schämte sich nicht für ihre Auftritte, geschweige denn für ihre Ambitionen. Ihr Produkt – Gesundheit, Fitness und innere Ausgeglichenheit – konnte ihrer Meinung nach niemand so gut bewerben wie sie. Harte Arbeit war für Lina kein Problem. Sie blühte dabei förmlich auf und liebte das Reisen, die dicht gedrängten Termine, die vielen Pläne für die Zukunft. Im Augenblick war sie gerade dabei, eine eigene Kollektion mit Fitnessklamotten sowie eine wissenschaftlich fundierte Zusammenstellung von Nahrungsergänzungsmitteln auf den Markt zu bringen. Doch dann hatte sie diesem Mann einen Stoß versetzt, sodass er ungewollt durch ihre Hand den Tod gefunden hatte.
Notwehr. Nach kürzester Zeit gelangte die Polizei zu dem Schluss, dass sie in Notwehr gehandelt hatte, um ihre Tochter und ihre Freundin zu verteidigen. Auf verquere Weise trug der Vorfall sogar dazu bei, ihre Verkaufszahlen weiter zu erhöhen, und machte sie noch bekannter. Sie konnte sich vor Angeboten kaum retten. Kurz entschlossen entschied sie, auf dieser Erfolgswelle zu reiten.
Eine Woche, nachdem das Schlimmste vorbei war, fuhr sie von Georgetown ins ländliche Maryland, fest entschlossen, das Beste für sich herauszuholen. Sie trug eine riesige Sonnenbrille, denn trotz ihrer Schminkkünste waren die blauen Flecken nicht zu übersehen. Ihr Brustkorb tat noch weh, aber sie hatte ihr Work-out entsprechend angepasst und meditierte mehr.
Mimi hatte manchmal noch Kopfweh, aber ihre gebrochene Nase heilte, und ihr blaues Auge verfärbte sich gelblich. Adriana war genervt von ihrem Gips, freute sich aber über die vielen Autogramme darauf. Laut den Ärzten würde man sie in zwei Wochen ein weiteres Mal röntgen müssen. Es hätte schlimmer kommen können, rief sich Lina ins Gedächtnis, deutlich schlimmer.
Da Harry Adriana einen neuen Gameboy geschenkt hatte, war sie während der Fahrt beschäftigt. Lina sah die Schatten der Berge von Maryland, den lila Lavendel vor dem tiefblauen Himmel.
Sie hatte sich sehr danach gesehnt, von hier wegzukommen. Weg aus diesen verschlafenen Nestern und irgendwohin, wo mehr los war, wo es mehr Leute und mehr Leben gab. Diese Sehnsucht war ihr geblieben. Sie war einfach kein Kleinstadtgewächs, gehörte nicht aufs Land. Nie hatte sie Lust darauf gehabt, Fleischklößchen oder Pizzasoße zu machen oder gar ein Restaurant zu leiten und so das Familienvermächtnis weiterzuführen. Immer schon hatte sie sich nach Trubel, nach der Großstadt und dem Rampenlicht gesehnt. Für sie war New York noch am ehesten so etwas wie ihre Heimat, die aus ihrer Sicht stets dort war, wo es gerade Arbeit und Action gab.
Als sie die Autobahn schließlich verließ, wurde der Verkehr dünner. Die Straße schlängelte sich zwischen sanften Hügeln und grünen Wiesen hindurch, vorbei an vereinzelten Häusern und Farmen. Sie kam gern nach Hause, aber dort bleiben? Niemals! Nicht sie, Lina Theresa Rizzo.
»Gleich sind wir da«, jubelte Adriana auf der Rückbank. »Schaut nur: Kühe, Pferde. Wenn Popi und Nonna doch nur Pferde hätten! Oder Hühner. Hühner wären lustig.« Adriana ließ ihr Fenster herunter und hielt das Gesicht hinaus wie ein übermütiger Welpe. Ihre schwarzen Locken tanzten im Fahrtwind.
Um sich so völlig zu verknoten, wie Lina wusste.
Dabei sprudelten die Fragen nur so aus Adriana heraus. Wie lange dauert es noch? Darf ich schaukeln gehen? Ob Nonna wohl Zitronenlimonade für mich hat? Darf ich mit den Hunden spielen? Lina überließ die Antworten Mimi. Sie würde sich bald ganz anderen Fragen stellen müssen.
Bei der roten Scheune, in deren Heu sie mit knapp siebzehn ihre Unschuld an den Sohn eines Milchbauern verloren hatte, bog sie ab. Matt Weaver war Football-Quarterback gewesen, gut aussehend, gut gebaut, ein lieber Kerl, aber nicht leicht rumzukriegen. Sie waren durchaus verliebt gewesen, so wie man mit knapp siebzehn eben verliebt ist. Er wollte sie irgendwann heiraten, doch sie hatte andere Pläne gehabt. Angeblich hatte er dann eine andere geheiratet, ein paar Kinder bekommen und bewirtschaftete inzwischen mit seinem Vater die Farm.
Schön für ihn, dachte sie aufrichtig. Aber für sie wäre so etwas niemals infrage gekommen. Wieder bog sie ab, verließ den kleinen Ort Traveler’s Creek. Dort, mitten auf dem Marktplatz, hatte sich das italienische Lokal der Rizzos befunden, über zwei Generationen eine echte Institution im Ort.
Ihre Großeltern hatten es gegründet und irgendwann eingesehen, dass sie ein wärmeres Klima brauchten. Deswegen hatten sie ein neues Rizzo’s auf den Outer Banks aufgemacht. Es lag ihnen einfach im Blut, wie man so schön sagt. Doch irgendwie war ihr diese Leidenschaft – zum Glück! – nicht weitervererbt worden.
Sie folgte dem Flusslauf, fuhr auf eine der drei überdachten Brücken zu, die Fotografen, Touristen und Hochzeitspaare anlockten. Ganz nett, dachte Lina, wie sie da über der Flussbiegung thronte. Wie immer stießen Mimi und Adriana einen Jubelschrei aus, als das Auto zwischen den braunroten Wänden und unter dem blauen Spitzdach den Fluss überquerte.
Lina nahm eine weitere Abzweigung und ignorierte, dass Adriana wie ein Flummi auf der Rückbank auf und ab hopste. Endlich tat sich die kurvige Allee mit der zweiten Brücke über den Fluss auf, der dem Ort seinen Namen gab. Dann ging es hinauf zum großen Haus auf dem Hügel. Die Hunde kamen angerannt, die große gelbe Promenadenmischung und der kleine langhaarige.
»Da sind Tom und Jerry, juhu! Hallo, ihr Lieben!«
»Bitte bleib angeschnallt, bis ich gehalten habe, Adriana.«
»Mom!« Doch sie gehorchte, ohne das Hüpfen aufzugeben. »Da sind Nonna und Popi.«
Die beiden betraten die umlaufende Veranda im Obergeschoss. Dom und Sophia, Hand in Hand. Sophia, deren Gesicht von kastanienbraunen Locken umrahmt wurde, maß in ihren rosa Turnschuhen eins achtundsiebzig, wurde aber von ihrem eins sechsundneunzig großen Mann weit überragt. Sie waren fit und wirkten zehn Jahre jünger. Wie alt waren sie eigentlich? Ihre Mutter sieben- oder achtundsechzig, ihr Vater ungefähr vier Jahre älter. Das einstige Highschool-Pärchen war seit fast fünfzig Jahren verheiratet.
Ihre Beziehung hatte den Verlust eines Sohnes überstanden, der keine achtundvierzig Stunden gelebt hatte, drei Fehlgeburten und die ärztliche Diagnose, dass sie niemals eigene Kinder haben würden. Ein echter Schicksalsschlag. Bis sich dann zu aller Überraschung Lina Theresa angekündigt hatte, als beide bereits in den Vierzigern waren.
Lina parkte unter dem breiten Carport neben einem glänzend roten Pick-up und einem robusten schwarzen Geländewagen. Sie wusste, dass der Augenstern ihrer Mutter, ein schnittiges türkisblaues Cabrio, einen Ehrenplatz in der Garage hatte.
Kaum hatte sie die Handbremse angezogen, sprang Adriana aus dem Wagen. »Nonna! Popi! Hallo, ihr Lieben, hallo!« Sie umarmte die Hunde, als Tom sich gegen sie drängte und Jerry sie schwanzwedelnd ableckte. Dann flog sie in die ausgebreiteten Arme ihres Großvaters.
»Ich weiß, du hältst das für einen Fehler«, sagte Lina. »Aber schau sie dir an, Mimi. Das ist im Moment das Beste für sie.«
»Ein Kind braucht seine Mutter.« Mit diesen Worten stieg Mimi aus, setzte ein Lächeln auf und ging zur Veranda.
»Meine Güte, es ist ja nicht so, dass ich sie in einem Weidenkörbchen aussetze. Es ist doch nur über den Sommer.«
Ihre Mutter ging zur Verandatreppe, Lina entgegen. Sophia nahm das von Blutergüssen übersäte Gesicht ihrer Tochter nur stumm in beide Hände und umarmte sie. Nichts in ihrem Leben hatte sie bisher so aus der Bahn geworfen wie die Nachrichten aus dieser letzten furchtbaren Woche.
»Bitte nicht, Mom. Ich möchte nicht, dass Adriana mich weinen sieht.«
»Aufrichtige Tränen sind nichts, wofür man sich schämen müsste.«
»Davon hatten wir mehr als genug.« Energisch befreite sie sich von ihrer Mutter. »Gut siehst du aus.«
»Was ich von dir leider nicht sagen kann.«
Lina rang sich ein Lächeln ab. »Du solltest mal meinen Gegner sehen.«
Sophia stieß ein bellendes Gelächter aus. »Typisch Lina. Komm, wir setzen uns raus, es ist so schönes Wetter. Du wirst Hunger haben. Gleich gibt es Essen.« Vielleicht lag es an ihren italienischen Wurzeln oder daran, dass bereits ihre Vorfahren Restaurantbesitzer gewesen waren. Linas Eltern gingen stets davon aus, dass jeder Besuch Hunger hatte.
Die Erwachsenen setzten sich um den runden Tisch auf der Veranda, während Adriana im Garten mit den Hunden spielte. Es gab Brot, Käse, Antipasti und Oliven. Die selbst gemachte Limonade, auf die Adriana gehofft hatte, stand in einem Krug auf dem Tisch. Obwohl es gerade erst Mittag war, gab es Wein. Das halbe Glas, das Lina sich gönnte, half ihr, nach der langen Fahrt zu entspannen.
Sie redeten nicht über das, was passiert war. Erst recht nicht, als Adriana zurückkehrte, um sich kurz auf Doms Schoß zu setzen, ihm ihren neuen Gameboy zu zeigen, Limonade zu trinken und über die Hunde zu reden. Wie geduldig ihr Vater mit Kindern war, wie reizend! Außerdem sah er mit seinen grauen Strähnen und den Lachfältchen um die goldbraunen Augen fantastisch aus.
Schon immer hatte Lina ihre Eltern für das perfekte Paar gehalten. Beide groß und fit, gut aussehend und völlig auf einer Wellenlänge. Während sie sich selbst stets ein bisschen fehl am Platz gefühlt hatte. Aber sie war ja auch zu einer etwas unpassenden Zeit auf die Welt gekommen, an einem für sie etwas unpassenden Ort geboren worden, den die Einheimischen bloß Creek nannten. Deshalb hatte sie sich eine geeignetere Heimat gesucht.
Adriana kicherte. Nachdem beide Großeltern brav auf dem Gips unterschrieben hatten, zeichnete ihre Nonna noch die Hunde darauf und fügte deren Namen hinzu.
»Eure Zimmer sind fertig«, sagte Sophia. »Wir tragen euer Gepäck rauf, dann könnt ihr auspacken und euch ausruhen.«
»Ich muss noch mal ins Lokal«, ergänzte Dom. »Bin aber zum Abendessen wieder zurück.«
»Adriana schwärmt schon seit Wochen von der Schaukel. Mimi, vielleicht begleitest du sie ja dorthin, damit sie ein bisschen spielen kann.«
»Alles klar.« Mimi stand auf und warf Lina einen tadelnden Blick zu. Dann rief sie Adriana fröhlich zu: »Komm, wir gehen schaukeln.«
»Ja! Los, Jungs!«
Dom wartete, bis Adriana mit Mimi und Gefolge auf die andere Seite des Hauses gerannt war. »Was willst du uns sagen?«
»Mimi und ich können nicht bleiben. Ich muss zurück nach New York, um das Projekt fertigzustellen, mit dem ich in D.C. begonnen habe. Dort kann ich einfach nicht mehr arbeiten. Deshalb hoffe ich, dass ihr bereit seid, euch um Adriana zu kümmern.«
»Lina.« Sophia nahm die Hand ihrer Tochter. »Du brauchst zumindest ein paar Tage Ruhe, um dich zu erholen. Und um Adriana das Gefühl zu geben, wieder in Sicherheit zu sein.«
»Ich habe keine Zeit zum Ausruhen. Und wo sollte sich Adriana sicherer fühlen als hier?«
»Ohne ihre Mutter?«
Lina wandte sich an ihren Vater. »Sie hat doch euch beide. Ich muss so schnell wie möglich über diese Sache hinwegkommen. Auf keinen Fall kann ich zulassen, dass sie meine Karriere und meine Geschäftsgrundlage ruiniert. Deshalb muss ich im Augenblick nur nach vorne schauen und versuchen, mich in der Branche durchzusetzen.«
»Dieser Mann hätte dich umbringen können. Dich, Adriana und Mimi.«
»Ich weiß, Dad, ich war schließlich dabei. Es wird Adriana gut gehen, sie ist so gern hier. Seit Tagen redet sie von nichts anderem mehr. Ich habe ihre Krankenhausunterlagen dabei, für den hiesigen Arzt beim nächsten Röntgentermin. Der Arzt in D.C. meinte, dass sie in etwa zwei Wochen eine Handgelenksorthese kriegen kann. Diese kleine Verletzung ist ziemlich häufig.«
»Kleine Verletzung!« Ihr Vater explodierte fast.
Lina hob beide Hände. »Er hat versucht, sie die Treppe runterzuwerfen. Ich konnte ihn nicht daran hindern. Wäre er nicht so ungeschickt und sturzbesoffen gewesen, hätte er es geschafft. Sie hätte sich das Genick brechen können. Glaubt mir, ich werde das nie vergessen.«
»Dom«, murmelte Sophia und tätschelte die Hand ihres Mannes. »Wie lange soll sie bei uns bleiben?«
»Den Sommer über. Ich weiß, das ist ganz schön lange und ganz schön viel verlangt.«
»Wir kümmern uns gern um sie«, sagte Sophia nur. »Trotzdem ist es falsch von dir, Lina. Es ist falsch, sie hierzulassen. Wir werden trotzdem dafür sorgen, dass es ihr gut geht. Dass sie glücklich ist.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen. Das Schuljahr ist mehr oder weniger vorbei. Mimi hat noch ein paar Aufgaben für sie und ein paar Anweisungen für euch. Sobald das neue Schuljahr beginnt, wird sie alles überwunden haben. Und wir ebenso.«
Ihre Eltern schwiegen einen Moment und sahen sie bloß an. Angesichts der goldbraunen Augen ihres Vaters und der grünen ihrer Mutter musste sie feststellen, was für eine perfekte Mischung aus beiden ihre Tochter war.
»Weiß sie, dass du sie bei uns lässt?«, fragte Dom. »Dass du ohne sie nach New York fährst?«
»Ich habe ihr nichts gesagt, weil ich zuerst euch fragen wollte.« Lina stand auf. »Ich rede sofort mit ihr. Mimi und ich sollten bald aufbrechen.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich weiß, dass ich euch enttäusche. Aber ich glaube, es ist für alle das Beste so. Ich brauche Zeit, um mich zu konzentrieren, und kann ihr nicht die Aufmerksamkeit schenken, die sie braucht. Solange sie bei euch ist, kann sie auch kein Reporter ablichten und ihr Foto an irgendein Schmutzblatt verscheuern.«
»Du hingegen wirst das Licht der Öffentlichkeit suchen«, sagte Dom.
»Die Art von Öffentlichkeit, die ich kontrollieren kann, ja. Weißt du, Dad, viele Männer sind anders als du. Sie sind weder nett noch liebevoll. Viele Frauen haben irgendwann Blutergüsse im Gesicht.« Sie tippte sich unter ein Auge. »Viele Kinder enden mit einem eingegipsten Arm. Wenn ich die Möglichkeit habe, auf dieses Thema hinzuweisen, werde ich es verdammt nochmal tun.« Sie marschierte wütend davon und fühlte sich vollkommen im Recht. Trotzdem war sie frustriert, weil sie tief im Innern ahnte, dass sie vielleicht falschlag.
***
Eine Stunde später stand Adriana auf der Veranda und sah zu, wie ihre Mutter und Mimi davonfuhren. »Meinetwegen hat er allen wehgetan. Deshalb will sie mich nicht dabeihaben.«
Dom beugte sich zu ihr hinunter, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter, bis sie ihm in die Augen sah. »Das stimmt nicht. Du kannst überhaupt nichts dafür. Deine Mom lässt dich nur bei uns, weil sie viel zu tun hat.«
»Sie hat immer zu tun. Deshalb passt Mimi auf mich auf.«
»Wir dachten eigentlich, du freust dich, den Sommer bei uns zu verbringen.« Sophia strich Adriana übers Haar. »Aber sollte es dir in einer Woche immer noch nicht bei uns gefallen, dann bringen Popi und ich dich höchstpersönlich nach New York.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Ganz bestimmt. Aber eine Woche lang dürfen wir uns an unserer Lieblingsenkelin erfreuen. An unserer gioia.«
Adriana musste lächeln. »Ich bin eure einzige Enkelin.«
»Und trotzdem unsere liebste. Solltest du bleiben, kann Popi dir beibringen, wie man Ravioli macht, und ich zeige dir, wie Tiramisu geht.«
»Dafür musst du ein paar Haushaltspflichten übernehmen.« Dom gab ihrer Nase einen sanften Stups. »Du musst die Hunde füttern und im Garten mitarbeiten.«
»Das mach ich gern, wenn ich auf Besuch bin. Das sind doch keine Pflichten.«
»Auch Arbeit, die Spaß macht, ist Arbeit.«
»Kann ich mit ins Lokal und zuschauen, wie du mit Pizzateig jonglierst?«
»Ich bring es dir sogar bei. Wir fangen damit an, sobald dein Gips ab ist. Aber jetzt muss ich los. Also wasch dir die Hände, dann darfst du mitkommen.«
»Okay.«
Als sie ins Haus sauste, richtete sich Dom wieder auf und seufzte. »Kinder sind robust. Sie wird darüber hinwegkommen.«
»Ja, das wird sie. Nur Lina wird diese Zeit niemals nachholen können. Na ja.« Sophia tätschelte Doms Wange. »Gib ihr nicht zu viele Süßigkeiten.«
»Nur genau richtig viele.«
***
Raylan Wells saß im Rizzo’s an einem Zweiertisch und machte seine blöden Hausaufgaben. Seiner Meinung nach hatte er viel zu viel auf, weil er zu Hause auch Pflichten erledigen musste. Warum konnten Schulaufgaben dann nicht in der blöden Schule bleiben? Mit seinen zehn Jahren fühlte sich Raylan oft gestresst von der Welt der Erwachsenen und ihren Regeln.
Mit den Mathehausaufgaben war er fertig, die fielen ihm leicht, weil Mathe so logisch war. Anderes Zeug hingegen gar nicht, zum Beispiel jede Menge Fragen über den Amerikanischen Bürgerkrieg zu beantworten. Klar, sie wohnten nicht weit weg vom Antietam Creek und so, dem Schauplatz einer entscheidenden Schlacht zu dieser Zeit, aber all das war doch längst Geschichte. Die Nordstaaten hatte gewonnen und die Südstaaten verloren. Genügte das denn nicht? Uff, ächz, seufz!, um es in Comicsprache auszudrücken.
Raylan beantwortete eine Frage, malte dann irgendwelche Männchen, widmete sich einer weiteren Frage, um sich schließlich eine ausgiebige Schlacht zwischen Spider-Man und Dr. Octopus auszumalen.
Jetzt, am Nachmittag, waren die meisten Gäste Schüler, die im Hinterzimmer Videospiele spielten und vielleicht ein Sandwich oder eine Cola bestellten. Er durfte nicht an die Spielautomaten – nicht bevor er mit den blöden Schulaufgaben fertig war. Das hatte er seiner Mutter versprechen müssen. Er sah sich im fast leeren Restaurant um, ließ den Blick hinter den Tresen und in die Küche schweifen, wo sie arbeitete.
Noch vor einem halben Jahr hatte sie ausschließlich bei ihnen zu Hause gekocht. Bis sich sein Vater verdrückt hatte. Inzwischen kochte seine Mom hier, weil sie Rechnungen und so zu zahlen hatten. Sie trug die große rote Schürze mit dem Rizzo’s-Logo und hatte die Haare unter die alberne weiße Mütze gesteckt, die alle Köche und Küchenmitarbeiter trugen. Angeblich arbeitete sie gerne, was er ihr auch abnahm, weil sie vor dem Riesenherd glücklich aussah. Außerdem merkte er, wenn sie log.
Wie damals, als sie seiner Schwester und ihm gegenüber behauptet hatte, alles sei in bester Ordnung. Doch ihr Blick hatte eine ganz andere Sprache gesprochen. Anfangs hatte er Angst gehabt, aber ebenfalls so getan, als wäre alles in bester Ordnung. Maya hatte erst geweint, aber die war damals auch erst sieben und ein Mädchen. Jetzt war sie drüber weg. Mehr oder weniger.
Damit dürfte er jetzt der Mann im Haus sein, hatte aber rasch lernen müssen, dass er deswegen noch lange nicht die Hausaufgaben weglassen oder unter der Woche länger aufbleiben konnte. Deshalb beantwortete er eine weitere blöde Frage zum Amerikanischen Bürgerkrieg.
Maya durfte ihre Freundin Cassie besuchen, um dort Hausaufgaben zu machen. Nicht, dass sie viel aufgehabt hätte. Er hingegen durfte das nicht. Vielleicht, weil sein bester Freund und er sowie seine anderen beiden besten Freunde am Vortag Körbe geworfen und einfach zusammen abgehangen hatten, statt Hausaufgaben zu machen. Und am Tag davor ebenfalls.
Dr. Octopus konnte nichts gegen zornige Mütter ausrichten, weshalb er sich nach der Schule im Rizzo’s einzufinden hatte, statt Mick, Nate oder Spencer zu besuchen. Das Ganze wäre weniger schlimm gewesen, dürften Mick, Nate oder Spencer zu ihm ins Rizzo’s kommen. Aber deren Mütter waren ebenfalls sauer.
Als er sah, dass Mr. Rizzo reinkam, hellte sich Raylans Miene auf. Denn wenn Mr. Rizzo kam, pflegte er mit Pizzateig zu jonglieren. Raylans Mom und einige andere Köche beherrschten das auch, aber Mr. Rizzo konnte Tricks. Zum Beispiel den Teig hochwerfen, sich einmal um die eigene Achse drehen und ihn hinter dem Rücken wieder auffangen. Wenn er nicht zu viel zu tun hatte, erlaubte er Raylan, es selber zu probieren und sich seine eigene Pizza mit jedem gewünschten Belag zu machen. Gratis!
Auf das Kind, das Mr. Rizzo begleitete, achtete er nicht weiter, weil es ein Mädchen war. Es hatte einen Gipsarm, was es ein bisschen interessanter machte. Er dachte sich Gründe für den Gips aus, während er seine letzte blöde Hausaufgabenfrage beantwortete. Sie war in einen Brunnenschacht gefallen oder aus einem Fenster, als das Haus gebrannt hatte. Nachdem die Fragen endlich erledigt waren, machte er sich an die letzten Aufgaben.
Mathe kam immer als Erstes, weil es am einfachsten war. Der Geschichtsmist danach, weil öde. Englisch zum Schluss, weil es Spaß machte. Sprache mochte er noch lieber als Mathe, fast so sehr wie Zeichnen.
1. Passant. Während der Fluchtwagen der Bankräuber davonraste, überfuhr er einen Passanten.
2. Umkreis. Als Außerirdische vom Planeten Zork angriffen, verließ sich die Menschheit darauf, dass der einzige Spider-Man im Umkreis sie beschützen würde.
3. Ertrag. Der verrückte Wissenschaftler entführte viele Leute und entnahm ihnen ihre Organe. Ein toller Ertrag für seine gestörten Experimente.
Er hatte sich gerade dem letzten von zehn Begriffen gewidmet, als sich seine Mutter zu ihm setzte. »Ich hab die blöden Hausaufgaben fertig.«
Weil ihre Schicht vorbei war, hatte Jane Schürze und Kochmütze abgelegt. Nachdem sie von ihrem Mann verlassen worden war, hatte sie sich die Haare kurz schneiden lassen und fand, dass ihr der Pixie hervorragend stand. Pflegeleichter war er allemal. Auch Raylan könnte einen neuen Haarschnitt gebrauchen. Sein früher hellblondes Haar bekam langsam einen dunkleren Honigton. Er wird groß, dachte sie, während sie Raylan stumm aufforderte, ihr seine Hausaufgaben zu zeigen.
Er verdrehte die wunderschönen grünen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte, und schob ihr den Ordner hin. Inzwischen war sein Haar nicht mehr so weich und hell, sondern ein wenig gewellt. Der Babyspeck war markanten Zügen gewichen, die er auch als Erwachsener haben würde. Wie die Zeit verging! Aus einem niedlichen war ein gut aussehender Junge geworden, direkt vor ihren Augen.
Sie kontrollierte seine Hausaufgaben. Denn obwohl sie in ihm bereits den Mann sah, zu dem er sich eines Tages entwickeln würde, faulenzte ihr Sohn einfach noch zu gern.
Sie las die Sätze laut vor, die er sich zu den Begriffen ausgedacht hatte, und seufzte. »Quartier. Nehmen die Fantastischen Vier irgendwo Quartier, ist das von da an ihr Revier.«
Er grinste nur. »Passt doch.«
»Wie kommt es, dass jemand, der so klug ist wie du, so viel Zeit und Energie auf das Hinausschieben von Hausaufgaben verschwendet, die locker in unter einer Stunde zu schaffen sind?«
»Weil Hausaufgaben nerven.«
»Das verstehe ich«, sagte sie. »Aber die gehören nun mal dazu. Heute hast du sie gut gemacht.«
»Heißt das, ich darf jetzt bei Mick abhängen?«
»Jemand, der so gut in Mathe ist wie du, sollte eigentlich in der Lage sein, sich die Tage bis zum Wochenende auszurechnen. Bis Samstag wird nirgendwo abgehangen. Und wenn du weiterhin nicht regelmäßig deine Hausaufgaben machst, dann …«
»Dann bleibst du die nächsten zwei Wochen nach der Schule hier«, sagte er eher kleinlaut als leidend. »Aber was soll ich jetzt machen? Ich habe noch Stunden vor mir.«
»Keine Sorge, Schätzchen.« Sie schob ihm den Ordner wieder hin. »Ich habe jede Menge Arbeit für dich.«
»Arbeit.« Jetzt klang er leidend, und wie! »Dabei hab ich alle Hausaufgaben erledigt.«
»Willst du etwa für Dinge belohnt werden, die eigentlich selbstverständlich sein sollten? Ich weiß da was.« Mit einem breiten Lächeln und funkelnden Augen klatschte sie in die Hände. »Wie wär’s, wenn ich dich abküsse?« Sie beugte sich vor. »Hier, vor aller Augen. Njam-njam, knutsch-knutsch.«
Er zuckte zurück, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. »Hör auf.«
»Dicke laute Schmatzer sind dir bestimmt kein bisschen peinlich, oder, mein kleines Baby?«
»Du spinnst, Mom.«
»Jetzt hast du’s mir aber gegeben. Dann lass uns deine Schwester abholen und heimfahren.«
Er verstaute den Ordner wieder in seinem schweren Rucksack.
So langsam trudelten die Leute ein, um ein Bier oder ein Glas Wein zu trinken oder um sich mit Freunden zu einem frühen Abendessen zu treffen.
Mr. Rizzo hatte sich inzwischen die Kochmütze aufgesetzt und die Schürze umgebunden, um seine Jonglierkünste vorzuführen. Das Mädchen saß auf einem Barhocker am Tresen und klatschte.
»Tschüs, Mr. Rizzo.«
Mr. Rizzo fing den Teig wieder auf, ließ ihn durch die Luft wirbeln und zwinkerte ihm zu. »Ciao, Raylan. Pass gut auf deine Mutter auf.«
»Wird gemacht, Sir.«
Sie traten auf die überdachte Veranda hinaus, wo bereits einige Tische besetzt waren. Blumen in Übertöpfen verströmten einen lieblichen Duft, der sich mit dem Geruch von gegrillten Calamari, scharfer Soße und knusprigem Brot vermengte.
Während sie an der Kreuzung auf Grün warteten, musste Jane sich zwingen, nicht nach der Hand ihres Sohnes zu greifen. Er war schließlich schon zehn und wollte in der Öffentlichkeit nicht mehr mit seiner Mutter Händchen halten.
»Wer war das Mädchen bei Mr. Rizzo?«
»Hm? Ach so, das ist seine Enkelin, Adriana. Sie wird den ganzen Sommer bei ihm bleiben.«
»Wieso hat sie diesen Gips?«
»Sie hat sich das Handgelenk verletzt.«
»Wie denn?«, fragte er beim Überqueren der Straße.
»Sie ist gestürzt.«
Weil sie Raylans neugierigen Blick spürte, sah sie zu ihm hinüber. »Was ist?«
»Du schaust so komisch.«
»Wie schau ich denn?«
»So, als ob du mir etwas Schlimmes verheimlichen wolltest.«
Vermutlich hatte er recht. Und vermutlich würde es Raylan in einem Städtchen, das so klein war wie Traveler’s Creek und in dem die Rizzos allseits bekannt waren, ohnehin irgendwann erfahren. »Ihr Vater ist auf sie losgegangen.«
»Im Ernst?« Sein Vater hatte viele böse Dinge gesagt und getan, aber das Handgelenk hatte er weder ihm noch Maya gebrochen.
»Ich erwarte, dass du die Privatsphäre der Rizzos respektierst, Raylan. Adriana und Maya sind etwa gleich alt und könnten sich anfreunden. Da ich sie also zu ihnen bringen werde, möchte ich nicht, dass du das deiner Schwester gegenüber erwähnst. Wenn Adriana ihr oder sonst wem davon erzählen möchte, ist das allein ihre Entscheidung.«
»Einverstanden. Trotzdem: Ihr Dad hat ihr den Arm gebrochen!«
»Das Handgelenk, aber das macht es nicht besser.«
»Ist er im Gefängnis?«
»Nein. Er ist gestorben.«
»Wow. Echt?« Verblüfft und etwas aufgeregt wippte er auf den Zehenspitzen auf und ab. »Hat sie ihn umgebracht oder so, um sich zu wehren?«
»Nein. Sei nicht albern. Sie ist nur ein kleines Mädchen, das etwas Schlimmes erlebt hat. Ich möchte nicht, dass du sie mit Fragen bedrängst.«
Sie erreichten Cassies Haus, das ihrem genau gegenüberlag. Ihr Haus hatten sie nur deshalb behalten können, weil die Rizzos ihrer Mutter einen Job angeboten hatten, nachdem sein Vater abgehauen war, nicht ohne vorher das Konto zu plündern.
Das war nur ein Beispiel für die Gemeinheiten, die er ihnen angetan hatte. Danach hatte Raylan gehört, wie seine Mom geweint hatte, wenn sie glaubte, er würde schlafen. Aber das war alles, bevor sie diesen Job bekommen hatte. Er würde nie etwas sagen oder tun, das Mr. oder Mrs. Rizzo verletzen könnte.
Das Mädchen kam ihm inzwischen deutlich interessanter vor.
3
In diesem Sommer wurde alles anders, als Adriana Maya kennenlernte. Sie tauchte in eine ganz neue Welt mit Übernachtungsbesuchen, Verabredungen zum Spielen und mit geteilten Geheimnissen ein. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine echte beste Freundin.
Sie brachte Maya Yogahaltungen und Tanzschritte bei und sogar fast den Handstand. Maya zeigte ihr dagegen, wie man den Cheerleader-Taktstock schwang und Kniffel spielte.
Ihre neue Freundin hatte außerdem einen Hund namens Jimbo, der auf den Hinterbeinen laufen konnte, sowie eine Katze namens Miss Priss, die gern schmuste. Und einen Bruder namens Raylan, aber der wollte nur Videospiele spielen, Comics lesen oder mit seinen Freunden herumtoben, sodass sie ihn kaum zu Gesicht bekam. Doch er hatte grüne Augen, noch grünere und dunklere als ihre Mutter und ihre Oma. Irgendwie extragrün. Maya meinte, er sei ein Doofi, aber Adriana konnte das nicht bestätigen, da er sich von ihnen fernhielt. Außerdem mochte sie seine Augen sehr.
Adriana fragte sich, wie es wohl wäre, einen Bruder oder eine Schwester zu haben. Eine Schwester wäre natürlich besser. Es war bestimmt toll, mit jemandem zusammenzuleben, der etwa gleich alt war.
Mayas Mutter war echt nett. Nonna sagte, sie sei ein Schatz, und Popi, dass sie hervorragend koche und hart arbeite. Wenn Mrs. Wells gerade Schicht hatte, kam Maya manchmal zu ihnen und blieb den ganzen Tag. Fragten sie rechtzeitig, durften auch andere Mädchen dazukommen.
Als der Gips abgenommen wurde, musste sie drei Wochen lang eine Schiene tragen. Die durfte aber runter, wenn sie baden oder im Pool von Mayas Freundin Cassie schwimmen wollte.
Eines Tages, es war schon Mitte Juni, ging sie mit Maya nach oben, um alles für das Picknick zu holen, das sie im Schatten unter dem großen Baum machen wollten. Vor Raylans offener Zimmertür blieb sie stehen. Normalerweise war die geschlossen, und ein Schild mit Betreten verboten hing daran.
»Ohne ausdrückliche Erlaubnis dürfen wir nicht rein«, erklärte ihr Maya. Ihr goldblondes Haar war heute zum Zopf geflochten, da ihre Mutter frei und Zeit für so etwas hatte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und verdrehte die Augen. »Als ob da jemand reinwill. Es ist unordentlich und stinkt.«
Vom Flur aus konnte Adriana nichts riechen, aber unordentlich stimmte. Sein Bett war nicht gemacht. Kleidung, Schuhe und Actionfiguren lagen über den ganzen Boden verstreut. Doch die Wände zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte sie mit Zeichnungen bedeckt. Superhelden, kämpfende Monster oder Superschurken, Raumschiffe, seltsame Bauwerke, gruselige Wälder. »Hat er das selbst gezeichnet?«
»Ja, er zeichnet die ganze Zeit. Er kann gut zeichnen, aber es ist immer bloß blödes Zeug. Nie zeichnet er etwas Schönes. Bis auf das Bild, das er Mummy zum Muttertag geschenkt hat. Einen Blumenstrauß, ausgemalt und so. Sie hat geweint. Vor Freude.«
Adriana fand die Zeichnungen nicht blöd. Ein paar waren ein bisschen gruselig, aber blöd ganz bestimmt nicht. Das behielt sie allerdings für sich, weil Maya ihre beste Freundin war.
Während sie weiter ins Zimmer hineinspähte, kam Raylan die Treppe hochgerannt. Er hielt kurz inne und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Dann baute er sich in der Tür auf, um ihr den Blick zu verstellen. »Kein Zutritt.«
»Wir sind gar nicht reingegangen, du Doofi. Niemand will in dein Stinke-Zimmer«, schnaubte Maya.
»Die Tür stand offen«, verteidigte sich Adriana, bevor Raylan seiner Schwester etwas erwidern konnte. »Ich bin auch nicht reingegangen. Ehrenwort. Ich hab mir bloß deine Zeichnungen angeschaut. Die sind echt gut. Am besten gefällt mir die von Iron Man, die da.« Sie tat, als würde sie fliegen, den einen Arm ausgestreckt und die Faust geballt. Sein wütender Blick fixierte sie. Instinktiv wich sie zurück, wobei sich ihr Handgelenk schmerzhaft zurückmeldete.
Er sah, wie sie die Schiene mit der gesunden Hand schützte, und das mit ihrem Vater fiel ihm wieder ein. Wenn einem der Vater etwas bricht, war so eine ängstliche Reaktion total verständlich. Deshalb zuckte er nur mit den Schultern. Vielleicht war er sogar ein bisschen beeindruckt, weil sie wusste, wer Iron Man war. »Die ist ganz okay. Das war aber bloß eine Skizze, ich kann das besser.«
»Die von Spider-Man und Dr. Octopus ist auch echt cool.«