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Im Jahr 1990 verschwand in Mettmann eine sechzehnjährige Schülerin spurlos. Alle Ermittlungen verliefen damals ins Leere. Auch Aktenzeichen XY berichtete. Der Fall reihte sich in die Cold Cases ein. Zweiunddreißig Jahre später findet ein Hund im Garten eines Hauses in der Siedlung Erlenhain menschliche Knochen. Die Ermittlungen werden wieder aufgenommen. Schließlich führt ein Bauwagen in der Nähe von Hamburg zum Täter.
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Seitenzahl: 207
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Im Jahr 1990 verschwand in Mettmann eine sechzehnjährige Schülerin spurlos. Alle Ermittlungen verliefen damals ins Leere. Auch ‚Aktenzeichen XY‘ berichtete. Der Fall reihte sich in die Cold Cases ein. Zweiunddreißig Jahre später findet ein Hund im Garten eines Hauses in der Siedlung Erlenhain menschliche Knochen. Die Ermittlungen werden wieder aufgenommen. Schließlich führt ein Bauwagen in der Nähe von Hamburg zum Täter.
Jörg Manz wurde im Jahr 1955 in Kiel geboren. Nach zwanzig Jahren Selbstständigkeit ist er seit 2018 im Ruhestand. Er lebt in Mettmann, der Neanderthalstadt zwischen Düsseldorf und Wuppertal. „Vermisst in Mettmann“ ist sein erstes Werk aus der Reihe Neanderlandkrimi.
„Schreib doch mal ein Buch, Papa!“
Für meine Tochter
Sebastian Gollenberg, Leitender Kriminaldirektor Sarah Paulsen, ermittelnde Kommissarin
Rene Bürgerfreund, Sarah Paulsens Lebensgefährte Jörg Vetten, ermittelnder Hauptkommissar 2022
Prof. Dr. Sabine Karanastuso, Leiterin der Rechtsmedizin Düsseldorf
Leonie Braun, Schulpraktikantin
Dr. Stefanie Seitl, Internistin, Käuferin des Hauses im Erlenhain
Dr. Sebastian Seitl, Orthopäde und Chirurg, Ehemann von Stefanie Seitl
Nils Seitl, 5-jähriger Sohn von Stefanie und Sebastian Seitl
Dr. Müller, ein Boxerrüde
Wolfgang und Manuela Stern, Verkäufer des Hauses im Erlenhain
Erster Teil; 2022
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Zweiter Teil; 1989/1990
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Dritter Teil; 2022
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Liebe Leser!
Danksagung
Dr. Sebastian Seitl kam nach einem arbeitsreichen Tag an einem trüben Novembertag nach Hause. Zwei Meniskus- und eine Hüft-OP hatten auf dem OP-Plan gestanden. Als dann noch die Verletzten des Unfalls am Hildener Kreuz eingeliefert wurden, wurde es ein langer Tag für ihn in der Unfallklinik.
Seine Frau Stefanie bereitete gerade ein Erbsenrisotto mit Hähnchenschnitzel zu. Seitls hatten sich vor einiger Zeit eine ziemlich teure Küchenmaschine gekauft. Da sie beide berufstätig waren, blieb nicht viel Zeit zum Kochen übrig. Die Maschine nahm ihnen viel Arbeit ab und die Ergebnisse konnten sich sehen lassen.
Zuerst begrüßte Sebastian seine Frau und dann seinen fünfjährigen Sohn Nils, der ihn voller Sehnsucht erwartete.
Dann war da noch Dr. Müller, der Hund von Familie Seitl. Vor einiger Zeit hatten sie den Boxerrüden von einem befreundeten Ehepaar übernommen. Die Bekannten waren ebenfalls Mediziner und gingen für längere Zeit für Ärzte ohne Grenzen ins Ausland.
Solange Stefanie vormittags bei einer Internistin praktizierte, war Dr. Müller allein zu Hause. Das war er gewohnt. Dr. Müller war neun Monate alt und an seiner Erziehung mussten die Seitls noch arbeiten. Wenn Stefanie von der Arbeit kam, wurde sie überschwänglich von dem Boxerrüden begrüßt. Durch die warme Stelle auf dem Sofa bemerkte sie schnell, dass der Hund während ihrer Abwesenheit auf der Couch geschlafen hatte. Das konnten sie dem Boxer nicht abgewöhnen. Wenn Seitls zu Hause waren, war das kein Thema. Dr. Müller lag brav auf seiner Decke oder spielte, meistens mit Nils. War er allein, machte er, was er wollte.
„Papa, Papa, schau, was ich Dr. Müller beigebracht habe!“, rief Nils aufgeregt. Sebastian folgte seinem Sohn durch die Terrassentür in den Garten.
Nils warf einen Stock in Richtung Nachbargrundstück.
„Hol den Stock, Dr. Müller, hol den Stock!“
Der Boxerrüde rannte los, kam mit dem Stock im Maul zurück und legte ihn vor Nils ab.
„Jetzt du, Papa.“
Sebastian nahm den Stock und warf ihn.
„Jetzt ich wieder“, rief Nils fröhlich.
So ging das ein paar Mal hin und her.
Erst nach einer Weile betrachtete Sebastian den Stock, schaute ihn von allen Seiten an. Weil es dunkel war, ging er an die Terrassentür, wo ein helleres Licht strahlte. Er setzte seine Lesebrille auf. Das war kein Stock, das war ein Knochen. Sebastian ergriff einen anderen Stock und warf ihn, damit Dr. Müller ihn apportieren konnte.
„Das machst du sehr gut, Nils. Spiel einen Moment allein mit Dr. Müller. Ich gehe kurz rein und zeige Mama das Stöckchen, mit dem ihr gespielt habt.“
Sebastian ging ins Haus zu seiner Frau, die im Esszimmer das Essen auftischte.
„Schau mal, das könnte ein menschlicher Unterarmknochen sein, eine rechte Elle.“
Er zeigte Stefanie den Gartenfund.
Als Orthopäde und Chirurg wusste er sehr genau, wonach das aussah. Nebenan war eine Metzgerei, die noch selbst schlachtete. Es könnte eventuell ein Tierknochen sein. Die erste Variante schien ihm wahrscheinlicher. Aber wo sollte hier ein menschlicher Knochen herkommen?
Beim Essen vermieden es Seitls den Knochenfund gegenüber Nils zu erwähnen. Er zeigte seinen Eltern die Fundstelle neben einem großen Jasminstrauch und wurde ins Bett gebracht. Kaum war er eingeschlafen, bewaffneten sich Seitls mit Spaten und Taschenlampe und gingen dorthin. Dr. Müller hatte ganze Arbeit geleistet und ein großes Loch gebuddelt. Ein weiterer Knochen ragte aus der Erde heraus. Sie brachten den Knochen ins Haus und betrachteten den Fund. Auch Stefanie hatte jetzt ihre Lesebrille aufgesetzt. Beide schüttelten mit dem Kopf. Es war eindeutig, das waren menschliche Unterarmknochen, eine rechte Elle und eine rechte Speiche.
„Was machen wir damit?“, fragte Stefanie.
„Wenn wir ehrlich sind, müssen wir den Fund der Polizei melden.“
„Genau, und dann kommt die Kriminaltechnik und buddelt den ganzen Garten um. Ganz zu schweigen von Verhören durch die Kripo.“ Der Blick von Stefanie zeigte, dass sie von dieser Idee nicht begeistert war.
„Du hast recht. Und die BILD und RTL haben wir auch im Garten“, vermutete Sebastian.
„Also Stillschweigen, einverstanden, Sebi?“
„Ich weiß nicht. Wohin mit diesen Knochen? Was, wenn Dr. Müller weitere Gebeine findet?“
„Oder Nils spielt mit den ‚Stöckchen‘ auf der Straße und andere Nachbarn sehen das?“
„Ich will nicht, dass Nils im Entferntesten mit Leichenknochen spielt!“, entgegnete Sebastian ernst.
„Warum nicht? Man kann nicht früh genug mit der orthopädischen Ausbildung anfangen.“
Da gab sich der Orthopäde geschlagen und musste lachen, obwohl die Situation ernst war. Der Entschluss war gefasst. Die Ehrlichkeit hatte gewonnen, mit allen Folgen, die sich daraus ergeben würden.
„Die Gebeine liegen bestimmt schon viele Jahre hier. Wir müssen uns nicht beeilen“, schloss Sebastian, „übermorgen haben wir beide frei und können nachmittags zur Polizei in Mettmann an der B7 fahren und unseren Fund abgeben.“
Die Knochen wurden sorgfältig eingetütet und vor Nils versteckt. Er sollte auf keinen Fall wieder damit spielen.
Es war erst zwölf Wochen her, dass Sebastian und Stefanie Seitl nervös beim Notar in dem großen Raum mit dem riesigen Tisch gesessen hatten. Sebastian konnte sich sehr gut an die Situation erinnern.
Die beiden waren schon einmal von einem Hausverkäufer in letzter Sekunde versetzt worden. Er wollte mehr Geld für sein Haus als ursprünglich vereinbart, und hatte den Notartermin nicht wahrgenommen.
Der Leidensdruck der beiden war groß. Sie wohnten damals in einer Dreizimmerwohnung in der dritten Etage am Stadtrand von Düsseldorf, in der Nähe eine belebte Straße und ein Spielplatz, der den Namen nicht verdiente. Keine Freunde für Nils. Kein Garten und keine Möglichkeit zum Grillen, wovon Sebastian träumte.
„Meinst du, wir übernehmen uns nicht mit den Kosten?“, hatte Stefanie nachdenklich im Beurkundungsraum gefragt.
750.000 Euro war sehr viel Geld, und die Unsicherheiten zurzeit konnten sie nicht wegdiskutieren. Coronakrise gerade vorbei, Inflation bei 10 Prozent, Krieg in der Ukraine und das steigende Zinsniveau.
Aber das Haus im Mühlengarten 75 war genau das, was Seitls suchten. Fünf Zimmer und somit Platz für ein zweites Kind. Dazu die Lage in der Siedlung Erlenhain, fantastisch. Ländlich gelegen, am Ende einer Stichstraße, absolut verkehrsberuhigt, Großstädte wie Düsseldorf und Wuppertal in der Nähe, alle wichtigen Versorger schnell erreichbar, Kindergärten und Schulen in der unmittelbaren Umgebung, und der Arbeitgeber von Sebastian, das St. Josefs Krankenhaus in Hilden, war nicht weit. Sebastian arbeitete in der Orthopädie und Unfallchirurgie der Klinik. Seine Frau Stefanie war halbtags bei einer Internistin in Hilden angestellt. Für Nils hatten sie bereits in Mettmann einen Kindergartenplatz und nach der Einschulung war der Weg zur Astrid-Lindgren-Grundschule nicht weit.
Sie hatten lange über die Finanzierung diskutiert und vieles hin und her überlegt. Als die Eltern der beiden einiges zum Eigenkapital für den Hauskauf beigesteuert hatten, war es zusammen mit den eigenen Finanzmitteln möglich, einen Kredit von der Bank zu erhalten.
Die Notarin betrat endlich den Beurkundungsraum, gefolgt von Wolfgang und Manuela Stern, den Verkäufern des Hauses. Die Anspannung von Stefanie und Sebastian löste sich. Es funktioniert mit dem Hauskauf, freuten sich Seitls.
Die Paare begrüßten sich. Sie kannten sich bereits durch zwei Besichtigungstermine und zahlreiche Telefonate.
Die Notarin machte ihre Arbeit locker und bezog Nils in das Gespräch mit ein. Der Kleine klebte an ihren Lippen, als sie den beiden Ehepaaren den Notarvertrag vorlas.
Es gab ein paar kleine Änderungen, ein Name war falsch geschrieben, und eine halbe Stunde später waren Stefanie und Sebastian Seitl endlich stolze Besitzer des lang ersehnten Einfamilienhauses. Sterns hatten eine Flasche Sekt mitgebracht und sie stießen alle gemeinsam mit der Notarin auf den erfolgreichen Verkauf an.
Der Umzug vor zwei Wochen in das neue Haus war reibungslos über die Bühne gegangen, bis auf eine Vase, die zu Bruch ging. Nils war sie heruntergefallen. Stefanie war froh darüber. Das Hochzeitsgeschenk von Tante Ellen hatte sie nie so richtig leiden können.
Erlenhain in Metzkausen war mit zweiunddreißig Jahren eine ältere Siedlung und allmählich fand hier ein Generationswechsel statt. Deshalb wollte Familie Stern sich verändern und in eine kleinere Wohnung im Erdgeschoss ziehen.
Natürlich musste einiges im und am Haus gemacht werden. Es gab einen großen Renovierungsstau. Die Bäder mussten erneuert werden, die Küche war in die Jahre gekommen und den Garten hatten die Verkäufer wegen einer Gehbehinderung nicht mehr richtig pflegen können. Die Renovierung der Bäder war wichtig und stand ganz oben auf der Prioritätenliste von Sebastian und Stefanie, die Küche sollte danach in Angriff genommen werden und im Frühjahr wollten sie den Garten angehen. Darauf freute sich Sebastian besonders. Hier wollte er Ausgleich zu seinem arbeitsreichen Beruf finden. Er hatte umfangreich im Internet über einen Grillplatz recherchiert und ganz konkrete Vorstellungen für den neuen Garten.
Der fünfjährige Nils hatte den Umzug in das neue Haus und die neue Umgebung sehr gut weggesteckt. Er war nicht schüchtern und fand schnell Kontakt zu den Gleichaltrigen im Kindergarten. In der Nachbarschaft waren wenig Kinder in seinem Alter.
Am liebsten spielte er aber mit Dr. Müller. Der Boxer war ein idealer Spielgefährte für ihn. Stöckchen werfen liebten die beiden. Der Garten war nicht allzu groß, und für die Kräfte des Fünfjährigen gerade richtig, damit der Stock nicht beim Nachbarn landen konnte.
Hauptkommissar Jörg Vetten betrat mürrisch das ovale Gebäude der Kreispolizeibehörde in Mettmann. Er konnte nicht verbergen, dass er sauer war über das Ausscheiden der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der WM in Katar. Ausgerechnet gegen ein Fußballentwicklungsland wie Japan verloren, ging es ihm durch den Kopf. Wenn ich Trainer der Nationalmannschaft wäre, ich hätte andere Leute auf den Platz geschickt. Warum so viele Bayern-Spieler? Gibt es beim BVB nicht genug andere Fußballer, grübelte Vetten. Er konnte seine Zuneigung zu dem Dortmunder Fußballverein nicht verbergen.
An seinem Schreibtisch angekommen packte er erst einmal sein zweites Frühstück aus. Nussecken und eine Zimtschnecke. Die Nussecken hatte seine Frau für die Kollegen der Direktion Kriminalität gebacken. Eine nahm er für sich, die Zimtschnecke hatte er gerade beim REWE gekauft. Er hatte Frust und brauchte Nervennahrung, sonst würde er ungenießbar. Auch wenn der Arzt ihm beim letzten Check-up dringend geraten hatte, sich mit Süßem zurückzuhalten.
Laut Labor war sein Blutzuckerwert bei der letzten Untersuchung vor vier Wochen 6,2 gewesen. Vor einem Jahr lag der Wert bei 5,8. Sein Hausarzt ermahnte ihn wegen seines Übergewichts. Er hatte ja nicht ganz unrecht. Bei 173 cm und 104 kg Körpergewicht hatte er einen BMI von 35,1 und galt als übergewichtig.
Vor achtzehn Jahren, 2004, wog er knapp über siebzig Kilo und war beim Dortmund Marathon mitgelaufen, von Dortmund über Bochum und Gelsenkirchen bis nach Essen. Er hatte vier Stunden dreißig für die 42,195 km lange Strecke benötigt. Einige seiner Kollegen waren ebenfalls gelaufen und es war damals eine gute Werbung für die Polizei. Zwei Tage Sonderurlaub hatte es für die erfolgreichen Teilnehmer gegeben.
Mit einem fröhlichen Lächeln betrat Sarah Paulsen das Büro, das sie sich mit Vetten teilte. Die junge Kommissarin war seit Kurzem im Team der Mordkommission. Der Liebe wegen hatte sie sich von Paderborn nach Mettmann versetzen lassen. Ihren Freund hatte sie vor einem Jahr über das Internet kennengelernt. Sie wollte näher bei ihm sein, um ihn besser kennen zu lernen, und hatte eine eigene kleine Wohnung in Mettmann gemietet.
Sarah hatte glatte, lange braune Haare, die sie gerne zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Die modische Brille, die sie trug, stand ihr gut. Sie hob ihre großen dunklen Augen besonders hervor. Sarah kleidete sich modern und nahm jeden Modetrend mit. Optisch war sie somit das Gegenteil von Vetten. Aufgrund seines Körpervolumens war er eher der Hosenträgertyp. Sarah trug Sneaker. Sie liebte diese Schuhe und hatte bestimmt zwanzig Paare davon in ihrem Schrank. Morgens konnte sie sich nie entscheiden, welches sie an diesem Tag tragen sollte.
Sportlich hätten die beiden auch nicht unterschiedlicher sein können. Sarah war NRW-Meisterin im Kickboxen in ihrer Altersklasse, zum wiederholten Mal. Die Deutschen Meisterschaften standen kurz vor der Tür und sie war im Kader der deutschen Nationalmannschaft. Vetten dagegen liebte Sport vom Fernsehsessel aus.
Auch die Laune der beiden schien heute ziemlich gegensätzlich zu sein.
„Moin, Jörg“, lächelte sie den Hauptkommissar fröhlich an, „was ist dir heute für eine Laus über die Leber gelaufen? Sollst du Falschparker auf dem Jubi ermitteln?“
„Deutschland ist ausgeschieden“, brummte Vetten mürrisch, ohne den Blick von seinem süßen zweiten Frühstück zu lassen.
„Ach so. Ja. Ist nicht so schlimm. Gibt Schlimmeres“, sagte Sarah und ergänzte, „stell dir vor, du müsstest auf dem Parkplatz Wohnwagen und Wohnmobile wiegen oder die Kollegen in Düsseldorf oder im Ruhrpott bei einem Fall unterstützen.“
Tatsächlich war Mettmann nicht gerade für seine hohe Kriminalitätsquote berüchtigt. Die Sprengung des Geldautomaten der Postbank am Jubiläumsplatz im August 2017 war das Highlight in seiner Laufbahn. Deshalb kam es oft vor, dass Vetten an einen anderen Ort abkommandiert wurde, zur Unterstützung der Kollegen. Da wurde er zum Hilfssheriff degradiert und durfte das Adressbuch der Mordopfer abtelefonieren oder Bewegungsprofile von Handys vom Provider anfordern. Die „tatsächlich wichtige“ Arbeit machten die örtlichen Kollegen.
Vetten träumte von einem richtig tollen Fall, bevor er in Rente ging. Er war fünfundsechzig und die letzten Jahre hier in Mettmann waren tote Hose für ihn gewesen. Klar war es wichtig, wenn er Grundschülern beim Besuch der Kreispolizeibehörde von der Arbeit erzählen und sie nacheinander für eine Minute in die Ausnüchterungszelle sperren durfte. Das Größte zum Abschluss seiner beruflichen Laufbahn wäre ein Mord, den er aufklären konnte.
„Jörg.“ Der Direktionschef Sebastian Gollenberg steckte den Kopf durch die Tür und störte Vetten in seinen Gedanken.
„Darf ich dir für zwei oder drei Wochen eine Schulpraktikantin vom HHG an die Hand geben? Würde in zwei Wochen kommen.“
„Wieso ausgerechnet bei uns? Schick die doch zum Diebstahl“, maulte Vetten mürrisch.
„Das geht nicht“, erwiderte sein Chef, „da könnte sie auf Klassenkameraden treffen, die Zigaretten geklaut haben. Außerdem ist ja im Moment eh nichts los bei euch. Ist auch `ne Nette.“ Der Leitende, wie der Direktionsleiter genannt wurde, hatte eine sympathische Art, seinen Mitarbeitern unangenehme Sachen mitzuteilen. So war es schwierig, ihm zu widersprechen. Trotzdem war Vetten nicht glücklich über eine Schulpraktikantin, auch wenn sie nett sein sollte.
Die versuchen mit aller Macht, mir meine letzten Monate zu versauen, waren seine Gedanken.
Kommissarin Sarah Paulsen brannte. Sie stand mit ihren dreiunddreißig Jahren am Anfang ihrer Karriere. Ihr starker Gerechtigkeitssinn hatte sie motiviert, zur Kripo zu gehen und in Strafangelegenheiten zu ermitteln. Es war ihr Traum, beim Mord zu arbeiten. Ein Kollege aus der Abteilung „Kriminalität“ hatte Long-Covid und würde nicht mehr auf seine alte Stelle zurückkehren können. So hatte sie sich auf den freien Platz in Mettmann beworben. Ihre Eltern hatten ihr abgeraten, Polizistin zu werden. Als Sarah ausgerechnet zum Mord gehen wollte, waren sie total entsetzt. Jedes Mal, wenn im Fernsehen ein Tatort lief, hatten sie wieder Angst um ihre Tochter. Sarah hatte sich jedoch durchgesetzt und wollte endlich durchstarten.
Gerade schaltete sie ihren Computer ein und rief die Software eCEBIUS, das zentrale Einsatzleitsystem der Polizei, auf. Alle Vorkommnisse waren hier dokumentiert, auch alte, ungelöste Fälle, die als Cold Cases eingestuft waren.
„So eine Schulpraktikantin ist nicht schlecht, die kann bei einer Recherche über Cold Cases gut unterstützen“, murmelte Sarah und versuchte, ein neutrales Gesicht zu machen, um Vetten nicht zu provozieren.
„Lecker, die Nussecken deiner Frau. Grüß sie ganz lieb von mir, und sie soll mir unbedingt das Rezept verraten.“
Sie versuchte, Dampf aus dem Kessel von ihrem schlecht gelaunten Kollegen abzulassen, was ihr gelang. Seine Gesichtszüge hellten sich auf.
Schon gut, wozu so ein Antieskalationstraining gut sein kann, freute sie sich. Die Nussecken seiner Frau waren wirklich großartig und sie biss genüsslich ein weiteres Stück ab.
Sebastian und Stefanie Seitl machte sich mit dem Knochenfund auf den Weg zur Kreispolizeibehörde am Ortseingang von Mettmann. Nils hatten sie nichts von ihrem Besuch bei der Polizei erzählt. Er hätte sonst nicht locker gelassen, mitzukommen. Sie hatten ihn bei einem Kindergartenfreund untergebracht.
Der wachhabende Polizeiobermeister Aretz telefonierte kurz mit Sarah Paulsen und begleitete Sebastian und Stefanie dann in Sarahs Büro.
Nach einer kurzen Vorstellung holte Sebastian die beiden Knochen, die er sorgfältig eingeschweißt hatte, aus seiner Tasche. Er wollte vermeiden, dass die Gebeine angefasst werden, was ja bereits zu Hause geschehen war. Außerdem hatte Dr. Müller einen der Knochen schon im Maul gehabt.
„Und Sie sind sicher, dass das menschliche Knochen sind?“, fragte Sarah.
„Ziemlich sicher“, entgegnete Sebastian, „ich bin Orthopäde und meine das erkennen zu können“, ergänzte er ohne Arroganz in seiner Stimme.
„Endgültig kann das natürlich erst eine ausführliche Untersuchung ergeben“.
„Und Dr. Müller hat die Knochen auf Ihrem Grundstück gefunden? Wer ist bitte Dr. Müller?“
Der Polizeiobermeister an der Wache neben dem Eingang hatte wohl nicht weitergegeben, dass es sich bei Dr. Müller um einen Hund handelte.
„Dr. Müller ist ein Boxer“, versuchte Stefanie die Situation aufzuklären.
„Ein, äh, Boxer?“ fragte Sarah noch irritierter. Sie kam nicht auf die Idee, dass es sich um einen Hund handeln könnte. Kampfsportler war wegen der Sportart, die sie ausübte, einfach naheliegender.
„Unser Hund, ein neun Monate alter Boxerrüde“, klärte Stefanie die Situation auf.
Alle lachten. Der seltene Name für den Hund gab tatsächlich Munition für lustige Situationen. Sarah Paulsen überlegte, wie sie ihren Kollegen Jörg Vetten mit diesem Namen auf den Leim führen konnte.
Sarah nahm die Personalien der beiden auf und erstellte ein Protokoll. Nachdem es unterschrieben war, begleitete sie die Seitls zum Ausgang.
„Ach, noch etwas“, sagte Sarah zu Familie Seitl, „wir möchten nicht sofort mit der großen Kavallerie auffahren. Ich möchte Sie bitten, die Stelle nicht zu betreten und auch niemandem davon zu erzählen. Zumindest, bis wir ein Ergebnis aus der Rechtsmedizin haben. Danach sehen wir, ob weitere Schritte eingeleitet werden müssen.“
Eigentlich hätte sie sofort die Stelle sichern müssen. Familie Seitl machte auf Sarah aber nicht den Eindruck, dass sie etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. Sie war überzeugt, dass sie ihrer Bitte entsprechen und den Fundort nicht verändern würden. Wenn es überhaupt menschliche Knochen und somit ein Fall sein sollte.
Sie piepste Vetten an.
Der sitzt bestimmt wieder in der Cafeteria und füllt seinen Zuckerhaushalt auf, vermutete sie.
„Was hast du da?“, fragte Vetten, als er das Büro betrat.
„Hat Dr. Müller gefunden“, sagte sie und zeigte ihm die Knochen.
„Wer ist Dr. Müller?“
„Ein Boxer.“
„Ein Kampfsportler mit Doktortitel? Kann ich mir nicht vorstellen.“
Sarah genoss es, die fragenden Falten auf Vettens Stirn zu beobachten. Sie hielt einige Sekunden inne und genoss diesen Augenblick.
„Also ...“, wollte Sarah fortfahren.
„Also was?“, unterbrach Vetten ungeduldig.
„Also, Dr. Müller ist ein Hund, ein Boxer. Der Hund gehört Familie Seitl, die vor Kurzem in der Siedlung Erlenhain ein Haus gekauft hat. Der Hund hat diese Knochen im Garten ausgebuddelt. Sebastian Seitl ist Orthopäde und seiner Meinung nach sind das menschliche Knochen. Eine rechte Elle und eine rechte Speiche.“
In Vettens Kopf ratterte es. War das sein Fall, den er ersehnte? Oder hatte ein Nachbar sich einen üblen Scherz erlaubt und die Knochen vom Spanferkel über den Zaun entsorgt?
Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Rechtsmedizin an der Uniklinik in Düsseldorf.
„Hauptkommissar Vetten, Kriminaldirektion Mettmann“, meldete er sich.
„Hallo Mettmann. Habt ihr ein tot gebliebenes Huhn, das ich obduzieren soll?“
Vetten hatte viele Geschichten über die direkte Art der bekannten Rechtsmedizinerin gehört, aber nie persönlichen Kontakt zu ihr gehabt. Er war erst einmal sprachlos.
Die Pathologin, Prof. Dr. Sabine Karanastuso, hatte einen Ruf, der weit über die Grenzen von Düsseldorf hinausreichte. Sie war eine Koryphäe auf ihrem Fachgebiet. Auch wegen ihrer bildhaften Art des Vortrags und ihrer Schlagfertigkeit wurde sie gerne zu Kongressen oder zu Talkshows eingeladen. Ihre Vorlesungen an der Uni waren bis auf den letzten Platz besetzt. Privat machte sie gerne Kreuzfahrten. Bei einer ihrer ersten Fahrten hatte sie Tischpartnern beim Essen erzählt, dass sie Pathologin und Gerichtsmedizinerin sei. Zum nächsten Essen hatten diese um einen anderen Tisch gebeten. Karanastuso hatte wohl zu plastisch und detailliert über ihre Arbeit erzählt. Seitdem berichtete sie nichts mehr über ihren Beruf auf Kreuzfahrten.
„Zwei abgeknabberte Kotelettknochen und 'ne panierte Leber aus der Kantine von heute Mittag“, konterte Vetten nach einem kurzen Moment, „nein, Spaß beiseite. Wir haben hier einen Gartenfund. Offensichtlich zwei menschliche Knochen. Der Finder ist Orthopäde und Chirurg. Er könnte recht haben mit seiner Beurteilung.“
„Kommen Sie vorbei, Herr Hauptkommissar. Ich bin bis achtzehn Uhr im Haus.“
Sarah und Jörg fuhren nach Düsseldorf in die Uniklinik an der Mohrenstraße, zur Professorin in die Rechtsmedizin.
„Zeigen Sie mal her, was Sie haben“, forderte Karanastuso auf.
„Jau, das sind eine rechte Elle und Speiche. Wobei die Elle zahlreiche Verletzungen aufweist. Könnten post mortem entstanden sein. Woll.“
„Das war Dr. Müller“, sagte Sarah Paulsen.
Karanastuso blickte auf. „Dr. Müller? Wie soll ich das verstehen? Welcher Arzt hat da unprofessionell in mein Handwerk gepfuscht?“
Sarah freute sich, mit dem extravaganten Namen wieder zur Verwirrung beigetragen zu haben.
„Ein Boxer.“
„Und der nette promovierte Kampfsportler hat an der Elle genagt?“, wollte die Rechtsmedizinerin wissen.
„Dr. Müller ist der Hund von Familie Seitl. Auf deren Grundstück hat er die Knochen gefunden. Der Hund heißt tatsächlich Dr. Müller“, klärte Sarah Paulsen auf.
Solche Scherze mochte die Rechtsmedizinerin, sie war ja aus demselben Holz geschnitzt.
„In welcher Fachrichtung hat der Hund promoviert oder ist das ein Betrüger?“, grinste sie zurück.
„Okay. Ich will Ihnen erklären, wie das weitere Vorgehen ist. Zuerst werde ich eine forensischosteologische Begutachtung machen. Soweit ich das zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, sind das menschliche Knochen. Genaues morgen Vormittag. Woll.“
„Wie immer, Genaues nach der Obduktion“, lästerte Vetten.
„Sie gucken wohl zu viele Krimis im Fernsehen“, konterte die Pathologin. Sie musste immer das letzte Wort haben.
„Vielen Dank, Frau Doktor. Dann wollen wir jetzt unsere Hausaufgaben machen“, verabschiedeten sich Sarah und Vetten.
„Weißt du, warum die immer ‚Woll‘ sagt?“, fragte Vetten auf dem Weg zum Dienstwagen, der auf dem Besucherparkplatz stand.
„Sie kommt wahrscheinlich aus Dortmund“, klärte Sarah auf, „das bedeutet so viel wie ‚nicht wahr‘ und soll dem zuvor Gesagten Nachdruck verleihen. Nur ein echter Dortmunder benutzt dieses Wort.“
Vetten schüttelte den Kopf. „Was du alles weißt!“
Die beiden Kommissare machten sich auf den Weg in die Erlenhainsiedlung zu Familie Seitl.
„Deine Schuhe passen aber nicht unbedingt zu einem Kundenbesuch“, meinte Vetten mit einem Blick auf Sarahs Sneaker.
„Ich habe welche zum Wechseln in meiner Tasche“, antwortete sie und holte ein anderes Paar, natürlich wieder Sneaker, aus ihrer Tasche, „sind die hier besser?“
„Ist egal. Solange du keine Jeans mit Rissen trägst, ist mir das wurst“, erwiderte Vetten kopfschüttelnd. Sein Geschmack war dieser legere Stil nicht. Er konnte mit neuen Trends wenig anfangen. Er trug heute einen dunkelbraunen Anzug mit einer hellbraunen Weste, dazu eine diagonal gestreifte Krawatte in braunen Tönen.