VERNETZT - Marianne Labisch - E-Book

VERNETZT E-Book

Marianne Labisch

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Beschreibung

Der Debütroman der Schriftstellerin Susanne Blumberg gleicht einem Puzzle. Die Leser müssen sich die Kapitel auf Webseiten befreundeter Autoren zusammensuchen. Niemals hätte sie gedacht, dass ein Leser zum Mörder wird, weil er an dieser Aufgabe scheitert, indem er ein Kapitel nicht findet. Obwohl der Mord weit weg von ihrem Wohnort geschehen ist, vermutet die Mordkommission den Mörder in Susannes unmittelbarer Umgebung. Wem kann sie jetzt noch trauen? Niemandem, folgert sie, als sie entdeckt, dass ein Fremder in ihrem Haus war. Das Unheil nimmt seinen Lauf und die nächsten Tage werden zum Horrortrip …

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Marianne Labisch

VERNETZT

Außer der Reihe 64

Marianne Labisch

VERNETZT

Außer der Reihe 64

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: 24. Dezember 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Marianne Labisch

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Kai Beisswenger

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 265 2

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 832 6

1

Sue zog den Vorhang einen Spalt zur Seite und lugte ins Publikum. Es gab nur noch ein paar freie Stühle in dem Raum, der circa hundert Personen fasste. So langsam wurde ihr mulmig. Was, wenn sie sich verhaspelte oder ihr Roman den Leuten nicht gefiel?

Nur nicht verrückt machen. Je lockerer sie die Sache anging, desto besser. Sie ließ ihren Blick über die Gäste gleiten und entdeckte kein bekanntes Gesicht. Wo steckte Alex?

Da saß er, gleich in der ersten Reihe, wie er schon vor geraumer Zeit angekündigt hatte. Wie nett von ihm, ihr bei der ersten Lesung beizustehen, und das, obwohl er sich nicht für ihre Schreiberei interessierte. Einfach ein lieber Kerl. Er hatte zwar auch seine Macken, aber wer hatte die nicht?

Schweiß, Rasierwasser- und Parfümduft hingen schwer in der Luft. Die Klimaanlage kämpfte vergeblich gegen die Hitze. Einige Frauen fächelten sich mit dem Programmheftchen Luft zu. Gemurmel erfüllte den Raum, in dem eine gewisse Spannung lag.

Sue blickte nervös auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Zeit genug, um noch einmal zur Toilette zu gehen. Gab es eigentlich wissenschaftliche Untersuchungen darüber, warum man unter Anspannung einen permanenten Harndrang verspürte?

Um nicht zu spät zu kommen, eilte sie über den Flur und huschte in die Damentoilette. Nach dem Händewaschen überprüfte sie zum hundertsten Mal ihr Aussehen. Weiße Hose, flache weiße Ballerinas und ein tiefblauer Baumwollpulli mit Lochmuster, der ihre Augen perfekt zur Geltung brachte. Sie drehte sich um die eigene Achse. Ja, so konnte sie sich sehen lassen.

Mit einem Mal verspürte sie ein Unbehagen. Es prickelte im Nacken, als wäre da jemand, der sie beobachtete. Im Spiegel sah sie die Toilettentüren, allesamt geschlossen. Es könnte sich aber jemand hinter einer dieser Türen verbergen. Nein, dann hätte sie Schuhe sehen müssen. Die Härchen an den Armen stellten sich auf. Als Kinder hatten sie sich auf die Kloschüssel gestellt, wenn sie nicht von außen entdeckt werden wollten.

Auf Zehenspitzen huschte sie zu den verschlossenen Türen und öffnete eine nach der anderen.

Kein Mensch!

Trotzdem wich dieses blöde Gefühl nicht.

Langsam musste sie aufpassen, dass sie durch den Mist nicht noch zu spät kam. Sie ging zur Tür und drückte die Klinke hinunter.

Nichts passierte.

Nein! Das konnte nicht sein. Wäre sie eingeschlossen worden, hätte sie das Schlüsselgeklimper doch hören müssen. Außerdem würde kein Mensch auf so eine hirnrissige Idee kommen. Die Toiletten standen dem Publikum zur Verfügung. Die schloss garantiert niemand ab, bevor die Veranstaltung endete.

Verhakt vielleicht? Ganz ruhig bleiben. Klinke runter, ganz runter und drücken. Wieder nichts. Ihr wurde heiß. Dort draußen saßen Leute, die auf sie warteten. Sie musste hier raus! Noch ein Versuch. Gleiches Ergebnis. Ihr Herz raste.

Verdammt! Sie ging zurück zum Waschbecken, erkannte im Spiegel ein gehetztes Reh und überlegte, was sie tun konnte. Sie hatte so lange auf die erste Lesung gewartet. Und jetzt saß sie auf dem KLO fest! Das durfte nicht wahr sein.

Schreien, rufen, mit den Händen gegen die Tür trommeln? Sie spürte Wuttränen aufsteigen und biss sich auf die Lippe. Nein, sie würde garantiert nicht mit einem verheulten Gesicht vor das Publikum treten.

Die Schlagzeile: Lesung ausgefallen – Autorin saß auf dem WC!, tauchte in großen Lettern vor ihrem geistigen Auge auf, bezwang die Tränen und brachte Sue zum Lachen. Ja, das wär's! Sie schniefte, straffte die Schultern, ging mit festen Schritten zur Tür und drückte die Klinke noch einmal hinunter. Dieses Mal öffnete sich die Tür, als sei nie etwas gewesen.

Draußen versetzte sie der Tür einen Tritt, schimpfte: »Elendes Mistding!«, und eilte zur Bühne. Dabei atmete sie mehrmals tief durch und verscheuchte die Episode aus ihren Gedanken.

Frau Achtkant, die den Abend moderierte, trippelte ungeduldig von einem Bein aufs andere. Erleichtert nickte ihr die Frau zu und wies auf eine Stelle zwischen sich und dem Schreibtisch, den sie für Sue ausgewählt hatte. Der Vorhang glitt geräuschlos zur Seite und Applaus erklang.

»Guten Abend! Vielen Dank für Ihr zahlreiches Erscheinen.« Ihre Stimme klang fest und sicher. Offensichtlich trat sie öfter vor Publikum auf. »Heute wird uns die Autorin Susanne Blumberg aus ihrem Debütroman vorlesen.«

Sue wusste nichts mit sich anzufangen. Sie wollte, es ginge endlich los. Dann könnte sie sich setzen und ihre wackeligen Knie verbergen.

Frau Achtkant fuhr fort: »Wie Sie sicher alle wissen, betritt die Autorin mit ihrem Werk ›Endlich quitt‹ neue Wege. Das Prinzip ist schnell erklärt: Das Buch ist in verschiedenen Varianten erschienen. Ein Taschenbuch, ein komplettes E-Book und ein weiteres E-Book, dem komplette Kapitel fehlen. Die fehlenden Kapitel verstecken befreundete Autoren, Maler, Gamer und Verlage auf ihren Homepages, in Blogs und Foren. Der Leser besucht diese Seiten, löst dort einfache Aufgaben und kann sich dann die Kapitel herunterladen und in sein E-Book einfügen. Gerne würde sich unser Verlagshaus mit dieser neuen Art der Vermarktung schmücken, aber nachdem wir keine Thriller verlegen, gebührt diese Ehre dem Verleger Manuel Beck, der heute ebenfalls anwesend ist.« Frau Achtkant wies im Publikum auf den Verleger, der sich erhob, umdrehte und verneigte.

Manuel machte eine gute Figur. Souverän nahm der den Applaus entgegen und brachte Sue mit seiner majestätischen Art zum Schmunzeln. Frau Achtkant fuhr fort:

»Herr Beck und Frau Blumberg werden Ihnen später Fragen beantworten. Bitte begrüßen Sie – Susanne Blumberg!« Sie wies auf Sue und zog sich in den hinteren Bühnenbereich zurück.

Sue verbeugte sich und ging auf den Schreibtisch zu, auf dem das Manuskript lag, ein Glas Wasser und ein Mikrofon standen, und setzte sich auf den Stuhl.

Plötzlich war es still im Raum. Sues Hände zitterten. Sie rückte den Stuhl näher an den Tisch und legte die Hände flach auf das Manuskript. Dann räusperte sie sich und schaute ins Publikum. Alle Blicke hafteten auf ihr. Sie schwitzte. Einen Moment beschlich sie die Angst, keinen Ton herauszubekommen, aber dann nahm sie Alex ins Visier. Sie würde für ihn lesen und den Rest des Publikums einfach ausblenden. Sie richtete das Mikrofon aus und fragte: »Können Sie mich dahinten in der letzten Reihe gut verstehen?«

»Ja.«

»Gut.«

Die Leute nickten.

»Fein, dann kann ich ja anfangen.« Sie schlug die Seite auf, die sie markiert hatte, und las: »Dort! Ein Schatten folgte ihr. Ein Radfahrer. Warum klingelte der Idiot so aufdringlich, wenn er nicht vorbeifahren wollte? Wieder betätigte der Mann seine Fahrradklingel …«

Um die richtige Stelle zu finden, nachdem sie ins Publikum gesehen hatte, benutzte sie den Zeigefinger der rechten Hand. Sie wusste, das konnte unbeholfen wirken, aber immer noch besser, als lange rumsuchen zu müssen. Erstaunlich, was sie alles sah und hörte, obwohl sie las. Ein Mann, ungefähr in der Mitte des Raumes, las irgendetwas und Sue hoffte, es möge das Programmblättchen sein. Eine Frau weiter hinten hüstelte. Ein Blitzlicht blendete sie kurz und hätte sie fast aus dem Konzept gebracht, aber dann dachte sie, sie sollte sich langsam daran gewöhnen, dass sie im Mittelpunkt stand. Bei dem Gedanken musste sie lächeln.

Als sie das Buch zuschlug, applaudierten die Zuhörer, einige johlten, Blitzlichter leuchteten auf und alle redeten durcheinander.

»Bravo!«

»Super!«

Sue schwebte im siebten Himmel. Mit dem Applaus wich die Aufregung.

Frau Achtkant trat neben sie. »Die Damen und Herren von der Presse haben im Anschluss an diese Veranstaltung Zeit, weitere Fotos zu schießen und Interviews zu führen.« Mit einer weit ausholenden Geste wandte sie sich an die Zuhörer: »Sie können jetzt Ihre Fragen stellen.« Mehrere Hände reckten sich in die Höhe. Frau Achtkant wies auf einen Mann in der dritten Reihe und sagte: »Bitte!«

Der Mann räusperte sich. »Mich würde interessieren, wie Sie diejenigen gefunden haben, die Ihre Kapitel verstecken?«

Sue nickte und antwortete: »Ich habe sie gefragt …« Gelächter erklang. Oh Gott, sie war doch noch gar nicht fertig. Unfreiwillige Komik gehörte eigentlich nicht zu ihren Stärken. Allerdings gab es Schlimmeres, als das Publikum zum Lachen zu bringen. Sue schmunzelte und fuhr fort: »Nun, ich musste schon ein paar Leute fragen, bis ich alle zusammenhatte. Ich bin in einigen Schreibforen aktiv und da ist es einfacher, Gleichgesinnte zu finden.«

Weitere Arme schossen empor. Eine Frau stand auf: »Gibts a Lischt, von de Seiten, wo man die Kapitel findet?« Die Frau lächelte verlegen und setzte sich.

»In dem E-Book ist eine Liste hinterlegt«, erklärte Sue.

Der nächste Fragesteller erhob sich. »Glauben Sie, dass es Nachahmer geben wird?«

»Ja, das könnte ich mir schon vorstellen.«

Allerdings würde der Reiz des Neuen wahrscheinlich nicht lange anhalten. So ging es doch mit allem. Zuerst waren die Leute Feuer und Flamme und dann kam das nächste große Ding.

Eine halbe Stunde beantwortete Sue alle Fragen und las dann eine weitere halbe Stunde. Danach signierte sie gefühlte fünfhundert Bücher und bekam dabei das selige Grinsen nicht aus dem Gesicht. Hoffentlich wirkte das nicht einfältig. Geduldig erfüllte sie jeden Widmungswunsch.

Sie sah Alex an. Er nickte und signalisierte damit, dass er warten würde, egal wie lange es dauerte. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, sie per Taxi zu chauffieren, und würde sie nach der Veranstaltung zu ihrem Lieblingsitaliener führen, um den Abend gebührend ausklingen zu lassen.

Heute freute sie sich ganz ehrlich darüber, dass er für sie da war. Nach dem Tod ihres Mannes, der Sue nach über einem Jahr nicht mehr ganz so arg schmerzte, und dem tödlichen Unfall seiner Frau mehr oder weniger zur gleichen Zeit, hatten Alex und sie sich angefreundet. Sue wusste, Alex erhoffte mehr, weshalb sie sich geschmeichelt fühlte, aber bislang schaffte sie es, ihn auf Distanz zu halten. Höchst wahrscheinlich würde sie keine neue Partnerschaft eingehen. Ein Verhältnis, wie sie es zu ihrem Mann gehabt hatte, würde es garantiert kein zweites Mal geben.

Die Presse, die aus zwei Journalisten bestand, wollte wissen, wie lange sie schon schreibe, wie sie auf die Idee mit den versteckten Kapiteln gekommen sei und was als Nächstes auf ihrem Plan stünde. Beide Herren machten einen sehr netten Eindruck und schienen wirklich interessiert. Sie schossen noch ein paar Fotos und Sue hoffte, es möge wenigstens eins dabei sein, auf dem sie nicht entweder den Mund verzog, oder sonst eine unvorteilhafte Grimasse schnitt.

Cesare, der Patrone, begrüßte sie mit Küsschen rechts und links und führte sie zu einem Tisch. Sue fühlte sich bei Cesare wohl. Der kleine Mann verstand es, seinen Gästen ein Gefühl des Willkommenseins zu vermitteln. In den Nischen saß man für sich und hatte dennoch einen Überblick über das Restaurant. Im Hintergrund lief »Azurro« von Adriano Celentano. Die Krönung des Tages.Sue mochte diese rauchige Stimme immer noch, auch wenn sie nicht mehr in den Sänger verliebt war, wie damals mit elf Jahren. Dieser Song passte zum Tag: Sommer, Wohlgefühl und Erfolg. Was konnte man sich mehr wünschen? Meeresbilder, Gemälde mit antiken Gebäuden aus Rom, Florenz und Venedig sorgten für eine entspannte Urlaubsstimmung.

Der Duft von Knoblauch und Kräutern hing in der Luft. Ein Blick auf die Antipasti-Theke ließ Sues Magen leise knurren. Alex bestellte Champagner.

»Auf die neue Erfolgsautorin!« Er prostete ihr zu und berichtete Cesare von Sues erfolgreicher Lesung. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Alex übertrieb schamlos. Warum konnte er nicht einmal schweigend genießen? Immerzu musste er prahlen. Und dann auch noch mir ihr! Sie haute ihm leicht auf die Hand und widersprach: »Glaube dem Mann kein Wort, Cesare. Alex übertreibt, wie üblich.« Der kleine Italiener ließ sich nicht lumpen. »Oh, Susanna, una scrittice famosa? Der Champagner geht aufs Haus.«

Sue spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Cesare eilte davon, so konnte sie das Angebot nicht mehr ausschlagen.

»Alex! Bitte hör auf damit. Es war ein schöner Abend, ich freue mich, dass es den Leuten gefallen hat. Wenn du so weiter machst, verdirbst du mir die Stimmung.«

»War nur nett gemeint. Von mir und von Cesare auch. Aber wenn du willst, gehe ich nicht weiter darauf ein.« Wie immer prallte die Kritik an Alex ab.

Einen Moment herrschte Stille und Sue ärgerte sich über ihr schlechtes Gewissen. Es war nicht ihre Absicht gewesen, Alex zu verärgern, und die Stimmung wollte sie auch nicht trüben. Alex meinte es ja nicht böse. Mit versöhnlichem Tonfall sagte sie: »Danke für die Einladung, Alex. Ich hätte jetzt nicht schlafen können.«

»Schlafen? Wer redet denn von Schlafen? Der Abend will gefeiert werden. Weißt du, was du essen willst? Soll ich ein Menü bestellen?« Alex schien ihr nicht böse zu sein.

Er freute sich ganz aufrichtig über ihren Erfolg, vollkommen ohne Neid oder Missgunst. Nur ganz unterschwellig blieb das Gefühl zurück, er sonne sich in ihrem Erfolg.

Cesare kam, um die Bestellung aufzunehmen.

Sie genoss das leckere Essen, den Pinot Grigio, die behagliche Atmosphäre und Alex’ aufmerksame Anwesenheit. Er machte den Eindruck, ihr jeden Wunsch erfüllen zu wollen, goss nach, bevor sie das Glas leerte, und bestellte die Eiskarte, ohne zu fragen.

Beim Sambuca angekommen fragte Sue: »Wird es dir nicht zu spät, Alex? Du musst doch morgen zur Arbeit, oder?«

»Ach Quatsch, Sue! Ein besonderer Abend muss gewürdigt werden. Ich trinke morgen früh einen kräftigen Kaffee, dann geht das schon.«

Typisch Alex und seine alte Schule. Die Frage hätte sie sich sparen können. Er ging zur Arbeit, egal wie kurz die Nacht auch gewesen sein mochte. Als Ausstellungsleiter eines Onlineshops glaubte er, ein gutes Beispiel geben zu müssen.

»Danke für den wunderschönen Abend, Alex. Eine gute Idee, ihn so ausklingen zu lassen. Lass uns gehen.«

Alex nickte und marschierte an den Tresen, um die Rechnung zu begleichen.

2

Am nächsten Morgen besuchte Sue zuerst die Foren, in denen sie sehr aktiv war, und freute sich über die Glückwünsche der Kollegen. Alle wollten wissen, wie es gelaufen war. Einige beriefen sich schon auf Presseberichte, was Sue darauf brachte, ihren Namen als Suchbegriff im Browser einzugeben.

Susanne Blumberg liest aus ihrem Erstlingswerk

Susanne Blumberg auf Erfolgskurs

Ein Roman, bei dem die Hälfte fehlt

Premierenlesung in Freiburg

Mann, sie würde Tage brauchen, um alles zu lesen. Das Telefon klingelte. Widerwillig riss sie sich vom Bildschirm los.

»Blumberg«, meldete sie sich.

»Sue! Du hast es geschafft. Du wirst berühmt. Ich könnte mir in den Arsch beißen, dass ich nicht dabei war. Wie war es? Kommst du? Ich will alles ganz genau wissen.« Ihre Freundin Chris Reichenbach.

Sue grinste. Überschwängliche Reaktionen kannte sie von Chris. »Langsam, Chris. Nicht alles auf einmal. Es war ein toller Abend. Danach sind Alex und ich zu Cesare und ich kann es immer noch nicht fassen.«

»Kommst du? Oder soll ich kommen?«

Hm, sie musste noch viel lesen, Mails beantworten und für den neuen Roman wollte sie mit dem ersten Kapitel wenigstens beginnen.

»Du kannst in der Zeitung lesen, wie es war. Die Reporter haben übertrieben, aber sonst ist alles korrekt.«

Einen Moment verschlug es Chris die Sprache.

»Hey. Spinnst du? Das habe ich längst gelesen, aber ich will es von dir hören. Sei kein Spielverderber oder bist du sauer, weil ich nicht dabei war?«

Ihr Rechner kündigte am laufenden Band neue Nachrichten an.

»Chris, heute geht es beim besten Willen nicht. Ich muss noch tausend Nachrichten beantworten, mir einen Überblick über die Berichte verschaffen … Am Wochenende komme ich dich besuchen, okay?«

»Gut, wegen mir …«

Sue hörte die Enttäuschung deutlich heraus. »Ich bringe auch Zaziki mit.«

Ihre Freundin am anderen Ende lachte. »Merci, Sue! Deine Schuld, wenn ich jetzt ans Essen denke …«

Chris hatte Probleme mit ihrem Gewicht und machte ständig irgendwelche Diäten. »Hör mal, vorgestern haben sie im Fernsehen gesagt, die leicht Übergewichtigen hätten die längste Lebenserwartung.« Glucksendes Lachen drang an ihr Ohr. »Tja, Sue, die Betonung liegt auf dem Wort leicht! Egal. Dann halt bis Samstag,«, sagte sie und legte auf. Immerhin war es Sue gelungen, ihre Freundin zum Lachen zu bringen.

Ihr Mailfach quoll über. Sue machte sich an die Arbeit. Immer, wenn sie eine Antwort verschickt hatte, kamen weitere Mails an. Unmöglich der Flut an einem Tag Herr zu werden, aber das verlangte ja auch niemand von ihr. Morgen konnte sie immer noch antworten. Sie fühlte sich immer noch wie auf Wolke sieben. So viel wohlwollende Aufmerksamkeit kannte sie nicht, gestand sich aber ein, dass es sich sehr gut anfühlte. Sie kam sich vor wie ein Star und hoffte, dass sie nicht abheben würde, denn an dieses Gefühl könnte sie sich wohl schnell gewöhnen. Allerdings fühlte es sich auch irgendwie fremd an, denn sie hatte ja nur ein Buch geschrieben, nichts Besonderes. Tagtäglich wurden Tausende Bücher veröffentlicht und sie machte sich keine falschen Hoffnungen, ihres war lediglich eins unter vielen und würde den Sprung in die Bestsellerlisten nie schaffen. Zwar war der Kleinverlag, in dem Sie ihren Roman veröffentlicht hatte, inzwischen an den Buchhandel angeschlossen, aber er blieb dennoch ein kleiner Verlag und Bücher aus kleinen Verlagen kamen nicht in die Listen. Natürlich hätte sie sich als Bestsellerautorin gut gefühlt, aber bis dahin lag noch ein weiter Weg vor ihr. Kaum ein Autor schaffte diesen Sprung gleich mit dem ersten Buch.

Die Berichte in der Presse befassten sich weniger mit ihr und ihrem Roman als mit der Art der Veröffentlichung. Damit hatte sie mehr Aufmerksamkeit erregt, als mit dem Stoff selbst. Sie wusste noch nicht, ob ihr das gefallen sollte. Auf der einen Seite freute es sie, dass das Buch überhaupt Aufmerksamkeit bekam, auf der anderen Seite kam sie sich fast wie ein C-Promi vor, der so ziemlich alles tut, um eben jene Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie würde sich immer fragen müssen, ob das Buch oder die außergewöhnliche Art der Veröffentlichung für Verkaufszahlen sorgte. Nun, darüber konnte sie sich immer noch den Kopf zerbrechen, wenn die erste Euphoriewelle abgeflaut war. Jetzt wollte sie doch erst einmal die Früchte ihrer Arbeit genießen und außerdem hatte sie sich die Sache mit den versteckten Kapiteln selbst ausgedacht und keine teure Werbeagentur. Wenn die Vermarktung gewürdigt wurde, durfte sie sich diesen Schuh auch anziehen.

Um ein Uhr, gewöhnlich ihre Zeit für das Mittagsessen, war sie noch zu aufgeregt, aber sie zwang sich, wenigstens eine Kleinigkeit zu essen. Ein Gurkensalat mit saurer Sahne musste reichen. Danach sichtete sie die Mails von fremden Personen und freue sich diebisch über weitere positive Reaktionen auf die Lesung. Auf die Reaktionen aufs Buch würde sie noch ein paar Tage warten müssen, denn das konnten die Leute ja erst beurteilen, wenn sie es gelesen hatten.

Sie würde sich ein dickes Fell zulegen müssen, denn es stand fest, dass nicht jeder Leser es mögen würde und die Nörgler schrien in aller Regel lauter. Vielleicht sollte sie Alex als Filter vorschalten? Der könnte sie von den ganz üblen Kritiken fernhalten. Sie trieb sich lang genug in diversen Schreibforen herum, um zu wissen, dass viele Verrisse keine konstruktive Kritik darstellen. Und mit Aussagen »Ich find den Roman nur Scheiße!«, konnte sie nicht viel anfangen. Wenn diese Leute wenigstens begründen könnten, was ihnen nicht gefallen hatte, hätte sie vielleicht sogar Lehren aus der Kritik ziehen können. Und schon wieder ertappte sie sich dabei, sich mit ungelegten Eiern zu beschäftigen. Das musste ein Ende haben. Sie schloss ihr Mailfach, holte sich eine Apfelsaftschorle und öffnete ihren aktuellen Roman. Obwohl sie ahnte, dass sie heute nicht besonders produktiv sein würde, wollte sie es zumindest versuchen.

Sue stand in den Toilettenräumen. Sie fror entsetzlich. Obwohl sie alleine war, fühlte sie sich beobachtet. Selbst nachdem sie alle Winkel abgesucht hatte, wich dieses Gefühl nicht. Mitten in der gefliesten Wand erschien ein grünes Männeraugenpaar mit buschigen Brauen, das sie ansah, als warte es auf eine Antwort. Sie drehte sich zu den Augen um, die ihr eine gehörige Angst einjagten. Ein weiteres Augenpaar schlug die Lider auf, und noch eins. Immer mehr tauchten auf, bis alle Wände über und über damit bedeckt waren. Blaue, grüne, braune Augen fokussierten sich auf sie. Sue spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sie musste hier raus, aber sie wagte kaum, zu atmen. Eine kleine Bewegung in Richtung Tür und unzählige Blicke folgten ihr.

Ein Mund erschien und flüsterte mit einer tiefen, rauen Grabesstimme: »Sei auf der Hut! Nimm dich vor vermeintlichen Freunden in Acht!«

Sue saß aufrecht im Bett und atmete so heftig wie nach einem Dauerlauf. Immer noch starr vor Schreck sah sie sich in ihrem Schlafzimmer um. Zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Angestrengt lauschte sie. Nichts zu hören.

Ein Traum! Ein ekeliger, entsetzlicher Albtraum.

Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.

Trotzdem …

Sie ließ sich langsam aufs Kissen fallen. Grässlich, dieser Traum. Fürchterliche Augen. Was hatte die Stimme gesagt?

Egal. Sie schlief ein.

3

Peter stand fassungslos neben dem Kleiderschrank, aus dem seine Frau ihre Kleidung riss.

»Ich habe echt genug! Du bestimmst mein Leben nicht! Ich hasse deine elende Pedanterie!«, schrie sie ihn mit hochrotem Kopf an. Einige Kleider fielen zu Boden. Als er sich danach bücken wollte, fegte Moni sie mit einem Fuß auf die Seite. »Finger weg von meinen Sachen! Ich verschwinde und du wirst mich nicht davon abhalten.«

Er wusste noch gar nicht, ob er sie aufhalten sollte, eigentlich wollte er nur wissen, warum sie so ausflippte. Der Zipfel eines Rocks hing aus dem Koffer. Instinktiv griff Peter danach und schob den Stoff zurück.

»Nimm die Hände weg! Ich packe meine Koffer so unordentlich, wie ich will.«

Er zuckte zurück und steckt die Fäuste sicherheitshalber in die Hosentaschen.

»Was ist schlecht an Ordnung?«, fragte er, sich keiner Schuld bewusst.

»Nichts! Gar nichts! Ich bin auch ordnungsliebend, aber was du tagtäglich aufführst, hat mit normaler Ordnung nichts zu tun. Wenn ich die Dusche sauber gemacht habe, richtest du den Brauseschlauch aus. Das Fernsehheft liegt exakt im rechten Winkel zur Tischkante. Die Konserven, eine strammstehende Armee. Das ist nicht normal.«

Sie sah gar nicht hübsch aus mit dem verzerrten Gesicht. Konnte sie sich nicht einfach beruhigen und vernünftig werden? Ob es doch an ihm lag? Wahrscheinlich eignete er sich nicht für eine Beziehung, aber es gefiel ihm nicht, ohne Gegenwehr klein beizugeben. »Ach komm schon Moni! Das ist doch kein Grund, sich zu trennen. Lass uns darüber reden. Ich könnte mich ändern, wenn dich das alles so stört.« Eine Zeit lang könnte er sich bestimmt zusammenreißen.

»Das kannst du nicht. Dein Verhalten ist zwanghaft. Du gehörst auf die Couch eines Psychiaters.«

Nun wurde er aber langsam wütend. Was bildete Moni sich ein, ihn zum Psychiater zu schicken? Sie wusste genau, was er von diesen Fredis hielt. »Ich brauche keinen Seelenklempner! Diese Psychoheinis finden doch an jedem etwas auszusetzen. Die würden selbst bei dir fündig.« Oh ja! Wenn sie abwesend Löcher in die Luft stierte und sich dabei am Kopf kratzte, sah sie ganz und gar nicht aus wie eine Person, die ihn in Behandlung schicken durfte.

»Ach ja? Das wird ja immer besser! Lass dich einmal, nur ein einziges Mal, auf etwas ein, das du nicht kontrollieren kannst.«

Was war nur in Moni gefahren? Er ermöglichte ihr einen Lebensstandard, den sie alleine nie und nimmer zuwege gebracht hätte. Langsam hörte der Spaß wirklich auf. »Wozu sollte das gut sein? Ich fühle mich wohl, wenn ich die Dinge im Griff habe. Und du, meine Liebe, du profitierst davon.« Genau. Das musste einmal gesagt werden.

»Ich profitiere? Bist du vollkommen übergeschnappt?«

Sie sah aus, als wollte sie handgreiflich werden. Sollte sie es doch versuchen! Er würde sie nicht zurückhalten. Herausfordernd blickte er auf sie hinunter. Einsneunzig gegen einssechzig. Ein Witz! Von wegen übergeschnappt.

»Du vergisst, wer sich um deine Finanzen kümmert, wer deine Steuererklärung macht, wer dieses Haus gekauft hat, in dem du wohnst …«

»… gewohnt hast. Ich ziehe aus! Das Leben tanzt nicht nach deiner verdammten Pfeife und ich auch nicht länger.«

»Das habe ich nie verlangt. Was ist denn nur mit dir los?«

Sie schrie schon, seit er die Zahnpaste heruntergedrückt hatte, damit die Tube auf dem Verschlussdeckel stehen konnte, wie der Hersteller sich das gedacht hatte. Es sei ihr egal, ob die Tube stehe oder liege.

»Du bist los. Du mit deinem Ordnungswahn. Ich ertrage das nicht mehr. Aber egal. Ich verschwende meinen Atem nicht mehr an jemanden, der eh alles besser weiß.«

»Sag nur, was du meinst. Immer raus mit der Sprache.« An seiner Ordnungsliebe alleine konnte es ja kaum liegen.

»Du gehst nur in Restaurants, die wir kennen, ich würde gerne mal etwas Neues ausprobieren.«

»Stimmt nicht, wir haben auch schon …..« An dieser Stelle fiel Moni ihm ins Wort: »Wann? Kannst du dich noch erinnern, wann das war?«

»Also nicht so exakt.«

»Es ist Jahre her! Jahre!«

»Aber die, die wir getestet haben, taugten nichts, das weißt du selbst, oder hast du das vergessen?«

»Deshalb muss man noch lange nicht damit aufhören. Mann! Und wie sieht es mit neuen Produkten, einem neuen Haarschnitt oder einem neuen Reiseziel aus? Keine Chance mit dir! Ich bin noch keine hundert Jahre alt, ich will noch was erleben! Du kannst ja hier versauern, aber ohne mich.«

»Ach komm schon. So schlimm bin ich gar nicht, und wenn ich mich anstrenge, kann ich sehr wohl noch neue Dinge ausprobieren.«

»Ha, das glaubst du doch selbst nicht! Du und Neuland, dass ich nicht lache.«

»Wetten?«

»Nein, ich wette nicht mit dir, ich werde nicht mehr hier sein, um zu sehen, ob dein Versuch glückt. Aber wenn wir schon dabei sind, wüsste ich, was geeignet wäre …..«, sie schien es spannend machen zu wollen, denn sie ließ den Satz unvollendet.

»Sag schon! Immer raus mit der Sprache.«

»Wenn du mich fragst, solltest du dir dieses neue Buch kaufen, das in der Zeitung besprochen wurde.«

Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Bevor er nachfragen konnte, fuhr sie fort: »Das Buch, bei dem die Leser sich auf verschiedenen Internetseiten die Kapitel zusammensuchen müssen. Das wäre mal eine gute Übung für dich …« Sie schloss die Koffer, obwohl noch Kleiderzipfel hervorlugten. Aber gut, das war nicht mehr sein Problem.

»Den Rest lasse ich abholen.« Je einen Koffer in der Hand stampfte sie aus dem Schlafzimmer und führte ihr Werk im Bad fort.

Mit einem hatte Moni allerdings recht. Er konnte diese Dinge, die ihr so auf den Geist gingen, nicht so einfach abstellen. Schon als Kind war er ein ordnungsliebender Mensch gewesen und auch als Erwachsener konnte er beim besten Willen nichts finden, was dagegengesprochen hätte. Er verlangte ja von Moni nicht, dass sie es ihm gleichtat. Nein, ganz im Gegenteil, stillschweigend räumte er hinter ihr her, wenn sie Staub geputzt hatte. Konnte es so schlimm sein, wenn jedes Ding an seinem Platz stand? Wenn die Ölflaschen im Abstellraum mit der Vorderseite nach vorne standen und man so auf einen Blick wusste, um welches Öl es sich handelte? Und hielten Brauseschläuche nicht länger, wenn sie nicht verdreht wurden? Das alles sollte so schlimm sein, dass man deshalb verlassen wurde? Nun, wenn dem so war, konnte er es auch nicht ändern, dann hatten sie vielleicht von vornherein nicht zusammengepasst. Er würde auch alleine wunderbar klarkommen, schließlich war er garantiert nicht auf Moni angewiesen.

Gut, dass die Trennung keinerlei finanzielle Nachteile für ihn brachte. Als verfügte er über einen sechsten Sinn, hatte er auf Ehevertrag und Gütertrennung bestanden. Jetzt zeigte sich, wie richtig diese Entscheidung gewesen war.

Ach was! Er hatte seine Ehe vermasselt und stand wieder alleine da. Aber er ließ sich nicht unterkriegen. Bestimmt gab es auf dieser Welt Frauen, die seine Ordentlichkeit schätzten.

Er blieb in Gedanken versunken stehen. Drei Jahre Ehe und sie lief davon, als hätten sie sich gestern erst kennengelernt. Unfassbar.

Da draußen liefen Verbrecher herum, Obdachlose, und Männer, die ihre Frauen schlugen, und seine Frau lief ihm davon, weil er ein ordentlicher Mensch war.

Auf ihrem Nachttisch lag die Zeitung. Er nahm sie zur Hand und suchte nach diesem Buch, von dem Moni gesprochen hatte. Ein Thriller, in dem es um eine Frau ging, die einen Vergewaltiger ermordete.

Er würde sich das Buch kaufen. Nur um sich zu beweisen, dass Moni unrecht hatte. Die Eingangstür krachte hinter Moni ins Schloss.

4

Sue musste nicht klingeln; kaum war sie aus dem Taxi ausgestiegen, sprang der Familienhund an ihr hoch. Sie kannte die Art der Begrüßung, weshalb sie sich ihm breitbeinig entgegenstellte. Der Bobtail hätte sie sonst umgeworfen. Chris, die das Spektakel offensichtlich mitbekommen hatte, stand in der Tür und rief Sir Henry zurück. Selbstverständlich reagierte der Hund nicht. Ein Hund von Adel hatte seinen eigenen Kopf. Nicht zum ersten Mal fasste Sue den Entschluss, Sir Henry einmal in einen Roman einzubauen. Sie hielt ihn für den tollsten Hund auf der ganzen Welt. »So jetzt reichts aber! Henry aus!«, rief Chris. Sue und Sir Henry blickten Chris mit großen Augen an und trotteten ins Haus. Sir Henry machte es sich unterm Tisch bequem, wo er wusste, dass immer etwas für ihn abfiel, obwohl offiziell kein Familienmitglied etwas davon hielt, dem Hund mit Tischabfällen zu füttern. Sue wurde von Chris umarmt, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. »Mann, ich freue mich so für dich, Sue. Komm mit.« Sie zog sie in die geräumige Küche und drückte ihr ein Glas Champagner in die Hand. »Auf dich! Auf deinen Erfolg.«

»Oh, nun übertreib doch nicht gleich«, bat Sue, obwohl sie sich freute, und stieß mit ihrer Freundin an. Das erste Glas war schnell geleert. Sie setzten sich und Sue musste ausführlich von der Lesung berichten. Alles wollte Chris wissen: Wer was getragen hatte, den genauen Wortlaut der Zuschauerfragen, wie sie sich in welchem Moment gefühlt hatte und so weiter.

Erst als sie beim Abendessen mit Alex angekommen war, verfinsterte sich ihre Mine. Sue wusste, dass Chris nicht gut auf Alex zu sprechen war. Sie mochte ihn nicht und sie fand es nicht gut, dass Sue ihn zu nahe an sich heranließ.

»Guck nicht so, Chris. Es war ein sehr schöner Abend und Alex wäre beleidigt gewesen, wenn ich seine Einladung nicht angenommen hätte.«

»Wetten, er macht sich wieder Hoffnung.«

»Ach quatsch. Tut er nicht. Ich halte ihn schon auf Distanz.«

»Ja, klar, mit gemeinsamen Abendessen.«

Chris füllte ihre Gläser und Sue versuchte, das Thema zu wechseln. Das ließ Chris allerdings nicht zu.

»Im Ernst Sue, ich habe kein gutes Gefühl dabei. Du solltest ihm wirklich klarmachen, dass er sich keine Hoffnungen machen darf. Ich kann ihn zwar nicht leiden, aber wer weiß, wozu so einer fähig ist, wenn er abgewiesen wird. Ich will dich nicht verprügelt auf dem Boden oder mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus finden …«

»Jetzt mach aber mal halblang, Chris! Alex ist doch kein Schläger! Ich weiß nicht, wie du überhaupt auf so etwas kommst.«

»Naja, ich hab seine Frau oft genug mit Blessuren gesehen und wer weiß, ob er bei dem ›Unfall‹ nicht auch seine Finger im Spiel hatte.«

»Chris! Mann, mit so was macht man keine Scherze!«

»Das war kein Scherz.«

»Du solltest solche Dinge nur von dir geben, wenn du Beweise hast. Sonst ist das üble Nachrede. Dafür kannst du angezeigt werden.«

»Ich weiß ja, wem ich es sagen kann. Im Verein würde ich das so nicht von mir geben, obwohl es dort genug Leute gibt, die nicht an einen ›Unfall‹ glauben.«

»Ich glaube das nicht. Alex ist ein komischer Kauz, aber müssen denn immer alle Menschen gleich sein? Darf niemand mehr seine Eigenheiten haben? Zu mir ist er immer ausgesprochen liebenswürdig …..«

»Ja, klar, Sue! Der macht sich Hoffnungen. Der konnte seine Frau ja gar nicht schnell genug unter die Erde bekommen, um bei dir schön Wetter zu machen. Und du weißt das ganz genau.«

»Natürlich bemerke ich die Blicke, ich ahne, dass er sich mehr verspricht, aber ich muss ihm ja nicht gleich vor den Kopf stoßen. Wir sind Nachbarn, die sich mögen, nicht mehr und nicht weniger.«

»Das ist so ein Typ, der sich ermutigt fühlt, wenn er keine klare Ansage bekommt. Du musst ihm ja nicht sagen, dass er ein Arsch ist, du kannst ja bei nächster Gelegenheit mal einfließen lassen, dass du dich nicht wieder binden willst. Ich schätze, das kapiert er. Dann werden wir ja sehen, wie sich das Nachbarschaftsverhältnis entwickelt.«

Vielleicht hatte Chris recht. Aber wenn sie ganz ehrlich war, schmeichelte es ihr, sich begehrt zu fühlen. Besonders in einem Alter, in dem das nicht mehr so oft vorkam. Aber natürlich sollte sie keine falschen Hoffnungen wecken. »Also gut, aber dann will ich von dem Thema nichts mehr hören. Verstanden?«

»Du sagst es ihm?« Ungläubig sah ihre Freundin sie an.

»Ja, bei nächster Gelegenheit.«

»Versprochen?«

»Versprochen!«

»Gut, dann wollen wir mal von erfreulicheren Dingen reden …«

Sue schwebte eine Woche nach der Premierenlesung noch auf Wolke sieben. Manchmal fühlte es sich an, als würde sie vor lauter Glück platzen. Sie wurde zu Lesungen, Interviews und Talkshows eingeladen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass ihr Buch so einschlagen würde. Wie Manuel berichtete, gab es Anfragen von größeren Verlagen, die Lizenzen erwerben wollten. Ob sie den Anfragen entsprechen würden, wollten sie gemeinsam entscheiden.

Bis jetzt gab es durchweg positive Resonanz. Klar, dass die Stänkerer und Neider sich über kurz oder lang zu Wort melden würden, aber diese Stimmen würde sie einfach ignorieren. Das nahm sie sich vor, obwohl sie wusste, dass sie sich nicht daran halten konnte. Diese verflixte Neugierde. Hinterher würde sie sich nur wieder ärgern.

Alex mauserte sich langsam, wie von ihr erhofft, zu einem Vorfilter. Er las alle Artikel, die er über sie und ihr Buch fand, und sagte ihr dann, was er für unbedenklich und erfreulich hielt. Artikel, über die sie sich aufregen würde, in denen zum Beispiel behauptet wurde, der Roman sei dialoglastig, verbot er. Na ja, er verbot sie nicht direkt, denn dann hätte sie die bestimmt gelesen. Viel mehr gab er ihr zu verstehen, dass die Kritik nicht nach ihrem Geschmack sei.

Um Chris gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben, hatte Sue gleich nach ihrem Besuch bei Chris Alex wissen lassen, dass sich nicht vorhatte, sich noch einmal zu binden. Einen Unterschied in seinem Verhalten konnte sie danach nicht feststellen. Er blieb der zuvorkommende Nachbar, der ihr half, wo er konnte, der einsprang, wenn man ihn brauchte, und blieb der nette Kerl, auf den sie sich verlassen konnte. Entweder Chris und sie hatten sich sein Interesse nur eingebildet oder er verkraftete die Abfuhr besser als gedacht.

Alex klingelte an der Haustür. Er hatte sich angekündigt, um den Schlüssel abzuholen. Sue wollte eine Lesereise machen und Alex würde sich in der Zeit um ihre Pflanzen kümmern und die Post aus dem Kasten holen. Seit einem Jahr übernahmen sie gegenseitig Freundschaftsdienste.

»Komm rein, Alex. Kaffee, Bier oder Wasser?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur den Schlüssel. Ich muss noch arbeiten.«

Sue händigte ihm einen Schlüssel aus. Alex nickte und steckte ihn in die Hosentasche.

Sie hatte überlegt, den Ersatzschlüssel dauerhaft bei ihm zu deponieren. Jedes Mal, wenn sie kurz davor stand, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, sah sie sich im Bett liegen, tief und fest schlafend, während Alex langsam die Treppe hinaufkam, im Türrahmen stehen blieb und sie betrachtete.

Unter dieser Beobachtung wurde sie wach. Bevor sie eine Silbe sagen konnte, beugte er sich über sie und hielt ihr den Mund zu. Und sie wusste, wie es weitergehen würde, denn sie sah trotz der Dunkelheit die Lüsternheit in seinen Augen aufblitzen. In solchen Momenten verfluchte sie ihre Fantasie.

Es stimmte zwar, dass Alex nicht abgeneigt gewesen wäre, wenn sie ihm Avancen gemacht hätte, aber nie im Leben würde er ihr Gewalt antun. Dennoch hatte sie den Plan, ihm den Schlüssel ganz zu überlassen, doch nicht umgesetzt.

»Danke, Alex, du bist ein Schatz. Am Mittwoch bin ich zurück. Wenn was ist, melde dich, ich nehme Handy und Laptop mit.«

»Mach ich. Ich wünsche dir viel Erfolg. Tschüss dann.«

Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass er nicht ganz bei der Sache war. Er wirkte so – hm, wie sollte sie sagen? – abwesend. So, als wäre er in Gedanken ganz woanders. Ob er Stress im Job hatte? Als Niederlassungsleiter musste er für Umsätze sorgen. Einerseits ging das allen Vertriebsleuten so, aber auf der anderen Seite macht seine Firma keinerlei Werbung. So erreichte er natürlich viel weniger Publikum, als der Teppichhandel nebenan, der mindestens einmal in der Woche eine große Anzeige in der Badischen Zeitung brachte. Scherzhaft hatte er Sue schon oft gefragt, ob er seine Kunden mit dem Lasso einfangen solle. Irgendwie fand sie das nicht fair. Wenn niemand wusste, dass es den Laden überhaupt gab, wer sollte ihn dann besuchen? Sie riet ihm dann immer, er solle der Geschäftsleitung erklären, dass er nur dann für die Umsätze verantwortlich zeichnen könnte, wenn er von denen Unterstützung bekam.

Oder war was mit den Kindern? Seit seine Frau gestorben war, kamen die immer seltener zu Besuch. Was sie durchaus verstand. Denn zu denen hatte er einen ganz anderen Draht als zu ihr. Er schien immer noch nicht verstanden zu haben, dass es eben keine Kinder mehr waren, die noch dazu ihre eigenen Wege gingen. Klar, er meinte es nur gut, aber fast immer, wenn sie ihn besuchten, gab es Knatsch und jedes Mal fühlte sich Alex völlig unschuldig. Er war schon ein seltsamer Typ.