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Wie dennoch leben? Für Marianne Labisch Das Licht der Welt erblickt sich an den Strahlen gewärmt und in die Finsternis gezerrt nur Blitze des Schmerzes erhellen das junge Leben von der Mutter geschenkt und vom Vater missbraucht Wie dennoch leben? Wie wird das Leid zu einem Ich? Nur durch dich selbst deiner eigenen Kraft deinem Willen deiner Liebe * Gerd Scherm »Mit der Stimme eines Mädchens und der einer starken jungen Frau erzählt die Autorin hier die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend als Überlebende von Gewalt und Missbrauch. Tough, beeindruckend und Mut machend!« * Corinna Griesbach
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Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2022
Marianne Labisch
Autobiografie
Außer der Reihe 70
Marianne Labisch
ÜBERLEBEN, IRGENDWIE
Autobiografie
Außer der Reihe 70
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: 09. August 2022
p.machinery Michael Haitel
Titelfoto: Fundus Marianne Labisch
Titelbildgestaltung (E-Book): Gerd Scherm
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat: Corinna Griesbach
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 066 5
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 809 8
Kindheit und Jugend
Mein Bruder Helmut und ich standen an der Haltestelle vorm Amtsgericht in Hagen und hätten jubeln sollen, aber das konnten wir nicht. Zwar hatten wir unser Ziel erreicht, meinen Vater hinter Gitter zu bringen, aber im Moment überwog die Wut auf Anita, die bei der Befragung durch den Richter stumm wie ein Fisch geblieben war. Ich weiß nicht, ob es etwas am Strafmaß geändert hätte, aber so hielt der Richter sie für eine unzuverlässige Zeugin. Wahrscheinlich dachten alle am Prozess Beteiligten, sie hätte gelogen. Ich glaubte, sicher zu wissen, dass ihre Geschichte stimmte. Anita hatte schlicht Angst gehabt, immerhin saß mein Vater während der Befragung mit im Gerichtssaal. Wozu es gut sein sollte, die Opfer vor den Augen des Täters aussagen zu lassen, wusste ich nicht. Hätten die Herren in den schwarzen Roben gewusst, wie Angst einflößend mein Vater sein konnte, hätten sie vielleicht mehr Verständnis für meine Schwester aufgebracht und sie alleine befragt.
Nichtsdestotrotz redeten wir wütend auf sie ein, sobald wir den Bus nach Hause bestiegen hatten. Helmut, der Impulsivere von uns beiden, polterte los: »Warum hast du nichts gesagt?«
»Weil Papa da war«, antwortete Anita.
»Aber der konnte dir doch nichts tun.«
»Vielleicht hätte er mehr gekriegt, wenn du den Mund aufgemacht hättest«, warf ich ein.
»Ich wollte ja, aber es kam nichts raus.« Anita fühlte sich ganz offensichtlich nicht wohl in ihrer Haut und trug ein schuldbewusstes Gesicht zur Schau.
»Ich verstehe das nicht. Da wirst du schon gefragt und dann sitzt du da und kriegst den Mund nicht auf. Mann!«, schimpfte Helmut weiter. Er war gut darin, Salz in Wunden zu schütten.
»Du hast gut reden, dich haben sie ja nicht in den Zeugenstand gerufen.«
»Ich hätte geredet, da kannst du dich drauf verlassen.«
»Hilft jetzt alles nichts mehr. Die Sache ist gelaufen«, erklärte ich und sah aus dem Fenster.
Ich konnte kaum glauben, dass es mir gelungen sein sollte, meine Geschwister in Sicherheit zu bringen. Endlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater sich bis zum Antritt seiner Strafe noch etwas würde zuschulden kommen lassen. Nur noch ein paar Tage, dann war es geschafft und ich konnte aufatmen. Lieber sah ich meine Geschwister in einem Heim, als der Gefahr ausgesetzt, von meinem Vater im Suff erschlagen zu werden. Inzwischen sah ich Kinderheime nicht mehr als Gefängnisse für Kinder an, wusste aber selbstverständlich, dass ein Heim keine heile Familie ersetzen konnte, aber etwas anderes stand nicht zur Auswahl. Mittlerweile waren meine Geschwister bis auf Annette alle in der Pubertät und die Verwandtschaft hatte kein Interesse daran, sich kleine Revoluzzer aus schlechtem Elternhaus in die Familie zu holen.
Liebend gerne hätte ich mehr getan, aber ich konnte die Mutterrolle nicht weiter übernehmen. Ich war froh, dieser Hölle entkommen zu sein, und dachte daran, wie alles begonnen hatte. Eigentlich ganz normal …
Ich wurde am 9. August 1959 als Sonntagskind in München im Klinikum rechts der Isar geboren. Mein Vater behauptete, ich sei ein echter Sonnenschein gewesen, den jeder gerne geherzt hätte. Meine Mutter berichtete, dass ich mir die Lyoner schon aus dem Kühlschrank stibitzte, bevor ich laufen konnte.
Eine Begebenheit aus früher Kindheit ist mir noch in Erinnerung: Meine Mutter holte immer ein frisches Weißbrot vom Bäcker, das eine herrlich knusprige Kruste hatte und innen ganz weich war. Ich liebte dieses Brot und einmal drückte sie mir den ganzen Laib in die Hand und ich hatte allen Ernstes vor, das Brot komplett alleine zu verspeisen.
Wir lebten damals in Neubiberg, weil mein Vater als Berufssoldat in den Süden versetzt worden war. Meine ersten drei Lebensjahre verbrachte ich also in Bayern, lernte Jodeln, habe aber ansonsten kaum noch Erinnerungen an diese Zeit.
Eigentlich hätte ich ein Sohn werden und Tom heißen sollen. Nachdem der erste Versuch daneben gegangen war, versuchten meine Eltern es noch einmal, aber wieder kam ein Mädchen dabei heraus. Meine Schwester Anita wurde am 14. Januar 1961 geboren. Beim nächsten Mal hatten sie dann endlich Glück. Mein Bruder Helmut kam am 25. März 1962 auf die Welt.
Meine Mutter hieß Maria, war blond, blauäugig und sehr hübsch.
Eigentlich lautete ihr Vorname Marie, aber den mochte sie nicht und ließ sich lieber Maria nennen. Den gleichnamigen Song aus der West Side Story mochte sie sehr. Sie war in Polen geboren worden, in Leipzig aufgewachsen und nach dem Krieg aus der damaligen Ostzone geflüchtet. Ihre Eltern hatten sich ihr nicht angeschlossen, weil sie Arbeit, Wohnung, Freunde und Verwandte nicht zurücklassen wollten. Ein Umzug in eine ungewisse Zukunft erschien ihnen zu riskant.
Meine Mutter arbeitete als Kellnerin und lernte dabei den Hilfskellner Lothar, meinen Vater, kennen. Auch er sah sehr gut aus, hatte kurze schwarze Haare, blaue Augen und eine schlanke Figur. Sie erzählten uns, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen und so heirateten sie schnell.
Ich hatte blonde Locken, blaue Augen und war recht schüchtern.
Meine Eltern machten sich ab und zu einen Spaß daraus, mich in die Stiefel meines Vaters zu stecken, und freuten sich mit mir über das ungewohnte Schuhwerk.
Anita stellte mit ihren pechschwarzen Haaren und braunen Rehaugen das komplette Gegenteil von mir dar. Sie war schon damals ein kleiner Wirbelwind. Später sagten wir immer, sie hätte Paprika im Hintern.
Helmut hatte dunkelbraune Haare und blaue Augen. Wir verstanden uns sehr gut. Eifersüchteleien, wie ich sie als Erwachsene im Freundeskreis erlebte, wenn die Kinder im vermeintlich optimalen Abstand von drei Jahren kamen, gab es bei uns nicht.
Die Dienstzeit meines Vaters endete und meine Eltern beschlossen, in die Heimat meines Vaters nach Nordrhein-Westfalen zurückzugehen. Er war in Ennepetal aufgewachsen und dort lebten seine Mutter und sein Bruder Bernd, mein Patenonkel, immer noch gemeinsam in einer Altbauwohnung. Im Haus daneben wohnte Tante Grete, eine der Schwestern meiner Oma Else, und der ganze Rest der Verwandtschaft meines Vaters lebte im engeren Umkreis und traf sich regelmäßig. Tante Grete besuchten wir häufig und mochten sie und ihren Dackel.
Meine Oma hatte noch weitere Schwestern, die sie häufig besuchten. Dann gab es noch Onkel Max, der im Krieg einen Arm verloren hatte, mit Frau und Sohn. Seine Frau war eine echte Stimmungskanone, die alle zum Lachen bringen konnte. Der Sohn, Onkel Detlef, fuhr Rallyes und war allein schon deswegen überaus interessant. Tante Gisela war damals, wenn ich nach den Bildern gehe, die mir Onkel Bernd hinterlassen hat, die beste Freundin meiner Mutter. Ihr Mann hieß Manfred und beide nahmen an den Feiern teil, die bei Oma stattfanden. Es gab noch ein Ehepaar, das später sechs Söhne bekam und dann den Versuch aufgab, ein Mädchen zu bekommen. Tante Renate wohnte damals noch nicht in München, würde aber bald übersiedeln. Tante Waltraut war meine Lieblingstante, aber ich kann heute nicht mehr sagen, warum. Onkel Egon betrieb eine Pommesbude in Milspe und dort bekam man den besten Backfisch weit und breit. Neben den Genannten gab es unzählige andere, die meisten davon kannte ich nicht.
Onkel Bernd war wie mein Vater Dreher. Mein Vater hatte diesen Beruf erlernt, aber keine Anstellung gefunden, weshalb er sein Geld zuerst mit Kellnern aufgebessert und sich dann für einige Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet hatte. Onkel Bernd und mein Vater hatten die Idee, sich selbstständig zu machen. Onkel Bernd wollte sich um die Buchhaltung kümmern und mein Vater sollte die Aufträge besorgen. Sie mieteten eine kleine Halle und kauften Dreh- und Bohrmaschinen. Beide glaubten, dass es ihnen besser gehen würde, wenn sie ihre eigenen Herren wären.
In einem anderen Ortsteil von Ennepetal, der Wellenbecke, fanden meine Eltern eine Zweizimmerwohnung. Wir Kinder hatten ein gemeinsames Zimmer, unsere Eltern schliefen in dem anderen. Außerdem hatten wir noch eine Küche. Die Badewanne befand sich im Keller, was mir wesentlich besser gefiel als das Klo auf halber Treppe wie bei Oma Else. Unsere Vermieter erlaubten uns, im Garten zu spielen. Sie hatten selbst Kinder und nichts dagegen, wenn wir uns die Schaukel teilten.
Das Haus stand ziemlich einsam an einer Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein schöner Wald. Ich mochte Wälder schon immer und ich mag sie heute noch.
Eines Tages vertrieb ich mir die Zeit, während meine Mutter einen Kuchenteig anrührte und bis ich die Schüssel ausschlecken durfte, indem ich aus dem Fenster sah. Auf dem Weg, der in den Wald führte, tummelten sich lauter kleine grüne Zwerge, die miteinander spielten. Ich war total fasziniert, denn echte Zwerge hatte ich noch nie gesehen. Ich rief meine Mutter, das musste sie unbedingt sehen. Zuerst wollte sie nicht kommen und fragte: »Was gibt es denn?«
»Mama, komm schnell, hier sind Zwerge!«, antwortete ich. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und kam zu mir. Die Zwerge mussten wohl geahnt haben, dass ich jemanden gerufen hatte, denn sie versteckten sich alle so gut, dass meine Mutter keinen von ihnen zu sehen bekam. Kopfschüttelnd ging sie zurück zu ihrer Rührschüssel und meinte: »Zu viel Fantasie.«
Ich hoffte, dass diese Fantasie keine schlimme Krankheit wäre und ich trotzdem meinen Kuchenteig bekam. Kaum hatte meine Mutter ihren Platz am Fenster geräumt, kamen die Zwerge aus ihren Verstecken und spielten munter weiter; nur einer blickte direkt zu mir hinüber und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen, um mir zu bedeuten, dass sie sich nur mir zeigen würden. Ich vermutete, dass sie nur für Kinder überhaupt sichtbar waren. Die Teigschüssel durfte ich trotzdem ausschlecken.
Als wir bei einem Spaziergang einige Tage danach an bunten Gartenzwergen vorbeikamen, gab ich zum Besten, dass echte Zwerge gar nicht so bunte Kleidung trugen, sondern nur grüne. Mir war auch ohne Erklärung vollkommen klar, dass man sich mit grüner Kleidung viel besser im Wald verstecken konnte.
Damals waren die Radios noch sehr groß und ich wunderte mich eine Zeit lang, warum ich die Leute, die dort drinnen arbeiteten, nie zu Gesicht bekam. Ich stellte mir kleine Menschen vor, die morgens mit einer Aktentasche durch eine verborgene Tür ins Radio marschierten und abends zum Feierabend wieder nach Hause gingen. Obwohl ich immer wieder Ausschau nach diesen Leuten hielt, wollte mir nie einer zu Gesicht kommen. Also entschloss ich mich, der Sache auf den Grund zu gehen, und bewaffnete mich mit einem Schraubenzieher. Leider erwischte meine Mutter mich, bevor ich die erste Schraube gelöst hatte, und verbot mir unter Androhung von Schlägen, was sie nicht oft tat, mit solchem Unsinn fortzufahren. Das wären keine Leute drin, aber das Radio würde mit Strom betrieben und der wäre gefährlich. Ich könne einen Schlag bekommen und daran sterben. Ich wusste nicht, wo die Stimmen herkommen sollten, wenn da keine Menschen drin waren, aber der Strom und die Angst vor Schlägen hielten mich von weiteren Untersuchungen ab.
Eines Tages kehrte mein Vater von der Arbeit zurück, aber statt hereinzukommen, blieb er im Auto sitzen und hupte. Wir sahen aus dem Fenster und bemerkten, dass er einen anderen Wagen fuhr. Wir Kinder waren ganz aufgeregt und liefen hinaus. Es war ein »neuer« gebrauchter Ford Taunus. Meine Mutter kam hinter uns her. Wir durften alle einsteigen und machten eine Probefahrt. Meine Mutter schimpfte mit meinem Vater, weil sie meinte, wir könnten uns kein neues Auto leisten, aber mein Vater ließ sich von ihr die gute Laune nicht verderben. Wir aßen an diesem Abend später und wurden direkt nach dem Essen ins Bett geschickt.
In der Küche machte meine Mutter meinem Vater sehr wahrscheinlich das erste Mal Vorhaltungen, dass er so verschwenderisch mit dem Geld umging. Er hatte ihr nicht nur nichts von dem Auto erzählt, sondern es auch noch auf Pump gekauft. Seine Firma bekam zwar Aufträge, aber dort war der Schuldenberg noch größer, als der private, denn die Maschinen mussten alle erst noch abbezahlt werden.
Von einem Vater von bald vier Kindern hätte man etwas mehr Verantwortungsbewusstsein erwarten können. Wenn meine Mutter nicht an den Wochenenden als Kellnerin gearbeitet hätte, wäre das Geld wohl noch knapper gewesen. Wir wussten damals weder, was Schulden waren, noch dass wir welche hatten. Das sollte sich allerdings bald ändern.
Am 11. Juni 1964 wurde mein Bruder Rolf geboren. Jetzt waren wir zwei Jungen und zwei Mädchen. Gleichstand auf beiden Seiten.
Meine Eltern gingen an den Wochenenden gerne aus und ich als die Große und Vernünftige sollte dann immer dafür sorgen, dass alle schön brav pünktlich ins Bett gingen und dort auch ruhig liegen blieben. Sie sagten mir immer Bescheid, wenn sie ausgingen, damit wir keine Angst bekämen, wenn wir aufwachten und sie nicht da waren. Das kam nicht ein einziges Mal vor.
Mit unserer Müdigkeit stand es nicht allzu gut, wenn die Eltern erst aus dem Haus waren, darum hatten wir uns eine Art Einschlafsport angeeignet: Wir kletterten auf den Kleiderschrank im Elternschlafzimmer und sprangen vor dort aus ins Bett. Das machte uns einen Mordsspaß. Unsere Nachbarn, die auch Eigentümer des Hauses und somit unsere Vermieter waren, hielten allerdings nicht so viel von unserem Spaß und beschwerten sich. Das gab dann immer eine anständige Standpauke und meine Mutter war enttäuscht von mir. Das hielt uns alles nicht davon ab, es beim nächsten Mal exakt genauso zu machen. Es machte einfach zu viel Spaß.
Freitags war unser Badetag. Jeder bekam sein Handtuch und seinen Schlafanzug in die Hand gedrückt und dann marschierten wir gut gelaunt im Gänsemarsch in den Keller. Anita knuffte mich, Helmut knuffte Anita und dann mussten wir alle lachen. Auch meine Mutter konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Sie war ja selbst erst vierundzwanzig Jahre.
Natürlich ermahnte sie uns zur Ruhe, trotzdem schafften wir es nie, mucksmäuschenstill in den Keller zu kommen. Auch das bot unserem Vermieter Grund zur Klage. Sie meinten auch, dass vier Kinder schon zwei zu viel seien. Vielleicht haben sie auch die Miete nicht immer pünktlich bekommen. Es gab auf jeden Fall häufiger Streit im Haus.
Für Anita und mich gab es fast nichts Schöneres, als wenn mein Vater uns mit in seine Firma nahm. Ich mochte den Geruch nach Maschinenöl, Metallspänen und Rost. Die Metallspäne fand ich auch richtig schön, Spiralen, die in den unterschiedlichsten Blautönen schimmerten. Diese Schönheit hielt allerdings nur kurz, denn verrostet sahen die Späne nur noch nach Abfall aus.
Onkel Bernd hatte ein total vernarbtes Gesicht und ich wagte eines Tages, ihn zu fragen, woher das kam. Er berichtete: »Die stammen von einem Autounfall, den ich mit deinem Papa und deiner Mama hatte.«
Das erstaunte mich, denn meine Eltern hatten keine Narben von diesem Unfall davongetragen. »Echt?«
»Ja, echt.«
»Was war das für ein Unfall und wann war das?«
»Ist schon eine Weile her. Dein Papa saß am Lenkrad, ich daneben und deine Mama hinter mir. Wir mussten scharf bremsen und deine Mama hat sich instinktiv am Vordersitz abgestützt und mich durch die Windschutzscheibe gedrückt.«
Oje, oje, oje, meine Mama war schuld, dass Onkel Bernd so viele Narben im Gesicht trug? Er musste mir meine Gedanken angesehen haben, denn er fuhr fort: »Das hat sie nicht mit Absicht getan, sie konnte gar nicht anders.«
»Tut das noch weh?«
»Nein, jetzt nicht mehr. Am Anfang schon, aber jetzt nicht mehr.«
»Das hat ihr sicher leidgetan, oder?«
»Ja, das kann man wohl sagen. Sie hat sogar geweint.«
Damals hatten die Sitze weder Sicherheitsgurte noch Blockaden, und Verbundglas wurde auch erst später verwendet.
In der Nähe der Werkstatt wohnten Kinder, mit denen wir schnell Freundschaft schlossen. Wir spielten die spannenden Abenteuer von Kalle Blomquist nach. Ich mimte natürlich Kalle und Anita übernahm die Rolle des kleinen Anders. Riesig war die Werkstatt nicht, wir besaßen drei Maschinen und ich wunderte mich, warum zwei Mann drei Maschinen brauchten. Der Boden vor der Fabrik bestand aus schwarzem Sand und es gab einen Sandkasten mit richtigem Sand.
Einmal schlug ich mir auf dem Hof beim Spielen ein Knie auf. Mein Vater kam aus der Werkstatt geeilt, um zu sehen, warum seine älteste Tochter so ein Geschrei veranstaltete. Er tröstete mich, klebte ein Pflaster auf das Knie und gab Anita und mir Geld für ein Eis, was den ersten Schmerz wirksam stillte.
Obwohl die Wunde nicht mehr schmerzte, wollte meine Mutter einen Blick darauf werfen. Sie entfernte das Pflaster und bestand darauf, dass sie ausgewaschen wurde. Das Pflaster zu entfernen tat schon weh, aber das Auswaschen war eine Qual. In meinen Augen eine überflüssige, denn wir bekamen den Dreck nicht mehr heraus.
So wurde ich am nächsten Tag zum Arzt geschleppt, aber der schaffte es auch nicht, verpasste mir eine Tetanusspritze und scherzte über die lustige Form der Wunde. Sie sah aus wie eine übergroße Kaffeebohne. Bis zum Teenageralter hat mich diese Narbe eigentlich nie gestört. Manchmal verspürte ich sogar Stolz, denn sie unterschied mich von anderen und zeugte davon, dass ich einiges einstecken konnte. Selbst die Jungen, die ich kannte, hatten keine solche Narbe.
Eines Abends weckte meine Mutter uns auf: »Kommt, aufstehen.« Es war noch dunkel und wir wunderten uns, was das zu bedeuten hatte.
»Zieht euch schnell und leise an.«
»Aber Mama, was ist denn los?«, fragte ich.
»Das erzähle ich euch in der Küche, wenn ihr alle fertig seid«, antwortete sie und ging mit Rolf auf dem Arm voraus.
Nichts hätte uns so antreiben können, wie das Versprechen, dieses seltsame Rätsel aufzulösen. Als wir in die Küche kamen, verstärkte sich der Eindruck, dass hier etwas ganz entschieden nicht stimmte. Es standen Kisten und Koffer herum, in denen unsere Mutter unsere Habseligkeiten verstaut hatte.
»Fahren wir weg, Mama?«, fragte Anita.
»Ja, wir verreisen.«
»Wohin fahren wir denn?«, wollte ich wissen.
»Das werdet ihr schon sehen, wenn wir da sind. Komm, Marianne, pack bitte die Brote ein und dann brechen wir auf.«
Ich kam zu ihr an den Schrank und packte die Brote ein, die sie vorbereitet hatte. Meine Mutter füllte Kaffeepulver in die Thermoskanne und schüttete kochendes Wasser darauf. Rolf lag sauber gewickelt und angezogen auf dem Schrank. Vielleicht merkte er, dass etwas nicht in Ordnung war, denn er drehte und wendete sich und stieß an die Kaffeekanne. Sie kam ins Wanken und fiel schließlich um. Der ganze heiße Kaffee ergoss sich über Rolfs Arm. Er schrie wie am Spieß.
In der kleinen Küche war plötzlich die Hölle los. Wir schrien und liefen kreuz und quer durcheinander. Nur meine Mutter behielt die Ruhe, sie trocknete Rolf vorsichtig ab und streute Mehl über den Arm, aber man sah schon, wie sich große Blasen bildeten. Der Junge musste ins Krankenhaus. Unerwarteterweise öffnete sich die Wohnungstür und mein Vater stand dort. Er sah verwundert aus, wurde aber von meiner Mutter schnell ins Bild gesetzt und die beiden fuhren mit Rolf ins Krankenhaus. Wir sollten uns ausziehen und ins Bett gehen.
Lange wunderten wir uns noch, was das alles zu bedeuten hatte, aber wir konnten uns keinen Reim darauf machen. Am nächsten Morgen taten meine Eltern, als sei nie etwas gewesen; nur Rolfs verbundener Arm zeugte davon, dass wir das alles nicht nur geträumt hatten.
Ich habe leider nie erfahren, weshalb meine Mutter in dieser Nacht gehen wollte, noch wohin die Reise hätte führen sollen. Später haben wir viel spekuliert, aber wissen konnten wir nichts. Warum keiner von uns je die Chance genutzt hat, meinen Vater, Onkel Bernd oder zum Beispiel Tante Gisela dazu zu befragen, kann ich nicht sagen, vermute aber, dass uns schon als Kindern klar war, dass solche Dinge tabu waren. Als Erwachsene hatten wir alle das Gefühl, von den Verwandten im Stich gelassen worden zu sein, was vielleicht eine Erklärung dafür liefert, warum wir das Versäumte da nicht nachgeholt haben.
Kurz darauf bekamen wir die Kündigung von unserem Vermieter. Er meinte, die Wohnung sei zu klein für uns. Also suchten meine Eltern nach einer anderen und wurden wenig später fündig. Der Tag des Umzuges rückte immer näher. Damals machte uns das noch einen Riesenspaß. Man fand nichts mehr. Dies und das, womit wir spielen wollten, war schon eingepackt. Überall standen Kisten herum.
Das Einzige, was uns allen nicht entging, war der Unmut meiner Mutter. Je näher der Tag des Umzugs kam, desto schlimmer wurde es. Wir blieben in der gleichen Stadt, zogen nur in einen anderen Ortsteil, und zwar nach Rüggeberg.
Wie der Name schon sagt, liegt es auf einem Hügel. Wir fuhren diesen schier endlosen Berg hinauf, ließen die Ennepetalsperre rechts hinter uns. Dieser Weg führte durch den Wald und war recht kurvenreich. Oben angekommen, mussten wir nach links in den Schnabeler Weg abbiegen. Damals standen dort noch nicht viele Häuser, an diesem Ende des Weges eigentlich nur die drei großen Häuser, die fast gleich aussahen. Zwei auf der rechten Seite, die wie Zwillinge wirkten. Unser Haus lag auf der linken Seite und hob sich von den anderen dadurch ab, dass es eine höher gelegene Eingangstür hatte, die über eine Rampe erreicht wurde. Uns gefiel das natürlich sofort. Später wurde die Rampe oft für Mutproben benutzt. Wir schwangen uns über die Brüstung und ließen uns fallen. Wer sich das nicht traute, wurde Feigling genannt.
Unser Vater verkündete stolz, dass unsere Wohnung sich im obersten Stockwerk ganz hinten links befand und wir Kinder rannten jubelnd voraus und beschlagnahmten sie voller Begeisterung. Die Wohnungstür führte in die Küche, die größer war als die alte. Rechts neben der Tür stand der Kohleofen. Daneben gab es eine Tür, die in einen kleinen Flur führte, auf dessen linker Seite sich die Toilette befand. Dieser Flur führte in das Kinderzimmer. Wir eilten durch die Küche zurück, um das Elternschlafzimmer auf der entgegengesetzten Seite anzuschauen.
In unseren Augen gab es nur einen Rückschritt: Es gab kein Badezimmer. Aber das machte nichts. Wir würden es genau wie unsere Oma Else machen und einmal in der Woche die Zinnbadewanne mitten in der Küche aufstellen und Töpfe aufsetzen, um heißes Wasser für die Füllung zu gewinnen. Darin würde dann einer nach dem anderen gebadet, ohne dass das Wasser getauscht wurde.
Uns Kindern gefiel die Wohnung sehr gut. Hinter dem Haus gab es einen großen Rasen, der allerdings nicht uneingeschränkt zum Spielen genutzt werden konnte, sondern auf dem an Haltestangen Wäscheleinen aufgespannt waren. Auf der Seite, dort, wo sich unsere Küche befand, hatte man in den Rasen einen Sandkasten eingelassen, mehr Spielgeräte gab es nicht.
Unsere Eltern folgten uns mit den ersten Gepäckstücken. Meine Mutter schaute sich die Wohnung mürrisch an. Selbst wir Kinder spürten deutlich, dass sie sich hier unbehaglich fühlte. Deshalb fragte ich: »Mama, gefällt dir die Wohnung nicht?«
»Nein«, antwortete sie kurz angebunden.
»Aber warum denn nicht? Sie ist doch viel größer als die alte.«
»Das könnt ihr nicht verstehen«, entgegnete sie. Damit war das Thema besprochen und es wurde weitergearbeitet.
Wir hatten für diese Wohnung ein paar neue Möbel gekauft. Aber das meiste aus der Wellenbecke mitgenommen. Das Küchenfenster befand sich direkt gegenüber der Wohnungstür. Darunter wurde die Eckbank aufgestellt. Der Tisch kam davor und zwei Stühle daran. Rechts in der Ecke befand sich der Spülstein. Daneben bauten wir einen halbhohen Schrank auf. In die linke Ecke kam unser alter Küchenschrank.
Es gab in der Wohnung weder Heizung noch warmes Wasser. Geheizt wurde mit dem Kohleofen, auf dem auch gekocht wurde. Wenn nach dem Essen das Geschirr gespült wurde, oder wenn wir uns nach dem Spielen draußen waschen wollten, musste immer erst ein Topf mit Wasser aufgesetzt werden.
Meine Eltern besorgten ein kleines elektrisches Heizgerät für das Kinderzimmer, das eingeschaltet wurde, wenn es zu kalt war. Das passierte nicht besonders oft. Einmal fiel eine Decke auf das Gerät und fing an zu kokeln. Meine Mutter entdeckte es, bevor sie richtig brannte, und schimpfte mit uns.
Ins Elternschlafzimmer kam das Doppelbett. Wir stellten es unter das Fenster. Rechts und links daneben wurden die Nachttischchen aufgestellt. Außerdem wurde der Kleiderschrank an die linke Wand verfrachtet.
Das Beste aus unserer Sicht war natürlich das Kinderzimmer. Unsere Eltern hatten zwei Doppelbetten für uns gekauft. Das für Anita und mich kam neben das Fenster auf die linke Seite. Das für Helmut und Rolf kam längsseits auf die rechte Seite. Damit war das Zimmer schon fast voll. Wir stellten noch einen Schrank gegenüber Anitas und meinem Bett auf.
Unsere Straße war noch nicht geteert worden, weil die drei Häuser noch nicht lange dort standen. Rechts neben dem Haus befand sich eine umzäunte Wiese. Das Gras dort wurde nur selten gemäht und diente uns hin und wieder als Versteck. Nur wenn Ahla, ein Pferd, dort weidete, wagten wir uns nicht auf die Wiese, obwohl wir Ahla gern hatten, sie streichelten und fütterten, indem wir ihr das ausgezupfte Gras hinhielten.
Meine Mutter fand auch in Rüggeberg schnell wieder eine Arbeit für die Wochenenden. Es gab im Ort eine Gastwirtschaft, die gut besucht wurde. Ihre Arbeit begann am Nachmittag mit Kaffee und Kuchen und ging bis in die Nacht.
Rolf aß jetzt schon etwas selbst, was aber immer zu Ärger führte, wenn mein Vater es sah. Rolf nahm nämlich sein Löffelchen in die falsche Hand. Mein Vater bestand darauf, dass der Löffel in das gute Händchen gehörte. Das wiederum führte zu Tränen bei Rolf. Diese lösten Vorwürfe meiner Mutter aus. Dann stritten sie sich meistens weiter. Mein Vater war in solchen Sachen unerbittlich. Rolf fing an zu stottern und bekam Asthma. Höchstwahrscheinlich, weil er diese Art der Umerziehung durchmachen musste. Man schickte ihn nach Norderney zur Kur. Als er zurückkehrte, hatte er eine fette Erkältung, kannte eine Menge Seemannslieder, die er uns heiser vortrug, und war sowohl sein Stottern als auch das Asthma los.
Ich war nun schon sechs Jahre alt und damit alt genug, um meiner Mutter im Haushalt zu helfen.
Wir hatten so eine Art Plan. Jeden Tag wurde der PVC-Belag in allen Zimmern gemoppt, einmal in der Woche feucht aufgenommen und jede zweite Woche ordentlich gewischt. Beim Aufnehmen und Wischen konnte ich den Putzlappen auswringen. Wenn Wäsche aufzuhängen war, im Winter auf dem Dachboden und im Sommer auf dem Rasen, nach Hausordnungsreihenfolge, konnte ich meiner Mutter die Klammern reichen. Beim Fensterputzen wrang ich das Fensterleder aus. Zuerst benötigte meine Mutter es nass, dann feucht und zum Schluss trocken. Wurden die Betten einmal in der Woche frisch bezogen, konnte ich sie vorher abziehen. Beziehen schaffte ich nicht, weil wir richtig schwere Federbetten hatten. Die brauchten wir auch, weil es in den Schlafzimmern nur den kleinen Elektroheizer gab, den wir meistens ausgeschaltet ließen. Im Winter schmückten die schönsten Eisblumen unsere Fenster.
Jeden Tag trockneten Anita und ich das Geschirr ab, das meine Mutter gespült hatte. Um die anderen Hausarbeiten drückte sich meine Schwester in der Regel erfolgreich, weil sie meiner Mutter immer entwischte. Sie war so wendig, dass sie ihr zwischen den Beinen hindurch abhauen konnte. Sie lief dann gerne zum Spielen raus. Manchmal fand ich das lustig, öfter dachte ich, es wäre sehr ungerecht, aber meistens empfand ich einen gewissen Stolz, weil ich die Große war, die helfen musste.
Zum Sommerbeginn kam eine Frau vom Schulamt, die wissen wollte, ob ich mit sechs oder sieben Jahren eingeschult werden sollte, weil beides möglich wäre. Meine Mutter erklärte ihr, dass sie mich lieber noch ein Jahr bei sich haben wolle. Sie hatte Bedenken wegen der Kurzschuljahre, die im nächsten Jahr eingeführt werden sollten. Die dauerten kürzer als ein Kalenderjahr und sie meinte, ich würde dort besser mitkommen, wenn ich erst mit sieben eingeschult würde.
Auf keinen Fall wollte sie, dass ich in der Schule versagte. Sie hatte sehr ehrgeizige Pläne mit mir. Ich sollte das Abitur machen, Medizin studieren und Ärztin werden, damit es mir einmal besser ging als ihr. Damals war Arzt ein sehr angesehener Beruf, der neben der Anerkennung auch ein gutes Einkommen garantierte. Von langen Schichten, durchgearbeiteten Nächten und Suchtgefahr, über die heute so oft berichtet wird, sprach man damals noch nicht.
Niemals sollte ich kellnern gehen, egal ob auf dem Boden, im Zug, oder in der Luft. Dieses Versprechen nahm sie mir schon sehr früh ab.
Ich verstand damals nicht, was sie dagegen hatte, denn mir machte es immer sehr viel Spaß, sie sonntags bei der Arbeit zu besuchen. Sie gefiel mir in ihrer Arbeitskleidung. Sie trug schwarze Bluse mit schwarzem Rock. Lustig fand ich die weißen Schürzen, unter denen der große Geldbeutel hing. Die mussten gestärkt werden, bevor sie gebügelt wurden. Meistens nahm meine Mutter dafür gekauftes Stärkepulver, das mit Wasser angemacht wurde, aber wenn wir Kartoffelklöße zu essen gehabt hatten, hob sie das Kartoffelwasser auf, ließ die Stärke sich setzen und goss das Wasser vorsichtig ab, um dann die Kartoffelstärke zu verwenden. Ich fand diesen Ablauf immer sehr spannend.
Wenn sie zur Arbeit ging, trug sie ihr Haar zu einer Hochfrisur aufgesteckt. Mir gefiel sie mit offenem Haar viel besser, denn mit den hochgesteckten Haaren fand ich sie ein wenig zu streng und sie wirkte älter. Wenn wir sie besuchten, bekamen wir immer etwas. Entweder Reste der Nachmittagskuchen oder mindestens eine Zuckerstange. Die waren schön bunt und schmeckten uns einfach fabelhaft. Wir mussten nur aufpassen, dass wir sie nicht in Gegenwart meiner Mutter kauten. Sonst schimpfte sie oder nahm sie uns weg. Wir sollten sie lutschen, weil wir uns sonst die Zähne kaputtmachen würden. Irgendwie konnte das aber nicht stimmen, weil wir sie natürlich kauten, sobald meine Mutter außer Sicht war und keinem von uns je ein Zahn abgebrochen ist.
Manchmal ließ mein Vater uns samstags so lange aufbleiben, bis sie nach Hause kam. Sie schimpfte dann mit ihm, weil sie meinte, wir bräuchten unseren Schlaf.
Sie brachte immer einen ganzen Haufen Kleingeld mit, das sie als Trinkgeld bekommen hatte und behalten durfte. Wir sahen gerne zu, wenn die Eltern Türmchen aus Groschen bauten, manchmal durften wir dabei helfen. Man brauchte immer zehn Groschen für ein Türmchen. Diese wurden in Papier gerollt und auf der Bank in Scheine umgetauscht.
Meistens war meine Mutter von der Arbeit ganz schön geschafft. Die Füße taten ihr fürchterlich weh und sie legte sie hoch. Mein Vater öffnete ihr dann eine Flasche Bier und wir wurden ins Bett geschickt.
Die schönsten Wochenenden waren aber die, an denen sie nicht arbeiten musste und wir einen Ausflug machten. Wir wurden zu diesen Anlässen fein herausgeputzt. Die Jungen zogen ihre dunkelblauen Anzüge an, dazu weiße Hemden und eine Fliege. Sie hatten einen Igelhaarschnitt und sahen aus wie kleine Herren. Anita trug ein rotes und ich ein blaues Samtkleid. Dazu zogen wir weiße Strumpfhosen an. Eine richtig schicke Familie. Dann fuhren wir entweder nach Altena, um die älteste Jugendherberge der Welt zu besichtigen, nach Königswinter zum Drachenfels, oder an eine Talsperre.
In der Jugendherberge in Altena gab es lustige Betten, die am Fußende ausklappbar waren, damit auch größere Menschen Platz hatten. Manches Mal hatten wir Glück und durften auf einem Esel zum Drachenfels hoch reiten, das machte uns mächtig Spaß und war weit weniger anstrengend als der Fußweg. In unserer Fantasie wurde aus dem Esel ein Pferd und wir fühlten uns wie edle Ritter.
Dagegen fanden wir die Talsperren relativ langweilig, da gab es nur Wasser und Bäume und man durfte nicht einmal fangen spielen oder im Wasser planschen. Die anderen Spaziergänger durften nicht von uns gestört werden.
In einem Gasthaus wurde zu Mittag gegessen. Wir waren richtig stolz, wenn wir von den Nachbartischen das Getuschel hörten: »Sieh mal dort drüben. Sind das nicht hübsche Kinder?«
»Ja, und guck mal, wie gut die schon mit Messer und Gabel essen können. Ich glaub’ nicht, dass von denen schon eines in die Schule geht.«
»Da sieht man mal, dass es möglich ist. Wenn nur die Kinder meiner Schwester auch so gut erzogen wären.«
Mein Vater legte großen Wert darauf, dass wir uns ordentlich benehmen konnten. Zu Hause lief das nicht immer so reibungslos ab. Wenn wir den Teller zum Beispiel mit der linken Hand festhielten, ermahnte er uns, kam das noch einmal vor und er hatte gute Laune, tat er so, als wollte er uns den Teller wegnehmen, und beim dritten Mal setzte es Hiebe. Es wurde nicht geduldet, dass wir das Besteck nicht richtig hielten und beim Essen durfte nur in absoluten Ausnahmefällen gesprochen werden. Schmatzen und Schlürfen war strengstens verboten.
Das Zweitschönste waren die Wochenenden, die ich bei meiner Oma verbringen durfte. Wir besuchten sie oft samstags. Dann gab es immer ein Mittagessen mit Fleisch. Zu Hause gab es das nicht so häufig. Dort aßen wir gerne Pfannkuchen mit Salat, Brotsuppe, Mehlklöße mit ausgelassenen Speckstückchen, Nudeln mit gerösteten Semmelbröseln, Salzkartoffeln mit Gurkensalat, der mit saurer Sahne angemacht war, Kaltschalen, Dickmilch mit Zucker und Zimt, Milchreis oder Kartoffeln mit Spinat und Spiegeleiern. Deshalb war ich das Fleisch nicht so gewohnt.
Ich kaute immer so lange darauf herum, bis es so trocken war, dass ich es nicht mehr herunterschlucken konnte. Das gab regelmäßig mächtigen Ärger. Man konnte doch das gute Fleisch nicht wegwerfen. Irgendwie überstand ich es und würgte das Fleisch hinunter.
Daneben gab es noch den guten Bohnenkaffee und die gute Butter, aber die machten mir keine Probleme.
Nach dem Essen halfen wir beim Abtrocknen, danach wurden die Hände mit Atrix-Creme eingecremt, obwohl unsere Hände ja gar nicht im Wasser gewesen und auch nicht trocken waren. Es gehörte zum Ritual, meine Oma bestand darauf und wir fanden es lustig. Meine Hände wurden richtig glitschig.
Oma hatte einen Quirl, um Sahne zu schlagen, der mit einer Kurbel von Hand betrieben wurde. Dieses Teil fand ich höchst interessant und irgendwie altmodisch. Wir besaßen zu Hause einen elektrischen Mixer. Oma hatte eine Pfanne ohne Stil, in der sich runde Vertiefungen befanden, in die Teig gegossen wurde und die dann auf den Ofen kam. Das gab richtig leckere Ballbäuschen, die wir zu Hause nicht bekamen.
Nach dem Mittagessen ging der Spaß erst richtig los. Meine Oma nannte nämlich einen alten Fernseher ihr Eigen, der für die Kinderstunde eingeschaltet wurde. Dieser Apparat war sehr groß, und wenn er ausgeschaltet wurde, zog sich das Bild zusammen, bis man nur noch einen winzigen weißen Punkt sah, der dann auch verblasste. Fernsehen gefiel uns so gut, dass wir unsere Eltern beknieten, sich doch auch ein Gerät anzuschaffen.
Nach dem Abendbrot wurde ich dann hin und wieder gefragt, ob ich bei der Oma übernachten wollte. Meistens wollte ich. Das Schlafzimmer meiner Oma war die reinste Fundgrube. Dort lagen Kleidungsstücke und Zeitschriften herum, in denen es um Königinnen, Prinzessinnen und Filmstars ging.
Bei Oma war immer ein Kommen und Gehen, immer saß irgendwer in der Küche und man klönte. Wenn wir nicht mitbekommen sollten, worum es ging, wurde platt gekürt. Das klang wie eine Fremdsprache, aber manche Brocken verstanden wir doch, ließen uns das aber nicht anmerken.
Wenn uns einige Freundinnen besuchten, erbarmte sich meistens eine von Omas Besucherinnen, mit uns zu spielen. Wir Mädchen stellten uns dann im Kreis auf und spielten »Zeigt her eure Füßchen«, wobei wir die Tätigkeiten der Waschfrauen pantomimisch darstellten, während wir den Text sangen, oder »Der Bi-Ba-Butzemann«, bei dem es darum ging, den Plumpsack hinter sich aufschlagen zu hören und den Butzemann zu verfolgen und zu kriegen, bevor er unseren Platz im Kreis einnahm. Von diesen Spielen konnten wir nie genug bekommen.
Draußen sprangen wir gerne mit dem großen Seil, das von zwei Mädchen geschlagen wurde und wir anderen sprangen. Wer sich verhedderte, musste einen Schlagmann ersetzen.
Dieses Haus, in dem Oma wohnte, faszinierte mich, besonders, wenn ich mit auf den Dachboden durfte. Im Prinzip sah der aus, wie jeder x-Beliebige, nur viel größer. Er verband, wie der Keller, mehrere Häuser miteinander und das fand ich wirklich beeindruckend. Für mich barg dieses Haus Geheimnisse.
Das wurde in Omas Schlafzimmer noch unterstrichen. Wenn ich dort lag und einschlafen wollte, fest zugedeckt mit dicken Federbetten und einem Plumeau, einem halben Federbett, das am Fußende lag, schimmerte aus der gegenüberliegenden Wand ein Streifen Licht und ich hörte Stimmen. Ich hielt es für Geister, die in der Wand saßen und darauf warteten, dass ich einschlief, um mich dann zu holen. Ich wollte nicht von denen geholt werden und lief zur Oma, die an diesem Abend Besuch hatte.
Einmal mehr machten sich alle über meine Fantasie lustig und erklärten mir, dass dort, wo der Lichtschein hervorlugte, früher mal eine Tür gewesen sei, die zugemauert worden wäre. Ich sollte wieder ins Bett gehen und schlafen.
Zurück im Bett fragte ich mich, warum man wohl eine Tür zumauern sollte, und wusste nicht so recht, ob ich das glauben sollte oder ob man es nur erzählt hatte, um mich zu beruhigen.
Am Abend wollten die Erwachsenen nichts von uns Kindern wissen, da sollten wir schön im Bett bleiben und sie in Ruhe lassen. Eine Zeit lang versuchte ich noch krampfhaft wach zu bleiben, aber irgendwann schlief ich doch ein und freute mich am nächsten Morgen darüber, dass mich die Geister verschont hatten.
Meine Oma machte immer richtigen Bohnenkaffee. Zu Hause hatten meine Eltern nur Instantkaffee und wir Kinder bekamen Caro-Kinderkaffee. Bei meiner Oma durfte ich sogar an dem Bohnenkaffee nippen. Sie schüttete einfach viel warme Milch dazu.
Bevor gefrühstückt wurde, schickte man mich zum Bäcker, um zehn Brötchen für eine Mark zu kaufen. Oft bekam ich ein Kaubonbon geschenkt. Auf der Theke stand eine Schüssel, in der die Bonbons verwahrt wurden. Normalerweise kosteten sie je einen Pfennig. Es gab sie in verschiedenen Obstgeschmacksrichtungen. Die Verpackung verriet durch kleine Bildchen, um welche Frucht es sich handelte. Kirsch mochte ich besonders gerne, traute mich aber nicht, in der Schüssel groß herumzurühren, um die gewünschte Geschmacksrichtung zu finden.
So lieb meine Oma auch war, was sie nicht richtig konnte, war mich anzuziehen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sie mir einmal beide Beine in ein Unterhosenbein steckte und wir so in die Kirche gingen. Sonntags bei der Oma gingen wir immer in die Kirche. Zuerst ging ich mit ihr in den normalen Gottesdienst und später wurde ich alleine in den Kindergottesdienst geschickt. Wenn Oma mich zu Bett brachte, wurde immer ein Gebet gesprochen, was in der Regel so lautete:
»Ich bin klein, mein Herzchen ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Lieber Gott, beschütze bitte Papa und Mama und meine Geschwister und alle lieben Leute. Amen.«
Einmal durfte ich über Silvester bei Oma bleiben und das war ausgerechnet in dem Jahr, in dem Billy Mo, der Mann, der »Ich kauf mir lieber einen Tiroler Hut« sang und dabei so herrlich mit den Augen rollte, direkt an Omas Haus vorbeiziehen sollte. Ich liebte das Lied und den Interpreten und bettelte den ganzen Tag, dass ich ihm zuwinken durfte. Ich wusste, dass meine Oma nicht viel davon hielt, wenn Kinder zu lange aufblieben, aber Billy Mo sollte Grund genug für eine Ausnahme sein. Vielleicht würde er mich am Fenster sehen und mir auch zuwinken. Ich konnte es kaum erwarten.
Nur widerwillig ging ich am Abend ins Bett und nahm meiner Oma das Versprechen ab, mich zu wecken. Sie weckte mich jedoch nicht und so hatte ich am Morgen eine Mordswut und schimpfte direkt drauflos: »Oma, du hast mir doch versprochen, mich zu wecken, warum hast du es nicht getan? Jetzt habe ich Billy Mo nicht gesehen und der kommt bestimmt nicht so schnell wieder her.«
»Ich habe es ja versucht, aber du hast so tief geschlafen, dass ich dich nicht wach gekriegt habe«, lautete ihre Entschuldigung.
Aber ich kaufte ihr das nicht ab, denn sie sah ganz schuldbewusst aus, wie jemand, der lügt. Ich durfte sie allerdings nicht als Lügnerin hinstellen, das stand Kindern Erwachsenen gegenüber nicht zu. Aber tief in mir drin wusste ich, dass sie log. Sie wollte nur weiteren Diskussionen aus dem Weg gehen.
Das fehlende Klo in Omas Wohnung ärgerte mich manchmal. Es gab nur eine Toilette auf dem halben Flur, die von zwei Mietparteien genutzt wurde. Nachts musste man sein Geschäft auf einem Töpfchen verrichten. Töpfchen gehörten für mich zu Kleinkindern und das Klo auf dem Flur mochte ich gar nicht, weil ich immer Angst hatte, jemand könnte an der Tür rütteln, wenn ich gerade drauf saß. Das ist allerdings nie vorgekommen.
Oma wohnte ganz oben und eine halbe Treppe runter, dort wo sich auch das Klo befand, gab es eine Tür zu einem Steg, der über einen Graben auf ein Stück Wiese führte, das zum Haus gehörte, aber von niemandem genutzt wurde. Ich fand den Steg abenteuerlich, weil er über den tiefen Graben verlief und man gut bis runter sehen konnte. Hinter der Wiese kam Wald und an manchen Tagen konnten wir vom Küchenfenster aus Rehe beobachten, die zu uns herüberblickten. Ich empfand das immer als eine Art Auszeichnung, dass die Rehe zu uns kamen, obwohl sie doch so scheue Tiere sind.
Unter meiner Oma wohnte eine Familie, mit der wir uns nicht ganz so gut vertrugen. Aber ganz unten die Leute hatten einen Friseurladen und zwei Kinder, mit denen ich oft nachmittags spielte. Meistens kam auch noch die Tochter des Lebensmittelhändlers auf der anderen Straßenseite dazu. Im Sommer pflückten wir den Rhabarber aus dem Garten, tunkten die Strünke in Zucker und genossen das Süße auf dem Sauren.
Einmal wäre ich fast überfahren worden. Meine Spielkameraden bei Oma liefen über die Straße, ich wollte hinterher und vergaß, dabei auf den Verkehr zu achten. Von links kam ein Auto gerade noch so mit quietschenden Reifen zum Stehen. Der Fahrer regte sich sehr auf. Als er hupte, bemerkte ich, dass ich wie versteinert mitten auf der Straße stehen geblieben war, und lief schnell weiter, begleitet von den Vorhaltungen der Erwachsenen.
Die Kondensmilch, die wir verwendeten, lieferte eine Zeit lang Plastikmarken mit und wir Kinder hatten herausgefunden, dass diese Marken von Kaugummiautomaten für Zehn-Pfennig-Stücke gehalten wurden. Selbstverständlich machten wir regen Gebrauch von diesen Marken, denn allzu viel hielten meine Eltern nicht von Kaugummi. Als mein Vater dahinterkam, was nicht weiter schwer war, weil wir vergessen hatten, den heiß geliebten Kaugummi auszuspucken, bevor wir in die Wohnung gingen, gab es ein Mordsdonnerwetter. Wir wären Diebe und Betrüger hieß es, aber wir sahen das anders. Wir hatten die blöden Chips ja nicht produziert und wir konnten nichts dafür, dass die Bärenmarke-Leute das Teil so schwer und groß wie einen Groschen machten. Trotzdem mussten wir versprechen, die Dinger nicht mehr zu verwenden. Das erübrigte sich, denn bald darauf verschwanden diese Marken auf Nimmerwiedersehen.
Besonders stolz war ich immer, wenn ich ganz alleine losfahren durfte, um die Oma zu besuchen. Ich nahm es als Zeichen dafür, wie groß ich schon war. Dazu musste ich von unserer Wohnung aus zur Bushaltestelle gehen und ein halbes Mal bis Kirchstraße lösen. Das klappte meistens gut, bis auf einmal. Die Haltewunschtasten waren an der Decke des Busses angebracht. Für ein Kind also unerreichbar. Meistens stiegen auch Erwachsene an meiner Haltestelle aus. Stiegen keine aus, stellte ich mich einfach an die Tür. Meistens sah der Fahrer das und hielt, obwohl die Taste nicht gedrückt worden war. Oft hatte ein Erwachsener ein Einsehen und betätigte die Taste für mich. Doch bei dieser Gelegenheit geschah nichts von beidem. Ich stand da an der Tür und mir wurde immer wärmer. Manchmal getraute ich mich ja, jemanden anzusprechen und ihn zu bitten, die Taste für mich zu drücken. Diese Leute suchte ich mir immer sorgfältig aus. Am liebsten waren mir junge Frauen, die nett aussahen, aber dieses Mal war kein Fahrgast im Bus, der mein Vertrauen weckte. Also stand ich weiter an der Tür und hoffte inständig, dass nicht alle Leute bis zur Endhaltestelle fahren würden. Schon bei der nächsten Haltestelle, nach der, an der ich raus gemusst hätte, hatte ich mehr Glück. Es stiegen einige Personen aus und ich mit ihnen. Meine Schüchternheit musste ich mit einem anstrengenden Fußmarsch bezahlen.
Wenn ich den Weg, den der Bus gefahren war, zurückgelaufen wäre, hätte ich mich verspätet. Doch es gab eine Abkürzung, die Himmelsleiter, eine steile Treppenstaffel, die von unten im Ort hoch in die Kirchstraße führte. Obwohl ich es gewohnt war, mich zu bewegen, strengte dieser Weg mich so sehr an, dass ich beschloss, nie wieder so dumm und schüchtern zu sein.
Meine Mutter schnitt uns allen die Haare. Sie hatte auch meine recht kurz geschnitten, damit sie auch schön voll würden. Meine Löckchen hatte ich mit drei oder vier Jahren verloren. Jetzt trug ich sie fast glatt, nur ein paar Wellen kamen hin und wieder zum Vorschein. Wenn ich einkaufen ging, wurde ich öfter für einen Jungen gehalten. Das ärgerte mich und ließ mich protestieren. Obwohl ich eigentlich lieber ein Junge gewesen wäre, weil die viel mehr durften und weniger im Haushalt helfen mussten, fand ich, dass man mir mein Geschlecht ansah.
Anita, Helmut und ich mussten öfter einkaufen gehen. Normalerweise machte uns das nichts aus. Im Sommer durften wir zum Beispiel als Belohnung öfter Wassereis für alle mitbringen.
Wenn wir ohne Geld einkaufen geschickt wurden, wären wir am liebsten vor Scham im Erdboden verschwunden. Wir sollten den Händler bitten anzuschreiben. Oft kamen die Verkäufer dieser Bitte kommentarlos nach, aber wenn sie uns baten, den Eltern auszurichten, sie sollte doch bitte mal persönlich vorbeikommen, bekamen wir rote Ohren. Aber noch schlimmer fanden wir es, wenn wir ohne Einkäufe nach Hause geschickt wurden, weil es hieß, sie könnten nicht weiter anschreiben.
Obwohl wir ja nichts dafürkonnten, fühlten wir uns in diesen Momenten schuldig.
Genauso wenig gefiel es uns, wenn wir nach den regulären Öffnungszeiten einkaufen mussten und die Ladeninhaber in der Wohnung, die sich meistens im selben Haus befand, störten. In aller Regel mussten wir bei diesen Gelegenheiten Bier kaufen und wurden zu zweit losgeschickt. Fast immer war es dann schon dunkel und ruhig auf den Straßen. Was wir begrüßten, weil wir dachten, so würden uns nicht alle Welt sehen. Wir bekamen eine große Einkaufstasche mit, in der man das Bier problemlos verstauen konnte. Befüllt war die Tasche fürchterlich schwer und schwebte aufgrund unserer geringen Größe nur wenige Zentimeter über dem Boden. Wir mussten im gleichen Rhythmus gehen, weil sie sonst anfing zu schlackern. Wenn sie schaukelte, klapperten die Flaschen aneinander und sie schlug uns abwechselnd gegen die Beine. Das verursachte nicht nur Schmerzen an den Beinen, sondern war uns entsetzlich peinlich, weil wir glaubten, jeder würde wissen, dass in der Tasche Bier für unsere Eltern transportiert wurde.
Da gingen wir schon lieber zum Bauern. Dort holten wir Eier und Milch. Manchmal war die Milch sogar noch warm. Wir lagen immer im Wettstreit, wer die Milchkanne am längsten kreisen lassen konnte, ohne einen Tropfen zu verschütten. Selbstverständlich hatte unsere Milchkanne keinen Deckel. Selten ging dabei etwas schief. Die Milch, die wir nicht tranken, wurde auf einer Fensterbank in die Sonne gestellt. Nach kurzer Zeit wurde daraus Dickmilch, die wir mit Zimt und Zucker genossen.
Einmal musste der Bauer uns aus der Bredouille helfen. Mein Vater hatte bei einem Skatturnier ein lebendes Huhn gewonnen, das er mit nach Hause nahm. Er brachte es nicht fertig, ihm den Hals umzudrehen, und so wohnte das Huhn eine Weile auf unserer Toilette und wir schlossen Freundschaft mit ihm. Es guckte uns immer so an, als verstünde es, was wir zu ihm sagten. Wir hätten nichts dagegen gehabt, wenn unser Huhn zum Haustier geworden wäre, aber unsere Eltern meinten, das sei kein Zustand. Sie brachten das Huhn zu unserem Bauern und der hackte ihm den Kopf ab. Wir mussten unseren Freund, das Huhn, essen. Normalerweise mochten wir Hühnchen sehr gerne, aber dieses spezielle schmeckte überhaupt nicht. Keinem von uns.
Meine Mutter wurde wieder schwanger und diese Wohnung damit auch zu klein. Glücklicherweise zogen unsere direkten Nachbarn aus. Mein Vater bekam die Genehmigung, diese Wohnung unserer anzugliedern. Im Flur wurde ein Loch in die Wand gestemmt. Das gab einen Haufen Dreck und war sehr laut. Der feine Staub von den zerschlagenen Mauersteinen legte sich überall hin, sodass alles aussah, als wäre es mit Puderzucker bestäubt. Es roch staubig und fühlte sich an wie Schmirgel. Wir mussten danach erst mal gründlich putzen.