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Pompöser Empfang auf Helgoland für den skandalumwitterten Journalisten Casimir Dorst. Sein Bericht soll die Insel von ihrer besten Seite zeigen - hoffen die Insulaner. Doch die Tour läuft nicht nach Plan. Dorst wird tot in der Kapitänssuite aufgefunden. Videos von der Insel und über Widerständler im Zweiten Weltkrieg sind nicht auffindbar. Kommissarin Friederike von Menkendorf und Harry Kruss von der Wasserschutzpolizei können der Noch-Ehefrau und dem geprellten Geschäftspartner nichts nachweisen. Liegt der Schlüssel in den verschwundenen Aufnahmen?
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Seitenzahl: 423
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Susanne Ziegert
Verrat auf Helgoland
Kriminalroman
Mord in der Kapitänssuite Mit Top oder Flop betitelt der skandalumwitterte Journalist Casimir Dorst seine Reisevideos, die ein Millionenpublikum erreichen. Pompös wird er auf Helgoland empfangen, ein positiver Bericht soll den Tourismus ankurbeln – hoffen die Insulaner. Aber sein Aufenthalt verläuft nicht so wie geplant, Helgoland könnte als »Flop« im Video mit ätzendem Spott bedacht werden. Doch alle Aufnahmen von der Insel und ein Video über den Widerstand im Zweiten Weltkrieg sind verschwunden, als Dorst leblos in seinem Hotelzimmer gefunden wird. Offensichtlich Mord. Die Ermittlungen übernehmen Polizeihauptkommissarin Friederike von Menkendorf, die auf der Insel ihren Urlaub verbringt, und ihr Freund Harry Kruss von der Helgoländer Wasserschutzpolizei. Allerdings können sie der Noch-Ehefrau des Toten ebenso wenig nachweisen wie dem geprellten Geschäftspartner. Ging es um einen Skandal, den der Journalist in der Vergangenheit beim Fernsehen ausgelöst hatte? Oder liegt der Schlüssel in den verschwundenen Aufzeichnungen?
Susanne Ziegert wurde im Erzgebirge geboren. Zwei Tage vor dem Mauerfall floh sie in den Westen, um endlich Paris zu sehen. Nach ihrem Studium in Aix-en-Provence in Südfrankreich, arbeitete sie mehrere Jahre in Brüssel und zog im Anschluss nach Berlin, wo sie eine Stelle als Reporterin bei der Berliner Morgenpost antrat. Seit 2019 lebt die Autorin mit ihrem Ehemann sowie den gemeinsamen Pferden und Eseln in einem alten Bauernhof im Landkreis Cuxhaven. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit ist sie als Journalistin und Dolmetscherin für Französisch tätig. Sie liebt Land und Menschen im Norden und setzt mehrmals im Jahr auf die Hochseeinsel Helgoland über.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © xiduu / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3042-3
Das Schiff hatte angelegt, Menschen strömten von Bord. Jana Falke hielt Ausschau nach ihrem berühmten Gast. Ihr Blick blieb an den eisblauen Augen hängen, die sie an einen Husky erinnerten. Im Fernsehen hatte er größer ausgesehen. Er war klein und schmal wie ein Junge. Aus der Nähe sah seine Gesichtshaut aus wie zerknittertes Papier. Bestimmt trug er in seinen Sendungen eine dicke Schicht Make-up, die ihn um zehn Jahre verjüngte. Sie hatte gestutzt und den Moderator erkannt, als er vom Steg der MS Nordsee an Land stieg. Suchend sah er sich am Anleger um. Jana löste sich aus dem Begrüßungskomitee und trat einen Schritt auf ihn zu.
»Herr Dorst, herzlich willkommen iip Lunn. Das heißt ›in unserem Land‹ auf Helgoländisch«, begrüßte sie ihn lächelnd. Dann drehte sie sich zu den Musikern um. Das wäre ihr Einsatz, so hatten sie es geplant, und bei der Probe war es gut gelaufen. Warum, verdammt, spielten die nicht? Nervös nestelte sie an der herzförmigen Brosche, kontrollierte den Sitz der Haube und suchte Blickkontakt zur Gruppe.
»Einsatz«, versuchte sie, ihnen zuzuflüstern. Sie und die anderen Damen vom Trachtenverein wollten bei seiner Ankunft das Lied »Helgoland, Helgoland« anstimmen. Sie fuchtelte mit dem Arm in ihre Richtung, um das Signal zu geben. Die Musiker bemerkten ihre Zeichen nicht, sie waren dabei, eine Gitarre näher zu inspizieren. Der prominente Gast sah mit zusammengekniffenen Augen auf seine klobige Uhr, irgendein Schweizer Statusding. Eine junge blonde Frau mit hohen Absätzen trat vom Steg zu ihm.
»Wird hier eine Historien-Schmonzette gedreht?«, fragte er statt einer Begrüßung und ließ seinen Blick verächtlich über ihre bunten Kleider schweifen.
Hektisch ruckelte Jana am Spitzenbesatz ihrer Haube. Warum fiel ihr keine schlagfertige Antwort ein? In dem Moment setzte der dünne Chorgesang ein, etwas schrill und neben der Melodie. Die Musiker schreckten auf, begannen zwei Takte nach den Sängern und versuchten, diese einzuholen. Sie wirkten wie ein unkoordiniertes Schülerensemble. Jana bekam Gänsehaut von den schrägen Tönen, am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Stattdessen lächelte sie tapfer weiter.
Wortlos schüttelte Dorst den Kopf und drehte sich zu seiner Begleitung. »Na, ausgekotzt?«, sprach er die blonde junge Frau im bauchfreien Glitzerhemdchen über einem knappen Rock an. Sie war blass.
»Oh, Dirndl. Das trag ich immer zum Oktoberfest«, rief sie mit Begeisterung aus.
»Das Zeug kommt aus der Mottenkiste, genau wie die Trägerinnen«, ätzte der Mann weiter. Er wandte sich Jana zu: »Sind Sie nur der Kleiderständer für das da oder können Sie uns ins Hotel bringen?« Geringschätzig deutete er auf ihre Traditionskleidung mit dem geblümten Oberkleid aus Seidenstoff im gleichen Muster wie die spitze Haube und dem roten Paik aus Wolle darunter, dessen orangefarbener Rand herausschaute. Die Festtagskleidung hatte ihre Großmutter wie einen Schatz gehütet. Eine der wenigen Kostbarkeiten, die Bombardements und Evakuierung überdauert hatten. Der hatte keine Ahnung, wie bedeutsam diese Stücke für die Helgoländerinnen waren.
Am liebsten hätte sie ihm alles Mögliche an den Kopf geworfen. Sie atmete tief durch und sah durch ihn hindurch, obwohl sie innerlich kochte. In solchen Momenten hieß es, Profi sein. Ihr Job lag ihr am Herzen.
»Schön, dass Sie unser Empfangskomitee schätzen«, entgegnete sie kühl. »Wir gehen in Richtung Hummerbuden und am Südstrand entlang, direkt am Lung Wai sind Sie im besten Haus am Platz untergebracht.«
Jana wusste, wie lange sich die Frauen auf den Auftritt vorbereitet hatten. Doch sie musste das Programm abkürzen, der Gast war König. Selbst wenn er ein Kotzbrocken war.
»Keine Pannen«, hatte der Tourismus-Direktor ihr vor der Ankunft von Casimir Dorst eingeschärft. Er war einer der bekanntesten deutschen Fernsehjournalisten gewesen und dann abgesetzt worden. Über die Gründe gab es Spekulationen. Wenige Monate darauf feierte er ein Comeback als Ein-Mann-Show mit dem Youtube-Kanal unter dem Namen »Roadtrip. Top oder Flop«. Von seinen Einschaltquoten konnten Fernsehsender nur träumen, er galt als mächtigster Reisejournalist Deutschlands und war ebenso gefürchtet. Sie sollte alles dafür tun, den Standort glänzend darzustellen.
»Alles«, hatte ihr Chef, Karsten Tollmann, noch mal betont und dabei mit dem Zeigefinger in die Luft gestochen. Insbesondere sollte sie verhindern, dass er ätzenden Spott auskippte. Helgoland durfte nicht als »Flop« über Millionen Bildschirme flimmern. Gerade diese hämischen Berichte brachten dem Kanal Einschaltquoten. Für die betroffenen Orte oder Hotels waren die Verrisse vernichtend. Helgoland brauchte nach den Corona-Beschränkungen dringend wieder Rückenwind als Reiseziel.
Schon in den vorhergehenden Jahren waren die Zahlen nicht berauschend gewesen. »Keine Ahnung, wie ich dem Gemeinderat die Marketing-Stelle weiter erklären soll«, hatte Tollmann eine Drohung fallen lassen.
Mit dem Umzug auf die Insel ihrer Kindheit hatte Jana sich einen Traum erfüllt. Obwohl sie das turbulente Hauptstadtleben in Berlin genoss, war die Sehnsucht nach der Felseninsel immer präsent. Und nicht zuletzt vermisste sie ihren starrköpfigen Großvater, der sich standhaft weigerte, in eine altersgerechte Behausung auf dem Festland zu ziehen. »Nicht einmal mit den Beinen zuerst verlasse ich meine Heimat«, sagte er.
Der Job kam wie gerufen. Sie hatte ihre Wohnung in der Hauptstadt aufgelöst und keinen Plan B geschmiedet. Sie war auf die Insel gezogen, um zu bleiben. Ohne diese Stelle würde es schwierig, weiter hier zu leben. Also musste sie dem Fernsehheini nach dem Mund reden und allen Luxus auffahren, den eine Nordseeinsel zu bieten hatte.
Sie seufzte und versuchte krampfhaft, ihr professionelles Lächeln beizubehalten. Ihr Kollege hatte das Gepäck in einem Karren eingesammelt.
»Folgen Sie mir«, bat sie und lief flott in Richtung des Hotels voran. So musste sie sich nicht mit den beiden unterhalten. Das Fünfsternehotel befand sich in der ersten Reihe im Unterland und warb mit seinem Panoramablick über die Landungsbrücken und den Südstrand bis zur Düne. Vor dem Binnenhafen machte sie kurz halt und wartete auf die Gäste. »Sie sehen hier die berühmten Hummerbuden. Früher waren es die Lager für die Fischer, heute befinden sich darin Boutiquen, Galerien und Vereine.«
»Wie charmant«, begeisterte sich seine Assistentin.
»Na, du findest jeden Hafenschuppen charmant. Das sind angemalte Holzbuden – und die sind genauso echt wie deine Fingernägel«, kanzelte er sie ab. Dabei imitierte er sie mit unnatürlich hoher Stimme. Die junge Frau zuckte zusammen und schwieg. Er blickte auf sein Mobiltelefon, während sie an den bunten Häuschen vorbeiliefen.
»Hier sind wir«, verkündete Jana, als sie das Hotel Prinzessin Alexandra erreicht hatten, das letzte Gebäude in der Reihe, das an der Ecke zum Lung Wai einen imposanten Abschluss formte. Das Hotel war in den 50er Jahren auf dem Grundstück des zerstörten Vorgängerbaus mit dem gleichen Namen errichtet worden.
»In dem Kasten sollen wir wohnen?«, fragte er beim Anblick seiner Unterbringung. »Wollten Sie uns die Bausünden der Insel zeigen?«
»Eines der besten Häuser am Platz«, parierte Jana ohne eine Miene zu verziehen, obwohl es innerlich in ihr brodelte. Was für ein arroganter Schnösel!
»Die Insel ist bekannt für ihren Bauhausstil, das ist der Geschichte geschuldet. Alles war zerstört. Hier finden sie ein gelungenes Beispiel für den Aufbau.«
»Nichts ist so hässlich wie die 50er.« Verächtlich wanderten seine Blicke über die Fassade.
Zum Glück kam in dem Moment die Hotelchefin, Inge Berger, aus der Tür, auch sie trug die traditionelle Tracht der Helgoländerinnen.
»Herzlich willkommen, es ist uns eine große Ehre«, erklärte sie den Besuchern. Sie winkte einen jungen Mann zu sich, der mit einem Tablett auf die Gäste zutrat. Champagner und Gläser standen darauf, die Wirtin nahm die Flasche an sich und löste den Korken, der in die Blumenrabatte flog. Dann reichte sie den Gästen jeweils einen gefüllten Kelch und goss sich ebenfalls ein. Jana bot sie nichts an.
»Danke, ich trinke nicht im Dienst«, überspielte sie die Situation.
»Ein Prosit auf die Insel«, sagte die Hausherrin enthusiastisch und hob ihr Glas. Dorst nippte, hustete und kippte die Flüssigkeit auf den Rasen neben dem Eingang. Den leeren Kelch knallte er wortlos auf das Tablett.
»Könnten wir jetzt unsere Zimmer beziehen.«
»Schmeckt der Champagner nicht?«, fragte die Hotelchefin besorgt. »Ich bin ein großer Fan von Ihnen, schon seit damals, als sie im Fernsehen waren. Ich habe keine Sendung verpasst, genial!«
Er nickte gnädig zu ihren bewundernden Worten. »Ich zeige Ihnen die Kapitänssuite. Das ist eine Maisonette-Wohnung. Der Blick von oben ist einmalig schön.« Sie ging voran in das Hotel. Dorst und seine Assistentin folgten ihr in den Aufzug, die Tür schloss sich, bevor Jana ihren Fuß hineinsetzen konnte. Sie hörte die Hotelchefin werben.
»Sie müssen unbedingt zur Gedenkfeier kommen. Mein Großvater war ein bekannter Nazigegner hier auf der Insel. Allerdings bekam die Familie nach dem Tod keinerlei Anerkennung. Das ist ein Skandal, über den sie berichten könnten.«
Was redete die da? Diese Veranstaltung war in dem vollen Programm nicht vorgesehen.
Jana ging die Treppe hinauf, denn sie musste die Planung absprechen und verhindern, dass die Hotelchefin ihr dazwischenfunkte. Sie hatte eine andere Version der Familiengeschichte gehört. Sie wusste von hingerichteten Nazigegnern, die mit Stolpersteinen geehrt wurden. Mehrere der Steine lagen am Lung Wai, an Gedenktagen legten Unbekannte dort Rosen ab. Der Großvater von Inge Berger war ihres Wissens kein Teil dieser Bewegung gewesen. Betrieb die Frau eine Legendenbildung? Das würde sie ihren eigenen Opa fragen. Vor allem sprengte die Einladung der Unternehmerin an den Journalisten ihr vorbereitetes Programm für Drehs an besonderen Orten und Interviews mit Insulanern. Sie stand vor der geschlossenen Zimmertür und klopfte. Unschlüssig hielt sie die Mappe in der Hand, denn er hatte sie kommentarlos stehen lassen. Zum Glück öffnete ihr die Assistentin, und sie überreichte ihr den Ablaufplan.
»Könnten Sie mir baldmöglichst sagen, welche Punkte Herr Dorst für den Dreh wahrnehmen möchte?«
Die junge Frau nahm das Dokument freundlich lächelnd an sich. »Ich bespreche das mit ihm.« Jana drückte ihr die Visitenkarte in die Hand. Ihr graute vor den kommenden drei Tagen mit diesem aufgeblasenen Wicht.
Rotes Tagebuch
Helgoland, 16. Oktober 1944
Wie hat sich unser liebliches Eiland verändert. Ich sehe noch die Gäste vor mir, die mit Sonnenschirm über die Strandpromenade flanieren. Badehäuschen am Strand, Kapellen spielten in den Cafés auf, und am Abend lud das Kurhaus zu einem vornehmen Ball. Als Kinder liebten wir es, die feinen Herrschaften in ihrer Abendkleidung zu beobachten. Uns ging es gut, eine Zeit des Wohlstands und des Friedens. Nun erkenne ich unseren Felsen nicht wieder. Auf den Straßen trifft man selten Helgoländer. So viele Soldaten wurden auf die Insel verlegt, der Hafen zum Marinestandort ausgebaut. An manchen Tagen ist der Baulärm kaum mehr zu ertragen, unter uns wächst das Bunkerlabyrinth. Sie schlagen Stollen, bis die gesamten Felsen innerlich ausgehöhlt sind. Die Häfen liegen voller Kriegsschiffe.
Unsere Nachbarn sind fast alles Hurraschreier oder Ängstliche, kaum ein Haus, an dem keine Hakenkreuzfahne weht.
Die Quittung haben wir bekommen. Schon von Weitem war gestern das gefährliche Dröhnen der Flugzeuge zu hören. Die britischen Bomber griffen den Felsen an, der Himmel verdunkelte sich, und es regnete Metall. Splitterbomben gingen auf die Häuser nieder, ließen die Dächer zerbersten und die Wände, bis nur mehr Trümmerhaufen daran erinnerten, dass eine Familie darin gewohnt hatte. Minna Rungolt und ihre Kinder wurden verschüttet, wahrscheinlich sind sie tot. Die Kaiserstraße gleicht einem Geröllhaufen. Bislang sind 20 Menschen gestorben oder vermisst, andere verletzt, die meisten obdachlos. Was soll nur aus uns werden?
Es heißt, dass der Inselkommandant und seine rechte Hand Sprengstoff an Bunkereingängen angebracht haben. Wenn die Engländer kommen und die Insel einnehmen, fliegt der ganze Felsen in die Luft. Was wird dann mit uns? Wir zählen nicht für diese braunen Unmenschen.
Wer ist unser Feind? Waren wir Helgoländer nicht bis vor 50 Jahren treue Gefolgsleute der britischen Krone? Sicher, wir sind Friesen, aber viele von uns stehen den Engländern nahe. Wir sind uns einig, unser Freundeskreis von der Insel ist gegen den Krieg. Nach dem schrecklichen Angriff haben sie sich bei uns getroffen und beraten. Wir müssen die mörderische Maschine stoppen und unsere Insel retten. Wir haben aus guter Quelle gehört, dass der Inselkommandant von den Briten aufgefordert wurde, sich zu ergeben. Er hat es abgelehnt. Einer der Getreuen des Oberlippenbartes! Sie wollen kämpfen bis zum letzten Blutstropfen. Was für eine gefährliche Verblendung!
Die Männer sind dabei, eine Strategie auszuhecken. Die Sprengsätze haben sie unschädlich gemacht. Nun geht es darum, die Friedensfahne zu hissen. Die Offiziere sollen entwaffnet und in Haft genommen werden, dann melden wir unseren britischen Freunden die bedingungslose Kapitulation. Die Insel friedlich übergeben. Einer hat den Kontakt. Namen nenne ich lieber nicht, auch wenn das rote Büchlein in einem sicheren Versteck liegt.
Was ich hier aufschreibe, ist Hochverrat. Möge meine Niederschrift niemals den Falschen in die Hände fallen. Und mögt ihr, liebe Kinder und Enkel, eines Tages von unserem Kampf erfahren. Wir versuchen, eine schreckliche Bedrohung für die Heimat abzuwenden. Wir werden Helgoland immer im Herzen bewahren. Möget ihr in Zukunft in Frieden hier leben!
Ein letztes Mal zupfte sie den Blumenschmuck in der Halle zurecht, kontrollierte die Sauberkeit des Empfangstresens, die Uniform der Mitarbeiter. Sie hatten die Spuren der nächtlichen Attacke restlos beseitigt. Irgendein Spaßvogel hatte ihnen ein Plakat vor die Fassade gehängt. »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«, stand darauf in großen roten Buchstaben. Daneben saßen gierig aussehende Figuren aus Pappmaschee mit grotesk aufgerissenen Mündern, aus denen Austern und Kaviar quollen. Sie wunderte sich nicht. »Neid muss man sich erarbeiten«, hatte ihr Lehrmeister einst gesagt. Sie hatte wie immer die Ärmel hochgekrempelt und angepackt, jetzt war alles wieder aufgeräumt und rein.
Sie beugte sich zu ihrem Kater und streichelte ihn, dann nahm sie ihn auf den Arm. Er sträubte sich, strampelte, sie setzte ihn schnell wieder nach unten. »Wladi, was bist du für ein launisches Aas.« Sie sah ihm hinterher, als er langsam durch die Halle stolzierte.
So lange hatte sie auf einen solchen Moment gewartet. Es ging darum, den Schmutz von ihrem Namen zu waschen, Gerechtigkeit für ihre Familie, ihren Großvater. Er war Nazi, hieß es, ein 180-Prozentiger. Angeblich ein Denunziant. Nicht wenige glaubten, deshalb auf sie hinabschauen zu dürfen. Sie waren ja die Nazifamilie. Die hatten keine Ahnung, was er geleistet hatte!
Sie läutete die Glocke an der Rezeption, um ihre Mitarbeiter zusammenzutrommeln. Diese Zimmermädchen, man musste ihnen auf die Finger schauen, zu faul zum Bücken. Clara kam als Erste, immer hatte das Mädchen diese unmöglichen Kopfhörer auf. Aus dieser Praktikantin würde nie eine gute Reinigungskraft. Anna folgte ihr auf dem Fuß. »Ist die Suite einwandfrei? Sauber bis unter die Möbel und in den Ritzen?«, vergewisserte sie sich.
Beflissen nickte Anna: »Jawoll, alles blitzeblank!« Diese Clara stand mit verschränkten Armen daneben, sah sie aufsässig an. Am liebsten hätte sie die Lütte sofort vor die Tür gesetzt, aber das gäbe nur Ärger mit dem Naturschutzverein, wo ihre Mutter tätig war, und den konnte niemand gebrauchen.
»Und was hast du gemacht?«, fragte sie das Mädchen. »Den Besen geschwungen, den Lappen gerungen.« Clara grinste frech und wippte auf den Fußspitzen. Sie trug ihre Antwort vor, als wäre es einer dieser neumodischen Rapsongs, wie sie öfter im Fernsehen gezeigt wurden. Für wen hielt sich das Gör?
»Sehr witzig, gleich vergeht dir das Lachen, wenn du endlich mal die Schränke oben abwischst und unter dem Bett saugst.«
Sie beließ es dabei, denn der Oberkellner eilte auf sie zu. »Ist der Champagner bereit?«
»Die Flasche steht kühl, alles vorbereitet.«
»So ist es recht, wieder an die Arbeit«, sagte sie und zog sich auf den Beobachtungsposten im Büro hinter der Rezeption zurück. Sie hatte den Eingang im Blick und betrachtete einen Moment lang ihre Ahnengalerie. Natürlich war ihr Großvater in der Partei, das waren sie alle damals, hatte ihre Oma berichtet. Innerlich war er zutiefst gegen die Nazis. Er wollte den Krieg beenden, die Insel friedlich aufgeben. Doch er war nur die rechte Hand des Inselkommandanten, hatte als Korvettenkapitän nicht die Macht, eine solche Entscheidung zu treffen. Ihm drohte gar die sofortige Hinrichtung.
Sie sah sich die Buchungsdaten an. Drei ganze Tage würde sie Zeit haben, diesen Journalisten von den Verdiensten ihres Großvaters zu überzeugen. Sogar einen Empfang und eine Pressekonferenz hatte sie vorbereitet. Ihm war es zu verdanken, dass Tausende Zivilisten gerettet wurden. Nach dem verheerenden Bombenangriff mussten sie die Insel verlassen. Alles war zerstört, Trümmer, tote, verletzte und panische Menschen. Sie kamen wohlbehalten auf dem Festland an, er hatte die Schiffe angefordert, die Flüchtlinge von der Insel sicher nach Cuxhaven gebracht.
Nach dem Krieg musste er ins Internierungslager, Entnazifizierung. Seine Leistungen waren vergessen. Immer ging es nur um die Verschwörer. Sie schnaubte verächtlich. Das war eine Chaotentruppe, was hatten die schon bewirkt? Und jetzt gab es Gedenksteine für diese Personen, jedes Jahr lagen darauf Blumen, Festakte wurden abgehalten. Ihr Großvater hätte ein Denkmal verdient, zumindest einen solchen Stein, wie diese Widerständler bekommen hatte. Dabei hatten die nicht mal einen Plan – und sie handelten gegen das Gesetz. Das durfte sie ja nicht laut sagen, schon galt man als Staatsfeind.
Casimir Dorst war genau der Richtige, der scheute sich nicht davor, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Die falsche Geschichtsschreibung anzuprangern. Sie würde alles tun, um ihn zu überzeugen. Und dann würden Millionen Zuschauer von den Heldentaten ihres Vorfahren erfahren. Sie sprang auf, denn sie sah die kleine Gruppe auf das Hotel zulaufen.
»Es ist so weit«, rief sie in Richtung Restaurant. »Schnell den Champagner und die Gläser.« Sie straffte sich und schritt entschlossen auf Casimir Dorst und seine Begleiter zu.
Eine Prise Seewind war genau das Richtige, um über diese Bande nachzudenken, die auf der Insel ihren Schabernack trieb. Harry saß am Schreibtisch, der Tourismus-Chef hatte ihm am Telefon lautstark die Meinung gepaukt. »Eine Blamage für Helgoland.« Er hatte den Hörer ein Stück vom Ohr weggehalten, vermutlich war das Gebrüll noch einen Raum entfernt zu verstehen. »Wie kommt es, dass die Spaßvögel die Polizei seit Monaten in die Irre führen.« Das ging in einer Tour so weiter. Als es still wurde, sagte Harry nichts außer: »Hmmm. In der Tat.«
Das war ihm zu dämlich, die Proteste hatte die Inselregierung durch ihre Politik zu verantworten – und dieser Wutknilch hatte ihm ohnehin nichts zu sagen.
»Ebenfalls einen schönen Tag«, hatte er sich verabschiedet und aufgelegt, mit einem Grinsen dachte er daran, was sich vermutlich im Rathaus 500 Meter weiter abspielte. Der Typ schäumte bestimmt. In einem Punkt hatte dieser Tollmann recht. Er hatte keine Ahnung, wer hinter diesem Protest stand.
Über Nacht hatten die Täter den Eingang des Hotels Prinzessin Alexandra komplett mit rotem Flatterband verschlossen, Müll ausgekippt. Zu allem Überfluss hatten sie aus Müllteilen und Pappmaché menschengroße Skulpturen geschaffen. Es waren grotesk fette Personen mit runden Köpfen und Speckrollen wie Michelinmännchen. Die Frauen trugen übermäßig viel Schmuck auf feisten Gliedmaßen. Über all dem prangte ein Brecht-Zitat »Erst kommt das Fressen, dann die Moral«. Es war die dritte Aktion in Folge – zuvor hatten Figuren und Banderolen ein Gästehaus blockiert, das früher Wohnungen für Insulaner beherbergt hatte. Immerhin war es friedlich – und das fiel seines Ermessens nach ohnehin unter freie Meinungsäußerung.
Eine Runde segeln würde ihn auf andere Gedanken bringen. Salziges Wasser auf der Haut und die endlose Weite der Nordsee vor sich. Dann schrumpfte jedes Ärgernis zu einem Problemchen. Dabei störte ihn die Aktion dieser Gruppe weniger als der dreiste Tonfall des Tourismus-Chefs.
Sein Ärger verflog, als er den Steg im Hafen betrat. Er ging zu seinem Segelschiff, der Mariannic’k, lüftete die Plane und bereitete seine abendliche Tour vor. Nachdem er die Leinen gelöst hatte, steuerte er aus dem Hafen und setzte die Segel. Der Wind führte ihn in Richtung Festland. Die Sonne tauchte die glatte Wasseroberfläche in goldenes Licht, er atmete tief die saubere Luft ein, genoss das Dahingleiten.
Ihm kam die erste Aktion der Gruppe in den Sinn. Vor dem Krankenhaus hatten kleine Robbenskulpturen gelegen, mit dem Hinweis »Ein Paradies für Heuler, Helgoländer können aussterben«. Das war vermutlich ironisch gemeint. Sie hatten sich das angesehen und einen Zusammenhang zur Schließung der Geburtsstation auf der Insel vermutet. Das empfanden viele Insulaner als Einschnitt, es bedeutete, dass niemand mehr in ihrer Heimat geboren wurde. Auch Harry teilte die Bedenken. Doch wer diese Aktionen aus dem Boden stampfte, ohne dass es in ihrem Dörfchen bemerkt wurde, war ihm ein Rätsel.
Der Staatsanwalt und die Kriminalpolizei hatten ihn beinahe ausgelacht, als er externe Ermittler anforderte. Eine solche Spaßaktion sollten die »Inselbullen« gefälligst selber klären. Auf dem Festland hatten sie Wichtigeres zu tun. Das verstand er zwischen den Zeilen. Ihre Arroganz überhörte er einfach, um nichts in der Welt hätte er seine Stelle gegen einen hoch dotierten Posten auswärts getauscht.
Die Segel bauschten sich unter dem Wind, seine alte Dame nahm Fahrt auf, er musste sich dagegenstemmen, um das Boot in der Balance zu halten. Dahinfliegen durch das grenzenlose Blau, die Kraft der Natur spüren. Solche Momente empfand er als höchstes Glück. Er raste auf den Wellen dahin, bis er Cuxhaven erkennen konnte. Langsam war es an der Zeit zurückzukehren. Eilig hatte er es nicht, seit sich dieser Fernsehfuzzi angekündigt hatte, war seine Freundin Jana kaum zu Hause. Bis spät in den Abend tagten sie im Rathaus, um den Felsen gut zu präsentieren. Die Chefs hatten ihr gedroht, dass sie ihren Job verlieren würde, wenn das schiefging. Sie liebte ihre Arbeit, wahrscheinlich war sie deshalb so panisch. Auf dem Rückweg schlug er noch einen Bogen vor der Düne, um die Kegelrobben zu beobachten. Ihn faszinierten diese imposanten Raubtiere. Wie Felsen bedeckten sie den Sandstrand, nun kam Bewegung in die Gruppe. Überraschend schnell bewegten sich die Tiere auf der Erde in Richtung Wasser. Eine Robbe nach der anderen tauchte ab, bis der Strand fast leer war. Neben dem Boot hörte er ein Schnaufen und entdeckte einen Kopf mit Schnurrbart in wenigen Metern Entfernung. Er sah der Gruppe einen Moment beim Baden zu, legte dann das Ruder um, sodass er wieder Kurs auf den Hafen nahm. Am Steg machte er fest, zog die Segel ein und räumte alles an seinen Platz. Behutsam verhüllte er das hölzerne Verdeck mit einer Plane. Pfeifend lief er über den Invasorenpfad ins Oberland zu Janas Haus. Ihre Schuhe standen nicht im Vorraum. Sie war spät im Einsatz. Sein Blick fiel auf einen Zettel am Telefon:
»Bitte Friederike von Menkendorf zurückrufen.« Er hatte keine Ahnung, von wann die Nachricht stammte. Lange hatte er nichts von der Freundin gehört. Vermutlich war er ihr zu nahegetreten, als er seine Gefühle in einem Schreiben gestand. Sie hatte nie darauf geantwortet, allein das war eine Antwort. Vor einigen Monaten hatte sie ihn kontaktiert und über ihren Fall berichtet.
Überrascht hörte er die Freude in ihrer Stimme, als er sie anrief.
»Mein Inselkommissar«, rief sie fröhlich aus, anders als bei ihrem letzten Gespräch vor Monaten.
»Rike, du hast angerufen?«
»Schön, doch von dir zu hören. Ich komme morgen auf die Insel und möchte dich treffen.«
Er fühlte sich etwas überrumpelt, da sie sich nicht vorher angekündigt hatte. »Schön, dass du kommst. Ist es beruflich?« Im Hintergrund hörte er Prinz bellen. »Soll ich später anrufen?«
»Nein, bleib dran. Ich möchte mich erholen. Es wird ein reiner Urlaub. Egal, was passiert und wenn es Fälle regnet, werde ich pausieren. Außerdem habe ich nicht auf deinen Brief geantwortet. Entschuldige bitte, es ging nicht. Wir sollten persönlich darüber sprechen.«
Harry musste husten. Dieses Schreiben! Damals kannte er Jana nicht. Rike war seine große Liebe, schon während der Ausbildung. Als sie ihren gemeinsamen Fall lösten, waren seine Gefühle für sie wieder aufgeflammt. Doch sie hatte diese nicht erwidert. Sie war nie auf seine Worte eingegangen. Das hatte ihn enttäuscht, warum hatte sie gar nicht geantwortet? Harry hatte mit dem Kapitel abgeschlossen, er war ja kein Masochist. »Ich weiß nicht …«, begann er. Er ärgerte sich, dass er das nicht rundweg abgelehnt hatte.
»Sorry, ich falle mit der Tür ins Haus. Am besten, wir reden, wenn ich da bin. Nimmst du mich mit auf eine kleine Segeltour?« Das klang so freudig, dass ihm das Nein nicht über die Lippen kam. Er überlegte, wie er ihr von der Beziehung mit Jana erzählen sollte. »Rike, da wäre etwas …«
»Keine Sorge, ich habe mir selbst eine Ferienwohnung gebucht. Morgen kommen wir mit der MS Nordsee. Holst du uns ab?«
Er fühlte sich zu überrascht, um Nein zu sagen. Da er Dienst hatte, würde er sie in seiner Pause abholen und ihr dann von seiner Freundin erzählen.
»Tschüs, mein Lieber, bis morgen«, rief sie, bevor es tutete. Was war in seine Studienfreundin gefahren? Dieses Verhalten schien ihm vollkommen untypisch für Rike.
Es war wie ein Déjà-vu. Wieder schubsten sich Jugendliche einer Schulklasse beim Anstehen vor der MS Nordsee. Rike fühlte sich an ihren letzten Ausflug auf die Insel erinnert und die tragischen Ereignisse, die dem gefolgt waren. An diesem Junitag strahlte die Sonne, das Meer zeigte sich in tiefem Blau mit glitzernden Einsprengseln aus Licht. Die Menschen in der Schlange vor dem Schiff am Kai bewegten sich gemächlich auf den Einstieg zu. Prinz war wenig motiviert, er hatte die stürmische Anreise bei ihrem letzten Aufenthalt nicht vergessen.
»Na komm, Großer. Dieses Mal wird es richtiger Urlaub«, versuchte sie, ihren Hund zu motivieren. »Wir spielen am Strand und laufen über die Insel, Harry nimmt uns zum Segeln mit.« Hatte er geknurrt? Er ließ sich weiter in Richtung Schiff ziehen.
Helgoland war der richtige Ort, um die Seele baumeln zu lassen und über die Zukunft nachzudenken. Nachdem sie für einen Fall nach Cuxhaven abgeordnet wurde, könnte sie auf ihre alte Stelle in Hamburg zurückkehren. Sie hatte auch das Angebot, zur Cuxhavener Kriminalpolizei zu wechseln. Die Entscheidung fiel ihr schwer, eine Auszeit würde dabei helfen. Außerdem freute sie sich auf das Wiedersehen mit ihrem Freund Harry Kruss. Über ein Jahr war seit ihren gemeinsamen Ermittlungen vergangen. Vieles sah sie nach dem Tod ihres Schwagers Tom von Menkendorf klarer. Vor allem hatte sie mit den alten Zeiten abgeschlossen und war bereit, offen in die Zukunft zu sehen. Sie hatte nie auf Harrys Brief antworten können. Angesetzt hatte sie, doch jedes Wort hatte sich falsch angefühlt. Lange hatte sie gebraucht, den Verrat ihrer großen Liebe zu bewältigen. Noch schlimmer war es, nachdem sie hinter die Fassade geblickt hatte. Festzustellen, dass sie einem Traumbild nachgeweint hatte. Endlich war sie in der Lage loszulassen. Vielleicht war es zu spät, doch sie mochte Harry – und wollte ein Gespräch über all das auf sich zukommen lassen, sehen, was sich entwickelte.
Sie war bis zum Steg der MS Nordsee vorgerückt und begab sich an Bord. Sie fand einen Platz in ihrem Lieblingssalon an der Bar, von wo aus sie auf das hintere Deck nach draußen gelangte. Prinz streckte sich auf seiner Kuscheldecke unter dem Tisch aus.
»Herzlich willkommen auf der MS Nordsee. Es begrüßt Sie Ihre Kapitänin Ronja Berg. Wir wünschen eine wunderbare Überfahrt.« Rike war überrascht, sie hatte erwartet, Kapitän Michael Nickau auf der Brücke wiederzutreffen. Anders als bei ihrer letzten Anreise war die See spiegelglatt, der Himmel wolkenlos, die Sonne brannte auf der Haut. Sie stellte sich auf das Außendeck und beobachtete von dort das Ablegemanöver und die Fahrt entlang der Kugelbake in die Schifffahrtsrinne. Dann setzte sie sich und sah, wie die Alte Liebe und der Radarturm immer kleiner wurden, bis sie sich als winzige Schatten am Horizont abzeichneten. Der Anblick der See hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Schweinswale sprangen spielerisch aus dem Wasser, begleiteten das Schiff.
In der Ferne erspähte sie die Silhouette des Neuwerker Leuchtturms, sie passierten die Insel und das Vogelparadies Scharhörn mit der Hütte des Vogelwärters. Rike trank einen Cappuccino an der Bar, dann döste sie einen Moment auf ihrem Stuhl neben Prinz. Endlich entdeckte sie das Leuchtfeuer der Düne. Blau schimmerte die Badebucht vor dem Sandinselchen, dann fuhr das Schiff in den Hafen ein. Sie war nach draußen gegangen und atmete tief die saubere Inselluft ein. Ihr Blick ging zu den bunten Hummerbuden vor den roten Felsen. Alles sah aus wie früher, eine scheinbar kleine friedliche Inselwelt.
An der Anlegestelle entdeckte sie den Golf der Wasserschutzpolizei, und ihr Herz klopfte schneller. Wie schön, dass Harry sie abholen kam. Strahlend empfing er sie an der Schiffsrampe. »Rike, was für eine Überraschung. Gut, dass die Passagiere ausnahmsweise vollzählig sind.«
»Keine Vorkommnisse, Herr Kollege«, ging sie auf die Vorlage ein. »Ihr geht mit dem Fortschritt, habt jetzt eine Kapitänin an Bord.«
»Tja, Michael Nickau war nicht lange Schiffsführer. Das hast du sicher in der Presse verfolgt?« Er strich Prinz über den Kopf, dieser sprang bellend um ihn herum und dann an ihm hoch. Sie war so überrascht, dass sie die Erziehungsmaßnahmen vergaß. »Nein, was war denn mit ihm?«
»Ich hatte schon länger einen Verdacht, nur konnten wir ihm nichts nachweisen. Er war der eigentliche Drahtzieher des Kokainschmuggels an Bord des Schiffs. Aber er war geschickt – und hat die Schuld auf seinen Vorgesetzten geschoben.« Rike dachte nach. Sie hatten den Mann wegen der Mordfälle festgenommen, bevor sie den illegalen Drogentransport entdeckt hatten. Sie konnten ihm nichts nachweisen. »Wo wohnt Ihr denn?«, fragte er.
»Wieder in der gleichen Wohnung am Falm, wo ich letztes Mal war. Das gehört jetzt einer Kapitalgesellschaft und ist viel teurer. Aber ich liebe diesen herrlich weiten Blick über die Nordsee zur Düne«, schwärmte Rike.
Harry öffnete ihr die Tür und ließ sie einsteigen und lud ihren Koffer ein. Prinz kletterte auf den Rücksitz.
»Ich muss leider nach der Pause wieder zum Dienst«, erklärte er. Er fuhr über den Invasorenpfad am Krankenhaus vorbei zum Oberland und hielt vor dem Haus. Während Rike den Schlüssel mit einem Code aus dem Kästchen an der Tür entnahm, trug Harry das Gepäck an den Eingang. Sie schloss auf und er stellte den Koffer im Flur ab, blieb stehen. Rike ging in die Küche, um einen Kaffee zu machen. Harry trat von einem Fuß auf den anderen, sah auf den Boden und knetete seine Mütze. Das war ein untypisches Verhalten bei ihrem Studienfreund.
»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Rike. Er schien über etwas nachzudenken.
Er schüttelte schnell den Kopf. »Ach nichts. Ich muss los, wir sehen uns später«, verabschiedete er sich abrupt. Rike brühte sich einen Cappuccino und setzte sich ans Fenster. An der Mauer, die das Oberland begrenzte, standen Kübel mit Palmen. Dazwischen schimmerten die dunklen Dächer der verschachtelten Wohnhäuser auf dem Unterland, blau glitzerte das Meer zwischen den beiden Inselteilen. Sehnsuchtsvoll blickte sie auf das rot-weiße Seezeichen auf der Düne mit ihren Sandstränden. Das Türkis der Lagune leuchtete verlockend. Ein Strandtag wäre wunderbar. Genau dorthin würden sie heute übersetzen.
Bis spät in den Abend war die Besprechung über das Programm gegangen. Verschlafen hängte Jana das Tee-Ei in die Kanne und stellte die Uhr auf fünf Minuten. Sie dachte an den Tag, der vor ihr lag. Am Vormittag sollte ein Empfang im Rathaus stattfinden, der Tourismusdirektor ließ sich den Besuch einiges kosten. Anders als normal sterbliche Besucher wurde das Filmteam durch den Ort chauffiert, ein Fahrzeug des Insellogistikers war extra angemietet worden. Jana schlang ein Handtuch über ihre nassen Haare und goss sich eine Tasse Ostfriesenmischung ein. Mit dem Tablett ging sie auf ihre Terrasse und setzte sich in den Strandkorb. Ihr handtuchschmales Gärtchen war für Helgoländer Verhältnisse ein Luxus. Sie hatte das Glück gehabt, eine der Wohnungen in den Neubauten am Leuchtturm zu ergattern – und Harry wohnte seit zwei Wochen praktisch bei ihr. Er war zum Dienst gegangen, und sie genoss den ruhigen Moment. Jana sah prüfend in den Himmel. Blau mit Schäfchenwolken, das versprach ein wunderschöner Frühsommertag zu werden – ideal für Filmaufnahmen. Das Telefon klingelte, sie sah, dass ihr Chef anrief.
»Was steht an? Wie hat er die Nacht verbracht?«, wollte er wissen. Als würde sie vor der Zimmertür nächtigen.
»Vermutlich in junger Begleitung«, konnte sie sich nicht verkneifen. Dem Mann eilte sein Ruf voraus – und sie hatte festgestellt, dass die Vorwürfe gegen Dorst nicht aus der Luft gegriffen waren. Bei jeder Gelegenheit ließ er anzügliche Bemerkungen fallen, und Jana war heilfroh, dass er in Begleitung gekommen war.
»Er frühstückt, ich melde mich«, wimmelte sie ihren Vorgesetzten ab. Es war kurz vor 8 Uhr, seine Assistentin, Finja Kowalski, hatte ihr zugesagt, dass sie um 9 Uhr das Programm besprechen konnten. Sie zog sich an und sah sich noch mal kritisch im Spiegel an. Bloß keine Kleidung, die diesem Macho irgendetwas signalisierte. Sie war zufrieden mit der hochgeschlossenen Bluse und den Marlenehosen und begab sich auf den Weg. Um etwas Zeit zu gewinnen, nahm sie den Fahrstuhl ins Unterland, ihre Insel-U-Bahn, wie sie scherzhaft sagte.
Jana klopfte bei ihrem Großpapa, der in einem winzigen Haus in der Friesenstraße wohnte, das lag auf dem Weg zum Hotel. Nach der Rückkehr auf die Insel war sie bei ihm untergeschlüpft, doch die Gebäude aus der ersten Etappe des Wiederaufbaus waren nicht nur klein, sondern extrem hellhörig und schlecht gedämmt. Sie war froh, als sie endlich ihre eigene Wohnung bekam. »Groofoor, bist du da?«, rief sie.
»Ich komme.« Sie hörte eilige Schritte auf der Treppe von unten. Er war schon aktiv in seiner Werkstatt, wo er seine Feuersteinsammlung aufbewahrte. Er öffnete, und sein Gesicht hellte sich auf, als er sie sah.
»Guten Morgen, Opa«, sie drückte ihm einen Kuss auf die bärtige Wange. »Moin, Lütte«, brummte er. »Machst dir wieder Sorgen?«
»Ich habe in der Nähe zu tun und wollte fragen, ob du etwas brauchst.«
»Danke, Kleene, habe alles. Außer …«, er machte eine Pause und kratzte sich am Kopf. »Ein Schnäpschen zum Frühstück.«
»Opa, denk daran, was der Arzt gesagt hat«, sagte sie tadelnd, und er lachte schallend.
»Geh mal und singe das Loblied unserer schönen Insel.«
»Wird gemacht, Kapitän, ich komme morgen wieder«, verabschiedete sie sich. Mit Beklemmung ging sie zu ihrem schwierigen Kunden ins Hotel. Sie klopfte an der Zimmertür, Dorst öffnete und sah sie missmutig an. »Sie wünschen?«
»Ich würde gerne das Programm besprechen, das wir für Sie ausgearbeitet haben«, sagte sie so ruhig und selbstbewusst wie möglich. Wenn er glaubte, sie einschüchtern zu können, hatte er sich getäuscht. Dieser Mann wirkte so überheblich und unsympathisch, dass ihr das Lächeln schwerfiel, leider hing ihr Job davon ab, wie er die Insel in seinen Beiträgen darstellte. Also würde sie versuchen, professionell und konstruktiv zu bleiben.
»Kommen Sie«, er öffnete die Tür weit, um sie eintreten zu lassen. Es war ihr unangenehm, mit diesem Mann in einem Raum zu weilen, doch konnte sie die Einladung schlecht ablehnen. »Ist Frau Kowalski da?«
»Warum, haben Sie Angst vor mir?«, fragte er und sah sie aufmerksam an, als würde er ein seltenes Insekt beurteilen. »Nehmen Sie Platz«, bat er, zog einen Sessel für sie vor, deutete darauf und ging zur Anrichte, wo eine Flasche im Sektkühler stand. Er ließ den Korken knallen, entnahm die Flasche und füllte zwei Gläser. »Entspannen wir doch ein bisschen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich bin im Dienst.«
»Ach, wollen Sie gar nicht auf die Insel mit mir anstoßen? Das gehört sich so vor einer Reportage«, lockte er.
»Okay, ausnahmsweise ein Glas«, stimmte sie zu, denn er schien verärgert zu sein, und das musste sie um jeden Preis vermeiden. Er reichte ihr den Kelch. Widerstrebend stieß sie mit ihm an und nippte am Glas.
»Erzählen Sie doch mal, wie verschlägt es eine junge Frau wie Sie hierher?«
Jana rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Was für ein Spiel spielte er? Sie ignorierte seine Frage. »Was halten Sie denn von meinem Programm?«
Er ging wieder zur Anrichte und kam mit einer silbernen Dose auf sie zu. »Möchten Sie? Das macht Sie mal ein bisschen entspannter.«
Sie erkannte die Pillen, die sie schon häufig in Berliner Technoclubs gesehen hatte, und schüttelte wieder den Kopf. Er bediente sich und goss danach beiden Sekt nach.
»Auf Helgoland«, wiederholte er. »Sie müssen mit mir anstoßen! Sonst fühle ich mich hier nicht willkommen«, quäkte er wie ein beleidigtes Kind. Wieder spielte sie notgedrungen mit. Er blickte durch das Fenster zur Landungsbrücke, wo die Dünenfähre ablegte, und ließ die Augen über Strand und Hafen schweifen. »Der Blick ist schön, aber hier leben? Wollen Sie mir nicht erzählen, wie Sie hierhergekommen sind?«
»Ich habe Wurzeln auf der Insel, mein Großvater lebt hier. Vor einem Jahr bin ich wieder hierhergezogen.«
»Das würde ich ja nicht aushalten auf so einem Felsen, immer die gleichen Menschen!«
Vor allem solche wie dich brauchen wir hier nicht, dachte Jana.
»Und, was haben Sie jetzt gedacht? Eine lästige Pflicht hier zu erfüllen?«, dabei sah er sie lauernd an.
Wut stieg in ihr hoch. Was nahm der sich raus. Doch sie musste freundlich bleiben, wandte den Blick ab. Sie hatte das Programm auf dem Schreibtisch entdeckt und ging es holen.
»Schauen Sie mal, Herr Dorst. Ich habe einiges für Sie vorbereitet. Und die Inselverwaltung möchte Sie nach Strich und Faden verwöhnen. Für Ihre Recherche stehen ein Börteboot oder ein Hubschrauber bereit, wenn sie das wünschen. Mit einem U-Boot sind spektakuläre Aufnahmen der Unterwasserwelt möglich. Einen Chauffeur haben wir auch.«
»Was kann man denn direkt hier machen?«
Er hatte seinen Stuhl neben ihren gerückt und war jetzt so weit an sie herangekommen, dass sie seinen alkoholgetränkten Atem roch. Jana fragte sich, wie sie unbeschadet aus dem Raum entkommen konnte. Eigentlich wollte sie ihm eine scheuern oder ihn zwischen die Beine treten, doch dann wäre sie vermutlich ihre Stelle los. Durchatmen.
»Wir können verschiedene Thementouren machen. Geschichte, dann sehen wir uns Spuren des zerstörerischen Big Bang an, entdecken die Bunkeranlagen – und es gäbe sogar eine Bombenentschärfung, bei der Sie im sicheren Abstand assistieren können. Einzigartig ist unsere Hummeraufzugsstation. Das finden Sie nur auf Helgoland.«
Er nickte. »Interessant. Du hast eine so schöne Stimme. Du siehst gut aus, bist intelligent. Jemand wie du sollte nicht hier versauern. Komm mit mir nach Berlin und steig beim Kanal ein. Du kannst direkt Moderatorin werden.«
Sie versuchte, so weit wie möglich von ihm wegzurücken, doch der Tisch stand im Weg. »Entschuldigung«, sagte er und rückte wieder zurück, griff zur Flasche und goss ihr erneut ein Glas Sekt ein. »Auf die Inselschönheit.«
»Bitte, bitte«, bedrängte er sie, das Glas zu erheben. Sie stieß wieder mit ihm an, stellte den Kelch dann weg.
»Sie können vom Boot aus spektakuläre Bilder aufnehmen, von den Felsenhängen und der Langen Anna, den Kegelrobben auf der Düne, unserer Vogelwelt, den Trottellummen und den Basstölpeln, diese sind absolut fotogen.«
»Hm, klingt nach einer Idee, vor allem das Letzte. Darf ich mal schauen?« Er blickte über ihre Schulter in das Programm und ließ seine Hand langsam in Richtung ihrer Brust hinabgleiten. Entsetzt sprang Jana auf, kam ins Torkeln. Ihr war auf einmal schwindlig.
»Wo ist die Toilette?« Er deutete auf eine Tür. Sie schwankte dorthin und ließ sich auf der Klobrille nieder, atmete durch. Sie hatte zu viel getrunken und fühlte sich nicht mehr sicher auf den Beinen. Einen Moment blieb Jana sitzen. Dann ging sie zum Wasserhahn und trank ein paar Schlucke, benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. »Alles in Ordnung?«, hörte sie ihn rufen.
Er hämmerte gegen die Tür, bis sie »Okay«, sagte. Fieberhaft überlegte sie. Er schien überhaupt kein Interesse an der Insel zu haben. Wie konnte sie nur das Gespräch in eine vernünftige Richtung lenken? Ihm begreiflich machen, dass sie nicht den Wunsch nach näheren Kontakten mit ihm hatte? Leider hatte sie ihre Handtasche nicht dabei, sonst hätte sie vom Bad aus Verstärkung angefordert.
Es half nichts, der Weg in die Freiheit führte durch die Höhle des Löwen. Sie würde sich kurz verabschieden und dann die Dinge mit der Assistentin klären.
Sie öffnete die Tür. »Die Sonne geht auf«, schleimte er. Sie schrak zusammen. Er stand mit dem Bademantel vor ihr und hatte ihn zu allem Überfluss weit geöffnet. »Können Sie dazu Nein sagen?«
Einen Moment lang war sie sprachlos und gleichzeitig voller Ekel. Hatte sie etwas Falsches gesagt? »Sie haben ja das Programm, ich bin dann mal weg.« Sie ging an der Sitzgruppe vorbei und wollte direkt zur Tür, doch er packte sie von hinten unter den Armen und schmiss sie auf das Sofa.
»Sei nicht so kühl, schöne Jana. So was gehört zu deinem Job. Ich soll mich wohlfühlen.« Er begann, an ihrer Hose zu zerren. Sie versuchte vergeblich, ihn wegzustoßen, er wog mindestens das Doppelte von ihr. »Lassen Sie mich los!«
Er grinste dreckig. »Ich mag es, wenn sie sich wehren. Eine kleine Raubkatze.«
Sie sah keine andere Chance, als ihm mit voller Kraft einen Daumen ins Auge zu stoßen. Überrascht schrie er auf wehrte sie mit einer Hand ab. Sie nutzte den Moment, um sich zu befreien, und lief zur Tür.
»Du Schlampe!« Wieder war er hinter ihr, packte sie an den Haaren. Sie drehte sich und trat ihm mit voller Kraft zwischen die Beine. »Nimm das, du Dreckschwein«, schrie sie und rannte zum Ausgang. Sie sah, wie er sich am Boden krümmte, als sie hinausstürmte, mit Mühe schaffte sie es bis zur Rezeption.
»Bitte rufen Sie die Polizei, Herr Kruss soll mit dem Wagen kommen«, bat sie die Rezeptionistin. Ihr war schwindlig, ihre Beine zitterten. Im letzten Moment ließ sie sich in einen Sessel fallen, sonst wäre sie zusammengebrochen. Sie war nicht in der Lage, zu Harry zu laufen. Sie hatte nur ihn und ihren Großvater auf der Insel – und den alten Mann wollte sie nicht mit dem Problem behelligen.
In Gedanken vertieft schwang sich André auf sein Fixie Fahrrad und strampelte direkt auf dem Gehweg vor seiner Kreuzberger Wohnung los. Beinahe hätte er eine alte Dame über den Haufen gefahren, wich im letzten Moment aus und nickte nur, als die Frau lautstark schimpfte. Er wollte an dem Tag endlich wieder ein Comedy Video drehen und gab im Kopf seinen Gags Schliff. Seine Inhalte fanden seit der Neuausrichtung immer weniger Platz auf dem Youtube-Kanal, doch das wollte er ändern.
Schon früh war die Berliner Luft aufgeheizt, und ihm trat beim Fahren der Schweiß auf die Stirn. Ausnahmsweise freute er sich auf das klimatisierte Büro an ihrem Sitz direkt an der Spree. Mit dem Aufzug fuhr er nach oben zu ihrem Penthouse, an dessen Fassade der neue Name »Roadtrip. Top oder Flop« neongelb leuchtete.
»Guten Morgen«, begrüßte er die Sekretärin seines Partners, die am Empfang saß. Das Drehkreuz gab ein merkwürdiges Alarmsignal von sich, als er seine Zugangskarte an das Display hielt. Der Bildschirm färbte sich rot. Er drückte gegen den Sperrbügel, doch der Eingang war versperrt.
»Tut mir leid, André«, flötete die Vorzimmerdame Herlinde zuckersüß und sah auf ihre ultralangen getigerten Krallen. »Gib mir die Karte. Es ist vorbei.«
»Wie meinst du das?« Entgeistert gab er ihr seinen Hausausweis, so verdattert war er. »Bringst du das in Ordnung?«
Sie schnalzte kurz mit der Zunge, schüttelte dann den Kopf. »Es ist besser, du gehst jetzt!«
Noch immer verstand er nicht. »Kannst du das bitte gleich regeln? Ich habe heute viel zu tun«, bat er Herlinde.
»André, da geht gar nichts mehr. Du bist hier raus!«, teilte sie ihm mit.
»So ein Unfug. Was soll das denn? Das würde Casimir niemals zulassen«, schimpfte er, schlug gegen die Metallabsperrung vor den Büroräumen.
»Glaubst du das?« Die Sekretärin trommelte mit ihren Krallen auf den Tisch. Kurz darauf kamen zwei uniformierte Muskeljungs vom Sicherheitsdienst.
»Herr André Adomat?«
Er nickte, sicher würde sich alles aufklären. »Wir begleiten Sie jetzt zu Ihrem Wagen«, sagte der eine.
»Ich habe kein Auto.« Mit seiner Hand entfernte er die unangenehm auf seiner Schulter liegende Pranke.
»Wir gehen dennoch nach draußen.« Der andere Uniformierte schob ihn in den Fahrstuhl.
Krampfhaft versuchte er von dort aus, seinen Freund zu erreichen. Dieser hatte von einer Nordseereise erzählt, er hatte nur mit einem Ohr zugehört. Dorst ging nicht ans Telefon. Gleichzeitig ploppte eine E-Mail auf. »Betriebsbedingte Kündigung.« Ungläubig las er den Text. Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Er selbst betrieb diesen Internetkanal seit acht Jahren, hatte ihn groß und berühmt gemacht. Und als Casimir Dorst in hohem Bogen von den öffentlich-rechtlichen Sendern gefeuert wurde, hatte er ihm einen neuen Platz angeboten. Sicher waren sie seither gewachsen, hatten eine GmbH gegründet und den Kanal umbenannt, und inhaltlich hatte sich vieles gewandelt. Sein Partner hatte viel investiert, um den Kanal professioneller aufzubauen und sich die Mehrheit der Anteile übertragen lassen. »Das ist nur eine Formalie zur Absicherung für die Bank. Wir sind doch Partner«, hatte er damals gesagt. Seitdem waren sie beide Geschäftsführer. Und nun wollte er ihn einfach so aus der Firma werfen? Das konnte André kaum glauben. Unter den wachsamen Augen des Sicherheitsdienstes fuhr er sein Fahrrad aus dem Hof. Er setzte sich in ein Café in der Nachbarschaft und versuchte weiter, Dorst zu erreichen. Ob er schon weg war? Er musste mit ihm sprechen, das musste ein Irrtum sein.
André bestellte sich ein kleines Bier. Kreuzberger Nacht, das entsprach seinem Gemütszustand. Er konnte nicht glauben, was er gelesen hatte. Eindeutig ein Irrtum! Vielleicht war es am besten, den Freund zu Hause aufzusuchen, falls es irgendwelche Missverständnisse gab, konnten sie die im persönlichen Gespräch ausräumen. Auch wenn der Weg nach Grunewald weit war, das half nichts. Er musste das sofort klären.
Nach 40 Minuten strammer Fahrt kam er an der Adresse an und klingelte an der Gründerzeitvilla von Dorst. Eine Kamera richtete sich auf ihn, er winkte kurz hinein, dann öffnete sich das schmiedeeiserne Tor wie von Zauberhand, die Haustür stand offen.
»André, ich bin hier oben bei der Arbeit«, hörte er die Stimme von Tati, Casimirs Frau. Er wischte sich den Schweiß mit seiner Jacke von der Stirn. Die Strecke war einfach zu weit an einem Tag, der so heiß begann.
»Guten Morgen, du Schöne«, begrüßte er die Frau seines Freundes. Mit ihr hatte er sich immer verstanden, vielleicht würde sie ihn unterstützen.
Sie umarmte ihn und deutete auf ein Ledersofa. »Ich muss etwas fertigmachen, eh die Farben eintrocknen.«
Sie arbeitete an einem abstrakten Bild, soweit er das einschätzen konnte. Es sah aus wie eine Farbexplosion, so als hätte jemand beliebig sämtliche Töne in Öl auf eine Leinwand geworfen. Aber er war sicher der Letzte, der für die Beurteilung eines solchen Werkes geeignet war. »So, das noch und ich bin fertig«, sagte Tati, drückte eine Tube Blau auf dem Rest der Farben aus und trat einen Schritt zurück, um das Ergebnis anzuschauen.
»Schön, dass du hier bist. Ist lange her«, sagte sie dann. Sie legte ihren beklecksten Kittel ab und bat ihn, ihr zu folgen.
»Ist Casi hier?«, fragte er unverblümt.
»Casimir? Keine Ahnung, wo der Herr steckt. Wir sind schon seit einem halben Jahr nicht mehr zusammen!«
Er lief betroffen hinter ihr her. »Das tut mir leid, ich hatte keine Ahnung.«
Sie lächelte ihn an. »Das muss dir nicht leidtun. In meiner Arbeit als Yogalehrerin gehe ich vollkommen auf und habe das Malen wieder angefangen. Wegen ihm habe ich meine Kunstkarriere damals aufgegeben. Das war die einzig richtige Entscheidung, mich von ihm zu trennen.«
Sie bat ihn in die offene Küche, einen hell möblierten Raum mit einer Glasfront in Richtung Garten. Er setzte sich auf einen Barhocker. »Was möchtest du trinken?«, fragte sie.
»Einen Kaffee, wenn du hast. Aber ich müsste dringend mit ihm reden. Er will mich aus der Firma werfen, ich glaube, das ist ein Missverständnis.«
Tati hantierte an der Kaffeemaschine, füllte seine Tasse und stellte diese vor ihm auf den Tisch. Dann setzte sie sich ihm gegenüber und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, André, dir das sagen zu müssen. Aber da warst du zu gutgläubig. Man muss bei ihm immer das Kleingedruckte beachten. Auch wenn du ihm damals eine Chance gegeben hast, der kennt so etwas wie Dankbarkeit nicht. Der hat sich genommen, was er haben wollte – und nun braucht er dich nicht mehr. So ist er, das habe ich am eigenen Leib erfahren.«
Eine Träne rann aus ihrem Auge. Er war aufgestanden, um sie zu umarmen. Sie hielten sich Körper an Körper – und das fühlte sich gut an. Wie lange der Moment gedauert hatte, konnte er nicht sagen. Fünf Minuten oder zehn. Schließlich nahm er wieder Platz.
»Woher weißt du das denn?«, fragte er Tatjana.
Sie schüttelte den Kopf: »Ich weiß, wie er ist. 15 Jahre habe ich gebraucht dafür, wie unendlich blöd! Und nun sitze ich bald auf der Straße ohne einen Pfennig Geld.«
Er kam sich schäbig vor, denn gegen ihre Probleme wirkten seine eigenen fast wie Luxuswehwehchen. »Hat er dir etwas zur Firma gesagt und dass er mich loswerden will?«
Sie schüttelte den Kopf. »Geschäftliches hat er nie mit mir besprochen. Aber ich kann herausfinden, wo der Herr sich aufhält.«
Sie ging nach oben und kam mit einem Computer zurück. Sie tippte darauf und loggte sich auf einer Seite ein. Es war ein Terminkalender. »Hier steht etwas von der Insel Helgoland. Vom Feinsten, wie immer. Er logiert im Hotel Prinzessin Alexandra. Vermutlich nicht allein!«
Er sah ihr über die Schulter. Drei Tage sollte Casi sich dort aufhalten. »Danke dir. Ich werde ihm einen Besuch abstatten.« Sie nickte. »Gar keine üble Idee.«
Er verabschiedete sich, er musste sich umziehen und dann auf dem schnellsten Weg auf diese Insel kommen. Dort konnte sein Geschäftspartner ihm nicht ausweichen.