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Eine Passagierin stürzt von der Helgoland-Fähre in die Nordsee. Kommissarin Rike von Menkendorf, die eine Auszeit plant, beobachtet dabei einen verdächtigen Schatten. Gemeinsam mit Harry Kruss von der Wasserschutzpolizei ermittelt Rike auf der Insel, wo die verschwundene Immobilienmaklerin kaum Freunde hatte. Steckt ihr in Scheidung lebender Ehemann hinter dem Sturz? Oder ging es um illegale Fracht auf dem Schiff? Als es weitere Opfer gibt, suchen die Ermittler nach einer Verbindung.
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Seitenzahl: 327
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Susanne Ziegert
Tod vor Helgoland
KRIMINALROMAN
Tödliche Überfahrt Kommissarin Rike von Menkendorf will auf Helgoland eine Auszeit beim Vogelschutzverein antreten, da fällt ihr unverhofft ein Fall vor die Füße. Eine Passagierin stürzt vor ihren Augen von der Helgoland-Fähre in die Nordsee. Ein Schatten entfernt sich. Gemeinsam mit ihrem Studienfreund Harry Kruss von der Wasserschutzpolizei ermittelt die Hamburgerin auf der Insel, wo es jede Menge Verdächtige gibt. War es der in Scheidung lebende Ehemann, der sie ins Wasser bugsierte? Ging es um Rache, da die Frau als Elternsprecherin Jugendliche mobbte? Feinde hatte die Vermisste viele, vor allem als Maklerin und Investorin mit umstrittenen Bauplänen. Als weitere Menschen vom Schiff verschwinden, suchen die Ermittler verzweifelt nach einem Zusammenhang. Geht es um die verdächtigen Vorgänge auf dem Schiff? Haben sie es mit einem Serientäter zu tun?
Susanne Ziegert wurde im Erzgebirge geboren und wuchs in Leipzig und Plauen im Vogtland auf. Zwei Tage vor dem Mauerfall floh sie in den Westen, um endlich Paris zu sehen. Nach ihrem Studium in Aix-en-Provence in Südfrankreich arbeitete sie mehrere Jahre in Brüssel und zog dann nach Berlin, wo sie eine Stelle als Reporterin bei der Berliner Morgenpost antrat. Seit 2019 lebt Susanne Ziegert mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Pferden und Eseln in einem alten Bauernhof im Landkreis Cuxhaven und in Berlin. Sie arbeitet als Journalistin für die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. Schreiben war ihr von klein auf ein Bedürfnis. Als Kind verfasste sie Briefe in alle Welt, Tagebücher sowie einen Roman über die Stadt der Liebe. Schon damals träumte sie davon, Schriftstellerin zu werden.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © v zaitsev / istockphoto
ISBN 978-3-8392-7218-3
Graue Pflastersteine, der Wind fegte Zigarettenstummel über das Trottoir. Im Schmutz zappelte ein bräunlicher Körper. Das Knäuel lebte, lag in einer roten Lache. Blut? Er sah den Kopf, die panischen Augen. Ein kleiner Vogel, der ein paar Krümel von einem Teller gepickt hatte. Er flatterte mit einem Flügel, der andere lag bewegungslos und verdreht auf der Erde, nach den Schlägen mit einem Stock. Er war durch den brutalen Angriff zu Boden gegangen, wie überreifes Fallobst. Der Winzling wollte fliehen, doch er war gefangen. Ein Schatten fiel auf den Körper.
Ein schmutziger weißer Turnschuh mit einem Riss an der Seite näherte sich dem Bündel. Er bewegte sich ungebremst auf den Spatz zu, bedrohlich schnell, gleich würde er ihn erwischen, zermalmen. In dem Moment wachte er auf, schrie gellend, fuhr schweißgebadet aus den Kissen hoch. Die Nacht war gelaufen, an Schlaf nicht mehr zu denken. Der Schrei hatte ihn geweckt. Ein verzweifeltes heißeres Nein. War es seine Stimme, die ihn aus dem Traum riss? Es klang wie der panische Hilferuf eines verängstigten Mädchens. Hatte sie geschrien? War es sein Schuh, der das kleine Wesen zu vernichten drohte? Schnell sprang er aus dem Bett und ging unter die Dusche und ließ das kalte Wasser über sein Gesicht rinnen. So als könne es den Dreck seiner Vergangenheit von sich waschen.
Rike klammerte sich an das kalte Geländer, bis ihre Handknöchel weiß hervortraten. Das Schiff schaukelte wie eine Nussschale, jedes Wellental ließ ihren Magen verkrampfen. Sie versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, als ihr von vorne ein Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht spritzte. Ihr Blick suchte in der Ferne Halt. Überall grau, der Himmel verdunkelte sich in Fahrtrichtung, die Wellen überschlugen sich, Gischt schäumte.
In dem Moment glitt ein großer Schatten, von oben kommend, an ihr vorüber. Was war das? Sekunden später sah sie, wie ein Körper auf der Wasseroberfläche aufkam und augenblicklich von einem schäumenden Wasserberg mitgerissen wurde.
Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff. Da war ein Mensch über Bord gegangen, in die eiskalte See gestürzt! Sie musste das Schiff anhalten.
Sie warf den Rettungsring, der an der Schiffswand befestigt war, nach unten. Dann rannte Friederike von Menkendorf in den Salon zur Bardame.
»Da ist jemand gefallen. Ich muss zum Kapitän!«, brachte sie atemlos hervor.
Die Frau musterte sie skeptisch.
»Sind Sie sicher?«
Vermutlich hielt sie Rike für überdreht. Sie bedauerte, dass sie keinen Ausweis dabeihatte.
»Polizei, es ist ein Mensch gestürzt. Das Schiff muss anhalten«, wiederholte sie. Ihre Stimme war scharf, sie hätte Lust gehabt, die Dame an den Schultern zu packen.
Endlich begriff die Bedienung und rannte durch die Tür nach draußen. Dort, wo Rike sich befunden hatte, hämmerte sie auf einen Knopf. »Person über Bord Alarm-Auslösung«, stand darauf. Ein schriller Ton setzte ein. Der Kapitän meldete sich per Funk.
»Was ist los?«
»Jemand ist gestürzt, ich bringe die Zeugin nach oben«, sagte die Frau.
Sie führte Rike durch die Gänge des Schiffs in die oberste Etage, öffnete dort eine Stahltür, die nicht abgeschlossen war. Vor der Fensterfront und Bildschirmen mit Anzeigen, rechts und links von dem Steuerrad, saßen zwei junge Männer mit blau-weißen Uniformen. Die Frau ging zu einem von ihnen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der jugendlich aussehende Uniformierte wandte sich daraufhin Rike zu:
»Was ist passiert?«
»Ich müsste dringend den Kapitän sprechen, Mensch über Bord«, schrie sie.
»Der steht vor ihnen. Kornelius Nymann.« Er reichte ihr die Hand zum Gruß.
Einen kurzen Moment war sie verdattert. Der junge Mann sah aus, als käme er direkt von der Schulbank.
»Geht es um einen Angehörigen? Was ist passiert?«
»Ich habe einen Menschen ins Wasser fallen sehen, das Schiff muss anhalten. Keine Ahnung, wer das war.« Sie beschrieb ihm, wo sie gestanden hatte.
»Sind Sie sicher?«, fragte der Mann, der sie prüfend ansah, um ihre Glaubwürdigkeit einzuschätzen.
»Als Polizistin weiß ich, was ich gesehen habe«, sie wurde ungeduldig. Der Schiffskommandeur sah seinen Nachbarn an. »Setz den Notruf an die Seenotretter ab. Wir machen einen Williamson-Turn.«
Er leitete eine harte Kursänderung nach rechts ein und riss dann das Steuer herum, sodass das Schiff nach kurzer Zeit in die Gegenrichtung drehte, danach korrigierte er mit etwas sanfteren Bewegungen. Nach dem die MS Nordsee sich stabilisiert hatte, sah er auf. »Das Manöver bringt das Schiff auf den alten Kurs zurück.« Sein Erster Offizier rief unterdessen über Funk »Mayday Mayday Mayday Mann über Bord«.
»Wie lange brauchen sie?«, wollte der Kapitän wissen. »Der Hubschrauber der Bundesmarine ist in einer Viertelstunde bei uns. Der Seenotrettungskreuzer muss aus Helgoland kommen, das dauert bei dem Seegang etwas länger«, sagte Michael Nickau.
Die Maschinen hatten gestoppt. Der Erste Offizier erklärte der Einsatzleitung der Seenotretter die Lage und gab die genauen Koordinaten durch.
Der Kapitän wandte sich an Rike.
»Zeigen Sie mir bitte, was Sie wo zu welchem Zeitpunkt beobachtet haben.«
Nymann ging zu der schweren Stahltür, hielt sie ihr auf und machte ihr mit einem Zeichen deutlich, dass sie vorangehen sollte. Rike hatte sich den Weg zur Brücke gemerkt, stieg die Treppen hinunter und folgte dem Gang entlang zu dem Deck, an dem sie gestanden hatte. Sie sah hinab ins Wasser, doch von der Person war keine Spur mehr zu sehen.
»Wann war das?«, wollte der Kapitän wissen. Rike hatte nicht auf die Uhr gesehen, sie schätzte, dass zehn Minuten seit dem Fall vergangen waren. Er überlegte kurz, dann sprach er in sein Funkgerät.
»Bitte sofort den Seenotrettern die Lage erklären. Das Ereignis ist vor zehn Minuten eingetreten. Genaue Position und Geschwindigkeit bestimmen«, bellte er. Er forderte sein komplettes Personal an, auf der Brücke zu erscheinen. Sie sollten von dort aus mit Ferngläsern die Wasseroberfläche beobachten. Bevor er zurück auf seinen Posten ging, drehte er sich zu Rike um.
»Sie sind doch Polizistin. Könnten Sie vielleicht herausfinden, wie das geschehen ist?«
Die Matrosen traten zu ihr.
»Wie sah die vermisste Person aus?«, wollte der eine wissen.
»Das ging zu schnell, um Details zu erkennen«, bedauerte Rike. Wie oft hatte sie diese Aussage von Zeugen gehört. Manchmal hätte sie diese gerne geschüttelt. Doch von dem Sturz hatte sie nur einen Schatten gesehen und einen Aufprall. Sie hatte mit den Bewegungen des Schiffs auf den Wellen zu kämpfen. Ihr Magen krampfte angstvoll bei jedem Schaukeln nach oben, denn am schlimmsten war das Fallen ins Bodenlose und der Schlag durch die Gegenbewegung der Wellen. Es war reiner Zufall, dass sie den Sturz überhaupt bemerkt hatte. Wegen der Übelkeit hatte sie ihren Kopf vorhin über den Bordrand gehängt und sich an das untere Treppengeländer geklammert.
Die beiden Matrosen hatten Ringe ins Wasser geworfen. Ein Dröhnen in der Luft kündigte den Hubschrauber an, der von der Insel Helgoland gekommen war, um die Suchaktion zu unterstützen.
»Gibt es einen Plan vom Schiff?«, fragte Rike die Besatzungsmitglieder. Sie wollte die Räume systematisch absuchen. Einer der Männer nickte.
»Im mittleren Treppenhaus gibt es einen Aufsteller mit Broschüren.« Rike orientierte sich in Richtung des Eingangs und fand die Prospekte. Unter ihren Füßen vibrierte der Boden. Erneut spürte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog, ihre Hände wirkten wie steife Fremdkörper. Sie fröstelte von dem schneidenden Wind, der auf ihre durchnässte Kleidung traf.
Sie ging zu ihrem Platz im hinteren Salon, um nach Prinz zu sehen. Er lag immer unter dem Tisch vor der Glasfront, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Wie eine Kugel zusammengerollt, ruhte er auf seiner Kuscheldecke. Er schnarchte leicht und verströmte einen Geruch nach nassem Hund. Als sie sein Fell berührte, öffnete er ein Auge, drehte sich und schlief weiter. Eine Ansage ertönte, er hob den Kopf und schenkte Rike einen vorwurfsvollen Blick.
»Sehr geehrte Fahrgäste, wegen eines Notfalls wird sich unsere Weiterreise leider verzögern. Wir bitten Sie um Verständnis«, sagte der Kapitän über Funk. Die Passagiere neben ihr diskutierten die Lage. Das Paar hatte nur einen Tagesausflug auf die Hochseeinsel geplant, der etwas kürzer ausfallen würde.
Rike sah sich den Plan an. Es gab nur eine Stelle, von der die Person in die Tiefe gefallen sein konnte. Sie ging zurück zur Treppe, an der sie gestanden hatte. Die Stufen führten zum Raucherdeck. Direkt neben dem Absatz war ein Bereich der Bordwand frei zugänglich. Das musste der Ausgangsort sein. Bei diesen Wellen war es sogar möglich, dass jemand von dort fiel. Die Wand war an dieser Stelle relativ hoch. Wahrscheinlicher schien es aber, dass der Passagier selbst gesprungen war oder gestoßen wurde. Niemand hielt sich bei dem heftigen Regen draußen auf. Regentropfen platschten auf leere Sitzreihen im Freien.
Unter einer Bank lugte etwas Schwarzes hervor. Es war eine Handtasche. Rike wühlte in ihren eigenen Sachen, doch da sie privat unterwegs war, hatte sie keine Handschuhe dabei. Sie griff zu einer Plastiktüte, mit der sie die Fundsache näher untersuchte. Sie fand Kosmetika, ein Buch einer amerikanischen Autorin über Erziehungsratschläge für »Tigermoms« und ein Portemonnaie, in dem ein dickes Bündel 50-Euro-Scheine steckte. Der Ausweis lag darin, es handelte sich um die Papiere einer Caroline Maiwald.
Vielleicht hatte die Besitzerin ihre Tasche nur vergessen, doch es war möglich, dass sie zur vermissten Person gehörte. Sie würde den Namen ausrufen lassen, um das festzustellen. Sie sah auf das untere Deck, keine fünf Meter darunter hatte sie sich festgeklammert. Das Ganze hatte den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Sie sah sich das Geländer an, konnte keine Auffälligkeiten wie Blut oder Spuren eines Kampfes erkennen. Es war auf jeden Fall so hoch, dass sie einen Unfall ausschloss.
Sie kehrte zur Brücke zurück. In dem Raum herrschte Betriebsamkeit. Der Kapitän sprach über Funk, offenbar mit der Seenotrettung. Vor ihnen tauchte der Rettungskreuzer Hermann Marwede aus einem Wellental auf. Der Kapitän gab die genaue Position durch, an der die Suche nach der vermissten Person fortgesetzt werden sollte. Die Bremer Einsatzleitung hatte über den Funkkanal den Notfall erklärt, ein Schiff der Bundespolizei war zur Unglücksstelle unterwegs, der Hubschrauber dröhnte weiterhin über ihnen.
Wegen des Wellengangs war es schwierig, jemanden zu sichten. Sie sah, wie das kleinere Beiboot der Retter durch das Heck zu Wasser gelassen wurde. Drei Seenotretter waren aufgesprungen, sie fuhren auf symmetrischen Bahnen die Position ab.
»Könnten Sie bitte diese Person ausrufen lassen?«, bat sie den Kapitän. Sie zeigte auf die Handtasche, schüttelte den Kopf, als er seine Hand ausstreckte.
»Da wir nichts ausschließen können, müssen wir Fingerabdrücke vermeiden«, erklärte sie. Sie zeigte ihm auf ihrem Smartphone eine Kopie des Personalausweises. Er machte die Ansage über Bordfunk.
Rikes Mobiltelefon klingelte. »Ich stehe mir am Kai die Beine in den Bauch, das Schiff ist noch nicht mal zu sehen. Wo bleibt ihr eigentlich?« Ihr alter Freund Harry Kruss hatte versprochen, sie abzuholen.
»Seid ihr als Wasserschutzpolizei gar nicht informiert? Eine Person ist über Bord gegangen«, es wunderte Rike, dass die Inselpolizisten nichts von den Ereignissen gehört hatten.
»Ich hatte frei, eigentlich wollte ich heute bei einem gemeinsamen Bier in alten Zeiten schwelgen. Dann gehe ich gleich ins Büro«, seufzte Harry.
Sie befanden sich seit einer Stunde an der Unglücksstelle, die Seenotretter koordinierten den Einsatz. Bislang war die Person nicht gesichtet worden. Da die Wellen die MS Nordsee immer stärker schwanken ließen, hatte der Kapitän die Erlaubnis erhalten, die Fahrt fortzusetzen. In einer Stunde würden sie am Kai in Helgoland einlaufen. Der Marinehubschrauber kreiste weiterhin über der betreffenden Zone in der Luft. Das Schiff der Bundespolizei fuhr ebenfalls die Position ab.
Rike saß auf der Brücke neben dem Kapitän. Ihr Magen hatte sich beruhigt. Sie hatte die Vermisstenmeldung an ihren Freund und Kollegen auf Helgoland durchgegeben. Harry wollte die Personalien aller Passagiere prüfen, bevor sie das Schiff verließen.
Die Frau, deren Handtasche sie gefunden hatte, Caroline Maiwald hatte sich auf ihre Durchsage über den Schiffsfunk nicht gemeldet und war bei einer weiteren Suchaktion auf dem Schiff nicht angetroffen worden. Ein schlaksiger Jugendlicher mit hochgegelten blonden Haaren kam schüchtern in Begleitung der Stewardess, die sie zur Brücke geführt hatte, auf sie zugelaufen.
»Meine Mutter ist weg«, teilte er atemlos mit. Er stellte sich als Eibe Maiwald vor.
»Ist Caroline Maiwald Ihre Mutter?«, fragte Rike. Er nickte stumm. Sie zeigte ihm die Tasche, die er entsetzt anstarrte.
»Die gehört Mama«, der Satz ging in Tränen unter. Er berichtete von der Klassenfahrt, die seine Mutter begleitet hatte. 15 Jugendliche kehrten aus Berlin zurück. In dem Moment hatte Rike ein Bild vor Augen. Als sie im Regen vor dem Ticketschalter warteten, hatte eine Horde Heranwachsender herumgetobt. Eine zierliche Frau mit goldglänzender Jacke hatte Streithähne resolut getrennt und die aufgedrehte Gruppe zur Ruhe gebracht.
Sie versuchte, den Jungen zu trösten, legte ihre Hand auf seine Schulter. Dann begleitete sie ihn zu den anderen Kindern. Diese fläzten in ihren Stühlen, die Köpfe über die Handybildschirme gebeugt. Offenbar hatten sie nichts von dem Verschwinden mitbekommen. Sie musste sie kurz vor der Ankunft informieren. Rike hatte mit Harry beraten, ob sie einen Psychologen stellen konnten. Er wollte mit der Schule Kontakt aufnehmen.
Es hatte zwar niemand so deutlich ausgesprochen, doch die Überlebenschancen für Caroline Maiwald im eiskalten Wasser waren äußerst gering.
Der Kapitän kam auf sie zu und bat sie, ihm zu folgen. Er verließ den Raum und öffnete die Tür zu einem kleinen Besprechungsraum neben der Brücke.
»Sie sind Polizistin, vielleicht können Sie mir helfen.« Sein Blick war fahrig, er hatte ihr einen Stuhl hingeschoben, lief auf und ab.
Rike war neugierig, auch wenn sie auf gar keinen Fall irgendwelche Ermittlungen im Urlaub und außerhalb ihres Bundeslandes führen wollte. »Sie müssen wissen, dass ich nicht im Dienst bin und das nicht meine Zuständigkeit ist«, schränkte sie ein. »Worum geht es?«
Er blieb stehen und sah sich nochmals vor der Tür um, bevor er diese schloss.
»Ich bitte vorab um äußerste Diskretion. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden, sonst bin ich meinen Job los«, begann er leise.
Rike nickte. Die Neugier hatte die Oberhand gewonnen. »Auch wenn ich nicht im Dienst bin, ich bin Polizistin!«
Zögernd begann er.
»Ich war so stolz, das war mein erstes Schiff als Kapitän – und es ist ein Flaggschiff unserer Reederei. Aber drei Wochen nach meinem Antritt begann es mit den verschwundenen Personen.«
»So wie heute, meinen Sie? Leute, die über Bord gehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, meist merken wir es gar nicht. Die Polizei kommt nach Tagen oder Wochen, hält mir ein Bild vor und fragt, ob diese Person auf dem Schiff war. Es gibt dann immer Buchungen dieser Passagiere, aber niemand hat die Leute gesehen und keiner weiß, was passiert ist.«
»Was sagt die Polizei?«, fragte Rike.
»Sie vermuten, dass die Menschen selbst von Bord springen. Aber das sind so viele! Das kann doch rein statistisch gar nicht sein.« Seine Stimme brach, seinem Gesicht war die Verzweiflung anzusehen.
Rike nickte. »Doch, das ist leider möglich. Hochhäuser, Brücken und Schiffe ziehen das an. Ich bedaure, aber da kann ich nicht helfen.« Sie hatten immer wieder mit dem Thema zu tun, da ausgeschlossen werden musste, dass es sich um Tod mit Fremdeinwirkung handelte.
»Sie haben das heute miterlebt. Könnten Sie das Schiff eine Zeit lang begleiten und sich umschauen?«
Rike schüttelte den Kopf. »So einen Zufall wird es nicht noch mal geben. Ich habe nicht gesehen, was passiert ist.« Sie dachte an den Sekundenbruchteil, in dem sie den Fall wahrgenommen hatte. Wie das passiert war, konnte sie nicht sagen.
In dem Moment fiel es ihr ein. Da war etwas, sie hatte eine schnelle Bewegung über sich registriert, einen Schatten, etwa zeitgleich mit dem Sturz. War da jemand mit der Frau auf dem Oberdeck gewesen? Doch gleichzeitig wusste sie, wie vage diese Beobachtung war und wie sie selbst im Fall einer Ermittlung darauf reagiert hätte. Dennoch wollte sie dem Kollegen die Wahrnehmung zu Protokoll geben.
Er hatte nichts gesagt, sondern ihr wortlos aus der offenen Haustür hinterhergesehen. Wie an jedem anderen Tag war sie eiligen Schrittes mit ihrer Aktentasche über der Schulter zur Straßenbahn gegangen. An der Haltestelle herrschte das übliche Gedrängel. Während sie wartete, dachte Birgit Leppien schuldbewusst an ihren Mann. Freudestrahlend war Bernd an diesem Morgen mit einem Blumenstrauß an ihr Bett getreten und hatte ihr eine Tasse Kaffee gereicht.
»Willkommen im Unruhestand. Jetzt kommen die besten Jahre deines Lebens. Ich habe schon ein wundervolles Programm für heute gepl…« Weiter war er nicht gekommen. Denn sie war entsetzt nach einem Blick auf die Uhr aufgesprungen, hatte nur gerufen:
»Oh Gott, ich komme zu spät.« Doch wie immer stand sie einige Minuten zu früh an der Haltestelle. Die Bahn traf ein und war schon recht voll. Sie hatte Glück und fand gleich hinter der Tür einen Platz. An diesem Morgen würde sie eine Strecke nehmen, die sie seit Ewigkeiten nicht gefahren war. Nach den Vorfällen hatte sie ihre alte Arbeitsstelle 30 Jahre lang gemieden.
Diesen einen Fall wollte Birgit Leppien abschließen und endlich den Beruf, der ihr Leben war, loslassen. Sie hoffte, dass ihr jemand von den damaligen Kollegen helfen würde. Sie musste den Jungen wiederfinden, erst dann würde sie mit Bernd die von ihm geplanten Tagesausflüge ins Schloss Sanssouci oder die Wellnesstage in der Sauna genießen.
Das gehörte zu den Schattenseiten im Jahr der Wiedervereinigung – Mütter und Väter, die über die Grenze zogen und alles hinter sich ließen. »Den Schlüssel zum alten Leben einfach weggeworfen«, hatte es damals ein Kommissar der Kriminalpolizei beschrieben. Diesen Tag sah sie wie einen Film vor sich. Es war heiß im Büro, sie hatten alle Fenster offen und versuchten, eine Querlüftung herzustellen. Erleichtert nahm sie den Anruf entgegen, nur raus aus dieser Sauna, hatte sie gedacht.
Die Polizei hatte sie in die Marzahner Siedlung in ein Hochhaus gerufen. Der Fahrstuhl funktionierte nicht, und sie mussten bis in den zehnten Stock die Treppe zu Fuß hinaufgehen. Der Schweiß rann ihr in Strömen am Rücken hinab, obwohl sie nur ein leichtes Sommerkleid mit schmalen Trägern anhatte.
Schon ein Stockwerk unter der Wohnung stank es bestialisch. Als sie die Tür öffneten, hatte sie sich ein Tuch vor die Nase halten müssen, um den Geruch auszuhalten. Meterhoch türmte sich der Dreck, menschlicher Kot, Abfälle, zwei verweste Katzen und mittendrin die beiden weinenden Kinder. Keine Spur weit und breit von den Eltern.
»Mama ist rüber in den Westen, die kommt nicht wieder«, hatte der kleine Junge matt gesagt. Er konnte nicht sagen, seit wann sie nichts mehr zu trinken hatten, nachdem die Wasserbetriebe wegen unbezahlter Rechnungen die Lieferung eingestellt hatten. Seine kleine Schwester, die er im Arm hielt, konnte kaum aufstehen. Die beiden kamen nicht aus der abgeschlossenen Wohnung. Als sie es vor Hunger nicht mehr aushielten und das Aquarium ausgetrunken hatten, hatte er aus dem Fenster um Hilfe geschrien. Stundenlang hatte er gerufen, bis ein Nachbar ihn endlich bemerkt und sie alarmiert hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass die beiden Kinder lebten. Sie waren gerade rechtzeitig gekommen, um sie zu retten.
Seine kleine Hand schob sich in ihre. »Danke, Tante«, voller Vertrauen hatte er sich in ihre Obhut begeben. Sie hatten den Jungen und seine Schwester aus dem Haus getragen und ins Krankenhaus gebracht. Nachdem sie dort aufgepäppelt worden waren, hatte Birgit Leppien sie in ein Heim eingewiesen. In der Zeit nach der Wende war es schwierig, zwei Kinder unterzubringen, die von der Jugend in einer Problemfamilie geprägt waren. Das Mädchen hatte es leichter, hörte sie später. Die Kleine war in eine fromme Familie vermittelt worden. Da hatte sie geordnete Verhältnisse, genau das Richtige. Als sie sich zuletzt erkundigt hatte, lebte Kevin Monate später noch in dem Heim.
Ihr eigenes Leben war in dieser Zeit aus den Fugen geraten, und sie hatte die Spur des Kleinen verloren. Was war aus ihm geworden? Das ließ ihr keine Ruhe.
Wie ferngesteuert stand sie von ihrem Sitz am Fenster der Straßenbahn auf, als der Plattenbau in Sicht kam, wo sich ihr Büro befunden hatte. Schnurstracks ging sie in die Diensträume des Jugendamtes in den dritten Stock und bat im Sekretariat um ein Gespräch mit dem Amtsleiter. Auf einem Stuhl im Gang wartete sie.
Sie erkannte ihn sofort, als er aus seinem Büro kam. Alt war er geworden, hatte kaum Haare, und seine langen Gliedmaßen schlotterten in einem Anzug, den sie damals elegant gefunden hätte. Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Doktor Regge«, stellte er sich vor, als wäre sie eine Unbekannte. Dann ging er voraus. Sie folgte ihm in einen Besprechungsraum. Nachdem er ihr einen Platz angeboten hatte, sagte sie:
»Wir kennen uns, mein Name ist Birgit Leppien.«
Sie sah an seinem überraschten Gesichtsausdruck, dass er sie erst jetzt erkannte. Hatte sie sich so verändert wie dieser damals dynamische Beamte aus dem Westen, der ihnen vorgesetzt worden war?
»Was führt Sie zu uns?«, fragte er, nachdem er sie länger gemustert hatte.
Sie versuchte, die Bitterkeit über die damalige Hetzjagd zu verdrängen. Doch all die Erinnerungen kamen wieder hoch. Genau in diesem Raum hatte das Tribunal der Kollegen stattgefunden. Auf einmal war sie, die sich bei den Bürgerrechtlern engagiert hatte, zum Stasispitzel erklärt worden, hatte ihre Zugangskarte abgeben müssen und sich mit nichts außer ihrer Handtasche und ihrer Jacke vor dem Haus befunden. Er hatte die Dinge zwar nicht ins Rollen gebracht, jedoch energisch vorangetrieben. Doch das war heute nicht ihr Thema.
»Ich bin auf der Suche nach einem Jungen, der damals nicht vermittelt werden konnte. Es brennt mir auf der Seele, ich muss unbedingt wissen, was aus ihm geworden ist.«
Regge wollte sich über den Stand informieren und ging hinaus. Sie sah sich den Raum an, der sich kaum verändert hatte, die schmutzig weißen Wände, die dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätten, Leuchtstoffröhren, die immer an waren. Unter diesem Licht sah jedes Gesicht kalkweiß und krank aus. Auf dem Boden lag wie damals das verschlissene blaue Linoleum. Allein die Fotos von Kindern an der Wand und ein Kalender mit einem Bergpanorama setzten kleine Farbakzente in dem tristen Umfeld. Nebenan hatte sie selbst jahrelang gearbeitet. Sie konnte sich in dem Moment besser in die Menschen versetzen, die auf der anderen Seite der Schreibtische saßen. Das ganze Interieur strahlte Kälte aus, sie sehnte sich zurück an die frische Luft, wollte das Kapitel endlich abschließen.
Sie nahm sich vor, nach dieser Suche loszulassen. Sie würde den Kindern einen Brief schreiben, mit ihnen Kaffee trinken gehen. Dann konnte sie die Seite endgültig umblättern, sich um ihren Mann kümmern und ihr Leben genießen.
Nach einer unendlich lang erscheinenden Zeit kam Doktor Regge wieder in den Raum. Er hatte keine Akte dabei, so wie sie erhofft hatte und setzte sich nicht.
»Sie mussten damals gehen, weil Sie Kollegen ausspioniert hatten, oder, Frau Leppien?«
Sein Blick hatte etwas Inquisitorisches.
»Was wissen Sie schon! Ich habe mit denen geredet, aber nichts Belastendes erzählt, niemanden denunziert.« Es war zum Verzweifeln. Wieder und wieder wurde ihr das Fehlverhalten vorgehalten. Dabei hatte sie nicht einmal eine Straftat begangen. Jahrelang hatte sie geschwiegen, doch jetzt weckte dieses Verhalten ihren Trotz.
»Das war nicht das Einzige. Sie haben diese Mutter drangsaliert, weil sie sich nicht wie eine sozialistische Persönlichkeit verhielt. Erinnern Sie sich noch daran?«, fragte er.
»Daran ist nichts Verwerfliches. Wenn man Kinder hat, muss man eben früh aufstehen und kann nicht feiern gehen und Männerbekanntschaften sammeln. Man muss eine gewisse Ordnung haben und regelmäßig kochen. Das ist einfach so!«
»Es steht uns nicht zu, den Leuten vorzuschreiben, wie sie leben. Solange es den Kindern gut geht. Diese Mutter ist vielleicht nur abgehauen, weil sie Ihren Psychoterror nicht mehr ausgehalten hat.«
»Das ist Ihre Meinung! Ich wurde rehabilitiert, ich bin kurz darauf bei einem anderen Jugendamt eingestellt worden. Ein bisschen Strenge hat noch niemandem geschadet«, entgegnete sie.
»Was ist mit dem Jungen? Geht es ihm gut?«
Er schüttelte den Kopf und bedachte sie mit einem abschätzigen Blick. »Sie kennen die Datenschutzbestimmungen. Im Übrigen geht es ihm bestimmt besser, wenn Sie ihn in Ruhe lassen!« Er ließ sie grußlos sitzen und verließ den Raum.
Sie hatte gehofft, dass er zumindest inoffiziell eine Information weitergeben würde. So hatten sie und ihre Kollegen es gehalten, wenn es um Suchanfragen ging und sie davon überzeugt waren, dass die Daten nicht missbräuchlich verwendet wurden. Sie würde nicht ruhen, bis sie ihn gefunden hatte.
Der Alte hatte ihn nach dem Hauptgang gebeten, in sein Büro zu kommen. Wie immer thronte er an seinem pompösen Eichenschreibtisch unter dem goldgerahmten Porträt des eigenen Vaters. Kornelius fühlte sich vor dem ausladenden Möbelstück wie ein kleiner Junge.
Er schnipste die geringelten Reste vom Spitzen der Bleistifte in ein imaginäres Tor. Vergeblich versuchte er, sich in diesen Momenten auf sich zu besinnen. Er war doch wer! Die Seefahrtsschule hatte er mit guten Noten abgeschlossen und hätte sich die Stelle aussuchen können. Und seine Eltern waren keine Hartz-4-Empfänger, sondern ein respektables Helgoländer Unternehmerpaar. Doch unausgesprochen stand dem Alten die Geringschätzung ins Gesicht geschrieben, offenbar hatte er erwartet, dass sich seine geliebte jüngste Tochter Isabelle mit einem ebenbürtigen Partner verheiratete, der einen ähnlichen finanziellen Hintergrund bot.
Mit finsterem Ausdruck studierte der Senior irgendein Dokument. Nach Minuten sah sein Schwiegervater auf.
»Dieser Vermisstenfall. Du wirst diese Sache diskret behandeln, wir können keine schlechte Presse gebrauchen. Hörst du, Junge?« Sein Zeigefinger pochte stakkatoartig auf den Tisch. Er stellte weder eine Frage, noch hatte er nach seiner Meinung gefragt. Groll stieg in ihm auf. Er war doch Kapitän! Entschlossen ging er in den Nebenraum, holte sich einen Stuhl, rückte diesen zurecht und nahm Platz, bevor er dem Alten Paroli bot.
»Das ist nicht der erste Vorfall, seit ich das Schiff übernommen habe, ich hatte mehr als ein Dutzend polizeiliche Ermittlungen. Wir müssen klären, was dahintersteckt«, widersprach er, obwohl er wusste, dass man dem großen Reeder Hanke Nymann nicht widerspricht. Der Alte warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu.
»Wir müssen mit der Polizei zusammenarbeiten«, wiederholte Kornelius. Der Alte hatte die Fäuste geballt und die Lippen zusammengekniffen, die roten Adern im Gesicht waren hervorgetreten. Er schien kurz vor einem seiner Wutausbrüche zu stehen, bei dem Ferngläser oder Flaschen durch die Luft flogen.
»Du tust, was ich dir sage«, er haute die Faust auf den Tisch, dass die darauf befindlichen Fotorahmen umfielen. Dann brüllte er: »Rate mal, warum du mit deinen 29 Jahren Kapitän geworden bist?«
Sein Schwiegervater war aufgestanden und stand keinen Meter vor ihm entfernt. »Enttäusche mich nicht, und erst recht nicht meine Tochter. Sie sieht gar nicht glücklich aus!« Seine Stimme war zu einem Donnergrollen angeschwollen. Er hatte seine Hände in seine Richtung gehoben und nebeneinander beide Fäuste geballt, als wolle er ihn würgen.
Doch er ließ sie sinken, drehte sich wortlos um und ging aus der Tür. Kornelius hörte, wie er die Treppe hinabstieg. Er atmete durch und überlegte. Am liebsten wäre er nach Hause gegangen, doch das würde wieder einen Eklat auslösen. Er fühlte sich wie ein Trottel, als er seinem Schwiegervater in den Wintergarten folgte.
Die Damen plauderten über eine Kunstausstellung, die sie besuchen wollten. Seine Schwiegermutter servierte Schalen mit kunstvoll arrangierten Früchten auf Eis. Sie bedachte die Männer mit einem kurzen Blick. Fragen stellte sie nie und wirkte lieber im Hintergrund. Isa sah sie beide sorgenvoll und fragend an. Er wusste genau, zu wem sie im Fall eines Konflikts halten würde. Der große Papa. Sie sah bewundernd zu ihm auf und tolerierte keinerlei Kritik. Wenn der Patriarch ihn als Kapitän rausschmiss, dann könnte er sich gleich einen Scheidungsanwalt suchen. Nicht, dass er irgendwelche Ansprüche hätte, der Alte hatte ohnehin dafür gesorgt, dass ihr gemeinsam gebautes Haus am anderen Ende des Parks alleine seiner Frau gehörte. Er setzte sich neben sie und versuchte ein gezwungenes Lächeln.
»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte seine Gattin. Und er wusste, dass sie nur eine Antwort hören wollte. Sie war eine Meisterin darin, Probleme zu ignorieren, genau wie ihre Mutter. Also tat er, was von ihm erwartet wurde, und lobte scheinheilig den Nachtisch. Isa wandte sich wieder ihrer älteren Schwester Nat zu und unterhielt sich über irgendwelche Erziehungsfragen. Sein Schwager, der zu seiner Linken saß, schenkte Kornelius einen mitfühlenden Blick. Sie hatten nie explizit über das schwierige Verhältnis zum Reeder gesprochen. Doch Valentin war Mediziner und hatte sich als Schmerztherapeut in der Region einen Namen gemacht. So hatte er das Glück, finanziell unabhängig vom Nymann-Clan und ihren Familienunternehmen zu sein.
»Na Konny, was macht die Seefahrt?«, fragte er, und Kornelius überlegte, ob er von dem Verschwinden der Frau erzählen sollte. »Wir hatten einen Vorfall heute, Person über Bord. Das hat den Fahrplan etwas durcheinandergebracht«, berichtete er.
»Na, da ist der Reeder vermutlich gar nicht entzückt, wenn etwas nicht nach Plan läuft«, bemerkte sein Schwager. Dessen verständnisvoller Ton ging ihm gewaltig auf die Nerven. Am liebsten hätte er die versammelte Sippschaft angeschrien wegen all der verschwundenen Passagiere. Doch stattdessen fragte er höflich:
»Wie läuft es denn in der Praxis? Ist die Grippewelle durch?« Es hätte ihn erleichtert, mit jemandem über das Problem zu sprechen, doch er fühlte den warnenden Blick des Alten vom anderen Ende der festlich gedeckten weißen Tafel. Wehe, irgendjemand käme auf die Idee, die Geburtstagsfeier für seine Schwiegermutter durch reale Probleme zu sprengen. Diese wurden im Büro oder im repräsentativen Sitz der Reederei im Hafen besprochen, doch niemals bei einer Feier! Er konnte es kaum erwarten, der Reedervilla zu entkommen, auch wenn sein eigenes Haus leider nicht weit entfernt war.
Er hatte damals kurz versucht, seine Frau davon zu überzeugen, lieber einen Altbau in Sahlenburg zu kaufen, den er entdeckt hatte. Doch sie hatte ihm bedeutet, dass sie sich auf keinen Fall so weit von ihren Eltern entfernen wollte – dabei waren das nicht einmal zehn Kilometer. Er bedauerte, dass er nicht hart geblieben war.
Endlich stand seine Schwiegermutter auf und klingelte nach ihrer Haushälterin. Er musste sich bremsen, um nicht aufzuspringen. Er war erleichtert, als sie sich verabschiedet hatten. Mit seinem Wagen fuhr er Isa einmal um den Block, denn wegen des Regens hatte sie die 500 Meter mit ihren neuen Wildlederpumps nicht zu Fuß gehen wollen. »Hast Du irgendetwas, Schatz?«, fragte sie ihn im Auto, und das war schon ungewöhnlich. Normalerweise lasteten ihre Modeeinkäufe, Galeriebesuche und Klubmitgliedschaften sie komplett aus. Wenn ihn etwas belastete, bekam sie das gar nicht mit.
»Ich bin müde, Liebes. Wir hatten gestern einen Vorfall an Bord«, antwortete er und half ihr aus dem Auto.
»Was für einen Vorfall?«, fragte Isa. Sie hatte sich hingehockt und zog direkt in der Garage die neuen Pumps aus. Bis zum Eingang lief sie barfuß. Vermutlich taten ihr in den Schuhen mit den dünnen hohen Absätzen die Füße weh. Er verstand ohnehin nicht, wie man nur einen Meter damit laufen konnte.
Er nahm die zahlreichen Einkaufstüten aus dem Kofferraum, die ihre Mutter Isa mitgegeben hatte. Die Damen kauften nicht nur für sich, sondern füreinander ein. Sie saß auf dem Stuhl in der Diele und massierte sich die Zehen, er kam wie ein beladenes Lastkamel hinter ihr her.
»Eine Frau ist über Bord gegangen, wir hatten die Polizei da.«
Sie sah ihn aufmerksam an. »Weiß denn Papa davon?«
Er nickte. »Ja, und ich soll alles diskret behandeln.«
»Papa hat ja so viele Jahre Erfahrung. Der weiß, wie man mit solchen Krisen umgeht.« Es war doch wie immer. Der große unfehlbare Herr Reeder! Sie stand auf und ging in die Küche.
»Soll ich uns einen Tee machen?« Das bot sie selten an, normalerweise bekam sie seine Probleme gar nicht mit. Doch es war alles gesagt. Sie hielt zu ihrem Vater. An einem Denkmal sägte man nicht, da reagierte seine Frau sofort alarmiert. Er seufzte und stellte die Einkäufe auf den Tisch. Er wollte gar nicht wissen, was das alles gekostet hatte. Die Diskussionen über Geld arteten immer in Streit aus, sodass er nur resigniert nickte, wenn sie irgendeinen Firlefanz vor dem Spiegel probierte. Er beschränkte sich darauf, die Löcher zu stopfen, die ihr Luxusleben in das Budget riss. Eines war sicher. Den Alten würde er nicht wieder um einen Kredit bitten.
Kornelius setzte ein gezwungenes Lächeln auf und ging mit einer Entschuldigung in sein Büro unter dem Dach, den einzigen Raum, wo er sich zu Hause fühlte. Durch eine Häuserlücke sah er die Elbmündung mit den hell erleuchteten Containerriesen. Doch zum Abschalten hatte er keine Zeit. Das Telefon klingelte, und er sah, dass er Dutzende Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hatte. »Yasmina, du sollst nicht bei mir zu Hause anrufen«, flüsterte er heiser und hörte Gelächter am anderen Ende.
»Aye, Aye, Captain. Einen romantischen Abend«, dann legte sie auf. Wie hatte er sich nur darauf einlassen können? Er wollte nie einer dieser Männer sein, die in irgendwelchen schmuddeligen Hotelzimmern absteigen, doch tat er genau das. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis Isa ihm auf die Schliche kam. Dann verlor er alles – seine Frau, sein Ansehen, seine Stelle als Kapitän und sein Zuhause. Der Alte würde dafür sorgen, dass er nie ein Bein auf den Boden bekam. An einem lauen Sommerabend, als sie in Helgoland übernachteten, war er schwach geworden. Damals hatten sie einen Vermisstenfall, so wie jetzt. Sein Schwiegervater hatte davon nichts hören wollen. Er hatte auf der Terrasse gesessen, allein mit seiner Whiskyflasche. Sie war durch die offene Haustür gekommen und hatte sich auf seinen Schoss gesetzt.
Wie ein langer Schildkrötenpanzer tauchte vor ihnen die Insel am Horizont unter einer dichten Schicht finsterer Wolken auf, sie passierten das Leuchtfeuer der kleinen Sandinsel Düne. Die Seenotretter suchten weiter nach der Gestürzten, hatten aber bislang keinerlei Spur entdeckt.
Es gab nichts, was sie tun konnte, also kehrte sie zu ihrem Platz zurück. Prinz schlief auf seiner Decke, sein durchnässtes Fall sah struppig aus, war aber getrocknet. Er hob kurz den Kopf und drehte ihn dann beleidigt weg. Rike tätschelte ihm die Stirn. Sie hatte gegen ihre Vorsätze verstoßen. Sie brauchte eine Auszeit ohne Mord und Totschlag, Ruhe zum Nachdenken über eine neue berufliche Perspektive. Momente mit ihrem Vierbeiner verbringen. Aber dann war das Opfer ihr direkt vor die Nase gefallen. Sie hatte ihrem Freund Harry, dem Leiter der Helgoländer Wasserschutzpolizei ihre Hilfe bei den Befragungen der Passagiere und Crewmitglieder zugesagt. Seine Dienststelle hatte wegen Krankheitsfällen einen personellen Engpass.
Der Seegang war nicht weniger geworden, ihr Magen meldete sich. Vor dem Anlegen wollte sie auf die Toilette gehen. Eine lange Schlange zog sich die Treppe hinauf. Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie es endlich in den Innenraum geschafft hatte. In der Kabine nebenan flüsterte eine Stimme.
»Hast du gehört, dass es die Maiwald war, die von Bord geflogen ist? Sag mal, meinst du, sie hat die Alte geschubst? Die hat sie so fertig gemacht!«
Aus der anderen Kabine kam ein Kichern. »Die fette Kuh? Aber du hast recht, stille Wasser sind tief. Die Alte ist ja einige hart angegangen.«
Rike horchte auf, es ging um die Tote. Was wussten die Frauen? Sie wartete, bis sich eine Kabinentür öffnete, und wollte die Flüsterinnen zur Rede stellen. Vermutlich waren es Jugendliche aus der Schulklasse. In dem Moment kam Harry auf sie zu und zog sie an sich. »Rike, dich schickt der Himmel. Ich verspreche dir, dass ich dich danach in Ruhe zu deinem Vogelprojekt lasse.«
»Da hättest du auch keine Chance. Du glaubst nicht, wie sehr ich diese Auszeit brauche. Und du hast mich ja auf die Idee gebracht. Hoffentlich war das kein Anwerbungstrick?«
Er lachte laut. »Du kennst mich, das würde ich nie tun.«
»Da kenne ich dich aber besser!«, entgegnete Rike.
Er sah kaum älter aus als in ihrer gemeinsamen Studienzeit. Noch immer war er sportlich gekleidet, in Jeans und einem Streifenshirt. Die blonden Haare waren sturmzerzaust. Drahtiger wirkte er und gebräunt.
Junge Frauen kamen aus der Toilette, doch sie konnte nicht zuordnen, wer aus welcher Tür getreten war.
»Wollen wir loslegen?«, riss er sie aus den Gedanken. »Kann ich dich kurz sprechen?«, bat sie.
Eine Kollegin in Uniform trat zu ihnen.
»Madeleine, unsere neue Mitarbeiterin«, stellte er sie vor. Rike reichte ihr die Hand.
Sie folgte den beiden in einen kleinen Salon, den die Bardame eigens für sie aufgeschlossen hatte. Dann berichtete sie, was sie gesehen hatte. Die Kollegen hatten Notizen gemacht. »Du müsstest auch ein Protokoll unterschreiben«, bat Harry. Sie nickte. »Da ist noch etwas.«
Sie berichtete von dem Gespräch auf der Toilette. »Diese Mädchen scheinen etwas zu wissen, aber es könnte sein, dass einige aus der Schulklasse traumatisiert sind.«
Harry nickte. »Wir sollten mit Fingerspitzengefühl mit ihnen reden. Wir nehmen alle Personalien auf und befragen diejenigen vom oberen Deck, die etwas gesehen haben könnten.«
Das Personal wies die Passagiere ein, um den Prozess zu beschleunigen. Die Befragung sollte im vorderen Salon stattfinden.
»Du hast noch etwas auf dem Herzen«, bemerkte Harry. Er kannte sie. Sie rang mit sich, ob sie die Information über den Schatten preisgeben sollte, da ihre Wahrnehmung so vage war.
Sie nickte zögernd. »Ich habe den Sturz mitbekommen, ich meine, auf dem Deck darüber einen Schatten, eine schnelle Bewegung wahrgenommen zu haben. Ob es ein Mensch war, eine Möwe – das kann ich leider nicht sagen.«
»Hast du nicht noch irgendetwas gesehen?«, bohrte Harry. Das hätte sie vermutlich auch getan.
»Ich weiß, wie frustrierend diese halbblinden Zeugen sind. Aber ich war seekrank, durchnässt und völlig durchgefroren. In dem Moment habe ich mein Frühstück ans Meer abgegeben, wenn du es genau wissen willst.«
»Okay, wenn das alles ist, lass uns loslegen.«
Sie gingen in den Salon nebenan und teilten die Gruppe auf. Kollegen vom Zoll kopierten am Ausgang die Personalausweise. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Es folgte noch die Schulklasse. Ein aufgebrachter Mann stürmte in den Raum. Er trug einen Schlabberpulli, darüber einen Ostfriesennerz.