Störtebekers Erben - Susanne Ziegert - E-Book

Störtebekers Erben E-Book

Susanne Ziegert

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Beschreibung

Auf dem Inselfriedhof liegt der beliebte Kaufmann Peter Hein in seinem Blut. Der Schädel wurde abgetrennt und auf einen Zaun gespießt. Die Kommissarin Friederike von Menkendorf übernimmt den Fall und verhaftet den Falschen - der Mörder schlägt ein zweites Mal zu. Doch was verband die beiden Opfer? Die Malerin Margo Valeska ermittelt auf eigene Faust und kommt der Wahrheit gefährlich nahe. Wird ein Geheimnis aus der Vergangenheit der Pirateninsel im Wattenmeer vor Cuxhaven gelüftet?

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Susanne Ziegert

Störtebekers Erben

KRIMINALROMAN

Zum Buch

Inselmörder Auf dem Friedhof der Insel Neuwerk liegt der beliebte Kaufmann Peter Hein in seinem Blut – sein abgetrennter Schädel wurde auf einen Zaun gespießt. Die Hamburger Kommissarin Friederike von Menkendorf übernimmt den Fall. Ein Schatzgräber ist verdächtig, denn er hat mittelalterliche Dokumente über Störtebeker vom Opfer in seinem Besitz und wurde am Tatort gesehen. Doch dann schlägt der Mörder ein zweites Mal zu. Das Opfer ist Hamburgs Umweltsenator, der die Gegend mit einem gigantischen Hafenausbau zubetonieren wollte. Die Polizei sucht fieberhaft nach Verbindungen zwischen den beiden Männern, um weitere Taten zu verhindern, während die Insulaner schweigen. Die Malerin und Leuchtturmhüterin Margo Valeska stellt eigene Recherchen an. Dabei stößt sie auf Jugendliche, die vor Jahren Piraten spielten und gestrandete Schiffe ausraubten. Zudem entdeckt sie ein schreckliches Geheimnis und vermutet eine Verbindung zu den Morden, doch die Polizistin glaubt ihr nicht. Wird der Mörder erneut töten?

Susanne Ziegert wurde im Erzgebirge geboren und wuchs in Leipzig und Plauen im Vogtland auf. Zwei Tage vor dem Mauerfall floh sie in den Westen, um endlich Paris zu sehen. Nach ihrem Studium in Aix-en-Provence in Südfrankreich arbeitete sie mehrere Jahre in Brüssel und zog dann nach Berlin, wo sie eine Stelle als Reporterin bei der Berliner Morgenpost antrat. Seit 2019 lebt Susanne Ziegert mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Pferden und Eseln in einem alten Bauernhof im Landkreis Cuxhaven und in Berlin. Sie arbeitet als Journalistin für die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. Schreiben war ihr von klein auf ein Bedürfnis. Als Kind verfasste sie Briefe in alle Welt, Tagebücher sowie einen Roman über die Stadt der Liebe. Schon damals träumte sie davon, Schriftstellerin zu werden.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Dieses Werk wurde vermittelt von der Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Dirk70/photocase.de

ISBN 978-3-8392-5690-9

Gedicht

Heimatlos! Wie weh’ das klingt.

Namenlos ins Grab gesenkt.

Das kein Mutterarm umschlingt,

Dem kein Bruder Blumen schenkt.

Ach, im Wind der diesen Stein,

Diesen Hügelsand umweht,

Wird manch banges Klagen sein,

Das euch weinend suchen geht.

Aber reiht sich himmlisch schön,

Nächtens oben Licht an Licht,

Taut’s wie Trost aus jenen Höh’n:

»Heimatlose seid ihr nicht.«

Gustav Falke, Inschrift auf dem Friedhof der Namenlosen

Kapitel 1

Schwarz hoben sich die Umrisse der Holzkreuze vor dem Lichtschimmer des Leuchtturms ab. Ein kalter Westwind fauchte über den Deich, aber hinter dem Schilfwall, im Schutz der kreisförmig gepflanzten Erlen, war es fast windstill, und die Insel wirkte wie ausgestorben.

Nur ein paar Pferdeäpfel auf dem Platz vor dem Leuchtturm erinnerten noch an den Trubel des Tages. Bei Ebbe, wenn sich das Meerwasser zurückgezogen hatte, schoben sich gelbe Pferdewagen in einer Reihe die steile Auffahrt an der Insel hinauf über den Pflasterweg und setzten schließlich die Tagesbesucher vom Festland auf dem Platz vor dem Leuchtturm ab. Paul hatte das Hallen der Pferdehufe gehört und aus dem Fenster zugesehen, wie sich der Platz bevölkerte und die Touristen zu einem Schnelldurchgang der Sehenswürdigkeiten aufgebrochen waren.

Vor dem Laden des Inselkaufmanns am Platz vor dem Leuchtturm hatte sich eine längere Schlange gebildet. Mit Fischbrötchen und Bier ließen sich die ersten Besucher trotz der herbstlichen Temperaturen vor dem Laden auf den Holzbänken nieder, Grüppchen waren über den Deich spaziert und hatten das Tor zu dem kleinen Friedhof der Namenlosen geöffnet, wo seit Jahrhunderten Unbekannte bestattet wurden, die im Meer den Tod gefunden hatten.

Erleichtert hatte Paul gehört, wie ein Kutschfahrer mit einer Glocke die nahende Flut ankündigte. Nicht einmal zwei Stunden dauerte der Trubel Tag für Tag, rechtzeitig vor der auflaufenden Flut trabten die schweren Kaltblüter mit den Gästen auf den hohen gelben Wagen zur Küste zurück. Danach waren die Insulaner und die wenigen Übernachtungsgäste wieder unter sich.

Nach Einbruch der Dunkelheit schlich sich Paul die hölzernen Stufen des alten Leuchtturms hinunter und setzte dabei seine Stirnlampe auf. Nun würde er endlich ans Ziel kommen. Schon seit Jahren hatte er auf diesen Moment hingearbeitet. Zum Glück hatte niemand seine Ausrüstung entdeckt, die er im dichten Unterholz hinter dem Leuchtturm deponiert hatte. Er schleppte die Tasche zum zweiten Mal am unbeleuchteten Weg hinter dem derzeit unbewohnten Schullandheim entlang, querte schnellstmöglich den beleuchteten Mittelweg zum Nationalparkhaus und nahm dort den abgesperrten Schleichweg über die kleine baufällige Holzbrücke. Ihn trennten nur noch wenige Meter vom Eingang des Friedhofs, er suchte den über ihm verlaufenden Deich ab, konnte aber niemanden entdecken. Voller Ungeduld hatte er an diesem Abend bereits in der Dämmerung einen ersten Versuch unternommen und gerade alles ausgepackt, als ein laut streitendes Paar über den Deich gelaufen kam. Sie setzten ihre Abrechnung ausgerechnet vor dem kleinen Friedhof fort.

Er wartete geduckt hinter dem Gedenkstein, einem wuchtigen Findling mit einer Bronzetafel in Form eines Rettungsrings und einem daraufgesetzten hölzernen Kreuz in der Mitte des kreisförmig angelegten Friedhofs. Jemand hatte dort drei rote Grabkerzen aufgestellt und Blumen abgelegt, vielleicht jemand, der Angehörige in der Nordsee verloren hat, grübelte er und betrachtete die beiden Reihen schlichter Holzkreuze um den Findling herum. Jedes stand für einen Toten, der im Watt aufgefunden oder an die Ufer der Insel gespült worden war. Nur ein Holzkreuz war etwas mächtiger als die anderen, mit einer Holzschnitzerei verziert und mit einem Namen versehen. Der Sprössling einer reichen Bremer Familie war mit seiner Segeljacht im Watt gekentert und ertrunken, das hatte ihm ein älterer Insulaner erzählt, der Stammgast beim Kaufmann war.

Paul kauerte immer noch in seinem Versteck und versuchte, seine Beine abwechselnd zu lockern. Er sah in Richtung der kleinen Brücke, vor der sich der Eingang befand. Er konnte das Paar wegen des Windes nicht verstehen, doch ihre Stimmen klangen versöhnlicher, sie schienen ihn nicht entdeckt zu haben. Fast eine halbe Stunde hatte er gewartet, bis sich die beiden entfernt hatten, da nahte noch eine Gruppe Urlauber auf dem Deich, die den rot zerlaufenden Sonnenball hinter der markanten Silhouette des Turms ablichten wollten, und ihr Stativ aufbauten. Paul hatte sein Vorhaben schließlich um ein paar Stunden auf den späten Abend verschoben.

Als er jetzt aus der Tür schlüpfte, um einen zweiten Versuch zu wagen, war es stockfinster, nur der Turm sandte seine roten und grünen Blinksignale. Paul ließ seine Blicke von der Leuchtkuppel hinabschweifen über die düsteren Umrisse des Turms. Jetzt im Dunkeln sah er nur die Umrisse des Backsteinbaus, und dieser schien noch imposanter zu wirken als im Hellen, ganz und gar nicht wie einer der typischen runden schlanken Leuchttürme, sondern eher wie der Festungsturm einer Burg. Sogar die meisten Fenster wirkten wie Schießscharten in den meterdicken Mauern. Jetzt waren sie dunkel, nur in der zweiten Etage sah er einen Lichtschein, das musste der Flur der Pension sein, wo immer eine Art Notbeleuchtung an war.

Niemand aus dem Leuchtturm schien ihn bemerkt zu haben, auch nicht Margo, mit der er sich in den vergangenen Tagen trotz seiner Vorsätze mehrmals lange unterhalten hatte. Warum musste ihm diese Frau ausgerechnet jetzt über den Weg laufen?

Er verdrängte den Gedanken an Margos leicht spöttischen Blick, an den er viel zu oft denken musste, und rief sich selbst zur Räson, schälte seine Sonde aus der Hülle und fuhr Zentimeter für Zentimeter über den Boden. Bei seinem ersten Versuch hatte er einige Meter vom Gedenkstein entfernt gerade ein Signal empfangen, als er gestört wurde. Jetzt musste es klappen, ihm blieben nur noch zwei Tage in seinem Leuchtturmzimmer.

Die Sonde fiepte, er musste die richtige Stelle erreicht haben, doch was war das? Beinahe wäre er auf seine Sonde gefallen, mitten im Weg lag ein Ast. Er berührte ihn mit dem Fuß, die nackte Angst durchfuhr ihn. Das war kein Ast, das war ein Arm. Da lag jemand bewegungslos auf dem Friedhof. Sternhagelvoll, dachte Paul, knipste seine Stirnlampe an und wollte die traurige Gestalt durch ein paar Ohrfeigen wieder zu Bewusstsein bringen. Er versuchte, den Körper zu drehen, doch der Arm war steif und die Hand eiskalt.

Blitzartig wurde ihm klar, dass seine Hilfe zu spät kam, der Mann war mausetot. Diesen Wollpullover mit dem Zopfmuster hatte er heute auch schon gesehen, da hatte das Kleidungsstück allerdings noch nicht diese dunkelroten Einfärbungen. Das war doch Hein, der Inselkaufmann. Paul schauderte es, als er ein Rascheln im Gebüsch hörte. So schnell er konnte, raffte er seine Ausrüstung zusammen und rannte los, im Laufen zwängte er die Sonde in die Hülle. Seinen Plan konnte er nun erst einmal abschreiben. Bald würde alles von Polizei wimmeln, und das war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Kapitel 2

Das leise Knarren auf der Treppe entlockte Margo, die im Zimmer hinter der Rezeption am Computer saß, ein amüsiertes Lächeln. In dem Leuchtturm brauchte man einfach keine Alarmanlage, die jahrhunderte alte Holztreppe knarrte und quietschte, so vorsichtig man seine Füße auch setzte. Das Treppenhaus war außerdem lückenlos mit Kameras behängt, um die sogenannte Staatsetage, die sich über dem kleinen Hotel befand, vor unerbetenen Besuchern abzuschirmen. Im historischen Ratssaal mit den alten Wappen im oberen Geschoss konnten Hamburgs Senatoren tagen, wenn sie den Außenposten der Stadt besuchten. Drei luxuriöse Suiten standen für längere Aufenthalte bereit. Für das Wohlbefinden der Amtsträger war das Neueste und Teuerste gerade gut genug. Die Besuche waren jedoch rar, und die Räume standen meist leer.

Margo erkannte ihren derzeit einzigen Gast, der offenbar versuchte, die knarrende Treppe zu überwinden, ohne dass es jemand merkte. Seine Schuhe trug er in der Hand und drückte sich an die Wand, er wollte nicht gesehen werden. Lassen wir ihn mal in dem Glauben, dachte Margo. Dann fiel ihr Blick aber auf einen schwarzen Schatten. Was war das für eine merkwürdige, lange schwarze Tasche, die er sich umgehängt hatte und mit beiden Händen festhielt? Man sieht die merkwürdigsten Dinge, hatte sie die Wirtin vorgewarnt, sogar auf einer ganz kleinen stillen Insel in der äußersten Provinz. Sie saß noch spät vor dem Computer, denn sie wollte der Wirtin Hillu ihren ersten Bericht schicken und überlegte krampfhaft, was sie ihr an besonderen Vorkommnissen mitteilen sollte. Ihre Gedanken schweiften ab, und sie dachte an ihre abenteuerliche Überfahrt vor einer Woche. Wie in einer Karawane in der Wüste kamen die Pferdewagen über das Watt gefahren, diese graue Sandfläche voll unberechenbarer Wasserläufe. Es war beeindruckend für Margo, als sie auf dem Kutschplatz auf dem Festland stand und dann die ersten Wagen in der Ferne auftauchen sah. Sie schienen direkt aus dem Meer zu kommen, in der Ferne hinter ihnen sah Margo große Schiffe vorüberfahren. »Ist das nicht gefährlich?«, hatte sie einen älteren Mann gefragt, der sich um das Gepäck der Touristen kümmerte. Doch der belehrte sie, dass die Pferdewagen nur bei Ebbe hin- und herfuhren, und diese Wattwagen seien immer noch die zuverlässigste Möglichkeit, auf Neuwerk zu kommen. Die fuhren auch noch in der Nachsaison, wenn das Schiff Pause machte, bei Regen, Sturm und Gewitter. Jeweils bei Ebbe setzten sich die speziell für den nassen Untergrund konstruierten Kutschen am Festland und auf der Insel in Bewegung, um Gäste oder Material auf die andere Seite zu bringen.

Schon seit Jahrhunderten fuhren die Insulaner gemeinsam zum Festland, um sich beizustehen, wenn ein Wagen mit seinen Rädern in einen tiefen Priel geriet oder eines der Pferde stürzte. Das passiert nur sehr selten, versicherte ihr der Mann. Die Kutschen waren mittlerweile am Sandstrand angekommen, die Pferde nahmen Schwung und kamen dann auf den Halteplatz angetrabt. Ihr Gesprächspartner warf ihre Koffer nach hinten und stellte ihr eine Leiter an die Kutsche, und sie war erstaunt, wie hoch diese war. Zwischen den Rädern und einem Aufbau mit Sitzbänken befand sich noch eine Art Gestell, durch die Höhe blieben die Gäste meist trocken, hatte sie von ihrer Bekanntschaft erfahren. Sie nahm auf einer kalten und durchnässten Sitzbank Platz. Der Kutscher hatte ihr kurz zugenickt und dabei einen knurrenden Ton von sich gegeben, der wohl eine Begrüßung sein sollte. Hillu hatte ihr in der Mail geschrieben, dass sie sich am Deich einfinden sollte und dass sie dort von einem Wattwagen abgeholt würde. Das sei eine wunderschöne Überfahrt, manche Touristen kämen nur nach Neuwerk, um einmal mit einem solchen Wattwagen zu fahren. Die Geschmäcker sind eben verschieden, dachte Margo. Sie verstand bald, warum der Mann mit dem Cowboyhut so verkniffen aussah. Sie fröstelte schon nach wenigen Minuten auf dem feuchten Sitz unter dem strömenden Regen, merkte, wie die Feuchtigkeit durch ihre Kleidung hindurch bis auf die unterste Schicht kroch, und schlang die Decke fester um sich.

Die beiden schweren großen Pferde trabten den Strand hinab und in den graubraunen Schlamm hinein. Das Wasser spritzte Margo ins Gesicht, an der Seite wirbelten die Räder noch mehr Nass nach oben. Ihre Augen brannten von den Regentropfen, sie sah ohnehin nur Schlamm um sich und Wasser. Der Wagen schien geradezu ins Nichts zu fahren. Erleichtert sah sie nach einer unendlich lang erscheinenden Zeit Land vor sich auftauchen, grün ragte es aus dem Meer hervor, außer einem rötlichen Gebäude, wahrscheinlich dem Leuchtturm, konnte sie keine Häuser erkennen. Das musste Neuwerk sein, ihre neue Heimat für die nächsten sechs Monate.

»Böses Omen«, hatte der Cowboy finster gebrummt, als sie nach einer Stunde triefend und durchgefroren am Leuchtturm angekommen waren. Margo hatte schon genug über die Insulaner gehört, ein streitbares Völkchen, das gegen Festlandbewohner fest zusammenhielt.

»Ich bin die neue Leuchtturmwärterin – jedenfalls für den Winter«, hatte sie sich ihm vorgestellt.

»Die Letzte ist nach drei Tagen abgehauen: Inselkoller«. Verächtlich spuckte der Typ irgendein braunes Zeug haarscharf an ihr vorbei, wahrscheinlich Kautabak. »Wir sind hier nicht so verkommen wie ihr auf dem Festland. Hier hilft jeder jedem. Doch das geht in eure Köpfe nicht rein.« Er schlug sich mit der Hand an seinen wassertriefenden Lederhut.

Der Typ hatte offensichtlich etwas gegen Zugezogene im Allgemeinen, und sie konnte er wohl im Besonderen nicht ausstehen. Wortlos ließ er ihren Koffer vor den Eingang plumpsen und ging ohne Gruß zurück zu seinem Gespann. Er winkte nur ab, als sie ihn fragte, was sie für die Überfahrt schuldete.

»Das hat Hillu geregelt. Die weiß, was sich gehört.«

Das war nicht gerade ein ermutigender Anfang, aber sie war nicht zum Vergnügen hier. Und sie fragte sich, wie sie die Stille der Natur aushalten würde. Sie liebte ihre Wahlheimat Berlin, die Stadt hatte genau die richtige Größe, war nicht ganz so hektisch, wie Paris, wo sie davor studiert hatte. In Berlin lebte es sich entspannter, die Stadt war aber dennoch lebendig und inspirierend für sie.

Selbst ihre Bilder, die sie als Malerin schuf, zeigten keine grünen Idyllen oder gar Meer mit fluffigen Wolken, sondern Großstadtlandschaften mit Brücken, Schienen oder Hochhausgebirgen. Die Natur inspirierte sie nicht zum Malen, ihre Kunst brauchte das schrille Kreischen der Hochbahn in den Kurven, das Heulen der Martinshörner, und sie vermisste sogar das monotone Spiel des bulgarischen Akkordeonisten unter ihrem Kreuzberger Fenster. Aber sie brauchte Zeit für sich, sechs Monate, nachdem ihre Mutter gestorben war. Der Notar hatte ihr zwei Briefe ausgehändigt, einen, den sie nach dem Tod ihrer Mutter verschicken sollte und einen, der an sie selbst gerichtet war. Diese letzten Worte hatten sie tief erschüttert, doch der Brief hatte ihre Fragen, die sie ihrer Mutter gerne gestellt hätte, nicht beantworten können, er hatte sie mit noch mehr Fragen allein zurückgelassen und Margo hatte beschlossen, diesen Dingen auf den Grund zu gehen.

Mutterseelenallein fühlte sie sich, und das war sie ja nun auch, ihr Lebensgefährte Friedrich hatte kein Verständnis für ihre Trauer und ihre Grübeleien gezeigt. Sie wollte deshalb auch gleich eine Auszeit von dem Mann an ihrer Seite nehmen, um über ihre Beziehung nachzudenken. Sie hatte es satt, immer nur das Anhängsel des bekannten Ökounternehmers zu sein und nur eine winzig kleine Nebenrolle in dessen Leben voller bedeutsamer Termine zu spielen.

Von einem Tag auf den anderen hatte sie die Stelle als Vertretung im Leuchtturmhotel angenommen. Die Hotelbetreiberin wollte den Winter mit ihren Kindern auf dem Festland verbringen. Bald war Saisonende, dann hatte Margo keine Gäste mehr zu betreuen, sondern einen Bereitschaftsdienst mit Präsenzpflicht, denn die Senatswohnung musste dauerhaft besetzt sein. Außerdem hatte Hillu ihr eine Liste mit Erledigungen hinterlassen, die sie im Lauf des Winters abarbeiten sollte. Stress würde sie auf jeden Fall nicht haben, wenn sie nicht einmal mehr Frühstück servieren musste.

Sie schaute hinter sich auf den Kalender, die Pension war nur noch zwei Tage geöffnet. Sie fragte sich, wie sie mit der Ruhe und der Einsamkeit zurechtkommen würde, wenn bald der letzte Gast abgereist war. Insgeheim hoffte sie, dass ihr Lebensgefährte nun um sie kämpfen würde und vielleicht ganz überraschend ein Motorboot chartern würde und zu Besuch käme. Offiziell fuhren die Wattwagenkutscher außerhalb der Saison nicht mehr täglich zwischen Insel und Festland, doch gegen das entsprechende Kleingeld würden sie sicher ihre Pferde anspannen. Aber sie wusste auch, dass sie sich wahrscheinlich etwas vormachte. Er hatte beim Abschied am Bahnsteig niedergeschlagen gewirkt und gesagt, dass er sie vermissen werde. Sicher war sein Bedauern über ihre lange Abwesenheit nicht gespielt gewesen, aber in seinem stressigen Alltag hatte er dies bestimmt schon bald wieder vergessen. Ihr Blick fiel wieder auf den Computer, gerade einmal zwei Zeilen hatte sie in ihrem Bericht geschafft. Vielleicht war es besser, sie würde sich am Morgen mit neuer Energie an den Text setzen. Dann fiel ihr noch ein, dass ihr Hillu eingeschärft hatte, den Konzertabend im »Seemannsgarn« nicht zu verpassen, der an diesem Abend stattfand. Sie schloss die Tür zur Rezeption ab und ging über den Flur in ihr Zimmer, das sich auf der gleichen Etage befand.

Heute Abend wollte sie endlich wieder unter Menschen gehen; sie hoffte, weitere Inselbewohner kennenzulernen, die Antworten auf all ihre Fragen hatten.

Margo schlüpfte in ein kurzes schwarzes Kleid, zog elegante Schuhe an und den dicken Wollmantel darüber, um sich gegen den Wind zu schützen. Der Platz vor dem Leuchtturm wirkte wie ausgestorben, die Fensterläden am Schullandheim waren geschlossen, das Haus winterdicht eingemottet, und auch beim Kaufmann, ihrem direkten Nachbarn, war kein Licht zu sehen. Heins Wohnung befand sich über seinem Laden, davor hatte er zwei Zelte mit Sitzbänken aufgestellt, damit die Tagestouristen seine Fischbrötchen auch bei Schlechtwetter im Trockenen verspeisen konnten. Sie hatte sich anfangs gewundert, warum er täglich andere Öffnungszeiten hatte, und dann verstanden, dass sich der komplette Rhythmus der Insel nach den Gezeiten richtete. Ob Hein auch zu dem Konzert gegangen war? Sie war froh, als sie auf dem beleuchteten Mittelweg angekommen war, der nach Norden führte, rechts und links in der Dunkelheit befanden sich Weiden, auf denen Kutschpferde und Kühe grasten. Sie musste dem Weg bis zum anderen Ende der Insel folgen, das zum Glück keine zwei Kilometer entfernt war. Schon von Weitem sah sie die hell erleuchteten Fenster vor sich, das musste das »Seemannsgarn« sein, Kneipe, Café, Restaurant und Konzertbühne in einem, der einzige Ort mitten im Wattenmeer, wohin man ausgehen konnte, hatte ihr Hillu vorgeschwärmt. Das schloss insbesondere den Wirt ein, den Musiker Jo Prell, der als Wattrocker bekannt geworden war.

Angefangen hatte er mit einer schnell zusammengezimmerten Holzbude hinter dem Deich. Damals reichte der Wattrocker seine Grogs und geräucherten Heringe über den Tresen ins Freie und sang im Sommer mit der Gitarre am Lagerfeuer. Aus der Bude war ein solides Gasthaus mit gutbürgerlicher Küche geworden und der Wattrocker eine Berühmtheit. Mit seinen Konzerten füllte er selbst größere Veranstaltungsorte und wurde bundesweit in Talkshows eingeladen.

Vor dem flachen Holzbau, der an ein traditionelles Friesenhaus mit Reetdach angebaut war, wehte knatternd eine schwarze Piratenflagge, das Markenzeichen, das wohl noch aus den Anfangsjahren stammte.

Margo stand in der offenen Tür und ließ ihren Blick über den mit Fischernetzen, Rudern, Muscheln und präparierten Fischen dekorierten Gastraum schweifen. Links befand sich ein Tresen, vor dem sich die Gäste drängten, rechts und links davon waren die Tische im Restaurant voll besetzt, zwei Kellner mit Piratentüchern um den Kopf eilten mit Tellerstapeln an ihr vorbei, eine weitere Bedienung im Seeräuberkostüm verteilte kleine Gläser mit Hochprozentigem, wohl zur Verdauung der norddeutschen Spezialitäten. Zum Essen war Margo zu spät dran, dabei sollte es hier die beste Nordseescholle Neuwerks geben. Von einem runden Tisch, der auf einer kleinen Plattform in der Mitte der beiden rechtwinklig aufeinander zulaufenden Gasträume um einen alten Schiffskompass herum gebaut war, sah sie jemanden hektisch in ihre Richtung winken.

David, der Leiter des Nationalparkhauses, ruderte mit seinen Armen, um Margo an den Tisch zu lotsen, an dem er mit zwei Wattführern vom Festland beim Bier saß. Margo hatte die beiden mehrmals beim Inselkaufmann gesehen, als sie mit einer Gruppe Wanderer eingetroffen waren. Sie setzte sich neben David und scherzte: »Lange nicht gesehen«, denn er hatte noch am Nachmittag eine Gruppe Ornithologen auf den Leuchtturm begleitet.

»Manche Menschen kann man gar nicht oft genug sehen«, antwortete David, als ihn Margo mit einem Küsschen begrüßte.

»Oho, der Schwerenöter. Wo ist denn deine Freundin?«, rief einer der beiden Männer in Davids Richtung. »Wir sind gestrandet«, erklärte er Margo. Sie waren mit ihren Gästen vom Festland durch das Watt gewandert und sollten mit dem Schiff zurück fahren, doch wegen des Sturmtiefs war der Schiffsverkehr ausgesetzt, und die Gruppe saß über Nacht auf der Insel fest. Ein Paar mittleren Alters kam an den Tisch und protestierte lautstark gegen die Programmänderung.

»Aber es muss doch möglich sein, von dieser öden Insel zu kommen«, zeterte die dickliche Frau in bunter Funktionsbekleidung. »Mein Mann ist Unternehmer, er hat schließlich wichtige Termine.« Der stille sehr dünne Gatte schwieg zu dem Lamento. Die Gattin zischte verächtlich. »Nicht mal einen Wellnessbereich gibt es!« Plötzlich verstummte sie.

Ein blonder Hüne im Karohemd mit Dreitagebart hatte sich den Weg von der mittlerweile sehr vollen Bar zu ihrem Tisch gebahnt und deutete eine leichte Verbeugung vor Margo an: »Die schöne Leuchtturmwärterin, welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte.« Seine wasserblauen Augen hatte er wie Scheinwerfer auf Margo gerichtet, und seine Gedanken ließen sich leicht erraten, als sein Blick an ihrem Dekolleté hängen blieb.

»Ich bin Jo. Jo Prell, wie Jacques, aber mit P und zwei L«, sagte er dann und streckte erst Margo und dann David lässig seine Pranke hin, die anderen Gäste am Tisch bedachte er mit einem leichten Nicken.

»Malgorzata, kurz Margo«, stellte sie sich vor. Sie kannte den Wattrocker bisher nur aus den bunten Magazinen, in denen sie manchmal im Wartezimmer ihres Zahnarztes blätterte; dass er sich nun neben sie gesetzt hatte, passte perfekt in ihren Plan. An Seemannsgarn über Jo Prell fehlte es nicht, sie war natürlich auch davor gewarnt worden, dass er ein unverbesserlicher Casanova sei, der in jedem seiner Konzertorte mehrere Freundinnen habe. Es kam ihr aber durchaus gelegen, dass er offensichtlich mit ihr flirten wollte. Am besten reden lassen und ganz naiv auf sein Geplänkel einsteigen, dann wird er mehr Informationen preisgeben, als ihm am Ende lieb ist.

»Jetzt verstehe ich den Namen ›Seemannsgarn‹«, entgegnete sie.

»Was lässt Sie denn zu dieser überraschenden Schlussfolgerung kommen, schöne Frau?«, er warf ihr einen langen und eindeutigen Blick zu.

»Nun ja, Leuchtturmwärter sind ja leider ausgestorben. Und bescheiden ist die Hütte nur noch auf dem Foto.« Sie deutete auf eine Reihe Schwarzweißaufnahmen an der Wand, auf denen noch das alte Holzhäuschen mit Piratenflagge zu sehen war.

»Genau genommen sitzen wir jetzt noch hier«, erklärte der Musiker. Mit seiner rechten Hand skizzierte er vier Linien in der Luft und zeigte in Richtung der Wände des großen Mittelraumes. »Genau hier, das sind exakt zehn Mal drei Meter, der Grund, den mir mein Vater für mein Geschäft überlassen hat. Ansonsten hat er mich enterbt. Alles andere habe ich mir selbst erarbeitet, Jahr für Jahr ein Stück ausgebaut«, erklärte er voller Stolz. »Aber wenn mich mein Alter damals wegen der Musik nicht rausgeschmissen hätte, dann wäre ich heute nicht hier, wo ich bin.«

»Ja, manchmal kann ein Familienkrach auch Gutes bewirken«, pflichtete ihm Margo bei. »Dann sind Sie trotzdem Ihrer Insel treu geblieben?«, fragte sie, als eine dickliche blonde Frau mit Kochmütze an den Tisch trat, die den Wattrocker wütend anblickte und mehr forderte als fragte: »Kommst du bitte mal in die Küche, Schatz!«, was dieser ohne hörbaren Protest auch tat.

»Jaja, da weiß man, wer die Hosen anhat«, mokierte sich David über Jos Abgang.

Margo entdeckte auf dem Stuhl neben ihr etwas Weißes, das Jo aus der Tasche gerutscht war. Unauffällig schob sie ihre Handtasche darüber und steckte das verlorene Stück Stoff in die Tasche. Sie würde es sich später genau ansehen. Bisher war der Abend ganz gut gelaufen, jetzt konnte sie den kulturellen Höhepunkt des Insellebens genießen, jedenfalls sahen das die Ureinwohner so.

Eine Viertelstunde später setzte sich der Wattrocker mit seiner Gitarre auf die Bühne. Er begleitete sich selbst zu, wie er ankündigte, romantisch-depressiven Songs über die Gezeiten, die Natur, das Leben, die Liebe, die in seinen Liedern selten gut ausging, seinen Bruder, der zu früh gegangen war.

»Was war denn mit seinem Bruder?«, fragte sie David leise.

»Der hatte wohl einen Unfall im Watt, war vor meiner Zeit«, flüsterte er und verabschiedete sich dann. Margo hörte gebannt zu. Die poetischen Texte seiner Songs, die er mit seiner rauchigen Stimme vortrug, überraschten Margo. Sie hatte eher so eine Art Stimmungsmusik erwartet. Mittlerweile hatten sich die Tische geleert, da stimmte Jo mit einigen Fans noch das »Insellied« an. Es war eines der stimmungsvoll fröhlichen Lieder, die den Ruhm des Musikers begründet hatten, die er allerdings nur noch auf ausdrückliches Verlangen des Publikums spielte.

»Der Rausschmeißer«, scherzte einer der Wattführer. »Länger darf er nicht, da schimpft die Gattin.« Margo erschrak, als sie auf die Uhr sah. Schon nach eins, sie schnappte ihre Handtasche, nickte dem Künstler kurz zu und eilte zum Leuchtturm zurück. In nicht einmal sechs Stunden musste das Frühstück bereit sein. Doch der Abend hatte sich gelohnt, sie hatte etwas, das sie weiterbringen würde. Sie sah sich den Stoff genauer an, legte ihn in eine Plastiktüte und verstaute diese ganz unten in ihrem Kleiderschrank.

*** Holzfischen. Den Menschen des Meeres die Früchte des Meeres. Das hatte sein Großvater immer gesagt. Arm waren sie und ständig der Gefahr der tosenden See ausgesetzt, den Stürmen, den Wellen und den Fluten, die so viele von ihnen verschlungen hatten. Von alters her gehörte ihnen, was das Meer an ihre Küste spülte. Manches Mal hatte das ihren Vorfahren das Leben gerettet, wenn die Frauen nicht mehr wussten, womit sie ihre vielen Kinder am nächsten Morgen ernähren sollten und die Männer weit weg auf dem Meer oder eines Tages nicht mehr wiederkamen. Dann erbarmte sich der Wettergott und sandte ein Fass voller Heringe oder Brot, das eines der gestrandeten Schiffe mit sich geführt hatte. Nicht immer erreichte sie die rettende Gabe noch rechtzeitig, um alle Münder zu füttern, die Alten erzählten oft von den kleinen Särgen, die sie zum Festland brachten. Wann immer eine Ladung Holz über Deck gegangen war, fuhren die erwachsenen Männer der Insel zum Holzfischen. An Land wurden die Bretter und Balken in Stapel aufgeschichtet. Sie stellten dann einen kleinen Jungen mit dem Rücken zum Holz, sodass er es nicht sehen konnte. Von Stapel zu Stapel führten sie ihn, dann rief er jedes Mal den Namen einer Familie. So wurde Haufen für Haufen gerecht verteilt. In jedem Haus wirst du die Balken und Bretter finden, die über Bord gegangen sind. Denn das wenige Geld reichte gerade einmal für eine Handvoll Getreide für jeden von ihnen, und auf dem salzigen Fleckchen Erde wuchs nichts, womit sie ihre armseligen Hütten bauen konnten. Der Herr nimmt und der Herr gibt, sagte dann der Großvater.

 

 

Kapitel 3

Es war ein grausames Bild. Noch niemals in seinem Leben hatte der Inselbürgermeister Kai-Uwe König auch nur etwas vergleichbar Schreckliches gesehen. Eine Hysterikerin, hatte er gedacht, als ihn der Anruf erreichte. Die junge Frau, die mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter als Tagesausflüglerin auf die Insel gekommen war, weinte und schrie ins Telefon, und er wurde nicht richtig schlau aus dem Gestammel. Er hatte nur verstanden, dass sie etwas Schreckliches gesehen hatte und den Wattwagenfahrer Andrej, der in der Saison für ihn arbeitete, losgeschickt. Dieser hatte ihn gebeten, dringend an den kleinen Friedhof zu kommen. »Hier liegt Hein. Chef muss kommen sehen er selbst.«

Genauer gesagt lag Hein nicht, sondern sein blutiger abgetrennter Kopf steckte auf dem Geländer der kleinen Holzbrücke, die über den Sumpf zum Friedhof der Namenlosen führte. Ein großer Nagel war durch den Schädel getrieben, um den Kopf dort festzumachen.

Wortlos zeigte Andrej hinter den Gedenkstein, wo der Rest des Körpers lag, am kopflosen Hals hatte sich eine Blutlache gebildet. Die junge Frau, die ihn angerufen hatte, saß mit fast grünlicher Gesichtsfarbe auf der Wiese.

Kai-Uwe König wandte sich schnell ab, lange hätte er den Anblick nicht ertragen. Es war eindeutig, der Inselkaufmann war tot, und zwar auf eine ausgesprochen grausame Art und Weise umgebracht worden. Was war mit ihm geschehen? Und wie konnte so etwas Entsetzliches nur auf dieser kleinen stillen Insel geschehen. Es schien ihm wie ein böser Traum. Auch, dass es ausgerechnet einen Freund aus Kindertagen getroffen hatte, wenngleich sie sich in den letzten Jahren aus dem Weg gegangen waren. Aus gutem Grund.

Als im letzten Jahr mitten in der Sommersaison mehrere Brieftaschen gestohlen wurden, war das eine Sensation, über die alle Insulaner nebst Gästen wochenlang redeten. Ansonsten brauchte die Insel nicht mal einen eigenen Polizisten, nur die Wasserschutzpolizei beäugte die Bewohner argwöhnisch, wenn mal wieder ein Schiff oder eine Jacht auf den umliegenden Sandbänken strandete. So manche Rumflasche oder Zigarettenstange von liegen gebliebenen Segelbooten war in der Vergangenheit überraschend in den Vorratskammern aufgetaucht.

Mit dem Rücken zum kleinen Friedhof winkte er Andrej zu sich. Vor seinen Mitarbeitern wollte er seine Ratlosigkeit auf keinen Fall zugeben, obwohl seine Gedanken wie wild durcheinander gingen. Er zeigte auf den Weg vor dem kleinen Friedhof und kommandierte: »Absperren. Du bleibst bis auf Weiteres hier, keinen durchlassen!«

Margo hatte sich auf die Holzbank am Fuß des Turms gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen, es war eine Herausforderung gewesen, die volle Kaffeetasse über die seitlich am Turm angebaute Holztreppe unbeschadet nach unten zu tragen. Überhaupt, die Arbeit war das reinste Fitnesstraining. Zwei Treppen hinab in den Keller, über 100 Stufen hinauf unter die Kuppel des Turms, die einmal in der Woche gereinigt werden musste.

Die Bank vor dem Turm war ihr Lieblingsplatz, vor allem während der Ebbe, wenn sich mit lautem Hufschlag die Wattwagen vom Festland ankündigten. In genau festgelegter Reihenfolge fuhren sie vor und stellten sich auf dem Platz zwischen Leuchtturm, Inselkaufmann und Schullandheim auf. Dann wurden die Pferde ausgespannt, kauten gemächlich eine Ration Futter und erleichterten sich auf den jahrhunderte alten Steinen. Vermutlich waren sie verlegt worden als der Turm gebaut wurde, der vor einigen Jahren 700-jähriges Jubiläum hatte.

»Hey Margo, was ist mit deinem Nachbarn los«, rief ihr Jan, ein Wattwagenfahrer, zu, der sich manchmal während ihrer Zigarettenpause zu ihr auf die Bank setzte.

Sonst saßen die Tagesgäste, egal, zu welcher Uhrzeit sie eintrafen, mit dem Inselspezialgetränk Eiergrog, einem Kaffee oder Krabbenbrötchen auf der Terrasse vom Inselkaufmann unter den drei knorrigen Eichen. Doch heute waren seine Bänke aufeinandergestapelt und angekettet.

»Keine Ahnung«, sagte sie und dachte daran, dass Peter Hein offenbar am Abend vorher auch nicht zu Hause gewesen war, sie hatte ihn auch im »Seemannsgarn« nicht gesehen, obwohl dort fast die komplette Inselbevölkerung versammelt war.

Sie hatte gehört, dass ihr Nachbar manchmal am Morgen nicht rechtzeitig aufgeschlossen hatte, zumal in seinem Laden mit Ausschank und einem immer größer werdenden Gartenlokal manchmal bis in den späten Abend feuchtfröhlich gefeiert wurde. Aber an diesem Tag war das unwahrscheinlich, Niedrigwasser war gegen elf Uhr. Jeden Tag verschoben sich die Gezeiten um etwa eine halbe Stunde, das war das wichtigste Naturgesetz, denn hier diktierten noch immer die Gezeiten den Lebensrhythmus.

Aus dem kleinen Inselchen wurde ein hektischer Ort, wenn die Wattwagen für eine gute Stunde mehrere Hundert Menschen vor dem Turm absetzten. Margo war immer noch erstaunt, wie sich die ganze Stimmung von einer Sekunde auf die andere veränderte, und wie plötzlich nach der Abfahrt der Tagestouristen wieder Ruhe einkehrte.

Sie machte ihre Zigarette aus und beschloss, »Störtebekers Wunderkammer« einen Besuch abzustatten. Der kleine Laden befand sich unter der Pension im Turm, hatte aber einen eigenen Eingang, der über eine Stahltreppe zu erreichen war. Dort befanden sich noch die originalen Gewölbe, wo der Turmvogt, den die Hamburger Kaufleute zur Überwachung des Seeverkehrs in den Norden geschickt hatten, seine Amtsstube hatte. Unter seinen Räumen sollte angeblich der Pirat Störtebeker nach seiner Festnahme im Verlies geschmort haben. Mark Cors, der Ex-Schwiegersohn des Inselkaufmanns, der den Laden betrieb, hatte den berühmten Piraten verewigt. Sie trat ein und sah sich um, er hatte die Gewölbe weiß gestrichen und an vielen Stellen das Mauerwerk freigelegt, dazwischen standen Glasvitrinen mit seinen Schmuckkreationen aus Bernstein. Sie entdeckte ihn an einem der Glasschränke, wo er zwei älteren Damen seine Bernsteinschmuckstücke zeigte. Er breitete mehrere Colliers auf seinem Tresen aus und nickte Margo knapp zu. Sie wollte warten, bis er seine Kundschaft abgefertigt hatte, und sah sich nach neuen Kreationen und besonderen Bernsteinen um. Plötzlich kam eine blonde junge Frau auf hohen Absätzen in den Laden gestürmt und schrie mit überschnappender Stimme:

»Papa ist tot!«

Sie wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt, dann sah sie Mark feindselig an und kreischte: »Aber du freust dich ja vielleicht.« Er wollte ihr nachgehen, aber sie war schon dabei, die Treppe hinab zu stürmen, und schrie ihm noch »Fass mich nicht an« zu.

Die beiden älteren Damen standen erschrocken und unschlüssig herum. Beinahe hätte die wütende Frau Margo, die an der Tür stehen geblieben war, umgerannt. Sie sah sie hasserfüllt an und kreischte weiter: »Du Schlampe, du Erbschleicherin. Ich kann mir denken, was du vorhattest.« Margo war völlig perplex, und ehe sie eine Antwort parat hatte, hörte sie nur noch das schnelle Hämmern der Absätze auf der Stahltreppe vor dem Laden.

»Meine Ex-Frau«, erklärte Mark überflüssigerweise.

Kapitel 4

Rike hörte das Zwitschern ihres Telefons schon, als sie die Tür noch gar nicht aufgeschlossen hatte. Eigentlich hatte sie frei, Überstunden abbummeln, und die Zeit für einen langen Spaziergang mit Prinz genutzt, ihren Mischlingsrüden, den sie vor einem halben Jahr aus dem Tierheim mitgenommen hatte. Das damals mitleiderregend winzige Häufchen Hund war inzwischen ein stattlicher Rüde geworden, dessen stürmische Liebesbekundungen eine weniger durchtrainierte und hochgewachsene Person umgeworfen hätten.

Obwohl sie ansonsten keine Frau war, die Probleme hatte, sich durchzusetzen, versagte ihre Autorität gegenüber ihrem Hundebaby, wie sie Prinz insgeheim noch nannte, das sie am Anfang mit der Flasche aufgepäppelt hatte. Sie nahm sich immer wieder vor, irgendwann mit dem Vierbeiner die Hundeschule zu besuchen. Jetzt zumindest schien er genauso erschöpft zu sein wie sie. Sie waren die drei Treppen von ihrem Haus zur Elbe hinuntergestiegen, wo Prinz sich am Strand ausgetobt hatte, und immer wieder vergeblich versucht hatte, Möwen zu fangen. Rike liebte es, den Binnenschiffen hinterherzusehen, die Sand oder Kies auf die Baustellen Hamburgs transportierten. Sie waren dann über eine Stunde elbaufwärts gelaufen, an Villen und einem Golfplatz vorbei, durch einen kleinen Wald und eine Fläche voll Heidekraut, eine Landschaft, die sie an ihre Kindheit erinnerte.

Das Handy, das zwischendurch verstummt war, zwitscherte leider schon wieder. Ärgerlich sah sie die Nummer der Polizeizentrale. Im letzten halben Jahr hatte sie Hunderte von Überstunden angesammelt, und doch wurde meistens sie angerufen, wenn Not am »Mann« war, schließlich war sie ja ledig und hatte keine Kinder.

»Von Menkendorf«, sagte sie schroff in den Hörer, als es wieder klingelte, und hörte überrascht die Stimme von Kriminaloberrat Karl Roth, dem obersten Leiter der Mordkommission. Der altgediente Kripomann war so etwas wie ihr Mentor, seit sie ihn noch als Jurastudentin nach der Vorlesung angesprochen und er sie ermutigt hatte, zur Polizeiakademie zu wechseln, um bei der Kriminalpolizei Karriere zu machen.

»Friederike, ich weiß, Sie haben sehr viele Überstunden gesammelt und noch nie eine Ermittlung geleitet. Aber wir haben einen Mordfall, und ich möchte, dass Sie diesen übernehmen. Ich bin davon überzeugt, dass Sie mittlerweile genug Erfahrungen haben, und die Fähigkeiten bringen Sie sowieso mit«, sagte er in einem schmeichelnden Ton und warb weiter: »Das ist auch eine große Chance für Sie.«

Offenbar gab es wirklich einen Engpass, dachte sich Rike und wusste in dem Moment, dass sie ihrem Mentor diese Bitte schlecht abschlagen konnte.

Wegen der herbstlichen Grippewelle war das Kommissariat dünn besetzt, die Beamten von zwei der drei Hamburger Mordbereitschaften waren mit den Ermittlungen einer Todesserie im Altenheim mehr als ausgelastet.

»Da sitzt uns der Senator persönlich im Nacken«, erklärte Roth. Das Ganze, so lockte er, habe auch eine angenehme Seite, der Tote liege auf der Insel Neuwerk, dem schönsten Stadtteil Hamburgs. »Nehmen Sie die Spusi und das ganze Team mit«, ordnete er an und fügte hinzu: »Ach ja, Sie fliegen mit der »Libelle 1«. Im Moment ist der Schiffsverkehr ausgesetzt. Genießen Sie den Ausflug, so etwas werden Sie nicht oft geboten bekommen. So schwer kann es nicht sein, auf einer Insel mit 30 Einwohnern einen Mörder zu finden.«

Rike folgerte, dass er mit der »Libelle 1« wohl einen der beiden Hubschrauber der Hamburger Polizei meinte. Diese wurden vor allem für die Suche nach Vermissten oder die Überwachung von Demonstrationen eingesetzt, sie hatte noch nie gehört, dass Kommissare der Mordkommission damit zum Einsatz geflogen worden waren.

Das Ganze musste tatsächlich dringend sein. Sie sollte mit Volker Hendrichs, einem erfahrenen Kriminaltechniker, schnellstmöglich losfliegen, zwei Kollegen sollten ihnen folgen.

Der Chef hatte ihr ausgerechnet Robert Galinowski zugeteilt, mit dem sie gemeinsam auf der Polizeiakademie gewesen war. Ein unangenehmer Wichtigtuer, der nichts konnte, als hohle frauenfeindliche Sprüche zu klopfen, und versuchte, sich damit zu profilieren. Sie waren während der Ausbildung mehrfach aneinandergeraten. Die andere Kollegin, Mareike Schmidt, kannte sie nur flüchtig, die junge Frau war erst vor zwei Wochen in ihre Abteilung versetzt worden. Eigentlich gehörten fünf Polizisten zu einer Mordbereitschaft, doch Roth hatte erklärt, dass er unmöglich mehr Mitarbeiter abstellen könne. Er selbst wollte die Ermittlungen von Hamburg aus koordinieren.

Rike fuhr ihren Rechner hoch und druckte eine Mail mit einem Briefing aus, das sie während der Fahrt lesen wollte.

Während des Gesprächs mit Roth hatte sie nicht zugeben wollen, dass sie keinerlei Vorstellung hatte, wo sich diese Insel eigentlich genau befand. Sie gab den Namen in einen Kartendienst ein und war erstaunt. Neuwerk lag ganz und gar nicht in der Nähe von Hamburg, sondern 100 Kilometer weiter nördlich vor Cuxhaven in der Nordsee. Trotzdem gehörte der Ort administrativ zu Hamburg-Mitte. Man lernte in dem Job doch fast jeden Tag etwas dazu, das schätzte sie an der Polizeiarbeit.

Sie packte ein paar Kleidungsstücke und ihren Laptop in einen Seesack, dann schnappte sie sich den Hundekorb und Spielzeug für Prinz und klingelte am Haus nebenan. Sie hatte Glück, ihre Freunde Carlos und Stefan waren zu Hause. Die beiden waren für Rike in den letzten Jahren so etwas wie Familienersatz geworden, vor allem, nachdem ihre geliebte Großmutter erkrankt und bald darauf gestorben war. Wann immer sie von einer Sekunde auf die andere zu einem Einsatz gerufen wurde, hatten sie Prinz in Pflege genommen und sich nie über seinen Mangel an Hundebenehmen beklagt. Rike war eine der Trauzeuginnen der beiden Männer, als diese vor einem Jahr geheiratet hatten, und die drei verbrachten Weihnachten und manche Feiertage gemeinsam. Carlos, der Tänzer war und aus Italien stammte, schwankte unter der Umarmung der kräftigen Pfoten und kraulte dem Rüden liebevoll den Kopf. »Mein Lieblingskuscheltier«, sagte er zärtlich. Und: »Natürlich nehmen wir ihn«, fügte er hinzu, ohne dass Rike überhaupt fragen musste.

Sie stellte den Korb in die Küche, wo sich Stefan gerade bei einem Kaffee in die Sonntagszeitungen vertieft hatte. Er las täglich drei überregionale Zeitungen und war stets auf dem neuesten Stand der Weltpolitik und der wichtigsten kulturellen Ereignisse.

»Kaffee, Gnädigste?«, fragte er. Gelegentlich zog er Rike mit ihrem adeligen Namen auf, dabei hatte sie sich weitgehend von ihrer Familie abgenabelt und verachtete die Gepflogenheiten ihrer adeligen Verwandten, die ihre Zeit auf »standesgemäßen« Bällen oder Jagdgesellschaften verbrachten und sich sogar noch wie im letzten Jahrhundert mit Ihresgleichen verheirateten. Die Ablehnung beruhte wegen ihrer Berufswahl allerdings auf Gegenseitigkeit.