Verschollen im Interland - Michael Giersch - E-Book

Verschollen im Interland E-Book

Michael Giersch

0,0

Beschreibung

Yannick, der durch seinen Schwächeanfall von den Freunden Tanja, Max und Käthe wurde getrennt wurde, beschließt sofort aus diesem obskuren Krankenhaus zu flüchten. Was ihm auch nach einiger Zeit gelingt. Nur kann er den Opa, den er im Holzkrankenhaus kennengelernt hat, nicht mitnehmen. Er springt in die Vergangenheit. Er landet in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Er wird sofort verhaftet und zu Adolf Hitler verfrachtet. Er muss mit dem Despoten Mau-Mau um die Freiheit einer KZ-Insassin spielen ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 597

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Um einen Ausweg zu finden, muss man auf dem Weg sein (Peter Horten)

Inhalt

Freitag

(

?)

Samstag

(

?)

Sonntag

(

?)

Montag

(

?)

Big Fat Mama II

Dienstag

(

?)

Mittwoch

(

?)

Donnerstag

(

?)

Freitag

(

?)

Samstag

(

?)

Sonntag

Dank

Zukunftsmusik

Von diesem Autor bereits erschienen:Koma Anderland Anderland, das letzte Gefecht Schatten Schatten, Tillys Rache Verschollen

Freitag

(?)

Birgit schlug die Augen auf. Etwas stimmte nicht. Sie rüttelte an Heinz-Walters Schulter. »Wach auf. Irgendetwas stimmt hier nicht. Es schleicht offenbar jemand ums Haus herum«, flüsterte sie leise und vielleicht etwas ängstlich.

Heinz-Walter schaute auf den Radiowecker. »Fünf Uhr in der Frühe. Wer soll denn um diese Zeit um unser Haus schleichen?«

»Du bist wohl noch nicht wach. Wer schon? Das kannst du dir doch an einem Finger abzählen. Sie haben offenbar entdeckt, dass unser supergutes Falschgeld doch nicht so ganz echt ist.«

Ihr Mann spritzte (sodass es in der Wirbelsäule hörbar knackte) hoch. »Verdammte Scheiße aber auch! Ich dachte ...«

Oma Gertrud stieß, ohne groß anzuklopfen, die Tür des Schlafzimmers auf. »Ruhig Junge. Schrei doch nicht so. Dich hört man ja bis nach Illertissen.«

»Illertissen? Hast du’s auch gehört?«

»Ja, Tochter. Bei dieser ganzen Aufregung kann ich nicht schlafen. Ich hätte nie gedacht, dass sie entdecken, dass das Geld doch nicht so ganz echt ist. So schnell entdecken, meine ich. Sie scheinen spezielle Gerätschaften zu haben.«

»Was tun wir jetzt?«, fragte Heinz-Walter.

»Anziehen und abhauen, was denn sonst?«, erwiderte Gertrud.

»Ich flüchte doch nicht aus meinem eigenen Haus. Wir rufen die Polizei!«

»Bloß nicht, Tochter. Die haben uns schon öfter verarscht. Wir müssen uns selbst etwas einfallen lassen, sonst haben wir die Verbrecher noch nächstes Jahrhundert auf der Pelle«, übertrieb Oma. »Wenn ich dann noch lebe. Auf die Bullen ist kein Verlass, das wisst ihr doch selbst.«

»Mutter hat recht. Wenn wir jetzt die Bullen rufen, dann kommen sie vielleicht in drei Stunden. Oder sie sagen, wir mögen die Einbrecher doch höflichkeitshalber bitten, nach Hause zu gehen. Was tun wir weiter, Mutter? Du hast doch sicherlich schon einen Plan?«

Oma setzte sich auf einen alten Holzstuhl, der anbei des Bettes stand. »Ich? Ich dachte, ihr hättet euch schon einen Plan zurechtgelegt?«

Birgit richtete sich auf. »Wir laufen und fahren schon seit Tagen rat- und tatlos durch die Botanik. Es wird Zeit, dass mal etwas passiert. Wir finden Yannick nicht wieder und die Polizei glaubt uns kein Wort. Und die Gangster sind uns auch noch auf den Fersen.«

»Wir müssen sie ausschalten.«

»Wie meinst du das, Mutter?«, fragte Heinz-Walter.

»Na, ausschalten. Killen, wie die Gangster in den Filmen es ständig nennen.«

»Aber ...?«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie uns in Frieden lassen? Sie werden uns nicht bitten, doch endlich mal das echte Geld herauszurücken. Sie werden ihre Konsequenzen ziehen. Außerdem haben wir das Geld nicht. Das hat Yannick. Und der ist in was-weiß-ich-wo einer Welt verschollen?«

»Ich höre jetzt nichts mehr, es war sicher nur der Wind«, flüsterte Birgit.

»Es ist windstill, mein Kind. Ich habe mich schon draußen umgesehen. Dieses seltsame Auto ist wieder da. Aber ich habe keine Männer gesehen. Sie scheinen irgendwo im Garten herumzuschleichen. Sie wollen rein. Und sie bringen keine guten Nachrichten, befürchte ich. Wir müssen uns bewaffnen.«

»Womit denn?«, fragte Heinz-Walter.

»Opa Falschgeld verkauft auch Kalaschnikows und Splitterbomben.«

Heinz-Walters Frau zuckte zusammen. »Splitterbomben? Bist du verrückt?«

»War ’n Scherz, mein Schatz. Mit Messern, etwas anderes haben wir nicht. Oder hast du eine Schusswaffe im Haus?«

Birgit überlegte einen Augenblick. »Du hast Yannick letzte Weihnachten doch den Baseballschläger geschenkt. Der ist ganz schön stabil. Den können wir schon mal als Waffe benutzen.«

»Ich habe doch neulich die beiden Stiele für die Spaten gekauft. Ich bin aber noch nicht dazu gekommen, sie neu einzustielen«, sagte Heinz-Walter, »dann brauchen wir keine Messer. Außerdem ist die Reichweite günstiger.«

»Also los«, sagte Oma, »wo befinden sich diese Stiele?«

»Im Keller«, flüsterte Heinz-Walter. »Und der Baseballschläger liegt irgendwo in Yannicks Zimmer.«

»Mein Schweigersohn und ich holen die Stiele«, bestimmte Oma, »meine Tochter sucht den Schläger. Und macht kein Licht. Wir treffen uns dann in der Küche. Aber zuerst müsst ihr euch etwas anziehen, falls wir überstürzt flüchten oder türmen müssen.«

Gesagt, getan. Zweieinhalb (lass es dreie gewesen sein) Minuten später standen Oma und ihr Schweigersohn im Keller. »Wo sind die Stiele?«

»In der Waschküche, ich habe sie neben die Kellertür gestellt.«

Sie fanden die Stiele (schon nach etwa dreiundzwanzig Sekunden) schnell. Oma wog einen der Pinne in der Hand. »Der ist gut. Wo steigen die Gangster wohl zuerst ein? Was meinst du?«

»Das musst du doch wissen. Du schaust doch Tag und Nacht diese Krimis? Und lesen tust du das Zeuges auch, in der Zeitung?«

Oma deutete mit dem Spatenstiel auf die Kellertür. »Eigentlich im Keller, weil dort die Türen am ungünstigsten gesichert sind. Aber wenn sie einen Schlagschlüssel benutzen, ist es egal. Sie kommen damit überall schnell rein.«

»Was sind denn Schlagschlüssel?«

»Die setzt du ans Schloss, haust ein paarmal drauf und schon ist die Tür auf. Du bemerkst es noch nicht einmal. Und dein echter Schlüssel funktioniert hinterher tadellos. Diese Dinger kannst du natürlich im Internet bestellen.«

»Was du so alles kennst ...«

»Jaja. Komm, wir gehen wieder hoch.«

In der Küche wartete ihre Tochter schon. »Ist im Keller alles ruhig?«

»Noch«, antwortete die alte Dame, »ihr habt nur zwei Eingänge. Im Keller kann man am besten reinkommen. Also gehen zwei Mann in den Keller, einer bleibt vor der Haustür. Wer geht mit mir nach unten?«

»Ich sicher die Haustür«, sagte Heinz-Walter.

»Also gut. Aber lass sie erst rein, dann verbrate den Idioten einen mit dem Spatenstiel. Wenn es zwei sind, musst du schnell sein. Sie werden mit tödlicher Sicherheit Knarren dabeihaben.«

»Logisch. Was ist mit den Fenstern?«

»Wir können nicht alles überwachen. Wenn sie durch die Fenster kommen, dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.« Gertrud ließ ihren Schwiegersohn stehen und ging mit Tochter Birgit in den Keller.

Vor der Waschküche befand sich der Trockenraum. Sie postierten sich zwischen die Wäsche, die rechts und links an den Leinen hing, und warteten. Birgit stand Oma gegenüber, der Gang zwischen den Trockenleinen war frei.

»Die Wäsche ist schon trocken, ich muss sie abnehmen«, flüsterte Birgit. »Und wenn sie nicht kommen?«

»Sie kommen Kind. Es ist in den Actionfilmen auch immer so. Wenn sie die Beute haben wollen, dann kommen – ich meine erscheinen – sie auch. Kommen tut man oder frau nur beim Vögeln.«

»Du und deine Filme. Und drück dich nicht immer so ordinär aus.«

»Jaja.«

Nach Omas elementaren Worten herrschte Stille. Dann aber (nach vielleicht zweieinhalb Minuten) vernahmen sie ein Kratzen und Scharren an der Tür. »Ruhe jetzt!«, flüsterte die alte Dame.

Dann fünf kurze pock, pock, pock. Pockpock.

»Sie haben Schlagschlüssel, ich hab’s geahnt«, murmelte Gertrud.

Drei vermummte, schwarz gekleidete Gestalten, die in der Dunkelheit kaum (logisch) zu erkennen waren, schlichen durch die Waschküche in den Trockenraum. Sie hielten große Waffen im Anschlag.

Die beiden Frauen ließen sie vorbeischleichen. Die Gangster achteten nicht auf die Wäsche. Wozu auch? Deren Frauen hatten sicher schon gewaschen.

Oma trat hinter einem Badetuch (ein weißes, wer’s denn unbedingt wissen will) hervor und schlug zu. Dem letzten Mann in der Reihe knallte der Baseballschläger gegen den Hinterkopf. Der (der Kerl, nicht der Hinterkopf) brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Birgits Spatenstiel streckte den zweiten Kerl nieder. Der dritte wirbelte daraufhin herum, er küsste direkt mit seiner Stirn den Baseballschläger der alten Dame. Die ganze Attacke hatte vielleicht eineinviertel Sekunden gedauert. »Was tun wir jetzt? Wir können die Typen hier nicht liegen lassen? Die werden hurtig wieder wach?«

Birgit packte den ersten Unhold schon bei den Armen. »Wir versperren sie im Heizkeller. Los mach schon, bevor sie erwachen!«

Gertrud nahm die Arme des zweiten Mannes und zog ihn mit erstaunlicher Leichtigkeit über den Boden. »Was tun wir mit den Waffen?«

»Wir nehmen sie mit. Ich weiß jetzt, wie wir uns die Leute vom Hals halten können. Ich habe da so eine Idee.«

Sie schleppten die Bewusstlosen in den Heizkeller. »Durch das Fenster kommen sie nicht raus, es ist vergittert. Komm, wir gehen hoch, vielleicht braucht dein Mann unsere Hilfe.« Oma schloss ab und rüttelte an der Klinke. »Verschlossen. Beeilung, wir müssen noch die Waffen holen.«

Sie hoben zwei der MPs vom grauen Estrich und schlichen die Treppe hinauf. Die dritte Waffe ließen sie (was eigentlich völlig unwichtig ist) liegen.

Von oben drangen Kampfgeräusche an ihre Ohren. »Dein Mann hat ein Problem. Schnell!«, sagte Gertrud, als sie den Treppenabsatz erreicht hatten. Sie rannten durch die Diele, um dann in den kleinen Vorflur zu gelangen.

Heinz-Walter, der an der Wand lehnte, stand einem Mann, der an der Stirn blutete, gegenüber. Sie rangen miteinander. Birgits Mann wehrte sich verbissen. Aber der Fremde war über einen Kopf größer und bestimmt zwölfeinhalb Kilo schwerer. Ihr Mann würde über kurz oder lang den Kürzeren ziehen. Der Mann war nicht vermummt, er hatte auch keine sichtbare Waffe anbei. Doch: Eine vierte MP lag direkt vor (neben dem Spatenstiel) der Haustür. Hewa hatte sie dem Gangster offenbar aus den Händen geschlagen. Was er ihm übel nahm, denn er hatte Birgits Mann jetzt an der Strotte. Der Gatte lief schon purpurn an.

»Hände hoch!«, sagte Oma ganz (als wenn sie mit Tante Klara und Frau Rupert beim Kaffeekränzchen wäre) ruhig. »Ich habe die Maschinenpistole deines Kumpels in der Hand. Sie ist entsichert. Weißt du, was passiert, wenn ich abdrücke? Natürlich weißt du es!«

Der blonde Mann drehte sein Haupt so weit, wie es ging, und schaute hinter sich. Er war sichtlich verwirrt und überrascht. »Aber –«

»Nix aber! Die Flossen hoch und die Decke streicheln!«

Der Fremde ließ den Hals des Gatten los und hob ergeben die Hände unter die Decke, die Herr Malermeister Fischer erst letzten Mittwoch weiß getüncht hatte.

Birgit eilte herbei und zog ihren Mann (wobei sie in die Scherben der Ersatzbrille trampelte) in Sicherheit. Dann richtete sie die MP auf den fremden Kerl. »Sie sind jetzt verhaftet!«

»Was ...« Der Gangster schaute noch immer völlig überrascht drein.

Oma schaute ihre Tochter fragend an.

»Das mit der Verhaftung habe ich mal in einem Film gesehen.«

»Jetzt ist meine Ersatzbrille auch defekt. Jetzt bin ich fast blind. Was tun wir denn jetzt mit ihm?«, röchelte (ob des Strottendrucks) Heinz-Walter.

»Wenn alles vorbei ist, dann besorgen wir dir eine neue. Wir stecken ihn zu den anderen. Schließlich sind die zusammen gekommen, dann müssen sie auch zusammen hausen. Die Kumpane haben sicherlich nichts dagegen«, sagte Birgit.

Gesagt, getan. Sie trieben den Gangster in den Keller. Oma holte vier Flaschen Mineralwasser aus der Waschküche. Der Kerl verschwand samt Wasserflaschen im Heizkeller. Sie schloss ab. Den Schlüssel ließ sie (da sie vergessen hatten, den Schlagschlüssel zu konfiszieren) schräg stecken.

»Und was tun wir jetzt?«, fragte Heinz-Walter.

»Wir fahren in die Höhle des Löwen«, bestimmte Birgit. »Angriff ist die beste Verteidigung, das wissen wir doch so langsam. Nur so können wir den Leuten beikommen!«

**

Kommissar Böll hatte noch andere Fälle. Er und seine Kollegin Corinna Hufnagel waren ob des Krankenstands hoffnungslos überlastet.

»Wo haben Sie den Jungen versteckt?«, fragte Corinna zum x-ten Mal.

Der verdächtige Mann grinste sie nur dreckig und höhnisch an.

»Ich glaube, wir müssen andere Seiten aufziehen«, sagte Böll, »bei Kindesentführung müssen wir probatere Mittel anwenden.« Er verschloss die Tür und verdunkelte, indem er das Licht löschte, den Raum.

»Das ist verboten. Sie dürfen mich nicht schlagen oder foltern?«

Corinna packte ihm an die Eier und drückte sanft zu. »Na, stellt sich da was auf? Hast du so etwas bei dem Jungen auch gespürt? WO IST ER?« Sie drückte fester zu, der Mann schrie auf. »Hast du ihn vergraben? Oder in einer Holzhütte versteckt?« Sie drückte noch arger zu.

Der Verdächtige wimmerte jetzt nur noch. »Das ist doch verboten. Herr Kommissar ... sagen Sie ihr ... dass sie aufhören soll ... das tut weh!«

»Warum? Ich sehe nichts. Was du dem Jungen angetan hast, tat ihm mit Sicherheit auch weh!«

»Ich habe keinen Jungen ...«

Corinna quetschte stärker. »Die Zeugen haben dich erkannt. Eindeutig identifiziert. Wo ist der Junge?« Die Hand der Blondine drückte abermals fester.

Dem Kerl schoss sodann der Schweiß aus allen Poren. »Verdammt! Das ist Folter? Dies ist in unserem Staat verboten!«

Böll schnupfte in sein Taschentuch. Seine Erkältung wollte aber auch partout nicht weichen. »Ich habe was an den Augen, ich sehe leider nichts.«

»WO IST DER JUNGE!«, rief Frau Hufnagel. Speichelgischt spritzte dem Verbrecher ins Gesicht.

Der wischte das Wasser notdürftig beiseite. »Und wenn ihr mich noch bis morgen früh foltert, ich sage nichts. Auch will ich einen Anwalt!«

Corinna ließ die Eier los. »Auch das noch. Ich hasse Kinderschänder!«

Von einer Sekunde zur anderen wurde die Büroluft kalt. Kalt wie ein Eisberg. Ach was, kälter. Die Eisberge schmelzen doch alle. Bölls Kollegin sprang erschrocken zurück. Die Luft hinter dem Verdächtigen flimmerte, dann kochte sie. Dann materialisierte sich ein blonder Mann mit blonden Locken und roten Augen aus dem Nichts. Er trug einen dunkelblauen Cutaway.

»Das ist er!«, rief Böll, der von Corinna manchmal Ernie genannt wurde.

Der Verdächtige wollte hochspritzen, der fremde Mann packte aber dessen Kopf. Der Angeklagte verglühte auf der Stelle, die Asche rieselte auf den grünen Linoleumboden. Mit einem Mal war er verschwunden. »Ich helfe euch, wir haben aber nicht mehr viel Zeit«, sagte der Hinzugekommene.

»Wo ist der Mann?«, stöhnte Böll. Seit einigen Tagen hatte er es ständig mit irgendwelchen Leichen, die verschwinden, zu tun.

»Verschwunden. Ich kann euch aber nicht mitnehmen, wir müssen mit dem Blechkasten fahren.«

»Wer sind Sie? Und wo kommen Sie so plötzlich her?«

»Ich bin der Erwin, zumindest in dieser Welt. Jetzt kommt, wir haben nicht mehr viel Zeit. Der Junge erstickt, wie ihr es nennen würdet.«

»Wo ist er?«, fragte Corinna. Dass ein Mann, der rote Augen hatte, einfach so aus dem Nichts erscheinen kann, schien sie für völlig normal zu verwalten.

»Nicht weit von hier, aber wir müssen mit euerm Blechkasten fahren. Ich kann euch nicht mitnehmen«, wiederholte dieser seltsame Erwin.

Böll starrte auf das Häufchen Asche. »Aber ...?«

»Kein aber«, bestimmte seine blonde Kollegin, »wir müssen den Jungen retten! Los geht’s.« Sie schnappte die Autoschlüssel vom Tisch. Dabei stieß sie Bölls Kaffeetasse (die er schon über zwanzig Jahre hatte) vom Tisch. Die zerschellte am Boden in tausend (lass es achthundertneun gewesen sein) Teile.

Böll achtete nicht auf seine geliebte Tasse. »Aber der Mann ...?«

»Der ist verschwunden. Aufgelöst. Und jetzt kommt!«

»Aber ... was sollen wir dem Staatsanwalt und der Presse sagen?«

»Kommt ihr jetzt oder nicht? Der Junge erstickt. In seinem Versteck ist etwas verkehrt!« Erwin verschwand so schnell, wie er gekommen war.

»Über den Staatsanwalt und die Pressefuzzis machen wir uns nachher Gedanken. Komm schnell Böll! Ich glaub’s nicht, das reimt sich sogar. Wir treffen ihn in unserem Wagen wieder.«

»Woher weißt du das denn?«

»Weibliche Intuition Ernie. Jetzt komm!«

»Aber ... was sollen wir dem Staatsanwalt sagen?«, wiederholte Böll und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Häuflein Asche.

»Asche zu Asche: Rammstein. Jetzt komm. Darüber können wir uns den Kopf zerbrechen, wenn es soweit ist.« Sie eilten aus dem Revier.

Erich ... äh ... Erwin erwartete sie schon, er saß im Fond. »Da seid ihr ja endlich«, sagte der Dämon, »wir haben nicht mehr viel Zeit!«

»Warum retten Sie den Jungen nicht selbst? Sie können doch von einer zur anderen Stelle hüpfen, um es mal salopp zu sagen?« Corinna startete den Motor, fuhr rückwärts aus der Parklücke und gab sofort Vollgas, als sie die Straße erreicht hatte. Das Fahrzeug schoss wie eine (naja, fast) Rakete voran.

»Das geht nicht. Auch für mich gibt es Gesetze.«

Böll parkte das Blaulicht aufs Dach. »Welche Gesetze?«

»Gesetze. Die nächste Straße links!«

Bölls Kollegin fuhr direkt nach dem Abbiegen in einen Stau. »Herrjemine, was soll das denn?«

Auch die Sirene, die Böll inzwischen eingeschaltet hatte, sorgte nicht für Ordnung. Der Verkehr stand still. Ein Haus, das keine dreiundsiebzig Yards entfernt stand, brannte lichterloh. Schaulustige, Polizei-, Kranken- und Feuerwehrwagen blockierten die Straße.

Erwin beugte sich vor und starrte den Stau an. Die Feuerwehr, die Schaulustigen und die Krankenwagen verschwanden auf der Stelle im Nichts.

»Alle sind verschwunden. Das gibt’s doch nicht«, stöhnte der Kommissar.

Corinna gab wieder Vollgas, ihr schien das Verschwinden der Umgebung nichts auszumachen. »Wie haben Sie das denn vollbracht?«

»Wir müssen den Jungen retten. Reite weiter!«

»Reite?« Böll klammerte sich am Armaturenbrett fest. Die Blondine gab, als wenn sie den Großen Preis von Südgambia gewinnen wollte, Gas.

»Das versteht ihr nicht. Die nächste rechts!« Erwin führte die Kommissare aus der Stadt hinaus. Auf einen Parkplatz, der in einem Wald lag. Corinna stoppte, forderte Verstärkung an und sprang auf den Waldboden.

»Wohin?«, fragte Böll.

»Es ist nicht mehr weit. Vielleicht zweihundert Meter, wie ihr sagen würdet!« Der Dämonische brach wie ein U-Boot durch das Unterholz, Böll und seine Kollegin folgten der Schneise, die er schlug.

Plötzlich blieb der Teufel stehen. Böll lief ihm beinahe in den Rücken. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, keuchte der Kommissar.

»Wir haben keine Zeit mehr!« Erwin packte die beiden Bullen rechts und links bei den Händen und schwamm.

Wo sind wir?

Ich weiß es nicht. Böll segelte mit Corinna durch einen Raum, in dem nicht ein Fitzelchen Licht herrschte.

Wo ist der Mann?

Ich habe keine Ahnung. Er ist verschwunden.

Aber, wir sind doch irgendwo? Wir sind drinnen?

Wo drinnen ... ach ... ich weiß es doch auch nicht. Warte es ab!

Eine Zehntelsekunde später ...

Erwin zog die beiden Polizisten aus seiner Manteltasche und stellte sie auf den Waldboden, der mit Laub übersät war. Binnen einer Hundertstelsekunde nahmen sie wieder ihre ursprüngliche Gestalt und Größe an. »Los! Grabt!«

»Wir waren doch nicht etwa ...?«, stöhnte der Kommissar.

»Doch! Buddelt sofort!«

Corinna starrte auf das Laub. »Was denn? Wo denn? Wie kommen wir hier hin?« Sie war offenbar ein wenig (kein Wunder, nach der Reise) verwirrt.

Böll deutete mit der Nasenspitze auf einen Maulwurfhügel. »Da!« Aus der Erde ragte ein dünnes Röhrchen, vielleicht dreieinhalb Zentimeter im Durchmesser. Obenan klebte Deck.

»Der Maulwurf hat das Luftrohr verschüttet!«, sagte der Magier, »ihr habt noch ein oder zweieinhalb Minuten! Nach heuriger Zeit, meine ich!«

Die Polizisten fielen in das Laub und begannen mit bloßen Händen zu graben. Die erste Laubschicht war locker, diese hatten sie schnell an die Seite geschaufelt. Dann kam Erde. Corinnas Fingernägel mussten dran glauben, sie schaufelte aber weiter. Sie stöhnte, ächzte und heulte in einem.

Bölls Hände wühlten wie ein Maulwurf durch die Erde. »Da ist etwas!«

Ein Sarg erschien. Nein, mehr eine roh zusammengezimmerte Holzkiste. Aus diesem Sarg ragte das Röhrchen, der Kommissar buddelte weiter. »Schneller!«, spornte er sich und seine Kollegin an.

In der Weite heulten die ersten Martinshörner. Das komplette Aufgebot war offenbar in Anmarsch.

Schnell hatten sie den Sargdeckel freigelegt.

»Scheiße, der ist zugenagelt.« Böll war der Verzweiflung nahe. Mit bloßen Händen riss er an dem Deckel. »So hilf mir doch!«

Corinna wischte Tränen aus ihre Augen und riss hernach an dem Deckel. Wobei ihre letzten Fingernägel dran glauben mussten. »Er sitzt fest!«

Erwin steckte die Hände in die Taschen seines Cutaways und schaute (als wenn er drei Männern beim Skatspielen zusehen würde) zu. Er schien seine Arbeit für heute schon erledigt und Feierabend zu haben.

»Hier ist etwas lose!« Böll bekam eine überstehende Ecke zu fassen, er riss daran wie ein Zinnsoldat auf Speed. Wenn es dann so etwas gibt.

Corinna half ihm, sie war mittlerweile mit Dreck und Laub und alles übersät. Gemeinsam rissen sie den Deckel hoch. Ein etwa achtjähriger Junge, der ein Metallrohr im Mund stecken hatte, starrte sie mit großen Augen an.

»Er lebt«, keuchte die Blondine, »er lebt!« Sie zog wie ein Revolverheld (sagen wir mal, wie Ludwig Ludlinde) ihr Handy. »Wo sind wir hier?«

Böll schaute in den bedeckten Himmel, die Sonne brach gerade verschwommen durch die Wolken. »Südost, beeil dich!«

Die Kollegin gab ihre Position durch. »Wir brauchen einen Rettungswagen, aber schnell! Wir haben einen schwer verletzten Jungen!«

Aus der Kiste drang ein furchtbarer Gestank. Offenbar hatte der Junge seine Notdurft in dem Kasten verrichtet. Was mag dieser arme Junge durchgemacht haben? »Wenn ich das Schwein erwische!«, keuchte Corinna.

Böll hob das Kind, das schwarzes Haar hatte, aus der Kiste. Es trug nur ein rotes T-Shirt, das einen Hahn zeigte, und eine schwarze Jeans. Keine Schuhe und keine Socken hatte es anbei. »Du kannst ihn nicht mehr erwischen, er ist vor unseren Augen verglüht, falls du’s vergessen hast.«

Die ersten Sanitäter stürmten heran, im Schlepptau die Uniformierten. Die Trachtentruppe, wie Kommissar Böll sie stets zu nennen pflegte.

»Schnell, er muss sofort in ein Krankenhaus! Wenn der Mann uns nicht geholfen hätte, dann wäre der Junge in dem Loch verreckt!«

Einer der Uniformierten schaute sich um. »Welchen Mann meinen Sie?«

Corinna deutete mit den Nasenlöchern auf Erwin. »Der dort ...«

Aber da war niemand, der Dämon war verschwunden.

»Böll? Bin ich jetzt bescheuert? Dort hat er eben noch gestanden?«

»Ich glaube, ihr seid überarbeitet. Ihr braucht mal ein paar Tage Urlaub«, grinste der Uniformierte, dessen Gesicht mit Sommersprossen übersät war.

»Aber ... ach, halt doch das Maul!«

Erwin hatte sein letztes gutes Werk getan. Was er und auch die Polizisten aber nicht wissen konnten. Und die Sanis erst recht nicht.

**

Tanja wickelte den Verband ab und warf ihn zur Seite. »Siehst du? Meine Hand ist wieder wie neu, diese tuppa ist eine reine Wundersalbe.«

Max schaute mit weiten Augen auf seine Hände. »Ja, alles verschwunden. Keine Schwielen, keine Blasen mehr. Das Zeug ist echt spitze.«

Die Tür wurde aufgestoßen, zwei Wächter mit Speeren im Anschlag traten ein. »Ihr sollt zu Porrox kommen! Das ist ein Befehl!«

Max erhob sich. »Langsam, wir müssen erstmal frühstücken.«

»Kein Frühstück. Mitkommen!« Die Wärter (einer hatte einen riesigen Pickel auf der rechten Wange) hoben drohend ihre Waffen. »Porrox wartet nicht gern!«

Tanja und Max ergaben sich ihrem Schicksal. Was sollten sie auch sonst tun? Sie wurden hinausgeführt.

Vor Käthe blieben sie kurz stehen.

»Käthe, wie geht’s dir?«, fragte Max besorgt.

»Diese Viecher haben versucht, mich zu fressen!«

»Welche Viecher?«

Käthe schien eine schreckliche Nacht hinter sich zu haben. Die Kleidung war teilweise zerrissen, ihr Gesicht war zerkratzt. Sogar die roten Stiefel waren zerkratzt. »Die seltsamen Tiere scheinen Appetit auf mich zu haben. Aber eure Kleidung, wir ihr es nennt, hat mir geholfen. Kaum haben sie hineingebissen, sind sie geflüchtet.« Sie grinste. »Heute Nacht habe ich sogar etwas zu essen bekommen. Tote oder Torte, oder wie ihr es nennt.«

Die Wärter mahnten zur Eile. »Los! Macht voran. Porrox wartet nicht gern«, wiederholte der Gruppenführer.

»Ihr müsst Käthe freilassen, es ist schon des Morgens«, protestierte Tanja.

»Das haben wir zu entscheiden. Weiter!« Der Fellträger stach mit seinem Speer gegen Tanjas Wirbelsäule.

Sie wurden in eine Holzhütte, welche die doppelten Ausmaße als das Gefängnis hatte, geführt. Die Wachen bezogen vor der Tür Stellung. Porrox erwartete sie schon. Er saß an einem großen Holztisch, welcher mit einem großen Frühstücksbüffet reichlich bestückt war.

»Bedient euch«, sagte der Boss zur Begrüßung.

Tanja und Max machten sich über das üppige Frühstück her. Graubrot, Wurst, Salat, Obst, Oliven und Käse. Es gab sogar eine kaffeeähnliche Brühe.

»Ihr müsst heute nicht in den Steinbruch, ihr geht im Wald arbeiten.«

Tanja atmete auf, sie brauchte Porrox nicht zu überreden. »Warum in den Wald? Hier in der Gegend gibt’s doch keinen Wald?« Sie stopfte nach dieser Feststellung eine Scheibe Salami in ihren Mund.

»Weil ich es so beschlossen habe.«

»Kommt Käthe mit?«, fragte Max.

»Natürlich, sie hat ihre Strafe abgesessen. Ihr müsst Holz hacken, bis der Arzt kommt, wie ihr sagen würdet. Wir sind ja keine Unmenschen.«

»Wenigstens Menschen«, murmelte Tanja.

»Was Menschen? Es geht gleich los, eure Freundin wartet schon«, tat der Anführer der Fellträger kund.

»Sie muss erstmal etwas essen.«

»Das bekommt sie.« Porrox pfiff durch die Zähne, die Tür wurde aufgestoßen, die Wachen führten Käthe herein.

»Diese Arschlöcher!« Die Amazone war bis auf die geschundenen Klamotten und die Kratzer wie immer. Diese Nacht hatte ihrer Kessheit augenscheinlich kaum geschadet. Sie stürzte sich sofort auf das Frühstücksbüffet.

Porrox verließ die Hütte. »Welche Tiere haben dich angegriffen? Ich habe dich die ganze Nacht über fluchen gehört?«, fragte der Ex-Taxifahrer.

»Keine Ahnung, solche Tiere habe ich noch nie gesehen. Sie sind etwa so groß wie ein Schädel. Und sie haben höllisch scharfe Zähne, sie hätten mich bei lebendigem Leibe gefressen. Aber sie mochten diese seltsame Kleidung nicht. Die hat mich gerettet. Für irgendwas scheinen eure Klamotten doch gut zu sein. Als die Sonne aufging, waren sie verschwunden.«

Der Ex-Driver trank einen Schluck Kaffee, um hernach zu sagen: »Das waren bestimmt Ratten.«

»Nein, Ratten erkenne ich. Die gibt’s in meiner Welt auch.«

»Das ist ja jetzt auch egal. Hauptsache, du lebst noch. Und wir müssen nicht wieder im Steinbruch malochen.«

»Das ist gut, Tanja. Wohin müssen wir gehen?«

»In einen Wald. Holz hacken.«

»Hier gibt’s doch keinen Wald?«

»Anscheinend doch. Lassen wir uns überraschen.«

»Das Mädchen war seltsam«, murmelte Käthe.

»Welches Mädchen?«, fragte Max.

»Das Mädchen, das mich heute Nacht mit der Torte versorgt hat. Sie ist dunkel, dunkel wie die Nacht. Sie sagte, dass sie aus einer anderen Welt stammt, ebenso wie wir. Sie ist schon seit vier oder fünf Sommern hier. Sie stammt aus Arnika, sagte sie.«

»Dunkle Haut, Arnika? Das hört sich nach Afrika an. Das ist ein Kontinent in meiner alten Welt.«

»Dort gibt’s solche urigen Tiere. Sie nennen sich Loben, oder so ähnlich.«

»Du meinst Löwen, die gibt es in meiner alten Welt.«

»Löwen gibt’s in meiner Welt auch«, wandte Max ein.

»Deine und meine Welt sind ja fast identisch. Ist ja auch schnuppe, jetzt. Was hat sie sonst noch gesagt?«

»Nichts weiter. Sie musste schnell handeln, wegen der Wachen.«

Die Tür wurde aufgestoßen, Käthe stopfte hastig eine Scheibe Brot in ihren Mund. »Mitkommen!«, befahl Lorrox.

Die drei Gefangenen erhoben sich und folgten Lorrox, der vier Kollegen anbei hatte. Sie hatten offensichtlich Respekt vor den Fremden.

Vor der Tür stand ein Fuhrwerk. Zwei braune Pferde waren voran gespannt. »Auf die Ladefläche, aber dalli!«

Sie setzten sich auf den groben Holzboden, fünf Wärter sprangen auf die Ladefläche. Der Kutscher trieb die Mähren an. »Womit sollen wir denn Holz hacken? Wir haben doch keine Werkzeuge?«, fragte Tanja.

»Das werdet ihr dann schon sehen«, antwortet Lorrox, der Jüngling. »Und jetzt ist Ruhe im Stall.«

Sie schwiegen fortan. Die Fahrt dauerte über zweieinhalb (genauer gesagt, drei Minuten zusätzlich) Stunden. Hernach erreichten sie einen Wald, der mehr einem Dschungel oder einem Ökowald glich.

**

Das Frühstück war herzhaft und üppig. Yannick stopfte Eier, Käse, Wurst, Marmelade und Schwarzbrot in sich hinein. Dazu trank er köstlichen, kühlen Orangensaft.

»Wo stopfst du das nur alles hin?«, wunderte sich der Opa, »wenn du so weiter futterst, dann wirst du noch mal richtig fett?«

»Iss, wir brauchen Nährstoffe. Wenn ich aus Zimmer Zwölfdrei zurückkomme, flüchten wir. Wir machen uns sozusagen vom Acker.«

»Von hier oben kann man doch nicht flüchten?«

»Doch, über die Westseite. Wo ist die Toilette? Ich muss mal?«

»Wenn du auf den Gang trittst, die nächste Tür rechts.«

Yannick trank einen letzten Schluck. »Bis gleich.« Er ging in die Toilette. In seinem Körper rumorte es, vor allem die Blase drückte. Er setzte sich auf die Schüssel und ließ seinem Drang freien Lauf. Die Ausscheidungen fielen in das Plumpsklo. Papier war vorhanden, nur ein Waschbecken gab es nicht. Er reinigte seine Hände mit Toilettenpapier.

Als er sein Zimmer wieder betrat, standen der Fellträger, Torrox und vier Pfleger schon im Raum. »Da bist du ja. Komm, wir müssen zu Zimmer Zwölfdrei«, sagte Torrox.

Yannick legte sich auf das Bett. »Na dann, mal los. Tschüss Opa. Und mach mir keine Dummheiten.«

»Nach unserer Behandlung bist du wieder ganz der Alte.« Die Pfleger rollten das Bett hinaus, den altvertrauten Gang hinunter. Torrox schloss Zimmer Zwölfdrei auf. Sie schoben das Bett an die Wand und stellten die Bremsen fest. Einer der Pfleger zückte die Maske und stülpte sie über Yannicks Kopf. Die drei anderen nagelten ihn auf dem Bett fest. Torrox legte eine Art Aufnahmegerät auf den Tisch, dann zückte er eine Spritze.

»Was ist das?«

»Das Opiat heißt Erzähl-mir-keinen-Scheiß-Serum. Ich traue dir nicht.«

»Aber der Doktor ...«

»Der Doktor ist nicht vor Ort.« Torrox stieß die Spritze durch die Kleidung in Yannicks Oberschenkel und ließ die Suppe laufen. Der Junge schrie auf. Das Zeug brannte höllisch, die Ameisen von neulich begannen wieder zu trampeln.

»Wie heißt du?«, fragte Torrox eine Minute (naja, eine Minute und vier Sekunden) später. Das Serum wirkte erstaunlich schnell.

»Yannick!«

»Hast du keinen Nachnamen?«

Das Serum wirbelte Yannicks Gedanken wie Mörtel in der Speismaschine durcheinander. »Ich weiß nicht ... vielleicht ... oder doch nicht?«

»Nachname oder nicht? Ich bitte Sie!«

Der Junge aus der Ersten Welt wehrte sich verbissen. Das Serum war stark, sehr stark. »Ich weiß es nicht ...«

Die Ameisen tippelten stärker, er bekam schon wieder einen Steifen.

»Name?«

»... Yannick!«, stöhnte er.

Die Ameisen trampelten, ein ganzer Bau trampelte. Die nützlichen Krabbeltiere waren offenbar zu Elefanten mutiert. Der Junge schrie laut auf.

»Gleich haben wir ihn soweit«, grunzte einer der Pfleger.

»Dreh den Strom höher!«, befahl Torrox.

Die Waldameisen oder Elefanten begannen zu hämmern. Der Junge schrie abermals laut auf. »Ich heiße Yannick! Alter!«

»Höher geht nicht«, sagte einer der Pfleger, »wir bringen ihn um. Das hält er nicht lange aus!«

»Ich bitte Ihnen. Name?«, fragte Torrox unbeirrt.

Yannick schwamm in eine andere Ebene. Das habt ihr jetzt davon!

Er zeigte. ZEIGTE!

Torrox schrie mit einem Mal erstaunt auf und verglühte zu Asche.

Der Junge schickte neue Impulse in den Äther. Das Aufnahmegerät zerplatzte wie eine überreife (über die ein Kriegspanzer fährt) Tomate.

Er verstärkte seine Impulse. Anna, Carola und Arkansas zischten durch den Stromkreislauf. Oder durch eine Galaxie. Oder was-weiß-ich.

»Was ist das?« Der Fellträger presste die Hände gegen seine Schläfen. Sein Schädel schien sich mit einem Mal aufblähen zu wollen.

Jetzt bin ich dran, dachte der Junge.

Anna schwamm durch einen See, begleitet von einem schwarzen Mann. Yannick transportierte seine Gedanken in die Hirne seiner Schergen. Er verstärkte den Druck, die Schlawiner schrien laut auf.

»Das kommt davon, wenn man einen Schalker reizt!«

Er schickte die Punkerin (die in einem Baum hockte und schlief) nach. Eine langhaarige brünette Frau, die einen dürren Mann zerschnitt. Dann ein explodierendes Auto. Kanarienvögel, die in Flammen aufgingen.

Versteht ihr?

Die Pfleger und der Fellträger verstanden nichts. Yannick verpulverte seine Impulse weiter, sie sprangen direkt in die Hirne der Häscher.

Anna sprang aus einem Bach, die Pfleger schrien auf. Dies hatte der Junge schon des Öfteren gesehen. Wer ist diese Anna?

Einer der Häscher sprang zurück und knallte mit einem lauten Platsch gegen die Wand. »Was macht er da?«

Yannick ging aufs Ganze. »Ihr Dumpfbacken!«

Er schickte Arnika und Fritz, die im Weltraum auf einer Qualle oder Wolke zuschwebten, hinterher. »Das ist die Welt! Nicht irgendwelche Zunamen!«

Der Fellträger brach zusammen und verglühte. Nur ein Häuflein Asche blieb zurück. »Was ist das? Scheiße, das wolle ich nicht! Was mache ich nur?«

Das ist das, was du tun musst, flüsterte Anna.

Wer bist du? Wie kommst du in mein Hirn?

Anna. Du kennst mich!

Aber doch nur aus meinen Träumen?

Wir werden sehen.

Wer ist diese Carola?

Kommt Zeit, kommt Rat.

Anna verlosch wie eine Kerze im Flutwind. Yannick starrte die Pfleger, die zurückgewichen waren, an. Sie verglühten nicht, er schickte sie in die Ohnmacht. Sie sackten zusammen wie leere Zwiebelsäcke. »Warum kann ich das? Und wie mache ich das?«, flüsterte er hernach in seinen imaginären Bart.

Du kannst es!

Der Junge zog die Maske vom Haupt, die Ameisen verzogen sich auf der Stelle. Er warf die Maske auf den Boden, sprang aus dem Bett und suchte nach dem Schlüssel. Der lag in der Asche des Torrox. Er öffnete die Tür, schloss hinter sich ab und betrat den Gang. »Wie viele Menschen muss ich noch killen, damit dieser Albtraum vorbei ist?«, flüsterte er. Er ging den seltsamen Gang hoch, einige Pfleger kamen ihm entgegen und grüßten freundlich. Er erwiderte die (er nickte dabei stets wie ein Wackeldackel) Grüße, um nicht aufzufallen.

Er erreichte sein Zimmer. Opa war verschwunden, das Zimmer versprühte aber noch immer das Odeur seiner Fürze. »Alter, wo ist er denn? Ich will ihn doch mitnehmen?« Er ging an seinen Spind und zog den Rucksack heraus. Dann verließ er das Zimmer und ging langsam den Gang hinunter. Schwester Lina kam ihm entgegen. »Na, bist du alsbald geheilt?«

»Ja, voll und ganz. Ich bin als gesund entlassen.«

»Dann musst du aber auf das Dach gehen, dort oben stehen die Hubschrauber. Dies ist die falsche Richtung.«

Yannick reagierte schnell. »Ich darf noch ein bisschen an die frische Luft. Ich werde erst in der vierten Stunde nach Sonnenaufgang abgeholt.«

»Ach so.« Lina übergab ihm einen gefüllten Wasserschlauch und ging ihres Weges. »Den bekommt jeder Patient, wenn er geheilt ist!«, rief sie über die Schulter zurück. Dann verschwand sie hinter einer Biegung.

»Danke.«Yannick beeilte sich, er betrat die Lounge, die nicht besetzt war und ging ins Freie. Er hatte keine Ahnung, wie er den steilen Abhang hinabsteigen sollte. »Kommt Zeit, kommt Rat, hat Anna gesagt.« Er lief stracks zur Westseite und wurde schon erwartet.

Vom Opa, der mit beiden Händen wie ein Maulwurf auf Koks (gibt’s so was?) in der Erde wühlte. »Wo bleibst du denn so lange?«

Der Junge blieb vor ihm stehen. »Was suchst du da in der Erde? Ich dachte, du wärest schon lange verschwunden?«

Opa schlug einen Holzdeckel auf und zog schmale Fellriemen aus der Erde. »Ich weiß nicht, ob es reicht. Das musst du sehen.«

»Was muss ich sehen?«

»Ob es reicht, ich habe die Felle zusammengebunden. Vielleicht reichen sie bis nach unten, vielleicht aber auch nicht. Mach voran!«

Opa verschnürte den Anfang des Fells an einen Zaunpfosten und warf das andere Ende in die Tiefe. »Nun mach schon! Gleich kommen die Wachen!«

Yannick schnallte den Rucksack auf seinen Rücken und nahm das Fell in beide Hände. »Was ist mit dir? Kommst du nicht mit?«

»Wenn nichts dazwischenkommt. Geh du schon mal vor!«

Eine Sirene jaulte wie ein heiserer Tiger auf. »Sie haben unseren Fluchtversuch entdeckt!«, rief der alte Mann aufgebracht.

Yannick kletterte flugs über den Zaun. »Komm! Schnell!«

Vier Pfleger stürmten heran. Opa bückte sich erneut und wühlte wieder in der Erde. »Jetzt hau schon ab! Ich komme gleich nach!«

Die Pfleger stürmten in Richtung Yannick. Opa sprang vor, er hatte mit einem Mal ein Fischernetz in den Händen. Er warf das Teil wie ein Cowboy, der seine ausgebüxte Kuh fangen wollte. Das starke Netz flog über die Schädel der Männer, die verdutzt aus der Wäsche schauten.

Opa zog die Männer in Richtung Zaun. »Mach schon voran!«

Yannick stieg ab, er ließ das Seil langsam durch seine Hände gleiten und stieß sich mit den Füßen an der Felswand ab. Dieses hatte er mal in einem Film gesehen. Irgendein Indianer mit Kriegsbemahlung hatte damals so etwas getan.

Mit einem Mal flog eine Polizeimütze an ihm vorbei. Es folgten acht oder zehn Holzlatten des Zaunes, hernach der Opa, das Netz und vier Pfleger, die schreiend und mit den Armen rudernd in die Tiefe stürzten.

»Scheiße, alter, was machst du? Ich will dich doch nach Hause mitnehmen!«

Aber sein Freund war unweigerlich verloren. Einen Sturz aus solch einer Höhe überlebt niemand. Yannick hangelte sich weiter in den Canyon, die zusammengeknoteten Felle waren haltbarer als er dachte. Er schaute in die Tiefe. Die Felle waren aber zu kurz, er würde wohl oder übel die letzten Yards springen müssen.

Wie hoch ist es? Zehn Meter? Zwanzig?

Egal.

Aus den Augenwinkeln sah er rechter Hand eine Bewegung. Er schaute hin. »Ach du heilige Scheiße!« Ein riesiger Hubschrauber, so groß, wie er noch nie einen Hubschrauber gesehen hatte, flatterte lautlos heran.

Aus Holz.

Dieser (vielmehr die Besatzung, ein Hubschrauber an sich kann bekanntermaßen nicht schießen) eröffnete sofort das Feuer.

Aus Holzgewehren schossen sie.

»Scheiße alter, die beschießen mich! Ich glaub’s nicht!«

Der lautlose Hubschrauber zielte aber nicht besonders gut, er war auch noch etwas weit entfernt. Zudem war der Pilot völlig mit Roggenschnaps (er kam vom Frühschoppen) besoffen. Aber er flog schnell heran. Yannick starrte nach unten, in etwa elf Yards Entfernung befand sich eine Ausbuchtung oder Grotte. Der Helikopter schwirrte lautlos näher, er (die Besatzung) schoss jetzt mit Dingern, die Ähnlichkeit mit Raketen hatten. Der Junge schrie auf und ließ sich schneller gleiten. Das Seil brannte daraufhin höllisch in seinen Händen.

Holzraketen.

Holzraketen?

Eine Rakete explodierte etwa elf Meter und zwei Ellen neben ihm. Mit dem Zielen hatten die es aber auch nicht so gut. Die Holz- und Felssplitter spritzten gegen seinen Körper und auch in sein Gesicht. Er schrie laut auf.

Junges Blut hat Mut. Er ließ sich einfach schreiend fallen.

Der Vorsprung war gerade groß genug, er landete mit knirschenden Knochen auf einem Felsen. Vor ihm befand sich eine Felswand.

Es waren anscheinend doch nur drei oder vier Meter fünfzig bis zum Ende der Leine gewesen. Der (verstorbene) Opa hatte das Fell bene berechnet.

Der Holzhubschrauber (die Besatzung, hoffentlich hatte er auch eine) feuerte weiter. Er verlor das Gleichgewicht und ruderte mit den Armen (als wenn er einen Wespenschwarm verscheuchen wollte) in der Luft herum. Vor, zurück. Vor, zurück. Er warf sich nach vorn und klammerte sich an einem Felsspalt fest. Zum Dank rissen seine Handflächen an dem scharfkantigen Gestein auf. Er kroch auf allen vieren in die Höhle und bog um eine Ecke. Der lautlose Hubschrauber versuchte zu folgen. Es ging aber nicht, er war zu groß. Er feuerte aber noch ein paar Salven ab, Yannick sprang in Deckung. Die Geschosse explodierten irgendwo in der Höhle. Holzgeschosse, die explodieren. Wie geht das denn? Er hob einen faustgroßen Stein vom Boden und warf ihn in Richtung des Hubschraubers. Er traf sogar. Den Rumpf, was aber keine Wirkung zeigte. »Das habt ihr jetzt davon! Ihr habt Opa gekillt! Ich wollte ihn doch mitnehmen! Er wollte doch nur seine Familie wiedersehen!«

Der Hubschrauber drehte ab, er sah anscheinend kein Weiterkommen.

Der Junge aus der anderen Welt schaute sich in der Höhle um. Diese war düster, unheimlich. Und riesig, er konnte in allen Himmelsrichtungen kein Ende erkennen. »Ich habe kein Licht, alter. Keine Kerze, keine Taschenlampe, nichts. Soll ich gehen? Was bleibt dir anderes übrig? Folge dem Weg, welchen du gehen musst, sagt meine Mutter immer.« Das sagt sie gar nicht.

Er ging los, mit jedem Yard wurde es düsterer. »Anna! Hilf mir!«

Und Anna – was er nun mal gar nicht erwartet hatte – half.

Sie machte Licht. Die Grotte begann zu glühen, die Steine leuchteten erst weiß, dann rötlich, hernach feuerrot. So konnte er einigermaßen sehen.

»Die leuchten ja wie Vulkanlava?«

Geh nach Osten. Aber pass auf!

»Du bist gut. Wo soll ich denn sonst hingehen? Es gibt nur eine Richtung. Ob es jetzt Osten oder Westen ist, kann ich nicht beurteilen. Das ist mir aber auch egal. Der Weg ist das Ziel, hat ein Mister Konfuzius mal gesagt.«

Geh! Schwadronier nicht!

Yannick schaute sich um, die Höhlenöffnung verschwand in der Dämmerung. Mit einem Mal sprangen mehrere Männer in den Eingang. Wo kamen die denn plötzlich her? »Scheiße, sie verfolgen mich!«

Was hast du denn gedacht? Jetzt sei ruhig!

Das Licht der Anna verlosch hinter ihm wie abgeschnitten. Am Höhleneingang leuchteten Kerzen auf. »Wenn du hier Licht machst und dort hinten ist es dunkel, dann sehen die Flitzpiepen mich doch!«

Ruhe! Anna beendete ihre Korrespondenz.

»Aber ...«

Yannick lief schnell in Richtung Osten? Oder Südwesten? Er wusste es nicht. Je tiefer er in die Höhle eindrang, desto unheimlicher wurde es.

Allerlei unbekannte kleine und größere Tiere wuselten in den Nischen und Ecken. Auch diese weißen Ratten, von denen der Opa gesprochen hatte. Riesige Tiere, etwa so groß wie ein Cockerspaniel allesamt.

Sie sahen ihn vorerst nur schüchtern an, sie schienen Angst vor ihm zu haben. Er blieb stehen und schaute die Tiere an. »Bleibt ihr mal schön in euren Verstecken, ich habe keinen Bock, euch kennenzulernen.«

Er ging weiter, die Ratten und die Männer folgten ihm. Er zog den Wasserschlauch aus seinem Rucksack und trank einen Schluck, das Wasser schmeckte herrlich. Bei der Gelegenheit verstreute er einige der Banknoten auf dem Boden. Er hatte die Hoffnung, dass die Verfolger sich dadurch ablenken lassen würden. Vielleicht sogar die Ratten, die stetig zahlreicher wurden. Nach einer Weile entdeckte er verschiedene Holzbalken, die auf dem Boden lagen. Jenseits der Balken befanden sich Eisenstränge. »Ich werde bescheuert. Das sind Schienen, hier muss mal ein Zug durchgefahren sein«, flüsterte er. »Von wegen, kein Eisen! Hier war mal alles wie bei uns. Naja, alles vielleicht nicht.«

Er folgte den Schienen, die vollzogen einen Knick nach Westen, Norden oder Süden, es war einerlei. Er lief in eine andere Welt. Er sah Anna, die in eine U-Bahn-Station ging. Es war Anna, dessen war er sich völlig sicher. Die wehende brünette Haarflut war unverkennbar. Sie trug einen Stetson auf dem Haupt. Sie lief einen toten Bahnsteig hinab. Sie ging in den Untergrund und lief auf eine Rattenfamilie, die gerade einen Mann anknabberte, zu.

Er ging neben dem Mädchen.

Sie sah auf, ihr Blick ging durch ihn hindurch. Sie begann zu schreien und rannte wie der Wind davon.

»Aber Anna! Ich bin es. Ich tu dir doch nichts!«

Die Vision verlosch wie Rübenkraut im Magen.

Der Bengel war wieder allein. Bis auf die Ratten, die unbekannten Tiere und die ihn verfolgenden Häscher. So allein war er gar nicht. Das helfende Licht verlosch mit einem Mal wie eine Kerze im Wind. »Aber ...«

Er stand im Dunkeln, Anna hatte das Licht ausgeknipst. Wie jemand, der vom Scheißhaus kommt. Wahrscheinlich konnte sie nicht länger durchhalten. Er zwängte sich, in der Hoffnung, vor den Häschern und den Ratten sicher zu sein, in eine kleine Nische. Diese Nische erwies sich als Falle, er sah sich um. Nach draußen ging es nicht mehr, die Häscher waren schon zu nahe heran. Blieb nur der Weg nach oben ins dunkle Loch. Er stützte sich mit dem Rücken und den Beinen an den schroffen Felsen ab und stieg (wobei er mit den Händen nachhalf) vielleicht drei oder vier Yards in die Höhe.

Die Ratten (die fluchend quiekten) wurden von den Männern vertrieben. Jemand leuchtete mit einer Kerze in die Öffnung.

Yannicks Blase entleerte sich vor Angst. Er konnte es nicht verhindern, er hatte panische Angst. Der Urin floss durch seine Unterhose, das Bein hinab und tropfte auf des Häschers Kerze.

»Hier ist niemand, hier regnet es nur«, rief der Jäger über die Schulter zurück.

»Warum regnet es in einer Höhle?«, fragte einer der Häscher.

»Das weiß ich doch nicht. Kommt weiter! Gib mir mal Feuer, meine Kerze ist erloschen.«

Yannick atmete auf. Sich in die Hose zu pissen, hatte doch etwas für sich.

Eine andere Kerze erschien und spendete Licht. »Dann komm schnell weiter, bevor der Fluchtdieb enteilt ist!«

Mann und Kerze verschwanden flugs.

Der Junge war wieder allein in der Dunkelheit. Spinnen und ähnliches Getier huschten über seinen Kopf und übers Gesicht. Er mochte sich gar nicht vorzustellen, was das für Viecher waren. »Anna, mach doch wenigstens ein bisschen Licht«, flüsterte er in die Dunkelheit. »Ich scheiß mir gleich vor Angst in die Hose. Bepisst habe ich mich doch schon!«

Anna spendierte etwas Licht, er konnte die Umgebung wieder erkennen. Wie durch ein Nachtsichtgerät, diffus und seltsam. Warum kann ich in dieser Dunkelheit sehen?, dachte er und machte sich an den Abstieg. »Ist doch logisch, Anna macht Licht«, murmelte er und sprang auf den felsigen Boden. Er lugte vorsichtig um die Ecke, kein Mensch oder Pfleger in Sicht. Nur die weißen Ratten, die im Gang lauerten. Wie komme ich an diese Viecher vorbei? Er betrat vorsichtig den Gang. Die Ratten waren noch größer, als der Opa sie beschrieben hatte. Die ersten waren wahrscheinlich Jungtiere gewesen. Noch hielten sie gebührenden oder höflichen Abstand.

Nach über vierundfünfzig Metern vollzog der Gang einen Knick nach rechts. Eine Rattenflut tippelte ihm entgegen, mindestens zweiunddreißig Tiere.

»Scheiße, die werden ja immer mehr. Wenn das so weitergeht, dann ...«

Eine Ratte setzte sich vor ihn, sie machte Platz wie ein Hund. Sie schaute ihn aus leuchtend gelben Augen (als wenn sie genau wüsste, was sie tut) an.

»Ihr dürft mich nicht fressen! Ich habe mir gerade in die Hose gepisst. Das schmeckt euch bestimmt nicht!«

Die Ratte sah ihn wieder auffordernd an, drehte sich um und präsentierte ihm ihren fellbedeckten (als wenn er sie begatten sollte) Arsch.

Der Junge schaute sich um.

Von den Männern war nichts, außer in der Ferne etwas Kerzenflackerlicht, zu sehen. Nur zu hören war etwas, aber dies auch nur ganz leise.

Die Ratte scharrte, als wenn sie nach etwas Fressbarem suchen würde, über den Felsboden. Hernach sah sie ihn ungeduldig an. Sie sah ihn tatsächlich an.

»Möchtest du, dass ich aufsteige und auf dir reite?«

Die Ratte, als wenn sie ihn verstanden hätte, nickte.

»Verstehst du mich?«

Die Ratte schüttelte den Haarschädel.

Yannick schüttelte mit demselben und setzte sich auf den Rücken der Ratte. Diese trabte sofort gemächlich los. Ihre Kumpane folgten. Er klammerte sich an dem pelzigen Schädel des Tieres fest. Genauer gesagt, an den kleinen Ohren. Seine Beine mitsamt den Schuhen schliffen über den steinigen Boden. Er wunderte sich nicht, dass eine Ratte mit ihm kooperieren konnte. Er wunderte sich über gar nichts mehr.

Der Gang vollzog erneut einen (der vielleicht elf Grad hatte) Knick, diesmal nach links. Stetig den Schienen (wobei er sich fragte, wann zum letzten Mal ein Zug darauf gefahren sein sollte) folgend.

Er konnte sich die überflüssigen Fragen nicht verkneifen: »Warum gibt es hier Schienen? Gab es hier mal eine Eisenbahn? Einen Zug, die Leute von G nach H transportierte?«

Die Ratten schüttelten im Kollektiv die Schädel. Er wusste jetzt nicht, ob das Ja oder Nein bedeuten sollte.

Plötzlich lösten sich zehn oder fünfzehn Tiere aus der Gruppe und liefen voran. Yannick blieb auf dem Rücken, der nicht gerade bequem war, sitzen. »Ihr müsst mal ein bisschen mehr essen, bei euch spürt man ja jede Rippe!«

Die anderen Ratten liefen ebenfalls vor. Wie eine Vorhut und eine Nachhut, dachte er. Seine Reiterratte beschleunigte mit einem Mal, er krallte sich an den Ohren fest. »Nicht so schnell!« Er hörte Kampfgeräusche und Schreie. Die Ratten hatten die Pfleger oder Wächter offenbar eingeholt, sie griffen diese erbarmungslos an. »Nicht!«, rief er schon von Weitem, »es hat schon genug Tote gegeben! Lasst das!«

Die Ratten zögerten, sie schienen ihn doch zu verstehen. Die Reiterratte stoppte jäh. Er flog beinahe über ihren Schädel in den Dreck, so abrupt hatte sie gestoppt. Die Nagetiere ließen von den Männern, deren Kleidung schon an vielen Stellen zerrissen war, ab. Einige der Häscher bluteten aus vielen kleinen Wunden.

»Lasst sie gehen!«

Die sieben Männer waren von den Ratten eingekreist. Sie sahen ihn verständnislos an. »Warum hören die Tiere auf dich? Wer bist du?«, fragte einer der Pfleger, der aus einer großen, krummen Nase blutete.

Yannick ignorierte die Worte. »Wenn ihr überleben wollt, dann geht. Geht eures Weges oder meine Freunde töten euch!« Er war sich nicht sicher, ob die Ratten seine Freunde waren. Gab es in dieser Welt eigentlich Freunde? Oder war es in dieser Welt wie in jeder anderen? Echte Freunde waren sehr dünn gesät. Wie in jeder Welt, dies nahm er jedenfalls an. »Geht!«, wiederholte er.

Die Männer sammelten die Kerzen vom steinigen Boden und suchten das Weite. Die Ratten begleiteten sie. Er war mit der Reiterratte allein. Diese trabte sofort wieder los, stetig den Schienen entlang. »Wo willst du hin?«

Die Ratte antwortete nicht, sie lief weiter. Der Gang machte erneut einen leichten Knick, diesmal nach Süden oder Norden? Vielleicht auch Osten. Er hatte schon lange die Orientierung verloren. Was aber auch kein Wunder war.

Nach elf oder zwölf Minuten stoppte das Tier. Er stieg ab. Sein Arsch tat von der Reiterei weh. Auch seine Turnschuhe hatten durch das Schleifen über dem Steinboden arg gelitten. Er schaute sich um. Sie waren in einem Bahnhof gelandet. Einen Bahnhof, wie er ihn kannte. Nur die menschliche Hektik fehlte: keine Durchsagen, keine Menschen, keine Züge, die ein- und ausfahren. Dieser Bahnhof war in etwa so verlassen wie ein Auto aufem Schrottplatz. Er und die Ratte waren die einzigen Lebewesen. »Was soll ich hier?«, flüsterte er (nach vielleicht viereinhalb Sekunden) nach unten zum Flohtaxi.

Die Ratte antwortete nicht. Sie legte sich auf den braunen Kachelboden – der zentimeterdick mit Staub bedeckt war – und schlief sofort ein.

»Wo bin ich hier?« Er sah einen Fahrkartenautomaten und ging darauf zu. Durch seine Schritte wurde der Staub aufgewirbelt. Er ging vorsichtiger, damit er nicht ob des Staubs würde niesen müssen. Er würde eine Kettenreaktion auslösen: niesen, noch mehr aufwirbelnder Staub. Niesen, und noch mehr Staub wäre zugegen. Niesen ... und so weiter. Er erreichte den Automaten und drückte auf eine der Tasten.

Dortmund Hauptbahnhof

War auf Preisstufe eins zu lesen.

»Ich werde bescheuert, ich bin in meiner Heimat! Was ist hier los? Mit Schienen fing es an, mit Schienen endet es. Wie bei Anna.«

Wieso: wie bei Anna?

Er folgte dem Bahnsteig und ging die Rolltreppe, die ihrer Funktion nicht mehr gehorchte, hinauf.

Das schlafende Nagetier ließ er zurück.

Der Bahnhof war fast verwaist. Hier und da lagen verwesende Menschen und auch andere Tiere auf den Kacheln. Ein nackter Mann, der nur noch ein Auge hatte, erhob sich. Er trug einen riesigen, steifen Pimmel vor sich. Sein schütteres Haar fiel wie Unkraut von seinem Eierkopf. »Wo willst du hin, Yannick?« Eine glaslose Brille fiel von seiner knochigen Nase und landete im Dreck.

Dass eine einäugige Leiche, die einen abfaulenden Pimmel hatte, zu ihm sprach, überraschte ihn nicht besonders. »Woher weißt du meinen Namen?«

»Das ist doch jetzt egal. Du schaffst es nicht.«

»Was, bitteschön, schaffe ich nicht?«

»Du lernst Arkansas und die anderen niemals kennen. Vor allem Carola nicht. Du hast einen schlimmen Fehler begannen.« Der alterslose Mann hob ein (das linke, wer’s wissen will) Bein. Es fiel wie ein überflüssiges Haar ab und zerbrach in etwa dreieinhalb Teile.

Was lustig anmutete, befand Yannick. Der Kerl stand auf einem Bein. Und der Pimmel, der mindestens einen Fuß maß, stramm wie ein Zinnsoldat anbei. »Welchen Fehler habe ich gemacht?«

»Frag doch nicht so dumm. Einen Ultrafehler.« Das war ein Bluff, Yannick hatte keinen Fehler (zumindest keinen Ultrafehler) verhackstückt.

Die Ratte hatte ihren Mittagsschlaf scheinbar beendet. Sie kam herangehuscht und begann, die übrig gebliebenen Filetstücke vom Klappergerüst des Mannes zu nagen. Der wehrte sich nicht. »Denk an meine Worte!« Dies war das Letzte, was das Monster sagte. Hernach fiel es wie eine verlassene Dreckschippe (wobei die Knochen glücklich klapperten) um.

Yannick zuckte mit den Schultern und ging weiter. Die Ratte hatte noch ein paar Knochen abzuknabbern. Er betrat die Vorhalle des Bahnhofs, die mit vielen Leichen bestückt war. Er trat auf die Straße, auf der kein Auto fuhr. Busse, Personenkraftwagen und andere Fahrzeuge standen kreuz und quer, quer und kreuz, aber kein lebender Mensch war zu sehen.

Alles war verschwommen und unscharf. Als wenn man oder frau durch eine unscharfe Brille schaut. Oder besoffen durch einen Wald torkelt.

Er sah einen Omnibus, dessen Türen geöffnet waren. Er ging flugs hin und stieg ein. Der Fahrer schlief oder starb über seinem Lenkrad. Er zog ihn vom Sitz (was ziemlich einfach war, da der Mann vielleicht nur achtunddreißig Kilo wog), legte ihn in den Gang und setzte sich ins Cockpit. Die gottlose Ratte (scheinbar hatte sie alle Knochen abgeknabbert) kam und grinste glücklich.

»Na, hat’s geschmeckt?«

Die Ratte (sie hieß Oliver) nickte, als wenn er ihn verstanden hätte. Sie leckte sich sogar mit der kleinen, roten Zunge durch das Barthaar.

Yannick hatte keine Ahnung, wie er einen Bus zu fahren hatte. Er drückte auf gutes Glück zwei Schalter oder Knöpfe. Zu seiner Verwunderung schlossen sich alle Türen mit einem Zischen. Er drehte den Zündschlüssel, der Motor erwachte ratternd zum Leben. Auch das nahm er verwundert zur Kenntnis.

Die Ratte verschwand im Fond und machte sich an den reichlich vorhandenen Leichen zu schaffen. »Alter! Lass das!«

Das Nagetier kümmerte sich nicht darum, es begann zu laben.

Yannick legte einen Gang ein und gab Gas. Die Karre fuhr doch tatsächlich los! »Das ist ja leichter als ich dachte«, grinste er in den Innenspiegel. »Ich wollte schon immer mal Busfahrer oder Trucker werden.«

Vertan.

Er fuhr (vielleicht neun Sekunden) nicht lange. Vor ihm staute sich der Verkehr, er ratterte genau hinein. Er fuhr einem Feuerwehrauto in den Arsch. Nichts ging mehr. Zu allem Überfluss hustete der Motor des Busses. Er furzte und spuckte vier- oder neunmal, schüttelte sich, dann gab er auf. »Wir müssen zu Fuß weiter. Der Bus ist im Eimer, alter.«

Die Ratte nickte.

»Du verstehst mich doch.«

Yannick öffnete die Türen (die wie Schlangen zuckten) und stieg wieder aus. Lange hatte die Reise ja nicht gedauert. »Wo sind wir hier?«

Die Ratte (nennen wir sie Bodo, nicht Oliver) antwortete nicht.

Er sah ein gelbes Ortseingangsschild und ging stracks darauf zu. Als er die Buchstaben erkannte, fiel er beinahe auf seinen Hintern. »Dorstfeld! Ich bin in Dorstfeld! Ich glaube, ich spinne. Ich bin wieder in der Heimat!«

Die Ratte Bodo schüttelte den Kopf.

Er sah sich um. »Aber kein Arsch lebt, alle sind gestorben. Was ist hier los?«

Bodo nickte.

Keine lebenden Menschen bevölkerten das Umland, aber etliche Leichen lagen auf den Straßen und auf den Bordsteinen. Er schritt über die Toten hinweg, Bodo knabberte ab und an einige an. »Wann bist du denn endlich satt? Du hast aber auch nur die Fresserei im Kopf? Denk mal an etwas anderes!«

Das Nagetier kümmerte sich nicht um den Einwand.

Er ging weiter in Richtung Osten. Die Blätter fielen von den Bäumen, die Luft war trocken und klar, die Sonne schien. Eine verschwommene Sonne. Alles, die ganze Welt war verschwommen wie eine falsche Brille. Oder überlappt. Anders konnte er es nicht bezeichnen. Da er ein Grummeln im Bauch verspürte, betrat er eine Bäckerei. Die Angestellten waren verschwunden, sie konnten keine Brötchen mehr verkaufen. Er stieg über den Bäcker, der hinter seiner Theke zusammengesackt war. Er lag da, als wenn er schläft. »Lass den Bäckermeister in Ruhe, er kann nichts dafür!«

Bodo ließ den Bäckermeister tatsächlich in Ruhe.

»Geht doch!«

Yannick schnappte sich drei ältere, trockene Sesambrötchen aus der Vitrine. Mehr war nicht vorhanden, irgendjemand hatte den Laden geplündert. Die sind vom Vortag, sie kosten nur die Hälfte, dachte er, als er in die erste Semmel biss.

Er aß die Brötchen, sie schmeckten wie Sägemehl mit Quark. Er schaute beim Essen auf seine zerschundenen Hände. »Hoffentlich bekomme ich keine Blutvergiftung, das wäre mein Ende. Schließlich gibt’s hier keine Ärzte mehr. Alle sind hinüber, so nehme ich mal an, alter?«

Die Ratte Bodo stieß ihn wie ein Hund mit der Schnauze an. Ihre Nasenspitze deutete nach Norden.

»Dort müssen wir hingehen?«

Bodo nickte wie ein Wackeldackel.

Der Junge ging los. Die Landschaft, die eben noch urban gewesen war, verschwamm stärker. Ständig arger, er konnte kaum noch etwas erkennen. »Was ist das, alter?«

Im nächsten Augenblick (vielleicht eine halbe Hundertstelsekunde) war er ganz woanders! Als wenn jemand mittels Fernbedienung ein Programm weitergeschaltet hätte. Die Umgebung hatte sich erneut verändert, er konnte wieder klar sehen. Die Häuser waren älter, viel älter. Die Straßen waren nicht so gut ausgebaut, sie bestanden aus Kopfsteinpflaster. Die Autos uralt. Er schätzte sie aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren. Auch die Menschen, die ihm entgegenkamen, trugen diese alte Kleidung, die er von den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts kannte. Er hatte schon oft Dokus aus jener Zeit gesehen.

»Wo kommen mit einem Mal Menschen her? Gerade war doch noch alles tot? Außerdem friere ich, es ist plötzlich so fürchterlich kalt geworden?«

Die Ratte Bodo antwortete nicht.

Ein uniformierter Mann kam ihm entgegen. Er trug eine Binde, welche ein Hakenkreuz zeigte, an seinem linken Arm.

Ich werde verrückt! Ich bin in der Nazizeit gelandet!

Der Nazi bellte den Jungen sofort an. »Heil Hitler! Bist du Jude?«

»Ich bin kein Jude, alter. Was soll das? Ich bin noch nicht einmal Christ?«

»Du hast einen Hund bei dir, also bist du logischerweise Jude.«

Wo hatte der diese Logik her?

»Müssen alle Juden Hunde dabeihaben? Außerdem ist der Hund eine Ratte? Wo bin ich hier, alter?«

»Nenn mich nicht alter!« Ein Lkw rumpelte dröhnend heran und ging hart in die Eisen. Es rumpelte und humpelte. Sofort sprangen Soldaten von der Ladefläche. »Festnehmen, den Kerl!«, brüllte der Hauptmann zwei der Soldaten an.

»Was soll der Scheiß, alter?«

»Nenn mich nicht alter. Hast du einen Ausweis dabei?«

»Nein, der ist in einer anderen Welt. Ich meine ... in meiner alten Welt verschollen!«

»Andere Welt? Es gibt nur eine Welt. Wir Nationalsozialisten haben die Macht übernommen, wir sind die Welt. Das Tausendjährige Reich ist endlich angebrochen! Hoch lebe der überregionale Führer!«

Im braunen Oberhemd des Hauptmanns steckte eine Zeitung anbei. Yannick zog sie, ohne zu fragen, heraus.

»Eh, du Lausebengel! Was fällt dir ein?«

Hindenburg beruft Adolf Hitler zum Reichskanzler!

Stand auf der ersten Seite zu lesen.

»Welches Datum haben wir heute?«

»Den 31. Januar 33. Es steht doch auf der Zeitung. Einen Tag, nachdem der Führer die Macht übernommen hat. Hoch lebe der Führer! Seine gegnerischen Elemente werden noch sehen, was die davon haben«, salutierte der Hauptmann und riss Yannick hernach die Zeitung aus der (die linke wer’s unbedingt wissen will) Hand. »Du Lümmel, du kannst doch nicht ... du bist festgenommen!«

Bodo sagte nichts. Sein behaarter Schädel zuckte nur zwischen dem Jungen und dem Nazi hin und her.

»Aber ich dachte ...«

»Nicht denken, mitkommen. Denken darfst du nicht, der Führer denkt für dich. Und die Partei denkt für dich, du musst nur penibel gehorchen.«

Einige Soldaten (einer hatte Segelohren mit Pickel, was aber nicht besonders erwähnenswert ist) verfrachteten Yannick und Bodo auf die Ladefläche des Lkw. Er setzte sich neben einer Frau auf eine Holzbank, die Ratte machte wie ein Hund vor seinen Beinen Platz.

»Bist du auch Jude?«, empfing ihn die Frau, die etwa vierzig Jahre alt sein mochte. »Sie siedeln uns um.« Die Frau, die stahlblaue Augen hatte, hatte ein Mädchen, das etwa zwei Jahre alt sein mochte, auf dem Schoß sitzen.

Yannick hatte schon viel über die Nazizeit von seinem Vater und Dokus gehört und gesehen. Er konnte es nicht fassen. »Ihr werdet in ein KZ gebracht, wisst ihr das?«, fragte er mit Nachdruck.

»Ach was, das sind doch alles nur Gerüchte.«

»Ich weiß, wovon ich rede, ich komme aus einer anderen Zeit. Aus der Zukunft. Die Nazis haben den Krieg verloren, bei uns herrscht eine Demokratie. Wenn man einmal von der Diktatur des Kapitals absieht! Ihr werdet nicht umgesiedelt, sondern ins KZ verschleppt. Aber vorher nimmt man euch alles weg, sogar die Goldzähne. Dann werdet ihr erschossen, nachher vergast. Oder ihr erfriert oder verhungert! Oder alles passiert zusammen!«

»Aus der Zukunft bist du? Das ist lächerlich. Der Führer verliert den Krieg? Welchen Krieg meinst du?«, fragte ein alter Mann, der einen grauen Spitzbart und einen gedrechselten, schwarzen Schnauzer vor sich her trug.

»Den Zweiten Weltkrieg meine ich. Der beginnt Ende August, vielmehr Anfang September neununddreißig. Er wird böse enden: Wir gewinnen die Demokratie und diese scheiß Nazis verlieren alles!«

Die Wachen lachten verächtlich. »Solch ein Blödsinn. Sei still, Junge. Du bringst mir nur die Leute durcheinander«, sagte der Älteste unter den Männern. Er trug aber keinen Spitzbart, wie man vielleicht hätte vermuten können.

Yannick ließ sich nicht beirren. »Danach kommt eine andere Diktatur, eine sozialistische. Ähnlich wie die der Nazis, nur nicht so brutal! In der DDR!«

Die Ratte Bodo nickte bejahend.

»Du spinnst, Junge. Wir haben die Macht, das hier ist das Tausendjährige Reich«, mischte sich einer der Aufpasser (aber nicht der älteste) ein.

Yannick wandte sich an die Frau, die neben ihm saß. »Wie heißen Sie?«

»Sarah Rosenthal.«

Er deutete mit der Nase auf das rothaarige Mädchen, das auf dem Schoß der Frau hockte. »Und Ihre Tochter?«

»Auch Sarah. Die zweite Sarah, sozusagen.«

Der Junge brannte die Namen in sein Hirnlappen und schwieg fortan. Die Ratte ebenfalls, die sagte ja bekanntlich sowieso nichts.

Nach etwa dreiunddreißig Minuten wurden sie in ein KZ gekarrt, das Yannick aus den Geschichtsbüchern so nicht kannte.