Verschollen - Michael Giersch - E-Book

Verschollen E-Book

Michael Giersch

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Beschreibung

Yannick Oberst möchte wie Anna neulich mit der S-Bahn zu seiner Oma fahren. Zwei obskure Männer betreten das Abteil und bieten ihm einen Tauschhandel an. Rucksack gegen Rucksack. Er mag dieses Unterfangen aber gar nicht gern. Aber die Männer tauschen die Rucksäcke mit roher Gewalt. Wenig später entdeckt er, dass diese Männer ihn mit irgendjemandem verwechselt haben müssen. Sein neuer Rucksack enthält Geld. Ein ganzer Rucksack voll Geld. Die Männer bemerken den Irrtum natürlich ebenfalls. Sie wollen das Drogengeld zurückhaben. Die Jagd auf den Jungen beginnt. Auf seiner Flucht, die ihn in absurde Welten führt, entdeckt er, dass er unheimliche Fähigkeiten, die er nicht kontrollieren kann, hat ...

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Es geht nirgends merkwürdiger zu als auf dieser Welt. (Kurt Tucholsky)

Inhalt

Freitag, der 19. Oktober

Big Fat Mama

Erwin

Samstag

Tanja Y

Sonntag

Montag

(

Freitag)

Dienstag

(

Samstag)

Mittwoch

(

Sonntag)

Donnerstag

(

?)

Vorschau

Von diesem Autor bereits erschienen:Koma Anderland Anderland (das letzte Gefecht) Schatten Schatten (Tillys Rache)

Freitag, der 19. Oktober

Yannick schlug die Augen auf. Er hatte schon wieder den Traum, in dem das rotblonde Mädchen (die mit den wunderschönen, blassblauen Augen) vorkam, geträumt. Jeden Tag – jede Nacht – dasselbe. Sein Bettlaken war feucht. Er träumte die ersten Jungenträume, schon seit einiger Zeit. Er träumte ständig von demselben Mädchen, welches vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein mochte. Viel zu jung für ihn, er zählte doch schon dreizehn Lenze!

Anna.

Der Name ging ihm nicht aus dem Kopf. Anna! Sie trug stets einen dunklen Stetson auf ihrem leicht brünetten Haar, warum auch immer.

»Alter, wenn du so weiter träumst, dann verliebst du dich noch.« Yannick quälte sich aus seiner Motörhead-Bettwäsche und bequemte sich ins Bad. Er setzte sich auf den Rand der lindgrünen Badewanne. Irgendetwas war anders, er spürte es. Der Tag war anders. Nicht wie sonst, seltsamer, verrückter. Er konnte sich das Phänomen nicht erklären. Er setzte sich auf die Toilette und verrichtete sein allmorgendliches Geschäft.

»Yannick, wo bleibst du denn?«, rief Mutter aus der Küche. »In einer Stunde fährt deine S-Bahn. Wenn du dich nicht beeilst, dann verpasst du den Zug!«

»Tu dir Ruhe an, alter! Immer diese scheiß Beeilerei. Ich kann mich noch mein ganzes Leben lang beeilen! Es muss doch nicht jetzt sein!«

»Ich meine ja nur!«

»Ihr Erwachsenen meint immer nur!«

Zehn Minuten später betrat Mamas Sohn die Küche, in der es schon nach frischem Kaffee und Semmeln duftete.

»Morgen Birgit. Wo ist denn Heinz-Walter, alter?«

»Nenne deinen Vater nicht ständig beim Vornamen. Und mich auch nicht. Und sag nicht bei jedem zweiten Wort alter. Wir sind noch nicht alt!«

»Das ist doch nur ’ne Redensart, alter.« Yannick setzte sich an den mahagonifarbenen, glänzenden Küchentisch. »Was gibt’s denn zum Frühstück?«

»Seit du dich mit den Ausländerkindern umtreibst, lautet jedes zweite Wort von dir alter. Wo soll das noch hinführen?«

»Ich habe doch gar nicht alter gesagt. Außerdem sind das keine Ausländerkinder. Sondern Leute, wie du und ich, alter.«

Birgit nahm ihren Jungen in den Arm, was der gar nicht gern mochte. »Ich meine doch nur so, wegen des alter. Das hast du doch von denen. Versprichst du mir, dass du Oma keinen Ärger bereitest?«, wechselte sie schnell das Thema.

Yannick löste sich aus der Umklammerung. »Was soll ich ihr denn antun? Ihr Erwachsenen tut ständig so, als wenn wir alles und jeden gleich niedermähen würden, alter. Ich saufe nicht, rauche noch kein Haschisch und schlagen tu ich mich auch noch nicht. Zumindest nicht so oft.«

»Ich meine doch nur so. Was heißt, noch kein Hasch?«

»Ihr Erwachsenen meint immer alles nur so. Was war mit Hasch?«

»Du hast doch gerade eben gesagt, dass du noch kein Hasch rauchst? Was soll ich denn davon halten?«

»Das sagt man doch nur so, alter. Bei uns in der Klasse.«

»Fang mir bloß nicht mit Hasch an. Da gab es mal ein junges Mädchen in Berlin, die hatte auch nur mal ... ich habe damals das Buch gelesen.«

»Das habe ich auch gelesen. Da mach dir mal keine Sorgen.«

Seine Mutter wechselte erneut das Thema. Sie strich mit einer (der rechten, wer’s wissen will) Hand durch sein rotblondes Haar, welches er von ihr geerbt hatte. »Nimmst du den blauen oder den roten Rucksack mit?«

»Den blauen natürlich. Was hast du denn gedacht?«

»Du und dein Schalke. Ich muss ihn noch packen. Aber jetzt iss und trink erstmal etwas.«

»Aber pack nicht so viel ein, alter. Ich fahre nur eine Woche«, rief Yannick seiner Mutter hinterher. Diese war schon auf dem Weg in sein Zimmer, das über und über mit Schalke-Postern behangen war. Er konnte sich nicht mehr so genau an die Farbe der Tapeten erinnern. Waren die ehedem blau oder grün, oder weiß? Eher blau. Er zuckte mit den Schultern, beschmierte das erste Brötchen mit Marmelade und schenkte Kakao in seine Schalke-Tasse.

Seine Eltern waren ständig besorgt um ihn. Aber er war doch schon dreizehn Jahre alt. Am ersten Weihnachtstag würde er vierzehn werden. Dann war er schon ein alter Knopp oder alter Sack, wie sie in der Schule sagen.

Seine Mutter hatte sich extra einen Tag Urlaub genommen, für seine Abreise. Als wenn er seinen Rucksack nicht allein packen könnte. Sie war bei einer großen Firma als Chefsekretärin beschäftigt, sein Vater fuhr Brötchen durch die Gegend. Birgit war schon vierundvierzig, sein Vater Heinz-Walter sogar schon siebenundvierzig Jahre alt. Fürchterlich alt! Er überlegte, ob er so ein Alter überhaupt erreichen konnte, bei dieser Umweltverschmutzung. Er trank einen Schluck Kakao und verzierte ein zweites Brötchen mit grober Leberwurst.

Birgit kam zurück. »Ich habe dir auch warme Sachen eingepackt, alter!« Sie schlug sich erschrocken mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Jetzt sage ich selbst schon alter!«

»Warum warme Sachen? Draußen ist doch das schönste Wetter? Fast wie im Sommer? Es ist tierisch heiß?«

»Es kann ja ganz schnell umschlagen, wir haben bereits Mitte Oktober. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Nee, nee, nee, nee.«

»Du wirst bald schon achtzig«, grinste er seine Mutter mit leberwurstverschmiertem (und auch jede Menge Senf war anbei) Mund an.

Daraufhin erntete er einen Klaps auf den Hinterkopf. »Blödmann.«

Yannick nahm den Oma-Faden wieder auf. »Ich fahre doch nur bis Herne, da brauche ich nicht die ganzen Klamotten. Und außerdem bin ich nur eine Woche weg. Und kein halbes Jahr.« Er wusste aus Erfahrung, dass seine Mutter stets reichlich Klamotten einpackt. Wegen ihm würde ein Paar Socken ausreichen.

»Ich habe dir doch nur sechs Paar Socken, Unterhosen und so etwas eingepackt. Und einen warmen Pullover, eine Ersatzhose und solche Dinge.« Sie hob die Hand und deutete mit einem Finger auf seine Nase. »Aber deine Zahnbürste musst du noch mitnehmen.«

»Jaja, lass mich doch erstmal in Ruhe frühstücken.« Er langte mit langem Arm rüber zur Arbeitsplatte und schaltete das Radio ein. Deutsche Schlager belästigten seine Ohren. Er suchte nach einem anderen Sender.

»Yannick, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du meinen Lieblingssender nicht verstellen sollst! Den finde ich immer so schlecht wieder!« Sie stand am offenen Kühlschrank und suchte offenbar etwas.

»Besser wäre, du findest ihn gar nicht mehr wieder, alter«, murmelte der Junge auf sein Leberwurstbrötchen.

»Du immer mit deinem komischen Hip-Hop.«

»Ich höre gar kein Hip-Hop, ich höre Rockmusik.«

»Das ist doch alles dasselbe.«

»Das ist nicht dasselbe. Das ist ein himmelweiter Unterschied!«

Und nun der Wetterbericht, quakte eine Frauenstimme aus dem Radio. Der heutige Tag wird schön, die Sonne wird vom blauen Himmel strahlen. Es wird so um die fünfzehn Grad warm. Der ganze Tag bleibt niederschlagsfrei.

»Hast du gehört? Fünfzehn Grad und sonnig, wozu dann einen Pullover?«

»Jetzt habe ich ihn eingepackt. Vielleicht wird es im Laufe der Woche ja wieder kälter. Ach was: bestimmt.«

Er stand auf, nahm seinen Kakaobecher und ging die Treppe – die in die erste Etage führte – hinauf, um sich anzukleiden. Auf der drittletzten Stufe überfiel ihn mit einem Mal Schwindel und es wurde ihm schlecht. Und er war mit einem Mal kurz vorm Kotzen. Manche würden auch Reihern sagen. Und er hörte seltsame Töne: Gewittergrollen, Raucherhusten, Kinderlachen, Kirchenglocken, Autogehupe, eine Speismaschine, schreiende Föten, kotzende Kröten. Und er sah verrückte, verschwommene Bilder. Eine junge, dunkle Frau, die Rastalocken trug. Sie steuerte ein Auto durch eine Stadt. Eine tote Stadt: auf den Straßen lagen Leichen. Zerbeulte Autos standen im Weg. Die Frau kurbelte am Lenkrad und fluchte. Er konnte sogar ein Wort von ihren Lippen ablesen: Fuck!

Die Szene wechselte. Eine Punkerin saß in einem Baum, sie hatte eine Handgranate oder etwas Ähnliches im Mund. Dann hörte er eine Explosion, eine gewaltige Explosion, eine fürchterliche. Hernach einen grässlichen Schrei.

Mit einem Mal war alles vorbei. Auch diese seltsamen Geräusche in seinem Hirn waren verstummt. Er holte einmal tief Luft und ging weiter. »Was war das denn, alter? Bekomme ich jetzt schon Hallos? Bin ich denn schon so alt?« In seinem Zimmer angekommen, setzte er sich auf das Bett, zog ein blaues Sweatshirt über sein blaues T-Shirt, schlüpfte in die blaue Schalke-Jeanshose und zog die blauen Turnschuhe an. Sie wurden so langsam schon wieder zu eng, er hatte mittlerweile Schuhgröße neununddreißig. Er fragte sich, wo es noch enden sollte. Bei Schuhgröße fünfzig? Oder vielleicht gar sechzig?

Er schlüpfte in seine schwarze Lederjacke. Dabei war er tief (wie ein alter Kanalschacht) in der eben erlebten Vision versunken. Was war das gewesen?

Seine Kakaotasse, die er auf dem Computertisch abgestellt hatte, wurde ob seiner Träumerei vom Ärmel der Jacke erwischt, fegte vom Tisch, auf dem sie nichts zu suchen hatte, und ergoss sich über den Rucksack. »Scheiße alter!«

Yannick hob den Rucksack hoch, er war durchtränkt vom Kakao. »So kannst du den aber nicht mitnehmen, der ist ja völlig nass.« Kurz entschlossen warf er den Rucksack auf das Bett und packte die Klamotten – die kaum in den Sack hineinpassten – um in den roten Rucksack. Die zweite Hälfte befand er für überflüssig, er warf sie beiseite.

Dann ging er ins Bad und färbte (oder wie man das nennt) sein Haar, um Birgits Mutter zu überraschen. Dank einer neuen Lotion ging es sehr schnell. Er musste sein Haar eigentlich nur mit einem Extrakt waschen, es dauerte keine zehn Minuten. So hatte er die Möglichkeit, heute in Grün, morgen in Rot und übermorgen in Lila durch die Gegend zu laufen. Das war In! Und wer In sein will, muss sein Haar ein wenig leiden lassen. Über eventuelle Konsequenzen, die diese Chemie verursacht, konnte er sich auch noch in neun oder fünfzehn Jahren Gedanken machen. Oder in zweiunddreißig.

Chemie macht pfui.

Ein gängiger Spruch in seiner Clique, der morgen auch schon wieder anders heißen konnte. Banane macht Nana, oder so ähnlich. Oder Zucker ist teurer als Zuckerwatte, wenn auf der Getreidebörse nichts los ist.

Dann putzte er die Zähne, packte die Zahnbürste in den Rucksack, ging runter und betrat die Küche. Seine Mutter riss vor Schreck ihren Mund (als wenn sie gerade ein fürchterliches Spinnenmonster gesehen hätte) sperrangelweit auf. »Wie siehst du denn aus? Willst du Oma schocken? Oder verschrecken?«

»Warum, alter? Das ist doch cool? Deiner Mutter wird’s sicher gefallen.«

Birgit schaute auf die große Küchenuhr. »Naja, ändern kannst du es eh nicht mehr. Du musst dich auf den Weg machen, in zehn Minuten fährt die Bahn.«

Yannick sah seine Mutter ernst an. »Mutter! Irgendetwas ist anders!«

Birgit war überrascht. »Weißt du eigentlich, wann du mich das letzte Mal Mutter genannt hast? Das muss schon hundert Jahre her sein. Was ist anders?«

Er schaute Birgit erneut ernst an. »So lange kann es gar nicht her sein. So lange lebe ich noch nicht. Irgendetwas ist anders.«

Mutter zuckte mit den Schultern. »Was denn? Ich sehe nichts. War das Frühstück nicht in Ordnung?«

Er winkte ab. »Das meine ich doch gar nicht, ich meine etwas anderes. Etwas ist heute Morgen falsch, anders. Ich kann es dir aber nicht erklären.«

»Du spinnst«, erwiderte Mutter, »du kommst in die Pubertät, da hat man gelegentlich solche Gefühle. Jetzt mach hin, sonst verpasst du die Bahn!«

»Solche Gefühle meine ich doch gar nicht. Und ob die bei der Bahn jetzt streiken oder nicht, zu spät kommen sie eh.« Er nahm den Rucksack und ging los. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, beharrte er.

Er musste bis zur S-Bahn-Station nur zwei oder drei Minuten lang laufen. Er erntete noch einen Kuss – etwas, was er gar nicht so gern hatte – auf seine rechte Wange. »Versprichst du mir, dass ...«

»Jaja!« Er wischte mit einer Hand (der rechten, wer’s wissen will) über seine Backe und verließ das Haus.

Er hatte ganz andere Sorgen als die S-Bahn. Außer den Träumen und den Anfall vorhin. Den hatte er schon wieder vergessen, zumindest ein bisschen oder etwas. Oder vielleicht verdrängt. Oder geklaut wurde er, der Traum.

Sorge Nummer Eins war die blöde Schrulle, die in der Klasse hinter ihm saß, Jasmin. Die stieß ständig mit ihrem Lineal in seinen Rücken. Wenn er sich dann umdrehte, dann grinste sie ihn mit ihrer Zahnspange an und zwinkerte ihm ein Auge zu. Selbst in den Pausen beobachtete sie ihn. Die wollte etwas von ihm. Er fragte sich, was dies alles zu bedeuten hatte.

Anna.

»Was hat denn diese Anna damit zu tun? Sie heißt doch nicht Anna, alter. Sie heißt doch Jasmin«, murmelte er in seinen imaginären Bart.

Sorge Nummer Zwei waren die drei Jungs und das Mädchen aus der Parallelklasse. Die Gang. Diese ziehen die anderen Schüler ab, wie sie es nennen. Dies bedeutet Handy, Uhr und Geld raus. Sonst gibt’s was aufs Maul. Bis dato waren sie ihm und seinen Kumpels noch nicht in die Quere gekommen. Die trauten sich nur an die jüngeren Jahrgänge heran.

Noch.

Aber Yannick und seine Kameraden rechneten jeden Tag mit einer Attacke. Schließlich waren die Handys der Jüngeren irgendwann mal out. Er und seine Kollegen hatten beschlossen, sich zu wehren. Das würde eine große Schlägerei mit den entsprechenden Konsequenzen geben.

Sorge Nummer Drei war arger. Irgendetwas stimmte mit seinem Computer nicht. Er hatte den Verdacht, dass er sich einen Virus eingefangen hatte. Trotz aller Sicherheiten, die er installiert hatte. Er hatte Sicherungen, die es nicht zu kaufen gab. Sein Kumpel Xaver hatte ihm diese besorgt, er ist der Beste. In Sachen Computer machte ihm niemand etwas vor. Trotz aller Sicherheiten kam er sich stets beobachtet vor, wenn er im Internet zugange war. Vielleicht hatte die Staatssicherheit ihm ein trojanisches Pferd oder etwas Ähnliches auf den Rechner geschmuggelt. Was bei diesen Sicherungen eigentlich unmöglich war. Die schnüffeln doch überall herum, ob jemand ein Bombenleger ist oder nicht. Er hatte den Eindruck, dass sie Staatsschnüffler Spaß daran hatten. Sie hatten den ganzen Tag wahrscheinlich nichts anderes zu tun. Er nahm sich vor, sich nach dem Urlaub mit Xavers Hilfe um diese Problematik zu kümmern.

Kurz vor dem Bahnhof kam ihm Andreas Kacheln entgegen. »Hey Yannick. Wo willst du denn schon so früh hin?«

Der Junge, der fürchterliche Segelohren und feuerrotes Haar anbei hatte, blieb vor ihm stehen.

»Hey Flieger«, sagte Yannick.

Andreas wurde von allen (sogar von den Eltern) Flieger genannt. Wegen der übergroßen (so ähnlich wie der Ex-Politiker Genscher) Segelohren. Er war ein Stückchen größer als Yannick und etwas stämmiger. Er ging in die gleiche Klasse und saß meistens neben ihm. Yannick profitierte daher, Flieger schob ihm ab und an bei Arbeiten Zettel mit Lösungen rüber. Flieger ist der Supersonderschlaumeier in seiner Klasse.

»Ich fahre zu meiner Oma. Gleich geht mein Zug, alter.«

»Scheiß auf den Zug, du kannst auch einen später fahren. Wenn du schon mal hier bist, muss ich dir etwas Tolles zeigen.«

»Was denn, alter?«

»Frag nicht, komm mit. Es dauert nicht lange. Deine Oma kann auch noch eine halbe Stunde länger warten. So wichtig kann es ja nicht sein.« Flieger ging vor, der Junge aus der anderen Welt (BITTE? WAS?) folgte.

»Gleich sind wir da«, flüsterte der Flieger nach viereinhalb Minuten. Er stieg über einen Zaun und schlich durch einen verwilderten Garten. Kreuz und quer standen allerlei Bäume, Büsche, Hecken, Bodendecker und hohe Gräser.

»Es ist ein Naturgarten«, erklärte der Flieger, »sie lassen ihn verwildern. Was wächst, das wächst. Wenn ein Baum umfällt, bleibt er liegen und verrottet langsam. Das ist doch toll? Besser als diese aufgeräumten Gärten, wo der Rasen ständig fünf oder sechs Millimeter hoch sein muss.« Er umkurvte einen Teich, welcher mit Seerosen bedeckt war. »Gleich sind wir da«, tat er kund. Er schlich gebückt durch ein Beet, welches mit Farnkraut bewachsen war, postierte sich hernach hinter eine dicke Buche und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger (den linken, wer’s wissen will) auf ein großes Panoramafenster. Welches etwa neunzehn Fuß entfernt installiert worden war. »Dort steigt die Show.«

»Was für eine Show?«, flüsterte Yannick.

Eine riesige, dänische Dogge kam mit einem Mal durch das Unterholz gestürmt. Yannick keuchte erschrocken auf. »Pass auf! Der Köter!«

Die Dogge sprang ihn an und warf ihn um. Der stöhnte gedämpft auf.

»Hilfe! So hilf mir doch!«

»Hör auf, Hund!«, zischte der Flieger.

Der Hund, der geifernd (wobei ihm der Sabber auf die Stirn tropfte) über Yannick stand, drehte ab und machte neben Flieger Platz.

Yannick wischte mit einem Ärmel den Sabber von seiner Stirn und rappelte sich auf. »Was ist das für ein Hund? Von einem Köter hast du nichts gesagt.«

»Das ist eigentlich ein scharfer Wachhund, aber ich habe ihn bestochen. Mit supergeilen Mettwürstchen.« Demonstrativ zog Flieger eine Mettwurst aus seiner Jeans und hielt sie vor das Maul der Dogge. Diese riss ihm die Wurst aus der Hand und verdrückte sich ins Unterholz.

Yannick klopfte Dreck und alles andere von seiner Jeans. »Du hättest mir auch sagen können, dass hier ein Köter herumläuft.«

»Das habe ich vergessen. Ist ja auch nicht so wichtig. Schau lieber dorthin.« Flieger deutete erneut (diesmal mit der Nasenspitze) auf das Panoramafenster.

Yannick hatte freie Sicht, keine Gardine oder Pflanze war im Wege. Ein nackter Mann, der lange schwarze Haare trug, stand in der Mitte des Wohnzimmers. Eine Frau (die ebenfalls nackig war) kniete vor ihm. Sie trug langes, blondes Haar. Nebenan stand ein sicherlich sauteures, schwarzes Sofa. Der Kopf der Frau glitt rhythmisch auf und ab, der Mann wühlte mit einer (der linken, wer’s wissen will) Hand im blonden Haar. Er sagte etwas zu der Blondine. Was die Jungs natürlich nicht verstehen konnten.

»Was tun die da? Weshalb kniet diese Frau vor ihm, alter? Was will sie da?«

»Sie bläst ihm einen, das ist doch logisch. Hast du keine Ahnung davon? Das veranstalten sie jeden Morgen um dieselbe Zeit. Da kannst du die Uhr nach stellen. Ich schaue immer zu, hier ist mein Stammplatz. Ich bin sozusagen Stammgast. Nur wissen die beiden nichts davon. Was ja sicherlich auch besser für meine Gesundheit ist.«

Yannick erwiderte nichts, er starrte gebannt auf das Paar. Er hatte so etwas natürlich schon in der Schule gehört, aber er hatte sich keine Vorstellung davon machen können. Wenn die Jungs sich brüsteten, hatte er dieses als Ammenmärchen oder Angeberei abgetan.

Mit einem Mal stand die Frau auf und stützte sich an der Wand ab. Der Mann begab sich hinter sie und packte sie bei den schmalen Schultern.

»Jetzt ficken sie, diesmal von hinten«, kommentierte Flieger. »Sie tun es jeden Tag anders. Manchmal von vorn, manchmal reitet sie ...«

Der Mann begann sich zu bewegen. Erst langsam, dann stetig schneller. Die Frau schüttelte wild das Haupt. Yannick starrte gebannt auf das Schauspiel. »Warum schüttelt die den Kopf durch die Gegend?«

Flieger schaute ihn wie ein Auto, welches in der Garage vergessen wurde, an. »Was soll denn diese blöde Frage?«

Mit einem Mal begann die Frau zu schreien. Yannick konnte es (trotz der Entfernung und der dicken Scheibe) bis nach außenan hören. »Lass uns abhauen, sie schreit! Er tut ihr weh! Wir müssen die Bullen rufen!«

»Du Blödmann. Sie kommt, sie hat einen Orgasmus. Du hast aber auch gar keine Ahnung?«

Der Mann schrie ebenfalls laut auf, dann fielen beide Konkubinen zu Boden. Und waren nicht mehr gesehen, da sie hinter das Sofa gefallen waren.

»Das war’s fürs Erste. Sie ficken gleich noch mal, wir müssen nur ein bisschen warten«, tat der Flieger kund.

»Ich muss verschwinden, ich bin schon spät dran. Die Bahn wartet nicht auf mich. Ich habe keinen Bock, noch eine halbe Stunde zu warten.«

»Ach so, das hatte ich ganz vergessen. Ich bleibe hier, ich habe noch genug Mettwürstchen für die Töle.«

»Also dann, mach’s gut, alter. Ich muss mich jetzt sputen. Ich habe schon einen Zug verpasst.«

»Jau, wenn du mal wieder zuschauen willst, dann weißt du ja, wo es ist. Aber vergiss die Mettwürstchen nicht, sonst wird der Köter scheußlich.«

»Jaja. Tschüss.« Yannick wühlte sich durch den Möchtegernurwald und ging zur Bahn. »Wegen so einer Scheiße habe ich meine Bahn verpasst, alter. Blasen, ficken, solch ein Blödsinn«, murmelte er in seinen imaginären Bart.

**

Der Boss stocherte in seinem Salat, führte die Gabel (auf der etwas Rucola lag) zum Mund und schob ein Foto über den Tisch. »Diesem Jungen übergebt ihr den Sack, er wird in der S-Bahn sitzen.«

»Warum in der S-Bahn?«, fragte der Mann, der die krumme Nase trug.

»Frag doch nicht so blöd, wo denn sonst?«, erwiderte der Boss grimmig.

»Weil die S-Bahn der einzig sichere Ort ist«, sagte der Mann, der die gerade Nase vor sich hertrug. »Wir steigen ein, tauschen die Säcke und steigen an der nächsten Station wieder aus. Die Bahn hält doch alle zwei Minuten. Es geht so schnell, davon bekommt niemand etwas mit.«

Der Mann mit der krummen Nase nickte nachdenklich. »Da ist was dran.«

»Da ist was dran. Was soll das denn? Wir machen dies doch nicht zum ersten Mal. Du bist aber auch manchmal blöd.« Der Mann mit der geraden Nase tippte sich zur Bestätigung mit einem Finger (welchen, sag ich nicht) gegen die Stirn.

Der Boss wedelte mit seiner Gabel durch die Luft. »Streitet euch nicht. Also, ihr tauscht die Säcke und kommt ganz schnell zurück. Und wenn ich sage, zurück, dann meine ich schnell zurück. Nicht, dass ihr erst in den Puff geht und euch ein schönes Stündchen macht. Ich treffe mich mit dem Kunden gegen Mittag, dann müsst ihr wieder hier sein. Also keine Unannehmlichkeiten!«

Der Mann mit der geraden Nase stand auf und wedelte die Rauchschwaden, die wie Nebel im Raum standen, durcheinander. »Alles klar, Boss. Wir haben verstanden. Wo steigt der Bengel ein?«

»In Wischlingen. Ihr müsst in Huckarde zusteigen.«

»Der Junge ist aber noch ganz schön jung«, meinte der Mann, der die krumme Nase vor sich herschob, mit einem Blick auf das Foto.

»Das ist die beste Tarnung, es ist am wenigsten auffällig. Gib mir das Foto zurück, es wird verbrannt.« Der Boss riss dem Krummnasigen das Foto aus der Hand. »Und jetzt seht zu, es ist schon spät.«

Die beiden Männer erhoben sich ohne ein weiteres Wort und verließen das Restaurant, welches noch nicht geöffnet hatte. »Ab und an stellen die sich aber auch blöd an«, murmelte der Boss auf seinen Salat.

**

Patrick musste sich beeilen, er hatte verschlafen.

Er hatte einen Auftrag. Einen sehr wichtigen Auftrag.

Er steuerte sein Fahrrad in einen Feldweg. Es war eine Abkürzung, er würde mindestens sechs oder vier Minuten sparen.

Er trat wie ein Radrennfahrer auf Koks in die Pedale seines Mountainbikes, die Räder schienen durch die lockere Erde zu fliegen. Eine große Pfütze erschien, er bretterte mitten hindurch. Das schlammige Wasser spritzte nach allen Himmelsrichtungen davon. Auch auf seine blaue Jeans und auf die blauen Turnschuhe. Er nahm keine Rücksicht darauf, er musste die Bahn erreichen, sonst hatte er bei dem fremden Mann verschissen.

Patrick bretterte um eine scharfe Kurve, das Hinterrad brach aus. Er fing den Drahtesel geschickt ab und gab weiter Vollgas. Er hatte die ganze Zeit auf die Erde gestarrt, wegen der vielen Löcher auf dem Weg. Er wollte sein neues Rad, welches er gestern zum Geburtstag bekommen hatte, nicht schon am ersten Tag zu Schrott fahren.

Zum ersten Mal, seit er in den Feldweg eingebogen war, schaute er auf. »Scheiße, wo kommen die denn jetzt her?« Er trat in die Bremse, das Hinterrad schoss quer durch eine Pfütze. Wasser spritzte im hohen Bogen auf ein abgeerntetes Feld. Er suchte nach Auswegen. Aber es war kein Ausweg zu sehen. Der Acker war zwar geerntet, aber schon gepflügt. Sie würden schneller sein.

Die Gebrüder Rottmyer schlenderten auf ihn zu. Die drei Rottmyers, die schlimmsten Raufbolde in der Gegend. Sie wohnten – hausten – in den Slums der Oststadt. In welchem die Stadt seit ein paar Monaten alle Hartz-Acht-Empfänger, verarmte Rentner und alle anderen, die durch das soziale Netz gefallen waren, eingepfercht hatte. Natürlich keine Beamten.

Egal, auf jeden Fall waren die drei Rottmyers die schlimmsten Raufbolde in seiner Altersklasse. Und vielleicht sogar noch eine darüber.

Noch vier Meter. »Wen haben wir denn da?«, rief der größte der Jungs.

Patrick meinte zu wissen, dass er Junge Wolfgang oder Wilfried hieß. Oder so ähnlich. Vielleicht Willibald. Jedenfalls irgendetwas mit einem W.

»Das ist doch der Patrick Hagener, wenn ich mich nicht irre. Ein verwöhnter Junge aus dem Reichenviertel.« Der mittlere der Brüder hieß ausgerechnet Patrick. Er war auch dreizehn Jahre alt, aber er ging nicht in seine Klasse. Sondern in die Slumschule, welche extra für Jugendliche aus der Unterschicht eingerichtet (und die Verantwortlichen waren auch noch stolz drauf) worden war. Die Reichen wollten und sollten unter ihresgleichen bleiben.

Kann mir mal jemand sagen, was die hier auf diesem verlassenen Feldweg zu suchen haben? Ausgerechnet JETZT?, dachte der Gleichverprügelte.

Die Jungs erreichten ihn. »Hose, Schuhe, Jacke, alle Klamotten ausziehen. Rucksack und Fahrrad her!«, befahl der jüngste Rottmyer. Sascha, Sebastian oder so ähnlich hieß er. »Dann polieren wir dir auch nicht so arg die Fresse!«

Die Jungen grinsten ihn dreckig an. Sie trugen verdreckte schwarze Jeans, die teilweise schon Löcher zeigten und verfärbte Jeansjacken, welche mal grün oder grünblau gewesen sein mussten. Und zertretene Turnschuhe.

»Vergiss die Uhr und das Handy nicht, Sascha«, sagte Wolfgang, Werner oder Wilfried.

»Keine Bange Wolfgang.«

Also doch Wolfgang, dachte Patrick.

»Seine Uhr gibt er als Erstes ab. Die bringt ein paar Mäuse, da bin ich mir sicher«, sagte Wolfgang.

Patrick streifte die Armbanduhr (die sicherlich über hundert Euro gekostet hatte) vom Handgelenk. »Hier habt ihr meine Uhr und jetzt lasst mich in Ruhe. Ich hab’s eilig! Ich muss so schnell wie möglich zum Bahnhof, ich muss ...«

Den Schlag, der gegen seine Nase krachte, sah er (da er feige von der Seite kam) nicht kommen. Er fiel in den Dreck, seine Nase begann sofort zu bluten. Das Fahrrad fiel zur anderen Seite. Patrick, der ihm den Schlag versetzt hatte, grinste ihn ohne Schneidezähne an. »Ich hab mich wohl verhört. Was hat der reiche Bengel gerade eben gesagt?«

»Er will die Bullen rufen.« Wolfgang trat Patrick gegen die Brust.

»Gib die Uhr her!« Sascha streckte verlangend eine (die rechte, wer’s wissen will) Hand aus. Patrick hob die Uhr aus dem Dreck und drückte sie ihm in die (an der der Mittelfinger fehlte) Hand. Dann stand er auf und wischte mit dem Sweatshirt das Blut aus seinem Gesicht. »Was wollt ihr noch?«

Wolfgang streckte verlangend seine rechte Hand aus. »Lederjacke her!«

Patrick streifte den Rucksack ab und zog seine Lederjacke aus. Er suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Aber es war weit und breit kein Mensch zu sehen. In diese öde Gegend verirrte sich noch nicht einmal ein Spaziergänger.

Wolfgang nahm die Jacke entgegen. Mama würde ihm eine neue kaufen müssen. »Was haben wir denn Schönes in dem Sack?«

NICHT DEN SACK!, schrien die Gedanken des Gequälten. »Den bekommt ihr nicht, er gehört mir nicht.«

Der nächste Schlag (von Sascha?) traf seinen Magen. Patrick ließ den Sack fallen und presste die Hände vor den Bauch. »Ihr Schweine!«

Sascha war im Begriff, den Reisverschluss aufzuziehen, als Patrick allen Mut zusammennahm und ihn ansprang.

Sascha warf den Rucksack zu Wolfgang. Patrick sprang zu Wolfgang, der warf ihn weiter zu Patrick. »Hol ihn dir doch, wenn er dir so wichtig ist!« Ein Katz-und-Maus-Spiel begann. Patrick rannte von einem zum anderen, der Rucksack flog sich überschlagend durch die Luft. Zwischendurch kassierte er einen Schlag oder einen Tritt. Die Rottmyers lachten ihn aus und verspotteten ihn.

Aber mit der Zeit (vielleicht zwei Minuten) wurden die Jungs schlapper. Sie qualmten schon seit geraumer Zeit wie die Schlote.

Patrick rauchte natürlich (wie sich das für einen ordentlichen Eishockeyspieler gehört) nicht. Er war den Verdammten aus der Unterschicht konditionell hoffnungslos überlegen. Irgendwann ließ einer der Jungs den Sack fallen. Patrick war schnell vor Ort, schnappte ihn vom Boden und gab Fersengeld.

»Heee, der will abhauen!« Die Jungs nahmen die Verfolgung auf, gaben aber schnell auf. Patrick war denen im Laufen hoffnungslos überlegen. Er hatte keine Uhr, keine Jacke und kein Fahrrad mehr, aber er hatte noch den Rucksack. Und er war nicht allzu arg zusammengeschlagen worden. Vorteile über Vorteile.

»Die alten Herrschaften rasten aus!«, keuchte er. Er bezweifelte, dass er es noch schaffen würde. Er hatte bestimmt elf Minuten verloren. Er beschleunigte und rannte wie noch nie in seinem Leben.

Nach einer Ewigkeit erreichte er die S-Bahn. Er spurtete die Stufen hoch, der Rucksack hüpfte auf seinem Rücken auf und ab. Die Nase blutete aber nicht mehr, er hatte die Blutung im Laufen mit seinem blauen Shirt gestoppt. Das Shirt, sowie die anderen Klamotten konnte er wegwerfen. Auch die Hose war mit Blut besudelt. Und alles war mit dem Schlamm des Feldes beschmiert. Er nahm drei Stufen auf einmal. Er durfte die Bahn nicht verpassen, es war sein erster Job. Der Mann hatte ihm fünfhundert Euro versprochen. Er musste nur den Sack übergeben und einen identischen übernehmen. Was sich in diesem Sack befand, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht. Er sah nur die fünfhundert Mäuse. Damit konnte er sich eine neue Eishockeyausrüstung kaufen. Naja, wenigstens einen Teil. Oder ein neues Rad oder eine Uhr. Oder, oder, oder. Nur noch sieben oder acht Stufen, er sah sein Ziel näherkommen. Er sprang auf den Bahnsteig, die Bahn fuhr (natürlich) gerade ab. Er trommelte mit den Fäusten gegen die geschlossene Tür. Den Zug interessierte das Ganze nicht, er beschleunigte. »Verdammte Scheiße!« Er ließ sich auf die Knie fallen. Anschließend schlug er wie ein Irrer mit den Fäusten auf die Waschbetonplatten ein. »Scheiß Rottmyers! Scheiß Feldweg! Scheiß Bett!«

Die Fahrgäste, die ausgestiegen waren, sahen ihn entgeistert an. »Was hat der denn?«, fragte ein alter Mann mit schwarzem Hut, ebenso schwarzem Mantel und schwarzem Köter. Ein Teckel, um genau zu sein.

»Der ist sicher in irgendwelche Drogengeschäfte verwickelt«, erwiderte seine Begleiterin, die einen identischen Hut auf dem Kopf trug. »So ist das heute mit der Jugend. Die fangen doch alle so früh an, mit den Drogen.«

»Guck mal«, sagte der Mann, »er ist ja ganz mit Schlamm beschmiert. Seine Nase blutet, und sie ist ganz dick.« Sie standen vor ihm, als wenn sie einen Affen im Allwetterzoo begutachten würden. Dann gingen sie (wobei sie im Kollektiv die Häupter schüttelten) weiter.

Patrick ignorierte diese beiden Idioten, er war am Boden zerstört. Sein erster Job, und den hatte er gleich vermasselt. Quatsch, den hatten die Rottmyers ihm vermasselt! Die nächste Bahn konnte er nicht nehmen, es musste diese sein. Dies hatte ihm der fremde Mann lang und breit erklärt.

Wenn du die verpasst, dann hast du schlechte Karten. Wenn alles klargeht, dann bist du reich, hatte der Mann, der die Pocke auf der Nase trug, gesagt.

Er schluchzte und rotzte Blut auf den Boden, er hatte alles vermasselt. Ade, schöne Eishockeyausrüstung! »Ich muss dem Mann den Rucksack zurückgeben, vielleicht bekomme ich dann doch noch das Geld«, stammelte er und setzte sich auf eine Holzbank. »Aber erst schaue ich mal nach, was da drin ist. Besonders wertvoll scheint es ja nicht zu sein.« Er lugte wie ein Strauchdieb nach allen Seiten. Auf dem ganzen Bahnsteig war niemand zu sehen. Er zog den Reißverschluss auf und schaute in den Sack. Er zog ein weißes Pulver, welches in eine Plastikfolie eingeschweißt war, heraus. »Wegen solch eines Milchpulvers macht der so ein Theater? Ich dachte, es wäre etwas Wichtiges. Deswegen habe ich mein Fahrrad, meine Uhr und meine schöne Lederjacke eingebüßt?«

Er riss eine Folie auf und schaute sich das Milchpulver genauer an. »Riecht aber nicht wie Milch. Das riecht ganz anders, seltsam?«

Er stand auf und tat etwas, was er nie wieder tun würde: Er verstreute das Pulver auf die Gleise. »Der Mann wird’s mir danken, das Zeug ist ja völlig unwichtig.« Er zog einen zweiten Beutel heraus und verstreute auch diesen. Diesmal verteilte er das Pulver aber auf dem Bahnsteig. Er verstreute alles. Wie ein Arbeiter der Stadtwerke, der im Winter einen vereisten Fußweg abstreut.

Dann machte er sich auf den Rückweg. Er begann zu frieren, so ohne Jacke. Es war des Morgens noch ganz schön frisch.

Aber er hatte ein neues Problem: des Abends lag ein gewisser Patrick Hagener mit einem Loch im Kopf auf dem Grund des Dortmund-Ems-Kanals.

**

Kreischend hielt die Bahn Einzug im Bahnhof. Yannick wartete, bis die Passagiere (etwa neunundzwanzig Leute) ausgestiegen waren. Hernach betrat er den Zug und setzte sich auf den erstbesten Platz.

Ein Fensterplatz.

Jemand trommelte wie irre gegen die Tür. Dieser Jemand war anscheinend zu spät gekommen. »Dann musst du eben früher aufstehen, alter!«

Er fragte sich, was seine Oma zu Mittag zubereitet hatte. Hoffentlich seine Leibspeise, Erbsensuppe. Er schaute durch die verdreckte Fensterscheibe. Dahinter flitzte die Landschaft vorbei. Die tief stehende Sonne blendete, er schirmte seine Augen sodann mit einer Hand ab.

Der erste Stopp, Huckarde. Menschen stiegen aus und ein. Mehr aus, der Waggon leerte sich. Er war sodann mit einem älteren Ehepaar allein. Er dachte an dieses ominöse Mädchen, von dem er seit einiger Zeit träumen tat. Er bekam seltsame Gefühle im Unterleib.

Anna.

Er musste lächeln. Wer war dieses Mädchen, in das er sich offensichtlich verliebt hatte? Fragen über Fragen.

Zwei etwa vierzigjährige Männer in weißen Anzügen setzten sich ihm gegenüber und starrten ihn an. »Junge, gib her!«, sagte der krummnasige Mann, der pechschwarze Augen wie Kohlen über der Nase trug.

»Was gib her?«, wiederholte Yannick.

»Den Sack«, sagte der Mann mit der geraden Nase, der ebensolche schwarze Augen und Haare hatte. Die beiden hätten auch Zwillinge sein können.

»Bist du bescheuert alter, das ist mein Sack?«, stieß der Junge hervor.

Der Mann mit der geraden Nase strich durch sein gegeeltes Haar und zupfte an einer blutroten Krawatte. »Du bekommst auch einen neuen Rucksack.«

Er zauberte einen roten Rucksack hinter seinem Rücken hervor. »Nun gib schon her, wir haben nicht ewig Zeit!«

Yannick sprang auf. »Was willst du von mir, alter?«

Das ältere Ehepaar wurde aufmerksam. »Lassen Sie den Jungen in Ruhe oder ich rufe die Polizei!«, rief die Frau, die einen grünen Federhut auf dem Kopf trug. Ihr Mann, ohne Federhut, dafür aber mit einer Helmut-Schmidt-Mütze beheimatet, nickte wichtig und bestätigend.

Der Mann mit der Hakennase drehte sich um. Sein Schlips schlug wie eine Pendeluhr über die Sitzbank. »Wenn Sie nicht Ihr dreckiges Maul halten, dann komme ich rüber und erkläre Ihnen etwas!«

Der alte Mann und die Frau duckten sich wie unter Peitschenschlägen.

So viel zur Zivilcourage, dachte Yannick.

Er setzte sich wieder. »Was willst du mit meinem Rucksack, alter?«

»Mach keine Faxen«, sagte der Mann mit der geraden Nase, »es ist doch alles so vereinbart.« Seine Stimme war hart wie Glas. Er lüftete seine Jacke und deutete mit einem Zeigefinger auf den Griff einer Pistole oder eines Revolvers. Yannick hatte von Waffen keine Ahnung.

Anna flitzte durch seinen Kopf, in der rechten Hand hielt sie einen dünnen Stock. Sie sagte etwas zu einer unsichtbaren Person. Er schüttelte den Kopf und wischte mit einer Hand über seine Augen.

»Rucksack her!«, befahl der Mann mit der krummen Nase nachdrücklich.

»Nun gib schon her!« Der Mann, der die gerade Nase vor sich hertrug, packte ihn und drehe ihn um. Er war ungeheuer kräftig, Yannick hatte keine Chance. Er riss mit einem Ruck den Rucksack von seinen Schultern.

Der Krummnasige übergab ihm den anderen, der identisch aussah.

Yannick bekam Muffe. Der Mann mit der krummen Nase rückte näher an ihn heran. Er konnte sauren Atem riechen. Eine Narbe (etwa sechzehn Zentimeter lang) auf dessen Stirn leuchtete feuerrot. »Und Schnauze halten!«

»Lassen Sie den Jungen in Ruhe!«, versuchte es die Oma noch einmal.

Der stechende Blick des geradenasigen Mannes ließ sie erstarren.

Die Bahn hielt mit zischenden Rädern. »Und vergiss nicht, wo du den Sack hinbringen sollst!« Die beiden Zwillinge erhoben sich.

Yannick war perplex. Den Sack wo hinbringen? Er wollte die entsprechende Frage stellen, aber die Männer waren schon verschwunden. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie die beiden Kerle so schnell verschwunden waren. Wie in Luft aufgelöst. Wie kann man oder frau so schnell verschwinden?

Er schielte auf seinen neuen Rucksack. Sein eigener war ja verschwunden, mitsamt den ganzen Klamotten. Es war aber nicht so schlimm, Oma Gertrud würde ihm neue Kleidung kaufen müssen. Er wühlte in der Jackentasche, er wollte Birgit anrufen. »Scheiße, das Handy war auch im Sack!«

Erneut schielte er auf den neuen Rucksack. »Am besten, du schaust mal nach, was dort drin ist? Wenn sie dir das Ding dann schon mal schenken?« Er zog den Reißverschluss des neuen Sacks auf.

»Soll ich die Polizei rufen?«, rief der Mann aus seiner Ecke und hielt sein Handy wie einen Pokal der Landesmeister hoch in die Luft.

»Nein alter, es ist schon gut. Sie haben mir ja nichts getan.«

»Nenn mich nicht alter, du Bengel!«

»Das ist doch nur so ’ne Redensart. Ihr habt doch auch früher gesagt: Mann ist das geil ...« Yannick begutachtete seinen Fang. »Das sagt man heute doch –« Er starrte in den Rucksack. Seine Augen weiteten sich, als wenn ihn jemand in den Unterleib getreten hätte. »Was ist das denn?« Er wühlte im Sack und holte ein Bündel Hunderteuroscheine hervor. So viel Geld hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen. »Was ist das denn?«, wiederholte er. Ihm wurde schwindelig. In seinem Kopf drehten und verquirlten sich die Gedanken.

Anna schlug mit dem Stock auf ein Monster ein, sie saß auf Irgendwem.

Yannick schüttelte den Geist aus dem Kopf und wühlte tiefer. Bündelwiese Geld. Zehner, Hunderter und Zwanziger. »Alter, bist du jetzt ganz bescheuert?«, murmelte er und zog ein weiteres Bündel hervor. Er konnte nicht beurteilen, ob es sich um gefälschtes oder echtes Geld handeln könnte.

»Die haben dich mit jemandem verwechselt, was soll ich mit so viel Geld? Und wofür?« Er stopfte das Geld wieder in den Sack und zog langsam den Reißverschluss zu. Er beschloss, die Sache mit seiner Oma zu bereden.

**

Der Boss schüttete den Inhalt des Rucksacks aus. Socken, Unterhosen, Shirts und eine blaue Zahnbürste purzelten auf den Tisch. »Ihr wollt mich verarschen!«, brüllte er. Die Wände des Restaurants vibrierten, als hätten sie Angst.

»Aber ...«, stotterte der Mann mit der krummen Nase, »... es war doch der Junge. Feuerrotes Haar, die Figur stimmte auch. Schlank, etwa vierzig Kilo schwer. Die Größe, etwa einen Meter fünfundvierzig. Auch der Rucksack war rot wie ein Feuerwehrauto.«

»Und das Haar war schulterlang, wie auf dem Foto«, bestätigte der Mann mit der (wunderschönen) geraden Nase.

»Und die verwaschenen, blauen Augen. Genau wie auf dem Foto ... und die Kleidung ...«, fuhr der Mann mit der Hakennase fort, »sogar die schwarze Lederjacke war identisch. Wie auf dem Foto.«

»Hackt’s bei euch? Feuerwehrauto? Das interessiert mich nicht!«, schrie der Boss. »Eine halbe Million ist futsch. Meine Auftraggeber reißen mir den Arsch auf! Ihr wisst doch, wie unsere Politiker sind!«

»Politiker?«, echote der Mann mit der geraden Nase.

»Wer denn sonst!«, brüllte der Boss. »Meinst du, die Heilsarmee? Seht zu, dass ihr die Kohle wiederbeschafft. Sonst kann ich für nichts garantieren!« Kostello schaute auf seine goldene Uhr. »Ich gebe euch vier Stunden, dann ist die Kohle wieder da. Und zwar hier auf diesem Tisch!« Er trommelte mit seiner kleinen Hand auf die blank polierte Tischplatte, als wenn er ein Schlagzeugsolo trommeln wollte. »Was meint ihr, wie viele Politiker koksen? Besorgt die Kohle, aber hurtig! Habt ihr mich verstanden?«

»Aber der Junge ...«

»Darum kümmert sich Oswald. Seht zu, dass ihr die Kohle zurückholt. Und zwar dalli. Ich wette, der andere Junge weiß gar nicht, wie ihm geschah!«

»Aber die Übereinstimmung ...«

Kostello klatschte in die Hände. »Dann hatte der Junge eben einen Doppelgänger. Seht zu, ihr wollt doch noch ein bisschen leben? Der Bürgermeister wartet nicht gern auf den Stoff. Ich muss neuen besorgen. Der blöde Jaust hat den Stoff auf die Gleise verteilt, hat mir ein Kontaktmann berichtet. Wir haben eine halbe Million Verlust. Vielmehr ihr. Das müssen wir wieder ausbügeln. Vielmehr ihr. Oder wollt ihr im Dortmund-Ems-Kanal tauchen gehen?«

Die beiden Männer sprangen auf. »Okay Boss, wir kümmern uns darum!«

»Das würde ich euch aber auch geraten haben. Aber lasst die verdammten Uzis hier. Die fallen nur auf!«

»Okay Boss. Wir nehmen nur unsere Revolver mit. Diese sind auch gute Argumente.« Die Zwillinge verabschiedeten sich muckelich.

»Ich habe das Gefühl, dass mir die Rudolf in den nächsten Tagen wieder auf den Pelz rückt«, murmelte Kostello in seinen imaginären Bart. Er trank hernach ein Schluck lieblichen Weines. »Die treibt sich doch sonst überall rum.«

**

Sie saßen im Wohnzimmer. Yannick hatte den ganzen Vormittag überlegt, wie er das Geschenk seiner Oma beibringen sollte. Er hatte sich für die radikale Art entschieden. »Schau mal, alter. Das habe ich heute Morgen in der S-Bahn geschenkt bekommen.«

»Nenn mich nicht ständig alter. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt.«

»Wie Birgit. Die sagt das auch andauernd.« Er schob seinen Teller beiseite.

»Und nenn deine Mutter nicht ständig beim Vornamen.«

»Jaja, alter. Aber jetzt schau dir das mal an.«

Oma Gertrud schaute auf den Rucksack. »Warum hast du denn einen roten? Du hast doch sonst immer einen blauen Sack dabei?«

»Das ist doch jetzt egal ...« Er kramte ein Bündel Scheine aus dem Sack und legte es auf den Tisch. »... schau dir das lieber mal an. Ist das nicht geil?« Er legte noch drei Bündel hinzu.

Oma schlug die Hände über ihr graues Haar zusammen. Sie war wie immer gekleidet: Unter dem geblümten Kittel trug sie wie eh und je eine froschgrüne Bluse. Der Rock war nicht minder froschgrün. Um den Hals trug sie eine weiße Perlenkette. Und im Haar steckten bunte Lockenwickler. Rote, grüne, gelbe und alles. »Wo hast du das denn her? Junge?«

»Das hat mir ein Mann in der Bahn gegeben, einfach so. Dafür hat er meine Klamotten bekommen. Vielmehr, er hat sie mir weggenommen.«

»Mann, das ist ein Haufen Moos. Wie viel ist das?«

»Keine Ahnung. Aber ich schätze mal, eine Million. Dagegen ist ein Jackpot im Lotto ein Haufen Mist, alter«, grinste er.

»Du musst das Geld sofort zur Polizei bringen.« Oma ging zum Telefonbuch und suchte die Nummer der Polizei heraus. Dann griff sie zum Beistelltisch, auf dem das Telefon stand, und wählte. Sie ließ sich hernach mit der Kriminalpolizei verbinden.

»Rudolf?«, meldete sich eine kratzende, verrauchte Frauenstimme.

»Sie müssen sofort kommen, wir haben hier etwas!«

»Bitte? Was denn?«

»Falsch- oder Drogengeld. Oder beides zusammen!«

»Da sind Sie hier aber falsch verbunden, hier ist die Mordkommission. Ich gebe Ihnen mal die kompetente Nummer durch.« Die verrauchte Stimme gab eine Telefonnummer (die Gertrud beflissen mitschrieb) durch, und legte hernach grußlos auf. Offenbar hatte diese Frau viel zu tun.

»Warum behalten wir die Kohle nicht, alter?«

Oma wählte die ellenlange Nummer. »Weil es bestimmt illegales Geld ist.«

»Na und? Das tun die Politiker doch auch? Dann dürfen wir das erst recht? Wir sind das Volk, nicht die Schwachköpfe dort oben.«

»Du redest schon wie dein Vater. Irgendeiner in diesem Land muss ja ehrlich bleiben, sonst geht es bei uns bald zu wie in Nordkorea oder Amerika!«

»Wieso? Wir haben doch schon lange amerikanische Verhältnisse. Das weißt du doch genauso gut wie ich?«

Gertrud lauschte in den Hörer. »Sei doch mal ruhig, ich höre sonst nichts.«

Yannick nahm den Hörer aus der Hand der alten Dame und lauschte. »Kein Wunder, die Leitung ist ja auch tot.«

»Aber, warum ist die Leitung tot? Ich habe doch gerade eben noch mit Agathe telefoniert? Und mit der Polizei?«

»Keine Ahnung«, sagte er und legte den Hörer auf die Gabel. »Dann kann ich die Kohle doch behalten, alter. Keine Verbindung, also gehört die Kohle nach internationalem Recht automatisch mir. Ist doch logisch!«

»Bloß nicht. Wer weiß, was das für Geld ist. Es ist bestimmt illegal oder verboten. Vielleicht sogar von Verbrechern«, wiederholte Oma.

»Was Verbrecher? Die Männer haben es mir geschenkt. Dafür haben sie schließlich meine Klamotten bekommen. Ich muss mir alles neu kaufen. Weißt du, was ein Paar Schalke-Socken kosten? Und mein Handy war auch drin.«

Oma nahm das Telefon und tippte die Nummer ihrer Tochter ein. »Die kann ich dir auch noch kaufen, so niedrig ist meine Rente nun auch wieder nicht.«

Sie lauschte gespannt in den Hörer. »Nichts, völlige Stille.«

»Ruf doch die Störungsstelle an«, grinste der Junge.

Er erntete für den Spruch einen tödlichen, eisigen Blick seitens der alten Dame. »Verarschen kann ich mich allein. Und so ein kleines Telefon, auf dem man kaum die Tasten erkennen kann, habe ich nicht.«

»Diese kleinen Dinger nennt man Handy, alter.«

Die Glocke läutete. »Wer ist das denn?«, fragte Gertrud erschrocken.

»Vielleicht sind es die beiden blöden Männer. Sie wollen sicher ihre Kohle zurückhaben«, flüsterte ihr Enkel. »Mach lieber nicht auf.«

»Woher wollen die wissen, wo ich wohne?« Gertrud ging an die Haustür und lugte durch den Spion. »Der Postbote, was will der denn?« Sie öffnete. »Guten Tag, Herr Hinrich. Was gibt’s?«

»Guten Tag, Frau Walter. Ich habe ein Einschreiben mit Rückschein für Sie.«

Gertrud unterschrieb und schloss die Tür. »Schönen Tag noch«, murmelte sie.

»Wer war das?«, fragte Yannick, als die alte Dame sich wieder an den Tisch gesetzt hatte.

»Der Postmann, er hatte ein Einschreiben mit Rückschein für mich.«

»Was ist das denn?«

Oma riss das Schreiben mit spitzen Fingern auf. »Das ist ein förmlicher Brief, den du unterschreiben musst. Damit sie wissen, dass du ihn auch bekommen hast. Und nicht geflüchtet oder getürmt bist.«

»Vom Gericht?«

»Unter anderem. Er kann aber auch von einer Versicherung, deiner Bank, Telefonanbieter oder so kommen.« Sie überflog den Brief. »Warum muss ich aber auch ständig so schnell fahren? Sie wollen mir drei Monate Fahrverbot aufbrummen. Ich muss sofort Günsel anrufen.« Sie langte erneut zum Telefon.

»Das funktioniert doch nicht mehr. Wer ist denn Günsel?«

Mein Anwalt. Ohne Anwalt kommst du doch heute nicht mehr weiter. Und diese Rechtsverdreher verdienen sich auch noch eine goldene Nase dabei.«

»Ach so.«

Die Türglocke bimmelte schon wieder. Gertrud erhob sich und ging zur Tür, Yannick folgte ihr mit dem Rucksack in der Hand. »Sei vorsichtig«, flüsterte er.

Sie lugte durch den Spion. »Dort stehen zwei Männer. Die sehen mir aber gar nicht koscher aus.« Sie legte die Sicherheitskette in den Schlitz, öffnete und lugte durch den Spalt. »Ja bitte?«

»Sie haben etwas von uns, das möchten wir gern zurückhaben.« Der Mann, der eine fürchterlich krumme Nase trug, deutete mit einem Kopfnicken auf eine Waffe, die er in der Hand hielt. »Es ist wirklich sehr dringend.«

Yannick sprang mit einer Schulter gegen die Tür, sodass sie krachend ins Schloss flog. »Wo kommen die denn her? Woher wissen die, wo du wohnst?«

»Was hast du denn?« Gertrud lugte erneut in den Spion.

»Bist du bescheuert?« Yannick schubste sie zur Seite. Sie flog mit dem Rücken gegen die weiße Wand und rutschte zu Boden. Keine Sekunde zu früh.

Eine Kugel krachte durch den Spion und knallte in die Kuckucksuhr, welche an der gegenüberliegenden Wand hing. Der Kuckuck verabschiedete sich mit einem letzten Bingbong.

»Junge? Wer ist das?«, flüsterte die alte Dame.

»Das sind die Männer, die mir den Rucksack geschenkt haben!«

Weitere Projektile schlugen wie große Wespen in die Tür. Das Holz hielt aber stand. Die Tür, die aus massiver Eiche bestand, hatte nur einen Schwachpunkt. Und dieser war der Spion.

»Junge, wir müssen die Polizei rufen«, zischte Oma.

»Das Telefon ist doch tot«, zischte der zurück.

Weitere Kugeln schlugen wie böse Hummeln in die Eichentür ein. »Wer sind diese Leute?«, wiederholte die alte Dame.

Jetzt war es an dem Buben, sich zu wiederholen: »Keine Ahnung, ehrlich nicht. Sie haben mir meinen Rucksack abgenommen. Und dafür einen anderen gegeben. Den wollte ich doch gar nicht haben!«

Die Ganoven schossen jetzt auf das Schloss. Es war vielleicht der zweite Schwachpunkt dieser Tür. Yannick und Gertrud krochen auf allen vieren in Deckung. Sie erreichten die Treppe, welche ins obere Geschoss führte. »Da hinauf«, zischte Omas Enkel.

Gertrud ließ sich nicht lange bitten, sie stürmte (als wenn sie gerade eben vom Joggen gekommen wäre) erstaunlich zügig die Treppe hinauf. Oben angekommen, schaute sie sich um. »Wohin?«

»Ins Bad«, keuchte Yannick, »und dann abschließen!« Er stieß die Tür auf und zog seine Oma hinein. Hernach schlug er sie zu und drehte den Schlüssel zweimal um. Im Bad befand sich aber kein Fenster. »Wir sind gefangen, alter, das war keine so gute Idee.«

»Junge, in was bist du da hineingeraten?«, flüsterte die alte Dame.

»Ich bin unschuldig, alter. Ich weiß gar nicht, was die Männer von mir wollen. Sie waren auf einmal im Zug und dann ...«

Im Erdgeschoss wurde die Haustür gegen die Wand geschmettert. Die Verbrecher hatten sich offenbar ernsten Einlass verschafft.

Yannick legte ein Ohr an die Tür, die nach Putzmitteln roch. »Sie durchsuchen die unteren Räume. Es dauert nicht lange, und sie kommen garantiert hier hoch«, flüsterte er.

Nach einer Weile (vielleicht dreiundzwanzig Sekunden, wer’s wissen will) Schritte auf der Treppe. Die Gangster versuchten erst gar nicht, leise zu sein. Yannick und Oma gingen rückwärts bis zur Badewanne, dabei ließen sie die Tür nicht aus den Augen. Die beiden Männer gingen an der Tür vorbei. Sie öffneten die hintere Schlafzimmertür, man konnte sie an die Wand knallen hören.

»Wie viele Zimmer hast du hier oben noch?«, flüsterte der Junge.

»Drei, mit diesem hier vier. Das weißt du doch.«

Sie setzten sich auf den Rand der weißen Wanne und starrten die Tür an. »Wir müssen hier raus«, flüsterte Gertrud.

»Wie denn, alter? Sollen wir durch den Abfluss der Badewanne schlüpfen?«

Die Türklinke wurde niedergedrückt. Hernach erklang eine dumpfe Stimme, die sich anhörte, als wenn jemand in ein halb volles Wasserfass ruft. »Kommt raus! Wir wissen, dass ihr da drinnen seid!«

Die beiden, die gleich tot sein sollten, hielten den Atem an.

An der Klinke wurde gerüttelt. »Ihr hattet eure Chance!«

Zwei Sekunden geschah nichts. Yannick hatte schon die vage Hoffnung, dass die Männer sich verpissen würden. Dann knallten mit einem Mal Schüsse. Die Tür (die bei Weitem nicht so stabil wie die Haustüre war) wurde perforiert. Die Verbrecher schossen auch auf das Schloss. Das besagte Schloss hielt nicht lange stand, einer der Ganoven trat die Tür auf.

Yannick, den Rucksack im linken Arm, nahm seine Oma mit der rechten Hand bei der linken Hand und schwamm.

**

Die Männer mit den ungleichen Nasen (wollten sie gar nicht) schwammen mit.

**

Birgit nahm das Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter. Sie wollte mal nachhören, ob ihr Sohn gut angekommen ist. Sie hörte nichts. Stirnrunzelnd unterbrach sie und drückte auf die Wahlwiederholungstaste. Nichts. Sie setzte sich in das tiefe Sofa (welches sie vor drei Wochen erstanden hatte) und wählte die Nummer der Störungsstelle. Bevor jemand abhob, klingelte es an der Haustüre. Sie legte auf und ging nachsehen. Vor der Tür standen zwei Streifenpolizisten. Eine große Frau mit langem, schwarzem, zu einem Pferdeschwanz geflochtenem Haar und ein kleiner dürrer Mann mit einer roten Nase, welche vom ständigen Durst an der Theke zeugen sollte.

»Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung. Sind Sie Frau Oberst?«, fragte die Frau, welche offensichtlich die Streifenführerin war. Sie war über einen Kopf größer als der Lütte.

»Ja, was kann ich für Sie tun?«

»Würden Sie uns bitte einlassen? So zwischen Tür und Angel redet es sich schlecht?«

Birgit trat an die Seite und führte die Beamten in die Küche. »Ich habe gerade Kaffee gebrüht, möchten Sie eine Tasse? Das soll aber keine Bestechung sein.« Sie hatte ein seltsames Gefühl, ohne Grund kommt keine Polizei in die Botanik.

»Nein danke«, sagte der rotnasige Saufkopf.

Du würdest sicher lieber einen Schnaps haben, dachte Yannicks Mutter und suchte hernach zwei Tassen aus dem Küchenschrank.

»Ja bitte«, sagte die schwarzhaarige Schönheit, die eine tiefe, erotische Stimme hatte. Sie hatte etwas Ähnlichkeit mit der deutschen Schlagersängerin Nicole, befand Birgit.

Sie stellte Zucker und Milch auf den Tisch. Die beiden Beamten standen noch immer. »Bitte nehmen Sie doch Platz.«

Die beiden Gesetzeshüter verteilten sich zögernd auf die Eckbank und legten ihre Dienstmützen links und rechts anbei.

Birgit stellte die Tassen vor die Uniformierten und schenkte den Kaffee ein. Die beiden bedienten sich an Milch und Zucker. »Worum geht’s denn? Bin ich zu schnell gefahren?«

Die Schwarzhaarige nahm ihre Dienstmütze in die Hand und ließ sie zwischen den Fingern kreisen. »Nein es geht um Ihre Mutter, Frau Walter.«

Birgit schlug eine flache Hand auf ihren Mund und setzte sich den Polizisten gegenüber. »Ach mein Gott. Ist ihr etwas passiert?«

»Sie ist verschwunden und ihre Haustür ist zerschossen«, platzte es aus dem Rotnasigen heraus. Woraufhin er einen schiefen Blick seiner Kollegin erntete.

Die Schwarzhaarige trank einen Schluck. »Die Nachbarn Ihrer Mutter haben uns alarmiert. Sie haben Schüsse gehört.«

»Schüsse? Ach du Schande ...«, stammelte Birgit.

»Ja Schüsse. Wir haben die Wohnung durchsucht, aber niemanden gefunden. Ihre Mutter scheint vermisst zu sein«, sagte die Schwatte.

Birgit dachte spontan an ihren Sohn, er dürfte schon lange bei Mutter angekommen sein. »Was ist mit meinem Sohn? Haben Sie ihn gesehen?«

»Sohn?«, fragte der Rotnasige.

»Mein Sohn Yannick, er ist heute Morgen zu meiner Mutter gefahren. Mit der S-Bahn ist er dorthin gefahren.«

»Wir haben keinen Jungen gesehen. Die Spurensicherung ist schon bei der Arbeit. Wenn Sie bitte zum Tatort mitkommen würden?« Die Schwarzhaarige stand auf und trank (vielleicht aus Höflichkeit) erneut einen Schluck Kaffee.

Der Mann mit den Säuferaugen rührte seinen Kaffee nicht an.

Die Schwatte stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Ach, Entschuldigung. Wir haben uns nicht vorgestellt: Mein Name ist Polizeiobermeisterin Annerose Schnaps. Lachen Sie nicht, mein Name lautet tatsächlich so«, meinte sie mit einem schiefen Blick auf ihren Kollegen. Um dann mit der Nase auf ihn zu deuten. »Dies ist mein Kollege Polizeimeister Janus Wein.«

»Angenehm. Ich schreibe nur kurz eine Notiz für meinen Mann.« Birgit holte einen Block aus dem Küchenschrank und kritzelte eine Nachricht darauf. Als sie fertig war, trat sie an die Haustüre und zog ihre Jeansjacke von der Garderobe. »Ich bin bereit, wir können sofort los. Ich fahre aber mit meinem Van.«

Eine Stunde später betrat sie das Haus ihrer Mutter, sie wurde schon erwartet.

Der Beamte empfing sie mit einem eisigen Blick. »Guten Tag, Frau Oberst, was ist mit diesem Geld?«, kam er sofort zur Sache und deutete mit einem nikotingelben Finger auf den Wohnzimmertisch. Auf diesem lagen vier Geldbündel. Zwei Hunderter und zwei Zwanziger. Neben den Bündeln standen zwei benutzte Teller. Und Suppenlöffel lagen anbei.

Birgit schaute flüchtig auf die Bündel. »Woher soll ich das denn wissen? Wer sind Sie eigentlich? Weisen Sie sich erstmal aus, bevor Sie mich hier dumm anmachen!«

Der stämmige Mann zückte seinen Ausweis. »Kommissar Bender. Einbruch. Was wissen Sie von diesem Geld?«, spielte der Bulle Tonband.

»Der Ton der Polizei wird auch ständig rüder. Wo ist meine Mutter?«

»In diesem Hause war niemand. Aber wie erklären Sie sich die zerschossenen Türen?« Der hatte aber auch einen Ton drauf.

»Warum Türen? Natürlich war hier jemand. Meine Mutter und mein Sohn. Diese Teller sind benutzt. Erbsensuppe, die Lieblingsspeise meines Sohnes.« Birgit deutete mit der Nasenspitze auf die gebrauchten Teller, ging in die Küche und sah nach dem Herd. Er war ausgeschaltet. Das vergaß Gertrud manchmal.

»Die Tür zum Bad ist auch zerschossen und eingetreten. Wo befindet sich der Mann Ihrer Mutter?«, fragte Bender.

»Der ist vor zwei Jahren gestorben, Lungenkrebs. Er war kein Privatpatient.«

Der Mann mit den stechend blauen Augen starrte Birgit an. »Und was es mit diesem Geld auf sich hat, wissen Sie nicht?«, spielte er schon wieder Tonband.

Birgit wurde ungehalten. Das Arschloch. »Woher soll ich das denn wissen? Ich überwache – sicher anders als der Staat – die Konten meiner Mutter nicht. Kümmern Sie sich lieber mal um die Vermissten. Meine Mutter und mein Sohn sind verschwunden!« Sie schrie jetzt fast.

Die Vermissten interessierten den Bullen offenbar einen Dreck. »Irgendwie müssen wir die Terroristen ja bekommen. Das geht nun mal nur mit Telefon- und Kontenüberwachung.«

Birgit setzte sich auf das Sofa. »Sie wollen meine Mutter doch wohl nicht als Terroristin bezeichnen? Ich werde mich beschweren. Sie haben aber auch einen rüden Ton drauf. Ist dieses bei der Polizei inzwischen maßgebend?«

Der Kommissar winkte müde ab. »Beschwerden landen sowieso im Papierkorb. Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? Es wird nicht ohne Grund eine Haustür zerschossen. Und eine Badezimmertür auch nicht. Die erst recht nicht, wenn ich mich nicht irre?«

»Nein, verdammt noch mal! Beschuldigen Sie nicht irgendwelche Leute, sondern suchen Sie nach meiner Mutter und meinem Sohn!«, schrie Birgit den Knallkörper an.

»Das Haus wird bis auf Weiteres versiegelt«, sagte der Beamte ungerührt. »Wir geben Ihnen dann Bescheid, Sie können wieder nach Hause fahren. Wir melden uns, wenn’s denn sein muss.« Er war kälter als der Nordpol. Oder er war einfach nur ein Arschloch.

Sie tippte eher auf das Arschloch. Sie nahm das Telefon und versuchte, ihren Mann zu erreichen. Angestrengt lauschte sie. Das Telefon war tot, nicht ein Ton kam aus der Leitung. Sie trommelte mit einem Zeigefinger auf die Gabel und wählte erneut. Nichts. Sie wiederholte die ganze Prozedur. Nichts. Das Telefon war so tot wie ein Fisch im Ventilator.

»Die Leitung wurde gekappt. Abgeschnitten, sozusagen«, meinte der äußerst nette Bulle lapidar. »Ich habe das Gefühl, dass hier Profis am Werk waren.«

»Sie sind mir aber auch ein ganz schlauer. Wenn alle Polizisten in Deutschland so clever sind, dann ist ja alles in Butter.« Birgit knallte den Hörer auf die Gabel und verließ grußlos das Haus.

Big Fat Mama

Gewittergrollen, Raucherhusten, Kinderlachen, Kirchenglocken, Autogehupe, eine Speismaschine, schreiende Föten, kotzende Kröten.

Hörte der Jaust.

Die Landung war hart. Er prallte vor sich hinkotzend gegen einen Baumstamm, Gertrud knallte in seinen Rücken. »Wo sind wir? Junge, wo hast du uns hingebracht?«, stammelte sie augenblicklich.

»Wieso ich? Ich habe doch gar nichts getan?«, flüsterte er, nachdem er mit seinem Handrücken den Mund abgeputzt hatte. Es war stockduster, sie lagen in einem Wald. Er schaute in den Himmel. Er hatte von den Sternenbildern keine große Ahnung. Er wusste nur so ungefähr, wo der Abendstern, die Venus aufging. Aber dieser Himmel sah so gar nicht nach ihrem aus. Allerdings konnte er ob der hohen Bäume wenig erkennen. »Warum ist es dunkel? Wir hatten doch gerade eben erst Vormittag?«

»Wo sind wir hier?«, wiederholte die alte Dame, »und wo sind diese schießwütigen Männer?«

»Sei froh, dass sie weg sind, alter. Sie hätten uns eiskalt abgemurkst.« Er legte seinen Rucksack (den er noch immer in der Hand hielt) auf den (welcher mit Laub übersät war) Waldboden. »Merkst du etwas?«

»Was denn? Wir müssen hier weg, wir müssen zurück!«

»Absolute Ruhe. Kein Vogelgezwitscher, kein Affengekreische, nichts. Alles ist ruhig. Mucksmäuschenstill.«

»Wieso Affen? Wir sind doch nicht im Zoo?«

»Aber in einem Urwald. Zumindest sehe ich es so, nur Bäume. Frag mich nicht, wie wir hier hingekommen sind. Vielleicht träumen wir ja auch. Wir sind einfach über den Tisch eingeschlafen und träumen. Das ist die Lösung, alter!«

Gertrud setzte sich stöhnend auf und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Arm. »Wir träumen nicht, ich verspüre Schmerz.«

Yannick erhob sich. Er kniff sich ebenfalls in den Arm. Auch er verspürte einen stechenden Schmerz. »Du hast recht. Steh auf. Wer weiß, welches Getier hier kriecht und krabbelt. Vielleicht irgendwelche Stechtiere. Oder Blutsauger.«

Die alte Dame quälte sich hoch. »Und jetzt?«

Yannick schnappte seinen Rucksack vom Grund. »Wir gehen erstmal auf gut Glück los, vielleicht treffen wir ja auf irgendjemanden?«

»Und wenn wir die Schießwütigen oder irgendwelche Wilden treffen? Wer weiß, wo wir hier sind?«

Er ging schon los. »Keine Ahnung. Aber wenn wir hier stehen bleiben, dann wird es auch nicht besser. Wir müssen zusehen, dass wir wieder nach Hause kommen. Vielleicht sind wir nach Brasilien in einen Urwald gesprungen. Zumindest das, was von den Urwäldern noch übrig ist. Diese geldgierigen Arschlöcher holzen und brennen ja alles ab.«

»Aber ich habe Angst, es ist hier so unheimlich.«

»Nachts, in einem Wald ist es immer unheimlich, zumindest im Traum. Und wir träumen, da bin ich mir völlig sicher. Trotz des Schmerzes. Aber keine Angst, ich bin ja bei dir. Vorerst haben wir nichts zu befürchten, hier schwirren ja noch nicht einmal Insekten rum.«

Nach einer Weile (zwölf Minuten) blieb Oma stehen. »Solche Bäume habe ich noch nie gesehen, die gibt’s bei uns