Versteck dich! - René Bote - E-Book

Versteck dich! E-Book

René Bote

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Beschreibung

Die Mutter: säuft wie ein Loch. Der Stiefvater: kann nur prügeln. Kein Wunder, dass Julia da abgehauen ist. Und wer stolpert im Park fast über sie? Genau. Eigentlich hätte ich aus der Sache schnell wieder raus sein können, das Jugendamt ist ja da gleich um die Ecke, aber nee, lieber nicht. Was, wenn sie die Kleine wieder zurückschicken? Ich will sicher sein, dass sie nie wieder zu ihrer versoffenen Mutter und ihrem prügelnden Stiefvater muss. Bloß, jeder Erwachsene, den ich einweihe, wird sie sofort zum Jugendamt schleifen. Also muss ich sie verstecken und mich selbst um sie kümmern. Eine echte Herkulesaufgabe, aber ich werde es schaffen, weil ich es schaffen muss.

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Inhalt

Der Fund im Park

Laubenpieper

Elterliche Verantwortung

Unerwarteter Glücksfall

Spion auf Abwegen

Ganz anders als vorgestellt

Rückkehr in den Alltag

Der Fund im Park

Der Einsatzwagen nähert sich der letzten Haltestelle vor dem Rathaus, wenn alles gut geht, bin ich in einer Minute raus aus diesem Irrenhaus. Es ist fünf nach halb acht, der Bus gesteckt voll, Gespräche, die sich gegenseitig zu übertönen versuchen, das Geschrei der Fünftklässler und Musik aus viel zu weit aufgedrehten mp3-Playern und Smartphones vermischen sich zu einer gehörtötenden Geräuschkulisse. Von hinten drückt mir einer, der noch nie was davon gehört hat, dass alle mehr Platz haben, wenn jeder seine Tonne abnimmt, seinen Rucksack ins Kreuz, und vom Festhalten an der Stange unter der Decke tut mir allmählich der Arm weh, aber was mich wirklich nervt, sind die seichten Witze unseres Klassenkaspers. Einmal in Fahrt gekommen, kennt Daniel einfach keine Grenzen mehr, und seit Steffi mich gefragt hat, warum ich mich gestern nicht bei ihr und den anderen aus der Clique hab blicken lassen, und ich wahrheitsgemäß zugegeben hab, dass ich mal wieder bei Jana war, malt er den Umstehenden in den schillerndsten Farben eine lesbische Beziehung aus.

Dabei weiß er ganz genau, dass Jana mir Mathe-Nachhilfe gibt, weil ich nach einer Drei minus in der Fünften im letzten Jahr auf eine Vier abgerutscht bin. Nachdem ich die erste Arbeit in diesem Schuljahr komplett verhauen hab, wollten meine Eltern mir einen Nachhilfelehrer aufs Auge drücken, um, wie sie’s ausdrücken, den freien Fall zu stoppen, und mit jemandem aus meiner Klasse zu lernen, ist ein Kompromiss, den ich ihnen mühsam abgerungen hab. Jana macht das auch nicht aus Freundschaft, denn so dicke sind wir wirklich nicht miteinander, sondern weil meine Eltern dafür ihr Taschengeld ganz ordentlich aufstocken, und ich halte durch, weil das immer noch besser ist als irgend so ein verknöchertes Fräulein, das meine Eltern sonst wohl auftreiben würden. Immerhin hilft es, denn im Gegensatz zu unserem Mathelehrer kann Jana mir den Stoff so erklären, dass ich ihn verstehe, und in der letzten Arbeit hatte ich eine glatte Drei.

Das jetzt Daniel zu erklären, kann ich mir aber schenken, denn der hat sich in einen Rausch geredet, und die einzige Möglichkeit, ihn zu stoppen, würde die Mordkommission auf den Plan rufen. Naja, noch eine Haltestelle, dann bin ich ihn vorerst los.

Doch als der Bus hält, sehe ich Unheil nahen: Zweihundert Meter weiter springt die Ampel auf Rot, und da wir mitten im dicksten Berufsverkehr sind, stauen sich natürlich innerhalb kürzester Zeit etliche Autos vor der Kreuzung, die den Halt genutzt haben, um den Bus zu überholen. Mit der nächsten Grünphase kommt der Bus da bestimmt nicht rüber, sondern wohl erst mit der dritten, das sagt mir meine Erfahrung aus mehr als zwei Jahren, die ich nun schon um diese Zeit in die Innenstadt zur Schule fahre. Also noch fünf oder sieben Minuten Daniels blödes Gerede ertragen? Nein!

Kurz entschlossen dränge ich mich zum Ausgang durch, ignoriere den Protest von Bianca aus der Parallelklasse, als ich sie versehentlich mit dem Ellbogen ramme, und schiebe zwei Fünftklässler, die auf ihren Handys irgendwas zocken und nicht merken, dass ich durch will, mit der Schulter zur Seite. Beschwert euch bei Daniel, der bettelt ja förmlich um Ärger, und einen, der so energisch auf seine Ziele hinarbeitet, sollte man doch unterstützen, oder? Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig nach draußen, es hat schon angefangen, zu piepen, als Warnung, dass die Türen gleich zugehen.

Während hinter mir der Bus anfährt und keine fünf Meter weit kommt, atme ich erst mal tief durch. Endlich Ruhe! Falls Daniel begriffen hat, dass ich seinetwegen ausgestiegen bin, freut er sich jetzt wahrscheinlich eine Lampe ans Knie, aber das interessiert mich im Moment herzlich wenig.

In normalem Gehtempo überquere ich den Platz vor dem Finanzamt, an dessen Rand die Bushaltestelle liegt, und erreiche durch einen Durchgang in der Häuserzeile die Parallelstraße. Zum Rennen gibt es keinen Grund, meine Schule liegt fast direkt am Rathaus, der Bus fährt so, dass er gut zehn Minuten vor dem Klingeln da ist, und von der Haltestelle, an der ich ausgestiegen bin, sind es nur ein paar hundert Meter mehr zu gehen.

Der kürzeste Weg führt durch einen kleinen Park, in dem um diese Zeit absolut tote Hose herrscht. Wahrscheinlich auch sonst, denn gemäht wurde hier schon länger nicht mehr, und die paar Sträucher, die auf der Wiese stehen, hat auch niemand davon abgehalten, zu wuchern, wie es ihnen passt. Eigentlich ist es auch kein richtiger Park, nur eine Lücke zwischen den Häusern, die mit einem Weg längs durch und einem Spielplatz der billigsten Kategorie ganz vorne ein bisschen aufgewertet wurde. Trotzdem gefällt’s mir irgendwie, ein Stückchen Grün zwischen dem ganzen Beton, und nach dem Lärm im Bus tut die Ruhe gut. Die Hauptstraße ist von hier aus kaum zu hören, weil zwei Reihen mit mindestens vierstöckigen Häusern dazwischen stehen, in die andere Richtung sind sowieso alles Kleinstraßen, beidseitig zugeparkt, aber wenig, was rollt.

Auch das Wetter macht Freude, und für einen Moment denke ich, eigentlich könnte ich das öfter so machen, eine Haltestelle früher aussteigen und das kurze Stück zu Fuß gehen. Dafür, dass wir schon Ende September haben, ist es eigentlich fast ein bisschen zu warm, ich hab die Jacke zu Hause gelassen, und die Sonne scheint. Die Wettervorhersage behauptet, ein paar Tage soll es noch so bleiben, hoffentlich stimmt’s.

Auf der anderen Seite gibt es einen alten Kiosk, ein kleiner Anbau, der an die Seitenwand des Hauses neben dem Park drangeklatscht wurde und schon vor Ewigkeiten dichtgemacht hat. Ich kann mich jedenfalls nicht entsinnen, die Bude jemals offen gesehen zu haben, und auf der Eiskarte neben dem Verkaufsfenster, die zwar von der Sonne ausgeblichen, aber wundersamerweise weder beschmiert, noch abgefackelt wurde, stehen die Preise neben Sorten, die ich gar nicht mehr kenne, noch in D-Mark. Von der Eiskarte mal abgesehen, wurde zerstört, was sich irgendwie zerstören lässt, der Rollladen vor dem Verkaufsfenster hängt schief und ist gesplittert, die Scheibe dahinter ist genauso eingeschlagen wie die Leuchtreklame obendrüber, die Wände sind mit Graffiti zugekleistert, und drinnen liegt jede Menge Müll.

Ich bin nur noch ein paar Meter von dieser Ruine entfernt, als ich mehr aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Ich gucke genauer hin, sehe, wie die Tür sich öffnet, und bin mit einem Satz hinter dem nächsten Busch, der zum Glück hoch genug ist, um mich zu verdecken, und ein dichtes Blattwerk hat. Zu klauen gibt’s in der Bude bestimmt nichts mehr, es muss also entweder ein Penner oder ein Randalierer sein, wobei das eine das andere nicht ausschließt. Der Wind, der gerade reicht, um die Blätter leise rascheln zu lassen, hat die Tür jedenfalls nicht bewegt, denn ich hab früher aus Neugier mal in den Kiosk geschaut und weiß noch, dass die Angeln rostig sind und die Unterkante auch irgendwo am Boden schleift. Ich muss gestehen, mir wird’s ein bisschen flau im Magen, man weiß ja nicht, was man von so einem Typen zu halten hat, der sich in Abbruchhäusern rumtreibt. Ich bereite mich schon mal drauf vor, abzuhauen, falls der Typ mich sieht, aber vielleicht zittert er ja in die andere Richtung ab, und ich kann weitergehen, wenn er etwas Vorsprung hat.

Das Erste, was ich von der Gestalt hinter der Tür zu sehen bekomme, ist eine Hand, und schon das lässt mich stutzen. Sieht ziemlich klein aus, nicht so, als könnte sie mich erwürgen, und der Kopf, der sich direkt danach vorsichtig ins Freie schiebt, dürfte auch keinem Hünen gehören, da hätte das Kinn bei halbwegs normaler Körperhaltung deutlich mehr Abstand zum Boden haben müssen. Ein schlanker Körper vervollständigt die Figur eines Mädchens von sieben oder acht Jahren, das sich in alle Richtungen umguckt, ohne mich aber zu sehen, und dann ein paar Schritte nach draußen macht, um sich in der Ecke zwischen der Rückwand der Bude und der Seitenwand des Hauses, an das der Kiosk angebaut ist, zum Pinkeln hinzuhocken.

Die Kurze erleichtert sich, und ich bin erleichtert, weil ich von ihr nun wirklich nichts zu befürchten hab. Hit Girl wird in der roten Cordhose und dem blauen Sweatshirt jedenfalls nicht drinstecken.

Mein Aufatmen dauert nicht länger als eine Sekunde, dann kommen mir Zweifel. Soll ich wirklich einfach weitergehen? Die Kleine ist so schmutzig, der Pulli voller Spinnenweben, die Hose staubig und das Haar verfilzt, das kann sie kaum geschafft haben, wenn sie heute früh sauber und ordentlich aus dem Haus gegangen ist und auf dem Weg zur Schule nur mal kurz in die Bude geguckt hat, wo sie schon mal zum Pinkeln von der Straße weg ist. Sieht ganz so aus, als hätte sie hier übernachtet, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Eltern das erlaubt haben.

Ich beschließe, zumindest mal nachzufragen, und mache einen Schritt aus meinem Versteck. Im gleichen Moment entdeckt die Kleine mich, und ihr Fluchtinstinkt funktioniert einwandfrei. Sie springt auf und flüchtet, ohne sich die Zeit zu nehmen, vorher die Hose hochzuziehen. Natürlich ist das zwecklos, ich halte mich für einigermaßen sportlich und hab auf jeden Fall die längeren Beine, hätte sie also auch eingeholt, wenn sie nicht von der halb runterhängenden Hose gehandicapt worden wäre. Schon mal versucht, im Laufen die Hose hochzuziehen? Das kann eigentlich nur schiefgehen, das lernt die Kleine jetzt auch, ist nämlich noch keine zwei Schritte weit gekommen, ehe sie der Länge nach hinschlägt.

Wehgetan haben kann sie sich eigentlich nicht, ist im hohen Gras weich gefallen, aber der Schreck fährt ihr tief ins Gebein. Sie rollt sich auf den Rücken, sieht mir aus großen Augen entgegen und zittert vor Angst. „Keine Angst!“, versuche ich sie zu beruhigen, während ich neben ihr in die Hocke gehe. „Ich tu dir nichts.“

Hm, und wie weiter? Glauben tut sie mir das sowieso nicht, und mir fehlen die Worte. Fast wünsche ich mir Daniel herbei, der hat immer was zu quatschen, selbst wenn im Hirn Öde herrscht, hat er ja eben wieder eindrucksvoll bewiesen. Aber besser nicht, die Kleine ist eh schon durcheinander genug. „Hast du kein Zuhause, dass du in dieser Bruchbude schläfst?”, stelle ich die nächstliegende Frage. „Doch, aber...” Die Kleine beißt die Lippen zusammen, als hätte sie schon zu viel gesagt. „Ausgerissen?”, bohre ich nach, doch der Stöpsel schweigt verbissen. „Komm schon!”, versuche ich es noch einmal. „Vor mir brauchst du wirklich keine Angst zu haben.” „Und du schickst mich auch ganz bestimmt nicht zurück?” In den blauen Augen leuchtet ein kleiner Hoffnungsschimmer auf, aber noch ist das Misstrauen nicht weg. Ich rieche förmlich die Angst, die die Kleine hat, und nicke sofort, ohne mir wirklich darüber im Klaren zu sein, was ich da mache. Erst mit sekundenlanger Verspätung begreife ich, dass ich gerade einer kleinen Ausreißerin, die vermutlich gerade mal alt genug für die Grundschule ist, versprochen hab, sie nicht zu ihren Eltern zurückzubringen, die doch bestimmt schon in heller Aufregung sind.

Oder? Mein Mitgefühl mit den Erzeugern hält genau so lange an, bis sich ein Wasserfall auftut, der die ganze tragische Geschichte aus der Kleinen heraussprudelt. Was ich da zu hören bekomme, zieht mir glatt die Schuhe aus, und mich überkommen Gelüste, die mit Wiedereinführung der Todesstrafe und dem Mordmerkmal der besonderen Grausamkeit zu tun haben. Wer so mit seinem Kind umspringt, den sollte man… Nein, besser nicht drüber nachdenken!

Die Kleine lebt mit Mutter und einem Typen, den sie auf Geheiß der Mutter Papa nennt, in einem Viertel, das in der Stadt berüchtigt ist für seine abrissreifen Bruchbuden, in die nur einzieht, wer sich beim besten Willen nichts anderes leisten kann. Nach dem, was die Kleine mir erzählt, legt die Mutter ihr Geld lieber da an, wo’s vierzig Prozent und mehr dafür gibt, und mit ihrem dauerbesoffenen Kopf hält sie das, was ihr Lebensabschnittsgefährte mit ihrer Tochter macht, für eine liebevolle Erziehung. Wie blöd muss man sein, um zu glauben, jeden Tag Prügel würde einen besseren Menschen aus einem Kind machen? Die Kleine kriegt mit dem Schuh, mit der Rückseite vom Handfeger, mit dem Gürtel oder, wenn sonst grad nichts zur Hand ist, mit der Faust, für Nichtigkeiten und oft genug auch ohne dass überhaupt ein Grund zu erkennen wäre.

Ich frage, seit wann das so geht, und glaube, ich hör nicht recht, als sie mir sagt, dass es schon bald ein Jahr her ist, dass der Typ, Oswald heißt er, bei ihr und ihrer Mutter eingezogen ist. Ein Jahr jeden Tag Schläge und Geschrei, ich glaube, ich wär nach der ersten Ohrfeige ausgerückt.