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Josef von Stackelberg

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Beschreibung

Die Geschichte ist ein Märchen und erzählt aus dem Leben eines LKW-Mechanikers, der Lastkraftwagen in Personenkraftwagen umbaut. Nebenbei baut er Sprenggranaten und tötet damit Polizisten, die nachts mit ihren Radarfallen neben der Straße stehen und Mitmenschen Probleme bereiten, anstatt sich darum zu kümmern, dass andere Menschen nicht von anderen Menschen umgebracht werden. Dieser Teil der Geschichte ist angefüllt mit Details über das optische und technische Tuning von Lastkraftwagen und den Gefühlen, die großvolumige und PS-starke Motoren bei Männern und Frauen erzeugen können. Unter anderem finden wir uns am Nürburgring während des Trucker Grand Prix wieder. Weiterhin gibt es in diesem Märchen ein süddeutsches Bauernmädchen, das sich das Geld für ihr Studium der Physik als Full-Service-Modell verdient und auf diese Weise den vorgenannten LKW-Mechaniker kennen lernt; außerdem sorgt sie auf diese Weise für einen ausgeglichenen Hormonhaushalt, um sich auf ihre Physik konzentrieren zu können. Im Verlauf des Märchens erhält sie unter anderem den Nobelpreis für Physik. In ihren Zweitberuf als Modell wird sie von einer selbstständig arbeitenden Prostituierten eingeführt, welche sich vor ihrem ehemaligen Zuhälter versteckt und eigentlich Malerin sein möchte. Ein Märchen voller Beziehungskisten und Spannung bis zum Schluss.

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Ein paar Worte zur Einleitung

Als ich "Verstecken" schrieb, durfte niemand etwas von der Geschichte wissen, darum versteckte ich die Datei in einer umfangreichen Datenstruktur und gab ihr den sinnvollen Namen "Verstecken". Später, als die Geschichte sich langsam aus dem Off schälte, schien mir der Titel durchaus passend, weil beide Protagonisten sich zumindest teilweise verstecken, was mehr oder weniger offensichtlich ist, darum ließ ich der Datei der Einfachheit halber ihren Titel.

Die Charakterisierung einzelner Mitspieler in der vorliegenden Geschichte erfolgte natürlich ausschließlich aus der Notwendigkeit heraus, die Geschichte sich in die jeweilige Richtung entwickeln zu lassen. Irgendwelche Ähnlichkeiten mit realen Personen sind in keiner Weise beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Prolog

Karl-Peter seufzte, nahm die Fernbedienung des Fernsehers, richtete sie auf den Apparat und drückte die Ausschalttaste. Der Ton verstummte und das Bild auf dem Schirm zog sich zusammen. Karl-Peter erhob sich und schlurfte in die Küche, wo Ellen, seine Frau, gerade die letzten Gläser abtrocknete und in den Hängeschrank über der Spüle stellte. Sie drehte sich um und lächelte ihn schief an: "Nun geht es wieder los." Karl-Peter nickte und brummte: "Scheiß Nachtschichten." Er nahm sich einen Apfel aus dem Korb, biss hinein und meinte: "Heute darf ich wieder an der Autobahn Radarwache schieben. Langweiliger geht es fast nicht mehr." Ellen sah ihn kurz an und sagte: "Gibt es denn keine Chance, diese Nachtschichten zu verlassen?" – "Ich werde nächste Woche mal mit Kleimann reden, wenn ich in der Spätschicht bin und ihn sehe. Ich habe jetzt immerhin vier Jahre den Dreischichtwachdienst gemacht. In ein paar Wochen geht Schmalert in Pension, vielleicht kann ich dessen Aufgabengebiet übernehmen. Kleimann äußerte sich beim letzten Personalgespräch schon mal in diese Richtung. Dann hätte ich nur noch Innendienst und Tagschicht." Ellen lächelte: "Das wäre doch nett. Wozu habe ich Dich geheiratet, wenn Du nie zu Hause bist?" Karl-Peter biss das letzte Stück Fruchtfleisch von dem Apfelspeitel und warf den Rest in den Mülleimer. Er ging kauend in den Flur, nahm seine Uniformjacke vom Haken und schlüpfte in seine Schuhe, während er in die Jacke schlüpfte. Ellen stand in der Küchentür, lehnte mit der Schulter am Rahmen und hatte die Arme über ihrer Brust verschränkt. Sie betrachtete ihn, während er sich bückte und die Schuhe zuband. Ein attraktiver Mann, dachte sie. Sie hatte ihn vor etwa drei Jahren bei einem Tanzkurs kennengelernt. Beide hatten sich dort unabhängig voneinander angemeldet und waren von der Tanzlehrerin einander zugewiesen worden, weil sie von Größe und Figur gut zueinander passten. Nach einigen Abenden in der Tanzschule hatte Karl-Peter sie nach der Stunde schüchtern gefragt, ob sie mit ihm noch etwas trinken gehen wollte.

Aus dem Etwas-trinken-gehen war eine lange Nacht geworden, in der sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählt hatten, geflissentlich die Versuche der Serviererin der Bar übersehend, sie rauszuwerfen, indem sie die Stühle hochstellte, den Boden wischte, die Lichter ausschaltete. Irgendwann zum Morgengrauen hatte Karl-Peter sie vor ihre Haustür gebracht, weil sie "in ihrem übermüdeten Zustand nicht mehr verkehrstüchtig" sei, hatte sich von ihr mit einem Händedruck und den Worten "bis nächste Woche" verabschiedet und war davongefahren. In jenem Moment hatte sie sich in ihn verliebt. Es hatte dann aber noch eine ganze Weile gedauert, ehe sie intim wurden, weil es Karl-Peter zu genügen schien, mit ihr zusammen zu sein oder sie nur in der Nähe zu wissen, während er seinem Hobby nachging, dem Bau von Flugzeugmodellen. Keine Flugzeuge, die man fliegen lassen konnte, sondern meist aus Kunststoffformteilen hergestellten Nachbildungen von Linienmaschinen, Kunstflug-Doppeldeckern und ähnlichem. Er baute keine Militärmaschinen, weil er überzeugter Pazifist war, der Grund, warum er zur Polizei gegangen war. Er hatte ihr diesen scheinbaren Widerspruch so erklärt, dass er als Polizist verantwortlich dafür sei, dass in der Bevölkerung Frieden herrsche. Es sei wesentlicher Bestandteil seiner Tätigkeit, für diesen Frieden im Alltag zu sorgen, während ein Soldat die meiste Zeit seines Lebens damit verbringe, den Krieg zu trainieren und mit Waffen zu spielen. Die Subtilität der Argumentation hatte sie anfänglich belustigt, weil sie ihr nicht folgen konnte, mittlerweile wusste sie aber, dass Karl-Peter längst gemerkt hatte, dass seine Idealvorstellung der Tätigkeit eines Polizeibeamten nicht mit der Realität übereinstimmte. Er war immer noch Pazifist und versuchte, in seinem Umfeld und in seinem Leben Frieden zu bewahren, was sie manchmal zur Weißglut reizte, wenn sie mit ihm versuchte, einen kontroversen Standpunkt zu klären. Mit Karl-Peter konnte man nicht streiten. Er blieb stur auf der Sachebene und hörte irgendwann auf zu reden, wenn sie ihn persönlich angriff, um ihn aus der Reserve zu locken. Er war der Meinung, dass die Wahrheit am Ende übrig blieb, dass er nicht das Recht auf Wahrheit gepachtet hätte und dass man bei gegensätzlichen Standpunkten schließlich nur abwarten könne, was sich als die Wahrheit entpuppen würde.

Karl-Peter drehte sich noch einmal um, schluckte den Rest des zerkauten Apfelbreis hinunter und küsste sie zum Abschied. "Na dann, auf Wiedersehen und gute Nacht." – "Gute Nacht und viel Spaß auf der Autobahn." Er grinste sie kurz an und verschwand durch die Tür. Ellen schloss hinter ihm ab und ging ins Wohnzimmer zurück. Plötzlich hatte sie den Impuls, hinter ihm herzulaufen und zu sagen, er möge zu Hause bleiben. Sie schüttelte jedoch den Kopf, griff sich einen Roman aus dem Regal, setzte sich in einen Sessel und schlug das Buch auf, eine fantastische Geschichte über eine Welt, in der Maschinen mit übermenschlicher Intelligenz die Herrschaft an sich gerissen hatten. Nachdem sie eine Seite gelesen hatte, legte sie das Buch weg und seufzte. Sie würde in dieser Nacht wieder einmal nicht schlafen können. Sie war innerlich unruhig. Sie kannte dieses Problem, wusste, dass sie nun wieder die ganze Nacht in der Wohnung herumlaufen würde. Das einzige Mittel, sie schlafen zu lassen, wäre Karl-Peters Nähe und das Gefühl von Geborgenheit, das sie daraus zog. Aber Karl-Peter war nicht da, hatte Nachtschicht.

Karl-Peter war währenddessen zu seiner Dienststelle gefahren und hatte sich mit einem Blick auf den aktuellen Dienstplan vergewissert, dass er tatsächlich die Nacht über an der Autobahn Geschwindigkeitskontrollen durchführen sollte. Er griff sich die Schlüssel des zivilen Einsatzfahrzeuges mit der eingebauten Messanlage, ging auf den Hof und öffnete den Wagen. Er kontrollierte anhand einer Liste die Vollständigkeit der Ausrüstung, setzte sich dann ins Auto, startete und fuhr los zu dem vorgesehenen Messplatz an der Autobahn. An dieser Stelle war eine permanente Geschwindigkeitsbeschränkung eingerichtet, weil die Straße sehr unübersichtlich und stauträchtig war. Hier waren in früheren Jahren häufig schwere Unfälle passiert, wenn Fahrer mit hoher Geschwindigkeit auf das Stauende zurasten und nicht mehr bremsen konnten, wenn sie die stehenden Fahrzeuge erkannten.

Karl-Peter fuhr den Wagen in die vorgesehene Position an dem Messplatz, schaltete die Messanlage ein und setzte sich wieder ans Steuer. Er holte die Tageszeitung aus seiner Tasche und überflog die Titelseite. Die Regierung diskutierte wieder einmal über Steuererhöhungen und Ausgabenreduzierungen. Wahrscheinlich würden sie ein weiteres Mal Planstellen im öffentlichen Dienst abbauen. Noch mehr Überstunden würden anfallen. Im Rückspiegel sah er die Scheinwerfer eines Wagens auftauchen und schnell näher kommen. Cirka 160 Stundenkilometer anstatt der erlaubten 80. Die Anlage im Fond des Wagens klickte, ein roter Blitz erschien, fast gleichzeitig röhrte der BMW an ihm vorbei. Der Fahrer blickte überrascht zu ihm herüber. Karl-Peter zuckte innerlich die Schultern. Selber schuld. Er notierte das Kennzeichen des Fahrzeuges auf einem Notizblock und blickte noch einmal in den Rückspiegel. Leer. Er wandte sich wieder der Zeitung zu. Die Zinsen fielen, weil die Notenbank die Leitzinsen gesenkt hatte, um die darbende Wirtschaft in Schwung zu bringen. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Mietwohnung gegen eine Eigentumswohnung einzutauschen. Trotz seines nicht überragenden Gehaltes hatte Ellen es geschafft, regelmäßig Geld zu sparen und ein ordentliches Sparkonto anzufüttern. Er musste mit ihr mal reden, was sie von einer eigenen Wohnung hielt. Er blickte in den Rückspiegel. Ein Paar Fahrlichter tauchte auf, dahinter noch einige. Die Fahrzeuge näherten sich mit schätzungsweise 100 Stundenkilometern und fuhren an ihm vorbei, wie an einer Perlenschnur gezogen. Plötzlich sah er, dass auf der linken Fahrbahn ein Audi A6 mit schätzungsweise 180 km/h herankam. Die Anlage im Fond klickte wieder, der rote Blitz erschien. Mechanisch notierte Karl-Peter das Kennzeichen. Wahrscheinlich erhielt dieser Fahrer jedoch keinen Bußgeldbescheid, weil gleichzeitig mit ihm ein Fahrzeug auf der rechten Spur fotografiert worden war. Karl-Peter machte sich eine Notiz und blickte wieder in den Rückspiegel. Leer.

Er versagte es sich, auf die Uhr zu blicken, weil er wusste, dass ihm die acht Stunden Dienst dann noch viel länger vorkämen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und nahm wieder die Zeitung hoch. In Verbindung mit der Kindermordserie in Essen hatten sie nun einen Verdächtigen gefasst. Er war als Handelsvertreter in Deutschland gereist und sollte gelegentlich von einem Kinderspielplatz ein Kind entführt und umgebracht haben. Keine Zeichen von sexuellen Vergehen. Das Motiv war unklar, der Festgenommene hatte sich noch nicht geäußert. Karl-Peter blickte in den Rückspiegel. Ein Fahrzeug näherte sich mit wahrscheinlich vorgeschriebener Geschwindigkeit, wurde noch etwas langsamer. Karl-Peter schüttelte innerlich den Kopf. Warum konnten die Leute ihre Geschwindigkeit nicht auf dem Tachometer ablesen und steuern? Der Wagen fuhr vorbei und beschleunigte wieder. Karl-Peter blickte in den Rückspiegel. Leer. Er blickte nach vorne, auf die Gegenfahrbahn. Ein Fahrzeug fuhr auf der linken Spur, wurde langsamer. Karl-Peter war es, als sei ein Gegenstand aus dem linken Seitenfenster geflogen. Er hörte ein Geräusch unter seinem Auto und spürte plötzlich etwas wie einen Schlag von unten. Er hörte die Explosion noch, ehe sie das Messfahrzeug zerstörte und ihn tötete.

Kapitel 1

"Können wir diese Diskussion nun abschließen? Stuttgart möchte, dass wir in diesem Jahr mit drei Repräsentanten beim Trucker Grand Prix vertreten sind, und zwar vom ersten Tag bis zum letzten Tag. Von daher werden Sie alle drei Ihre Koffer packen und dorthin fahren. Frau Weibel wird Ihnen ein Hotel reservieren, die Reiseroute für Sie ausarbeiten und sich um die VIP-Karten für Sie kümmern. Soweit ich informiert bin, gibt es am Sonnabend Abend in der Mercedes-Box eine große Feier. An der werden Sie teilnehmen, und nicht nur, bis der offizielle Teil beendet ist. Meine Herren, sehen Sie es doch mal so: Aus ganz Deutschland werden sechs Verkaufsrepräsentanten für die Nutzfahrzeugsparte von Stuttgart zum Nürburgring geschickt. Betrachten Sie es als Ehre, dorthin fahren zu dürfen. Ihr seid die Besten Verkäufer Deutschlands." – "Ehre. Beste Verkäufer. Pah. Ich habe seit fünf Monaten kein freies Wochenende mehr gesehen. Ich wollte an diesem Wochenende mit meiner Frau zum Seefest nach Genf fahren. Immerhin ist an diesem Wochenende unser fünfjähriges Hochzeitsjubiläum." – "Dann nehmen Sie Ihre Frau doch mit zum Nürburgring … Okay, okay, war ein Scherz. Nehmen Sie die Messer wieder aus Ihren Augen, Werner. Sie bekommen nach dem Trucker Grand Prix eine Woche frei. Ohne Urlaub zu nehmen, alle Drei. Die Einladung zum Nürburgring ist Stuttgarts Belohnung für unsere Verkaufsleistung in den letzten Jahren, und die freie Woche ist meine Belohnung für Eure Leistung. Und nun lächeln Sie gefälligst, Herr Ober. Noch Fragen?" Auf das unisono ertönende "Nein" der drei Nutzfahrzeugverkäufer reagierte Walter Schneider mit einem innerlichen Seufzen und einem Nicken und winkte sie aus seinem Büro. Er konnte den Unwillen seiner drei Starverkäufer, wie er sie immer nannte, gut verstehen. Seit Monaten wurden Überstunden gemacht, Urlaub war rigoros gestrichen worden, und nun auch noch die Fahrt zum Nürburgring, zum Trucker Grand Prix. Die Daimler-Konzernleitung wollte in diesem Jahr das große Nutzfahrzeugrennereignis für eine eigene Werbeveranstaltung nutzen und hatte dafür europaweit die erfolgreichsten Verkäufer zusammenbeordert. Der Indikator für den Erfolg waren die jeweiligen Verkaufszahlen, und die Verkaufszahlen waren nicht nur zufrieden stellend gewesen in den letzten beiden Jahren, sondern hervorragend, dank der Leistungen seiner Stars. Er lächelte. Er wusste, auch wenn die Drei nun gegrummelt hatten, sie würden ihn nicht im Stich lassen. Weil sie loyal waren. Darum waren sie erfolgreich.

Der alljährlich stattfindende Trucker Grand Prix am Nürburgring ist ein mehrtägiges Fest für alle Freunde schwerer Lastkraftwagen, brüllender Dieselmotoren, Sehnsucht gebärender Country- und Westernmusik und der Stimmung, die durch Männerschweiß, Bier und dem Geruch nach gebratenem Fleisch und Dieselkraftstoff erzeugt wird. Die Kernveranstaltung bilden die Rennwettbewerbe der schweren Sattelzugmaschinen. Diese werden eingerahmt durch eine Show, die am Freitag Abend beginnt und am Sonntag Abend endet. Hier werden Männer wieder zu Kindern, ziehen sich traditionelle Westernkleidung – oder das, was sie dafür halten – an und leben den Traum von Lagerfeuern und Freundschaft.

Werner Ober, Karl-Heinz Zeismann und Justus Kernbauer waren nicht das erste Mal zu diesem Ereignis gefahren, meistens sogar auf eigene Rechnung. Noch nie jedoch waren sie über eine derart lange Zeit beruflich so eingespannt gewesen wie in diesem Jahr; alle drei merkten mittlerweile, dass ihre Kraftreserven erschöpft waren und wollten sich nur noch ausruhen. Sie bildeten ein starkes Verkaufsteam und ergänzten sich hervorragend. Während Werner der "Techniker" unter den Dreien war, verstand Karl-Heinz es am Besten, die Leute für ein Gespräch zu öffnen. Er war der Typ Verkäufer, der einem Senner auf einer Alpe ohne Stromanschluss einen Staubsauger verkaufen konnte. Da er zum rechten Zeitpunkt von den anderen Beiden zurückgeholt wurde, fühlten sich die Kunden von ihm nicht so sehr überrannt, dass sie flüchteten, ehe das Geschäft zustande kam. Justus war der Stratege. Er hatte Ideen, wie man durch Veranstaltungen Kaufinteressenten en masse ansprechen konnte oder wie man durch geeignete Werbekampagnen auf neue, unbedingt notwendige Einzelheiten der Nutzfahrzeuge aufmerksam machte. Dabei war er selbstbewusst genug, sogar gegen die Marketing-Leitung in Sindelfingen anzutreten, wenn es ihm notwendig erschien, wenn Sindelfingen seiner Meinung nach "das Geld verbrannte, ohne Leistung zu erzeugen", wie er zu sagen pflegte. Werner war ein zurückhaltender Typ. Er kannte seine Produkte jedoch in- und auswendig und wurde immer für die technischen Beratungen herangezogen. Gemeinsam mit den Kunden hatte Werner schon neue Technikkonzepte entworfen, die dann an die Entwicklungsleitung nach Sindelfingen gegangen waren und sich in späteren Nutzfahrzeuggenerationen umgesetzt fanden.

Als die Drei am Freitag Morgen in die "alte Schleuder" stiegen, wie der bereits vier Jahre alte Werkstatt-PKW liebevoll genannt wurde, waren sie trotz ihres Gegrummels einige Wochen vorher guter Laune. Werner saß am Steuer, weil Justus mit Karl-Heinz' Rennfahrer-Allüren seine Probleme hatte und Karl-Heinz immer Zustände bekam, wenn Justus "mit einhundertsechzig auf der linken Spur herumstand", wie er sich ausdrückte. Lachend und scherzend stellten sie ihre Reisetaschen in den Kofferraum, setzten sich auf ihre Plätze und schnallten sich an. Werner überprüfte noch einmal alle Fahrzeugfunktionen, was ihm den gutmütigen Spott der anderen beiden einbrachte. "Hast Du die Kohlebürsten der Lichtmaschine schon geprüft? Ich glaube, das Schmierintervall am Wagenheber ist schon abgelaufen." Werner reagierte auf die Sprüche der beiden mit einem Lächeln.

Sie verließen Hamburg über die Elbbrücken, fuhren dann die A1 an Bremen vorbei, wechselten später im Rheinland mehrfach die Autobahn, um in Gelsdorf auf die B257 zu wechseln. Anfänglich drehte sich das Gespräch der Drei um verschiedene Belange ihrer Tätigkeit. Nach und nach wurden die Gesprächspausen länger und als Werner sich nach einer Weile umsah, stellte er fest, dass Karl-Heinz und Justus schliefen.

Kurz vor dem Kamener Kreuz in einer lang gezogenen Kurve sah er vor sich ein Verkehrszeichen mit Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 km/h. Er nahm den Fuß vom Gas, viel zu früh kam eine weitere Reduzierungsstufe auf 100 km/h, das Schild für 80 km/h war bereits deutlich sichtbar. Er konnte nichts erkennen, was die Reduzierung der Geschwindigkeit begründet hätte. Eine Radarfalle? Nein, nicht in Deutschland. Früher in der DDR ja, aber nicht hier. Er blickte auf den Tachometer, noch 160 Stundenkilometer, da vorne war bereits das Schild zu sehen, das die Geschwindigkeitsbegrenzung wieder aufhob. Da blitzte es in seinem rechten Augenwinkel, ein kräftiger roter Blitz. Verdammt. Doch eine Falle. Ärger stieg in ihm hoch, er atmete tief durch. Das war nun nötig gewesen.

Sie kamen gegen fünfzehn Uhr in Nürburg an und suchten als Erstes ihr Hotel auf. Sie erhielten ihre Schlüssel an der Rezeption und begaben sich auf ihre Zimmer, nachdem sie vereinbart hatten, sich in einer Stunde wieder in der Lobby zu treffen.

Werner fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock, ging zur Tür mit der Nummer, die auf seinem Schlüssel eingeprägt war, schloss die Tür auf, trat ins Zimmer und verschloss die Tür wieder. Er stellte die Reisetasche ab, ging zum Telefon und wählte eine Nummer. Nach dem dritten Klingelzeichen klickte es und seine Frau sagte: "Ober." – "Hier ist auch Ober. Hallo Karin. Wir sind angekommen." – "Fein. Wie geht es Dir?" – "Naja, ich bin ein bisschen müde." Sie plauderten eine Weile über das Wetter und die Fahrtbedingungen und verschiedene andere alltägliche Themen und verabschiedeten sich schließlich. Dies sollte das letzte Mal sein, dass Werner mit Karin sprach.

Er legte sich auf das Bett und begab sich später zur Toilette, ehe er wieder nach unten in die Hotellobby ging. Er setzte sich dort in einen Sessel, um auf Karl-Heinz und Justus zu warten.

Eine Frau in Jeans und karierter Bluse betrat die Lobby. Sie trug üppig bestickte und verzierte Westernstiefel und auf dem Kopf einen schwarzen Stetson. Sie blickte sich um, gewahrte Werner, lächelte ihm zu und wandte sich dann an die Rezeption. Dort nannte sie ihre Zimmernummer, erhielt den Schlüssel, drehte sich zu Werner um, lächelte ihm noch einmal zu und verschwand in dem Flur, der zum Wohntrakt führte. Kurz darauf tauchte Karl-Heinz aus dem gleichen Flur auf. Er hatte sich ein besticktes Hemd angezogen und trug ebenfalls einen Stetson. Er ließ sich Werner gegenüber in den Sessel fallen und meinte: "Die Wettervorhersage meint, wir werden nur Sonne haben während der nächsten Tage." Nach einer Weile: "Hast Du die Braut gesehen, die da vorhin reinkam, mit dem karierten Hemd und dem schwarzen Stetson?" – "Das war kein Hemd, das war eine Bluse." – "Also hast Du die Braut gesehen. Die trug keine Unterwäsche, sage ich Dir." – "Ja?" Werner war nicht interessiert. Er war zufrieden verheiratet und schüttelte bisweilen innerlich den Kopf über den permanent unter Hormonproblemen leidenden Karl-Heinz. "Soll ich sie für Dich ansprechen?" Unbemerkt von den beiden war Justus herangetreten. Während Werner bei Karl-Heinz' Reaktionen auf weibliche Reize für gewöhnlich passiv blieb, reagierte Justus offensiv. Sie wussten, wie schüchtern Karl-Heinz wurde, wenn es zur Sache ging, und Justus nutzte dieses Wissen als Basis mehr oder weniger freundlicher Spötteleien.

Da ihr Hotel unmittelbar am Nürburgring lag, gingen sie direkt zu Fuß dorthin. Ein dichter Menschenstrom bewegte sich in Richtung der Müllenbachschleife. Neben der Straße standen die schweren Zugmaschinen, liebevoll gepflegt und umfangreich ausgestattet. Man sah hier chromblitzende Bullenfänger und großflächige Paint-Brush-Kompositionen neben Zusatz-Leuchten und Mehrklanghörnern. Die Boliden strömten einen Geruch nach Dieselkraftstoff, heißem Gummi, Wachspolitur und Sehnsucht nach der Ferne aus. Die Menschen waren gut gelaunt, scherzten und lachten, Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, gekleidet in Jeans und Leder, Cowboy-Stiefel und weit geschnittene Blusen.

Werner spürte, wie der Druck des Alltags langsam von ihm wich und die Lebensfreude durch alle Poren in ihn eindrang. Er bedauerte, dass Karin nicht mitgekommen war. Sie waren nun bis auf einen Tag fünf Jahre verheiratet und hatten ursprünglich geplant, ihren Hochzeitstag, zumal er auf einen Samstag fiel, in Genf zu verbringen. Dort hatten sie sich kennen gelernt.

Er hatte nach dem Gespräch mit Walter Schneider mit Karin gesprochen, ob sie ihren Hochzeitstag dann eben am Nürburgring feiern wollten, aber sie hatte abgelehnt, weil die Musik und das viele Bier nicht nach ihrem Geschmack waren.

Schon von weitem konnte man die Klänge der ersten Band auf der Bühne hören, der Duft nach Grillfleisch zog in dichten Schwaden über die Menschen hinweg. Karl-Heinz meinte: "Höchste Zeit für das erste Bier. Sind wir heute eingeladen oder lädst Du uns ein, Justus?" – "Ich habe von Frau Weibel Gutscheine erhalten für Getränke und Speisen in der VIP-Lounge, aber erst für Morgen Abend. Heute wirst Du uns wohl freihalten müssen, mein Lieber. Oder hattest Du heute nicht Deinen Hochzeitstag, Werner? Dann bist Du wohl am Dransten mit dem Freihalten." Werner schüttelte den Kopf: "Nee, mein Hochzeitstag ist erst Morgen, heute ist Karl-Heinz dran. Da drüben ist schon mal eine Schlange, in die Du Dich einreihen kannst. Du kannst mir gerne gleich zwei Bier bringen, wenn es Dir nichts ausmacht."

Einige Stunden später, der Himmel war bereits von Sternen überzogen, die Combo auf der Bühne spielte gerade ein Stück mit sehr viel Blues, tauchte die Frau aus dem Hotel neben Werner auf. Ihre Augen glänzten, ihren Hut hatte sie in den Nacken geschoben. "Hallo Großer, bist Du noch auf den Beinen heute." – "Hallo Kleine, ich muss doch darauf achten, dass Du rechtzeitig zu Bett kommst." Die Frau verzog ihren Mund: "Ich bin nicht klein." Sie blickte auf den Becher in seiner Hand. "Willst Du noch einen Schluck zu trinken?" – "Danke, aber meine Blase ist schon voll." Sie lachte, dann fragte sie: "Wo kommst Du denn her, Großer?" – "Aus Hamburg." – "Du klingst aber nicht hanseatisch." – "Nee, klinge ich nicht, weil ich in Württemberg gelernt habe zu sprechen. Aber der Kollege hier ist ein waschechter Hanseate. Nicht wahr, Karl-Heinz?" Mit diesen Worten schlug Werner Karl-Heinz auf die Schultern. Dieser drehte sich um, sah die Frau, schluckte nervös und lächelte. Die Frau hob prostend den Becher und sagte: "Hi, ich bin die Ellen." – "Äh, hi, ich bin Karl-Heinz." – "Und wer bist Du?", wandte sich Ellen an Werner. "Ich heiße Werner." Sie wandte sich an Karl-Heinz: "Und Du bist also ein echter Hanseate. Kannst Du mal ein bisschen hanseatisch reden? Ich höre das so gerne." Karl-Heinz schluckte wieder, sah hilflos zu Werner. Justus hatte sich soeben umgedreht und lachte: "Man möchte ja kaum glauben, dass unser Starverkäufer mal nicht weiß, was er sagen soll. Aber der ist hin und weg von Ihnen. Übrigens, mein Name ist Justus Kernbauer, schönen Abend." Er reichte ihr die Hand. Sie schüttelte die Hand, wandte sich dann an Werner und meinte: "Ich komme auch aus Württemberg. Wo hast Du denn dort das Schwätzen gelernt?" – "Och, in der Nähe von Stuttgart, auf einem kleinen Dorf." – "Nein, wo denn da?" – "Kennst Du Ostfildern?" – "Und ob ich das kenne. Eine Tante von mir lebte dort, und die haben wir immer besucht. Mensch, das ist doch toll, wie klein die Welt ist." Ellen blickte Werner an und lachte, rückte ein bisschen näher. Unversehens roch er eine Nase voll ihres Geruches, ein Gemisch aus frischem Schweiß, Rauch, ein herbes Parfum. "Willst Du tanzen?" Sie nickte, nahm seinen Becher und drückte ihn gemeinsam mit ihrem Becher Karl-Heinz in die Hand, der verdutzt dastand. Während Justus lachte, nahm sie Werners Hand und ging mit ihm nach vorne, in die Nähe der Bühne.

Am anderen Morgen trafen sich Werner, Karl-Heinz und Justus im Frühstücksraum. Karl-Heinz hatte leicht verquollene Augen. Während er sich den Kaffee in die Tasse goss, blickte er Werner an und sagte: "Und, hatte sie nun Unterwäsche an oder nicht?" – "Woher soll ich das wissen? Ich habe sie nicht gefragt." – "Was habt Ihr denn noch gemacht den Rest der Nacht? Wir warteten noch ewig lang auf Dich und sind irgendwann ins Hotel zurückgekehrt." – "Wir haben noch ein bisschen geredet." – "Ach ja, Reden nennt man das bei Euch. So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Machst Du das immer so?" – "Hallo, guten Morgen allerseits. Darf ich mich zu Euch setzen?" Eine strahlende Ellen stand am Tisch und blickte sie erwartungsvoll an. Justus nickte und Karl-Heinz blickte auf seine Tasse. Werner winkte ihr zu, sie solle sich einen Stuhl nehmen. Sie setzte sich und sagte: "Wo wart Ihr denn? Als wir vom Tanzen zurückkamen, wart Ihr nicht mehr da." – "Wir wollten Euch nicht stören, Ihr wart ja so vertieft ineinander" meinte Justus. "Ihr hättet überhaupt nicht gestört," lachte Ellen. Sie hielt auffordernd ihre Kaffeetasse hoch, und drei Männerhände griffen gleichzeitig nach dem Griff der Kaffeekanne. "Was habt Ihr heute vor?" – "Du wirst es kaum glauben, aber wir sind rein geschäftlich hier, und heute ist schon ziemlich ausgebucht." – "Werner erzählte mir das gestern Abend schon. Aber Ihr werdet während der Rennen auch unter den Zuschauern sein. Oder seid Ihr etwa selber Fahrer?" Justus zeigte auf Karl-Heinz und sagte: "Das ist der Rennfahrer." Dann zeigte er auf Werner und fügte hinzu: "Und das ist unser Cheftechniker." – "Und Du?" – "Ich bin der Mundwerker und sorge für die Stimmung." Er lachte. Sie blickte Werner an und meinte: "Das hast Du mir gestern gar nicht erzählt, dass Ihr ein Rennteam seid." – "Ach, der verkohlt Dich doch nur. Wir sind heute wohl überwiegend am Mercedes-Stand." – "Dann komme ich auf alle Fälle vorbei."

Später ging Werner mit seinen beiden Kollegen zum Ausstellungsareal der Daimler AG. Sie meldeten sich beim International Marketing Manager, einem Hünen mit großem Bauch, den er in einen maßgeschneiderten dreiteiligen schwarzen Anzug kleidete. Er begrüßte sie mit breitem Lächeln und schweißfeuchtem Händedruck und erklärte ihnen dann, dass sie lediglich für den Abend zur Standfete anwesend sein sollten. Die Daimler AG hatte an der Haupttribüne eine Reihe von Plätzen reserviert. Er gab ihnen hierfür einige Tickets und wünschte viel Spaß. Die Drei sahen sich eher achselzuckend an und gingen dann zur Tribüne.

Die Stimmung hatte sich mittlerweile aufgeheizt. Allenthalben dröhnten Dieselmotoren, lachten Menschen, die vormittägliche Sonne strahlte vom Himmel.

Der Trucker Grand Prix ist in Wahrheit ein gigantisches Festival am Nürburgring in der Eifel, das sich über mehrere Tage hinzieht und in dessen Mittelpunkt natürlich die Championship-Rennen stehen. Dazwischen zeigen Tourenwagenpiloten ihr Können oder ziehen zum Beispiel Korsos mit historischen Lastkraftwagen über die Rennstrecke. Die Stimmung wird getragen von der Musik und von der Freude der Menschen an dem archaischen Brüllen der großvolumigen Dieselmotoren, dem gigantischen Schauspiel, wenn die schweren Zugmaschinen leichtfüßig und mit tief geduckten Schnauzen wegen der brutalen Verzögerung in die Kurven gehen, dass die Bremsscheiben glühen, um anschließend mit einem jubelnden Dröhnen binnen Sekunden ihre Geschwindigkeit wieder auf einhundertsechzig Stundenkilometer hochzupeitschen. Werner spürte, wie sich alle Haare an seinem Körper vor Erregung aufrichteten, als er beobachtete, wie die lange grellfarbige Schlange der Trucks durch die Schikane vor der Haupttribüne eilte und in der hitzeflimmernden Gerade verschwand.

Er traf Ellen um die Mittagszeit wieder, als er die Tribüne verlassen hatte, um eine Toilette aufzusuchen. Als er aus der Toilettentür kam, stand sie gerade davor und blickte sich suchend um. Sie sah ihn und fing wieder an zu strahlen. Er lächelte zurück und ging zu ihr. "Na, Eure Mercedes scheinen heute nicht sehr erfolgreich zu sein." – "Noch sind wir nicht fertig, wir lassen den MAN nur ein bisschen Vorsprung und machen die Sache spannender." Sie hakte sich bei ihm ein und sagte: "Hast Du schon etwas gegessen? Ich habe einen Wahnsinnshunger auf ein Steak und eine Schüssel Pommes." Er lachte und ließ sich von ihr mitziehen zu einem der Grillstände. Sie nahmen sich je einen Teller mit Fleisch und eine Portion frittierter Kartoffelstäbchen und stellten sich an einen der Bistrotische. Werner ging zu einem benachbarten Getränkeverkauf und holte zwei Becher Bier. Während im Hintergrund eben wieder das satte Orgeln eines Anlassermotors vom Dröhnen der ersten Zündungen eines Achtzylinders abgelöst wurde, sich dieses Dröhnen zu einem ekstatischen Heulen steigerte und wieder nachließ, um in das typische Brummeln eines Selbstzündermotors überzugehen, hob Ellen ihren Becher, blickte Werner in die Augen und sagte: "Auf Rudolf Diesel, dem Erfinder des Selbstzündermotors. Ohne seine geniale Idee könnten wir heute nicht hier stehen und diesem Orchester lauschen, diesen Odor schnuppern und diesen netten Menschen in unserer Nähe haben." – "Auf Rudi." Sie tranken ein paar Schlucke. "Was treibt Dich eigentlich auf den Nürburgring, während hier die Männer ihre Spielzeuge ausprobieren? Das hat mich gestern Abend schon immer beschäftigt." Ellen wurde ernst. "Ach, weißt Du, mein Vater ist gewesener Fernfahrer. Als Kind hat er mich manchmal mitgenommen auf seine Touren. Damals, als die Lastwagen noch keine synchronisierten Getriebe und Servolenkungen hatten und die Führerstände so hoch waren, dass man dachte, der Liebe Gott müsse einem gleich ins Gesicht sehen. Wir waren teilweise wochenlang unterwegs während der Schulferien und ich habe diese Zeit mit ihm immer genossen. Obwohl – oder weil – wir meistens geschwiegen haben, während wir auf Achse waren. Er und meine Mutter hatten sich scheiden lassen, als ich noch klein war, weil sie nicht mit einem immer abwesenden Mann verheiratet sein wollte. Ich habe ihn eigentlich nur während der großen Ferien gesehen, und dann, wie gesagt, über mehrere Wochen. Es waren schöne Zeiten." Ihre Stimme klang plötzlich belegt. Sie räusperte sich und fuhr fort: "Mein Vater und meine Mutter triezten mich entsprechend, dass ich in der Schule vorankam und überredeten mich später, Jura zu studieren. Ich glaube, ich bin heute eine ziemlich gute Anwältin, aber das richtige Lebensgefühl spüre ich immer noch, wenn ich an einer Straße stehe und ein Vierzigtonner an mir vorüberzieht, der Diesel röhrt und die Erde bebt. Dann frage ich mich, ob ich nicht besser einfach mit Einundzwanzig meinen Führerschein Klasse Zwei hätte machen sollen und auch einen derartigen Truck steuern." Sie lächelte, plötzlich schüchtern. "Aber ich bin im Grunde sehr zufrieden mit meinem Leben." Werner blickte sie an, plötzlich flimmerte es vor seinen Augen, in seinem Gehirn rasteten ein paar Schaltstellen beinahe hörbar ein. Er spürte, wie ihm heiß wurde. "Ellen, ich glaube, Du bringst mich da auf etwas." Vor Aufregung begann er zu stottern. "W-w-warum soll man nicht eine Zugmaschine als Personenwagen zulassen können und damit Leuten ermöglichen, sich wie ein Trucker zu fühlen. Dieses Gefühl von … von … von …" – "Ich weiß, was Du meinst." Ellens Gesicht war schlagartig konzentriert, ganz die Anwältin. "Ich bin nun keine Spezialistin für Straßenverkehrsrecht, aber ich glaube", sie winkte mit dem Zeigefinger: "ich glaube, es gibt da eventuell etwas." Und so entstand eine Geschäftsidee, die Werner für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen sollte.

Ellen und Werner steckten während des gesamten Nachmittags zusammen und diskutierten, regten sich gegenseitig an und auf, was man alles machen könnte. Karl-Heinz und Justus beobachteten die Beiden, letzterer amüsiert, ersterer mit einem Gefühl ohnmächtiger Eifersucht. Als Werner Ellen am Abend zur Standparty mitbrachte, war seinen Kollegen klar, dass es ihn "erwischt" hatte. Justus schüttelte innerlich den Kopf. Er kannte Karin sehr gut und machte sich plötzlich Sorgen über das Verhalten Werners, den er bis zu diesem Zeitpunkt als besonnenen und ruhigen Kollegen, ja beinahe Freund, geschätzt hatte.

Er beobachtete, wie Werner und Ellen die Standparty gemeinsam verließen und nahm sich vor, ihm am nächsten Morgen gehörig die Meinung zu sagen.

Werner hingegen brachte Ellen vor ihre Zimmertür im Hotel und verabschiedete sich von ihr. Sie hatten ihre Adressen und Telefonnummern am Nachmittag ausgetauscht. Ellen wollte in den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen suchen, welche Möglichkeiten es gab, eine Zugmaschine als Personenkraftwagen zuzulassen, und Werner wollte schon mal vorsichtig bei seiner Kundschaft rumhorchen, ob es Vermarktungsmöglichkeiten für derartige "Spielzeuge" gebe.

Als er in sein Zimmer kam, sah er, dass eine Rückrufmitteilung an seinem Telefon leuchtete. Er rief in der Rezeption an, wo ihm mitgeteilt wurde, dass die Hamburger Polizei schon seit Stunden versuchte, ihn zu erreichen. Sie hatten eine Nummer hinterlassen, unter der er zu jeder Zeit anrufen solle.

Als er bei der angegebenen Nummer anrief, meldete sich ein Hauptwachtmeister Schermöller, der ihm mitteilte, dass Karin in den Nachmittagsstunden in St. Georg zusammengeschlagen und vergewaltigt worden und kurze Zeit darauf im Krankenhaus wegen der schweren inneren Verletzungen gestorben war, als sie einen ihrer Betreuungsfälle besuchen wollte.

Kapitel 2

Werner öffnete die Tür zu seiner Werkstatt, trat ein und verschloss sie wieder sorgfältig. Er zog noch einmal den Rauch aus seiner Zigarette, inhalierte tief und hielt den Rauch eine Weile in der Lunge eingeschlossen, ehe er ihn wieder ausatmete, gleichzeitig die Zigarette aus dem Mund nahm und sie in einem neben der Tür bereit stehenden Aschenbecher zerdrückte. Dieser letzte Zug jeden Morgen war ein Ritual. Werner rauchte nicht in seiner Werkstatt und gönnte sich nur immer diesen einen Zug, nachdem er die Tür schon zugedrückt hatte. Er wollte nicht, dass es in seiner Werkstatt nach Rauch roch und eventuell seine Ware anfing zu stinken.

Werner veredelte Zugmaschinen. Er kaufte von verschiedenen Herstellern LKW-Sattelzugmaschinen, stattete sie je nach Kundenwunsch in der Fahrerkabine mit edlen Stoffen oder teurer Elektronik aus, lackierte sie bedarfsweise um oder brachte Airbrush-Bilder auf den Führerhäusern an, je nachdem, was die Kunden wollten. Ganz oft kamen hochglanzpolierte Edelstahl-Auspuffanlagen oder Edelstahl-Überdach-Luftfiltersysteme zur Ausstattung hinzu. Einzelne Kunden wünschten sich Zierrohre am Kühlergrill, andere wollten Pressluftfanfaren und Zusatzscheinwerfer. Solange es von der Technischen Prüfstelle genehmigt und zugelassen wurde, erfüllte Werner jeden Wunsch. Die Besonderheit der LKW-Zugmaschinen, die er veredelte, lag darin, dass sie als Personenkraftwagen zugelassen wurden und daher mit einer entsprechenden Fahrerlizenz gefahren werden durften. Sie durften nur nicht mehr als Sattelzugmaschine verwendet werden.

An den Motoren musste Werner meistens nichts verändern. LKW-Zugmaschinen haben weit mehr als vierhundert oder fünfhundert Pferdestärken, genug, um die Gefährte auf einhundertachtzig Stundenkilometer und mehr zu beschleunigen, wenn die Fahrstufen in den Getrieben entsprechend angepasst und die automatischen Geschwindigkeitsbegrenzer deaktiviert werden. Alles mit dem Segen der Behörde natürlich. Auf Kundenwunsch machte er natürlich einige kosmetische Veränderungen, zum Beispiel verchromte Ventildeckel und Ansaugstutzen, eventuell in Kombination mit gläsernen Kühlerhaubenteilen.

Werner hatte damals vor über zehn Jahren mit Hilfe der sorgfältig arbeitenden Ellen, einer Juristin, die er auf dem Nürburgring während eines Truck-Grand-Prix kennen gelernt hatte, die einschlägigen Gesetze, die Straßenverkehrsordnung, die Straßenverkehrszulassungsordnung und weitere Richtlinien studiert und daraufhin mit der Zulassungsbehörde eine Vereinbarung treffen können, nach der er die Genehmigung hatte, Lastkraftwagen zu Personenkraftwagen umzubauen und entsprechend zuzulassen.

Jedes seiner Produkte basierte auf einem Serienfahrzeug und war nach dem Umbau ein Unikat, ausschließlich nach Kundenwünschen ausgestattet und entsprechend kostspielig. Er verhandelte nicht. Wenn der Kunde seine Wünsche geäußert hatte oder gemeinsam mit ihm die Lösung zustande gekommen war, nahm sich Werner eine Woche Zeit, um den Preis zu kalkulieren. Wenn der Kunde diesen Preis zu bezahlen bereit war und den Umbau bestellte, dann machte sich Werner an die Arbeit, wenn der Kunde verhandeln wollte, winkte Werner ab. Er brauchte diese Sorte Kunden nicht. Solange er einen LKW veredelte, nahm er keinen weiteren Auftrag an, um sich auf das jeweilige Werk konzentrieren zu können, wie er sagte.

Gerade hatte er einen amerikanischen Peterbilt in seinem Lackierraum stehen. Das Führerhaus mit der langen Motorhaube war karminrot lackiert, die langen Auspuffrohre hinter dem Führerhaus ragten hoch unter die Werkstattdecke. Er hatte diesen Wagen nach Beauftragung im Peterbilt-Werk in Amerika persönlich in Empfang genommen, ihn in einen Container verladen lassen und per Seefracht nach Rotterdam gebracht. Dort war er auf einen Tieflader verladen und nach Deutschland transportiert worden, direkt vor seine Werkstatt. Um den Motor nicht starten zu müssen, hatte Werner die Maschine mit einem Schlepper in die Halle geschoben, dann den Wagen komplett gesäubert und gereinigt, ehe er sich an den Umbau gemacht hatte.

Der Kunde hatte zunächst einige Wünsche geäußert, die Werner nicht zu erfüllen bereit gewesen war. Er wollte ein Airbrush-Pin-Up am Kofferkasten hinter dem Führerhaus. Werner hatte ihm diesen Wunsch versagt. Er machte keine Sauereien, wie er sich ausdrückte. Nun würde die lange rote Kühlerhaube mit einem langmähnigen weißen Mustang, der im Wind galoppiert, versehen werden. Dafür hatte Werner die Teile der Kühlerhaube abgebaut und an einer speziellen Halterung montiert.

Nachdem er sich seiner Jacke, seiner Schuhe und seiner Hose entledigt und sich mit einem weißen Overall und Arbeitsstiefeln bekleidet hatte, ging er in die Lackierhalle. Er blickte auf die Vorlage aus Blech, auf die er das Motiv schon einmal aufgebracht hatte, um die Wirkung der Farben zu testen, und ging in Gedanken noch einmal die Reihenfolge des Farbauftrages durch. Er würde mit dem Hintergrund beginnen, der lichtblaue Himmel, der einige weiße Wolken trug, und selbstverständlich in der kitschigen Pracht eines Sonnenunterganges prangte. Hier lieferte das Rot der Kühlerhaube einen hervorragenden Übergang von dem Motiv zur eigentlichen Wagenfarbe. Dann würde er den geschwungenen weißen Hals des Pferdes, der zur Rumpfseite wie ein nicht zu Ende gedachter Gedanke verlief, nach vorne in den edlen Kopf eines Mustangs führen. Werner hatte zu diesem Zweck eine Reihe von Büchern über Mustangs gekauft, um die charakteristische Augenpartie und Nase dieser von den spanischen Andalusiern und Lusitanos abstammenden wilden amerikanischen Pferde genau zu treffen. Das weit aufgerissene Auge und die geblähten Nüstern zeigten die reine Freude am Dahinstürmen. Um die Muskelkontur am Hals abzubilden, würde er vorher an den entsprechenden Stellen mit einem leicht aufgetragenen Grau die Basis für die Licht- und Schattenbildung herstellen, um sie dann mit einer weit fächernden Düse weiß zu überspritzen.

Werner schaltete die Luftabzugshaube und den Kompressor ein, stellte den Luftdruckregler exakt auf den gewünschten Wert und griff zur Airbrush-Pistole. Er setzte eine Fächerdüse ein und schraubte den Farbbehälter mit dem Lichtblau für den Himmel auf. Er wählte eine Variante mit einem etwas geringeren Rotanteil, weil es sich nie verhindern ließ, dass die Hintergrundfarbe leicht durchschimmerte, zumindest konnte jemand mit einem geschulten Auge dies erkennen. Er hatte die Oberfläche bereits am Vortag mit einem speziellen Lösungsmittel gebeizt, um sie für die Farbaufträge zu öffnen und gleichzeitig abzustumpfen, damit sie nicht zu heftig mit dem Lösungsmittel seiner Farben reagierten.

Mit langen, gleichmäßigen Schwüngen trug er die Farbe auf, hielt zwischendurch inne, um den Farbnebel abziehen zu lassen, betrachtete die geschaffene Fläche und sprühte weiter.

Als er mit dem Himmel fertig war, schraubte er Düse und Farbbehälter ab. Die Düse legte er in ein Gefäß mit Lösungsmittel. Dann nahm er eine Runddüse und mittelgraue Farbe. Er stellte an seiner Sprühpistole einen Gegenluftstrahl ein, machte ein paar Probezüge auf einem bereit liegenden Stück Blech und fügte, als er mit dem Farbstrahl zufrieden war, die Schattenpartien für die Wolken und die Muskelführungen am Hals des Mustangs auf die Kühlerhauben des Peterbilt.

Er arbeitete etwa drei Stunden und legte dann die Sprühpistole weg. Er zerlegte sie und säuberte die Teile sorgfältig. Dann schaltete er den Kompressor und die Luftabzugshaube ab und ging in einen Nebenraum der Werkstatthalle, in dem sich eine Toilette und eine Küche mit Esstisch befanden. Er ging erst zur Toilette, urinierte, wusch sich die Hände und ging dann in die Küche, um sich aus dem dort stehenden Automaten eine Tasse mit Kaffee und mit Milch zu füllen. Er setzte sich an den Esstisch, hielt den Kaffeebecher am Henkel fest und schlürfte mit Behagen das aromatische Getränk. Zwischendurch blätterte er in einer auf dem Tisch liegenden Zeitschrift, die sich mit Auto-Tuning beschäftigte. Ein Fachbeitrag beschrieb den Einbau von Hochleistungslautsprechern in den kleinen Fahrgastzellen. Nur wenn man die Lautsprecher richtig anordnete, ließen sich unerwünschte Interferenzen vermeiden. Der Autor empfahl weiterhin schallschluckende Röhren unter Fahrer- und Beifahrersitz, um Resonanzen zu reduzieren. Werner lächelte, als er sich die Bilder ansah. Auch er baute auf Wunsch Hochleistungsendstufen und - lautsprecher in die Fahrerkabinen ein. Er empfahl den Kunden jedoch dann, im hinteren Fahrerhausbereich, wo normalerweise die Schlafkabinen untergebracht sind, großräumige Dämmung mit schallschluckendem aufgeschäumtem Polyurethan einzubringen. Das hatte den Nebeneffekt, dass die Kabine nach außen gegen Wärmeaustausch und Schall isoliert wurde. Diese Dämmmatten konnte man zudem mit weiteren Motiven versehen, um den individuellen Charakter des Fahrzeuges zu erhöhen.

Nach einer geruhsamen Pause von mehr als einer halben Stunde ging er wieder in die Werkstatt zurück, um weiterzuarbeiten. Für ein derartiges Motiv benötigte er mit Vorbereitung und Oberflächenendbehandlung etwas mehr als eine Woche. Natürlich musste er zwischen den einzelnen Lackierschritten etwas Zeit verstreichen lassen, um die vorherige Schicht aushärten zu lassen und dann wieder ordentlich öffnen zu können.