Versteh einer die Deutschen - Taqi Akhlaqi - E-Book

Versteh einer die Deutschen E-Book

Taqi Akhlaqi

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Beschreibung

Protagonist Taqi Akhlaqi ist Schriftsteller, Reisender und Nietzsche-Fan. Mit einer ganz speziellen Vorstellung von Deutschland und einem Arbeitsstipendium für das Heinrich-Böll-Haus Langenbroich in der Tasche führt ihn sein Weg in den Kreis Düren. Vor dieser Reise hatte er Europa nur im Spiegel seiner Literatur und Kunst gesehen, kannte es nur durch dessen Schriftsteller und Philosophen. Jedoch ist das Deutschland, das sich Taqi Akhlaqi offenbart, wundersam und voller Überraschungen. Geschickt webt er Gegenwart und Vergangenheit zusammen, einige seiner gespeicherten Erinnerungen werden hervorgerufen, neue Erlebnisse werden zu Erinnerungen. Was anfangs noch fragmentarisch wirkt, ergibt nach und nach ein geschlossenes Bild. Er reflektiert das Erlebte so gründlich, so schonungslos selbstkritisch und mit so viel Humor, dass, wer seine Beobachtungen liest, sich dazu angeregt sieht, eigene Bräuche, Alltagsriten, Denkweisen zu hinterfragen, "sich zu verfremden", wie der Autor es ausdrückt, und die eigene Gesellschaft mit neuen Augen zu entdecken. Taqi Akhlaqi gelingt es in diesem Roman, Witz mit ernsten Themen zu verbinden, ohne diese dabei ins Lächerliche zu ziehen. Er gibt Zeit, die ernsten Themen zuzulassen und zu verarbeiten, bevor der Text wieder leichter und humorvoller wird.

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Inhaltsverzeichnis
Das Abenteuer beginnt
Brötchen bis zum Abwinken
Ein Selbstmordattentäter und ein Nazi
Thomas Mühler
Die Nacht, in der ich im Meer ertrank
Sieben unbestreitbare Tatsachen über Züge
Wenn er mir aus dem Kopf springt
Fotos mit einem Toten
Eine große Entdeckung bei Rewe
Aus einem tiefen Brunnen …
Die wichtigsten Wörter im Deutschen
Nicht mal Unterhosen
Heilige Nacht
Mit den Nachgeborenen
Wo ich bin, ist Deutschland
In Kabul beginnt ein neues Abenteuer

Roman

Taqi Akhlaqi

Versteh einer die Deutschen

Vier Monate in Deutschland. Ein Abenteuer.

Aus dem Persischen von

Jutta Himmelreich

Die Übersetzung aus dem Persischen wurde gefördert

vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

© 2024 by Sujet Verlag

Taqi Akhlaqi

Versteh einer die Deutschen

Vier Monate in Deutschland. Ein Abenteuer.

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich

ISBN: 978-3-96202-633-2

Umschlaggestaltung: Kai Kullen

Satz und Layout: Xenia Sophie Rhensius

Korrektorat: Sophia Baldauf

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Auflage 2024

www.sujet-verlag.de

Das Abenteuer beginnt

Ich ziehe meine Hose runter, setze mich mit Bedacht auf die mir nach einem Monat Deutschlandaufenthalt schon fast vertraute europäische Toilette, seufze erleichtert und lasse laufen, was laufen muss. „Ahh, tut das gut!“ Ich schließe kurz die Augen, öffne sie wieder. Hier auf der Toilette eines Cafés in Köln. Während ich uriniere, sehe ich junge und ältere Männer kommen und gehen, kräftige Gestalten, die sich, warm gekleidet, im engen Raum der Herrentoilette aneinander vorbeidrängen. Der Anblick erinnert mich an eine Szene aus der US-amerikanischen Fernsehserie Spartacus, in der öffentliche Toiletten so aussehen: Alle Männer stehen aufgereiht nebeneinander, Privatsphäre gleich Null. Im Kontrast dazu gibt es hier, wo ich sitze, eine Tür, erstaunlicherweise aus Glas, während die drei Kabinenwände gemauert sind. ,Ob das hygienische Gründe hat?’, frage ich mich, denn, von der Bauweise abgesehen, erfüllen beide Toilettentypen ja denselben Zweck. Deutschland liegt im Herzen Europas, lebt in der Tradition der alten Griechen. Individuelle Freiheiten werden hier so groß geschrieben, dass man sie schier vergöttert.

Ich will nicht allzu viel Aufhebens machen, aber stellen Sie sich vor, Sie kommen aus Afghanistan, dürfen plötzlich anziehen, was Sie wollen, dürfen im Kreise von Freunden in Cafés sitzen, Kaffee genießend über Nietzsche reden und dann, Seite an Seite mit anderen Deutschen, auf einer europäischen Toilette nach westlicher Manier Ihre Notdurft verrichten. Einfach unglaublich. Hierzulande trägt man sogar beim Bau von Toiletten dem Recht des Individuums auf freie Wahl und freie Meinungsäußerung Rechnung. Selbst auf dem stillen Örtchen bemüht man sich nach Kräften um die Vermeidung einer Diktatur, indem man keine Verhaltensregel festlegt. Männer können frei entscheiden, ob sie stehend oder im Sitzen pinkeln möchten. Wenngleich ich selbst mich nur äußerst selten für ,im Stehen’ entscheide, macht mich der Tatbestand der Wahlfreiheit froh und zufrieden. Der Grund dafür, so vermute ich, mag im Wesentlichen darin liegen, dass man den Sinn für das Streben nach individueller Freiheit und ein Gespür für die damit verbundene Zufriedenheit wecken will. Über so viel Takt, Nuanciertheit und Harmonie zwischen Theorie und Praxis der deutschen Philosophie sinnierend, gerate ich ins Schwärmen und finde Pinkeln jetzt sogar noch erquicklicher, noch aufregender als bisher.

Indes gibt mir der Tatbestand zu denken, dass die Welt der Damen auf deren Toiletten anders aussieht. Ihnen verwehrt man den Vorteil der Wahlfreiheit. Dem deutschen Perfektionismus kann das nicht verborgen bleiben und auch nicht gleichgültig sein. Noch während ich auf der Toilette sitze, zücke ich Notizbuch und Stift, die ich in meiner Hosentasche immer bei mir habe, und schreibe:

,In Deutschland verfügen Frauen, offenbar aus physiologischen Gründen, auf Toiletten über weniger demokratischen Freiraum als Männer.

Hinweis: Ich kenne deutsche Damentoiletten nicht aus eigener Anschauung.

Zwecks Abhilfe: Eine Deutsche zum Thema befragen.’

Meine Beobachtungen sind kaum zu Papier gebracht, da klopft eine Frau aufgeregt an die gläserne Klotür. Fast hätte ich ihr zugerufen: „Gerade habe ich mir über Ihre Probleme Gedanken gemacht!“ Die durchsichtige Tür gibt den Blick auf das Geschehen außerhalb der Toilettenkabine frei. Umgekehrt kann man von draußen ebenso ungehindert nach drinnen schauen. Die Frau, ihrer Arbeitskleidung nach hier im Café beschäftigt, sagt schnell etwas auf Deutsch und signalisiert mir mit einer Handbewegung: Tür abschließen!

,Weshalb die Glastür abschließen?’, frage ich mich. ,Hier kommt niemand aus Versehen rein. Das genau ist ja wohl der Sinn der Sache. Wieso hat die Tür überhaupt ein Schloss? Aus Sicherheitsgründen? Aus Angst vor Flüchtlingen?’

Die Angelegenheit scheint komplizierter als ich dachte. Zur Beruhigung der gestikulierenden Dame drehe ich den Schlüssel im Schloss und … oha! Einmal dürfen Sie raten, was daraufhin geschah. Das Türglas wurde plötzlich milchig trüb und war nicht mehr durchsichtig.

,Wie das?’, denke ich verblüfft. ,Die Tür ist aus Glas, damit man in die Toilettenkabine reinschauen kann, hat zugleich aber ein Schloss, das den Blick nach drinnen versperrt? Das ist total unlogisch! Vollkommen unvereinbar mit gemeinsamen Toilettengängen wie im antiken Griechenland, mit westlicher Nacktheit und deutscher Philosophie!’

Einer meiner jüngeren Brüder kommt mir in den Sinn, der vor vielen Jahren eines Tages ohne Hose durchs Haus rannte, während meine Oma, seine Hose in der Hand, ihm hysterisch und so verbissen auf den Fersen war, als seien alle islamischen und alle afghanischen Werte in Gefahr. Meine Großmutter war von Traditionen geprägt, in denen Keuschheit und Zurückhaltung eine große Rolle spielten. Nacktheit wurde keinesfalls toleriert. Trotzdem leuchtete mir nicht ein, was die Café-Angestellte an meinem Verhalten problematisch fand. Was hatte ich falsch gemacht?

Gedankenversunken ziehe ich meine Hose hoch und verlasse die Toilette. Auf dem Weg nach draußen lege ich eine 1-Euro-Münze auf den Tisch am Eingang und sehe die Frau wieder.

„Ich wusste nicht, dass man die Tür …“, versuche ich ihr zu erklären. 

Sie senkt den Kopf, meidet meinen Blick und deutet, leicht errötend, Richtung Ausgang. Als hätte ich Minuten zuvor alle deutschen, alle westlichen Werte mit einem Schlag zunichte gemacht. Sicher denkt sie von mir:

,Noch so ein Wilder!’, oder etwas Ähnliches.

Ich schließe mich meinen Freunden wieder an, die noch immer über Also sprach Zarathustra diskutieren. Ich höre ihnen nicht zu. Lieber wäre ich jetzt in Langenbroich. In meinem Zimmer im Heinrich-Böll-Haus könnte ich mich aufs Bett legen und über diese Zaubertür nachdenken. Nietzsche ruft mir zu:

„Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit. Fliehe dorthin, wo raue, starke Luft weht!“

Zu meinen Freunden sage ich:

„Kein Nietzsche mehr. Können wir das Thema wechseln?“

„Alles klar bei dir?“

„Ja. Ich bin nur irgendwie durcheinander. Manchmal finde ich Nietzsche zu schwer.“ Und mir wird klar, dass ich alles, was ich über Deutschland weiß, auf den Kopf stellen, überdenken, neu bewerten muss. In meinem Notizbüchlein halte ich fest:

Die Realität in Deutschland weicht hier und da offenbar von dem ab, was Philosophie, Literatur und Sprache des Landes vermitteln. Siehe: undemokratische Damentoiletten und eine gewisse Überempfindlichkeit beim Verschließen von Klotüren.

Brötchen bis zum Abwinken

Ich bin zwar nach Deutschland gekommen, weil ich ein Buch schreiben möchte, muss Ihnen aber gestehen, dass ich damit nicht gut vorankomme. Vor meinem Aufbruch nach Deutschland hatte ich geplant, dort während meines viermonatigen Aufenthalts an meinem Debütroman zu arbeiten. Zumindest hatte ich damit meinen Antrag an die Heinrich-Böll-Stiftung begründet, die mir freundlicherweise ein Arbeitsstipendium gewährt hat, mit dem ich im Heinrich-Böll-Haus vier Monate würde leben und arbeiten können. Ich war der Ansicht, während der vergangenen sieben, acht Jahre genügend Rohmaterial gesammelt zu haben - Zeitungsausschnitte, eigenartige, verstörende Nachrichten über Bombenanschläge und Todesopfer -, um daraus ohne große Mühe einen originellen Roman zu machen, lebhaft, zugänglich, facettenreich, faszinierend und spannend natürlich. Aber beim Durchblättern meiner vierhundert Seiten gesammelter Nachrichten und Notizen wird mir klar, sie enthalten nur wenig brauchbares Material. Zum Beispiel folgende Meldungen, schauen Sie:

- Tägliche Nutzung von Eseln für Terroranschläge,

- Weltweit größter Drogenfund in Afghanistan,

- Nato-Vertreter: Wenn es in Afghanistan zu einem Bürgerkrieg kommt, leisten wir keine finanzielle Hilfe,

- Taleban haben zwei Kinder enthauptet,

- Taleban haben ein Kind gehängt,

- Vermisster Leichnam eines US-Soldaten gefunden,

- Vermisster Leichnam eines georgischen Soldaten gefunden.

Als ich diese und ähnliche Meldungen auf meiner Festplatte gespeichert habe, hielt ich sie für viel geheimnisvoller, viel aufregender als heute. Jetzt sehe ich, wie sehr sie einander ähneln, wie klischeehaft, wie ermüdend sie sind, und bin enttäuscht von mir. Frustriert obendrein. Immerhin hatte ich mir vorgenommen, täglich diszipliniert mindestens zwei Stunden zu schreiben. Gerade tue ich das auch. Ich sitze in einem geräumigen Zimmer im ersten Stock, trage Hausschuhe (eine Zwischenform aus Strümpfen und Schuhen, die die Deutschen zu Hause tragen) und Bermudashorts (ein Zwischending zwischen kurzer und langer Hose), sitze an meinem Rechner und tippe die oben zitierten Sätze ein.

Rechts neben mir steht ein großer alter Schrank, den Herr Böll einst sicher selbst genutzt hat. Mittlerweile hat der Holzwurm das gute Stück befallen und unter seiner Last gebeugt. Einer der beiden Türflügel lässt sich nicht mehr öffnen. Letzte Woche ist mir aufgefallen, der Schrank ist so groß, dass er nicht durch die Zimmertür passt. Ich sinnierte darüber, wie er sich wohl bewegen ließe, und schloss irgendwann verblüfft, dass man ihn keinesfalls aus dem Zimmer würde rausbringen können, sprich: Keinem geltenden physikalischen Gesetz gemäß ließe sich diese Masse Holz in einem Stück aus dem Zimmer tragen. Also muss der Schrank schon im Zimmer gestanden haben, bevor die Tür eingebaut wurde und muss nun bis ans Ende seiner Tage hier ausharren. Beim Bau der Tür stand also schon fest, der Schrank bleibt für immer hier und kommt nirgendwo anders mehr hin. Eine schicksalhafte, endgültige Entscheidung mit bleibenden Folgen, aus der auch eine Spur Kühnheit spricht. Ich stelle mir gerade vor, wie hochrangige Mitglieder der Heinrich-Böll-Stiftung mit Bölls Freunden und seiner Familie angeregt über den Schrank diskutieren und sich schließlich darauf einigen, ihm einen dauerhaften Platz hier in diesem Zimmer zu geben, woraufhin jemand zur Bekräftigung dieser Entscheidung wortreich eine bewegende Begründung liefert.

Mir erschließt sich dieses Vorgehen zwar nicht auf Anhieb, aber ich gestehe den Beteiligten zu, ihre Entscheidung entbehrt nicht einer gewissen Weisheit. Die Afghanen halten die Deutschen für gute Ingenieure, weil die Dinge, die sie in Afghanistan gebaut haben, auch nach Jahrzehnten noch funktionieren.

Zwei Wochen vor meiner Abreise stellte sich unser alter Nachbar, der gerade erst erfahren hatte, dass ich nach Deutschland fahre, mir in den Weg und sagte:

„Was die Deutschen herstellen, hat höchste Qualität. Besonders im Bauwesen sind sie fast so gut wie die Russen. Kaum zu glauben, oder?“

Er setzte noch eine Bemerkung hinzu:

„Ich weiß, du kommst nicht zurück. Andernfalls hätte ich dich gebeten, mir ein Radio mitzubringen. Versuch auf jeden Fall, dort zu bleiben, nicht zurückzukommen!“ 

Und er gab mir viele Ratschläge mit auf den Weg, gab zu bedenken, dass die Lage in Afghanistan sich nicht bessern wird und Ähnliches in diesem Sinne. Ich habe ihm einfach zugehört, habe ihn seine lange Rede zu Ende führen lassen und seinen Pessimismus und seine Naivität im Stillen belächelt. Warum, weiß ich nicht, aber ich hatte immer das Gefühl, dass in Afghanistan eines Tages alles gut wird. Dass Frieden wird, dass die Menschen in den Genuss von Bildung kommen, und dass Mädchen und Jungen einander eines Tages in der Öffentlichkeit werden küssen dürfen. Ich hänge sehr an dieser Vorstellung, so sehr, dass ich nicht den Mut habe, an ihr zu zweifeln. In Interviews, Gesprächen mit Freunden und in Vorträgen, die ich in Deutschland gehalten habe, war meine Zukunftsprognose immer sehr positiv. Ich war voller Optimismus und überzeugt, früher oder später wird alles gut. Aber wenn ich mit mir alleine bin, frage ich mich: ,Wirklich? Bist du dir sicher? Wann soll’s denn soweit sein?’

Angesichts der vielen Jahre Krieg verstehe ich den Pessimismus unseres Nachbarn und den der Angehörigen seiner Generation gut. Wer sein Leben lang vergebens auf bessere Zeiten wartet, hat irgendwann keine Lust mehr, zu hoffen. Eines Tages wacht man auf, spürt nagende Zweifel und sieht allmählich ein, nichts wird wieder gut, dieses Land ist nicht mehr zu retten, und man muss nach Deutschland gehen, ohne Rückfahrkarte. So kam es dann ja tatsächlich. 2014 und 2015 hatte Afghanistan Deutschlandreisefieber. Wo immer man zu Besuch oder in öffentlichen Sitzungen war, ob auf Konferenzen, im Schulunterricht oder in Uni-Seminaren, in öffentlichen Bädern, in Läden, Geschäften, Restaurants, an Bushaltestellen, bei Taxifahrten, in Moscheen, Fitness-Centern, Krankenhäusern, auf Ämtern, in Vogelläden, Buchläden, sozialen Netzwerken, privaten Chats, alle redeten davon, nach Deutschland zu gehen und davon, dass das jetzt schon mit zweitausend Dollar möglich sei, während es früher selbst mit zwanzigtausend unmöglich war. Das ging sogar so weit, dass Leute auf ihre Autos schrieben:

Wenn’s hier klappt, schön. Wenn nicht, geh ich nach Deutschland.

Was für neue Hoffnung sprach und für die schnelle Lösung aller Probleme stand, die bisher unlösbar schienen. Sogar Amulettschreiber und Magier legten sich besonders ins Zeug und schrieben innovative Amulette ,speziell für die Deutschlandreise’, als Garantie für gefahrlose, kurze Reisen. Ich Optimist indes schwamm gegen den Strom, blieb bei meiner Meinung, alles würde gut werden, und man brauche nicht nach Deutschland ausreisen. Was mir natürlich niemand abkaufte. Wenn ich mit Freunden und Bekannten über dieses Thema diskutierte, erntete ich die skeptischen Blicke und das beredte Schweigen, mit dem man normalerweise Hohlköpfe bedenkt. Jedenfalls leben viele meiner Freunde und Bekannten heute in Deutschland und schicken mir, seit sie erfahren haben, dass ich in Deutschland bin, Nachrichten, weil sie mich zu sich nach Hause einladen wollen. Ich gebe vor, keine Zeit zu haben. Ich bin sicher, wenn ich sie besuchen würde, würden sie unverdrossen versuchen, mich davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, in Deutschland zu bleiben, und sie würden mir sagen, wie glücklich sie hier leben und ihre Reise nach Deutschland nicht nur eine kluge, sondern die richtige Entscheidung war. Und wenn ich ihnen sage, dass ich nach Kabul zurück muss, erneut ihre skeptischen Blicke und ihr Schweigen. Davon abgesehen, bin ich hierher gekommen, weil ich schreiben und im Rahmen des Möglichen Deutschland und die Deutschen entdecken wollte. Weil ich Afghaninnen und Afghanen in Afghanistan zur Genüge gesehen hatte und auch künftig wieder Afghaninnen und Afghanen sehen würde, hielt ich es für klüger, die Deutschen kennenzulernen, so gut es ging, und Augen und Ohren offenzuhalten.

Dabei kommt mir zugute, dass die Betreiber des Heinrich-Böll-Hauses hin und wieder mit Deutschen vorbeischauen, die mich besuchen möchten, was mir Gelegenheit gibt, wenigstens ein paar Brocken Deutsch zu üben und wenige Sätze zu radebrechen. Wer nicht weiß, wo das Heinrich-Böll-Haus ist, dem sei kurz erklärt: Es steht in Langenbroich, nahe Düren, unweit von Köln, und hier kommt niemand rein zufällig vorbei. Nur, wer wirklich die Absicht hat, das Haus oder jemanden, der hier wohnt, zu besuchen, macht sich auf den Weg hierher. Deutschland von hier aus zu entdecken, gestaltet sich also etwas schwierig, doch ich werde mein Bestes geben. Offen gestanden bin ich ein wenig enttäuscht, wenn ich sehe, dass mein Kontakt zu Deutschen sich auf flüchtige Blicke in Richtung der Nachbarn, die abends mit Teleskopen den Sternenhimmel betrachten, und auf die telefonische Vereinbarung von Friseurterminen beschränkt. Ich habe Kabul voller Eifer und Begeisterung verlassen, in Vorfreude darauf, das Deutschland der Bücher und das freie Europa mit eigenen Augen zu sehen, und sehe mich stattdessen hierher verschlagen, mitten ins Nirgendwo. Für weltgewandtere Menschen wie mich mag das Haus wesentlich geeigneter, vielleicht sogar ein traumhafter Ort sein. Für mich aber, der’s bisher nur bis nach Indien geschafft und den Westen noch nicht gesehen hat, weil kein einziges westliches Land bereit ist, seinen zu den wertlosesten Pässen der Welt zählenden Pass mit einem Visum zu versehen, für mich ist dieses Haus recht weitab vom Schuss.

Vermutlich werde ich nach Afghanistan zurückkehren, nie wieder Gelegenheit haben, ein Visum für ein europäisches Land zu ergattern, sondern den Rest meines Lebens in Kabul damit verbringen, meinen Kindern und Enkeln die wundersamen Abenteuer auf meiner Deutschlandreise in den schillerndsten Farben zu schildern. Ich bin unruhig. Es zieht mich nach draußen, aber Hotels und Züge sind teuer, und meine finanziellen Ressourcen sind knapp. Ich muss sie und meine Zeit klug und effizient investieren. Weshalb ich beschlossen habe, mich hier in diesem Haus zunächst für mehrere Wochen einzuschließen, ununterbrochen zu schreiben und anschließend mit ruhigem Gewissen ein paar Städtereisen zu machen. Doch ausgerechnet seit dem Tag meiner Entscheidung, in Schreibklausur zu gehen, kommen fast täglich Besucher vorbei. ,Besucher’, im Sinne des Wortes. Meist wildfremde Leute, die plötzlich auftauchen, mich von Kopf bis Fuß begutachten, in einer Ecke miteinander tuscheln, einander auf die Einrichtung, inklusive des großen Schranks, aufmerksam machen, sich alsbald verabschieden und wieder ihrem Alltag nachgehen wie nach einem Museumsbesuch. Und ich, als pflichtbewusster Museumsangestellter, folge ihnen, serviere Tee und stelle sicher, dass sie ihren Besuch genießen.

Anfang dieser Woche waren ein chinesischer und zwei deutsche Journalisten hier. Sie haben mich über mich und über Afghanistan ausgefragt, haben sich Notizen gemacht und dann ihre Filmkameras in Stellung gebracht. Ich hatte mir ein paar Sätze zurechtgelegt, die ich vor der Kamera sagen wollte. Die ersten Aufnahmen wurden draußen vor dem Haus gemacht, wo einst Heinrich Böll und Alexander Solschenizyn, der gnadenlosen Folter der Sowjets entkommen, der Presse Interviews gegeben hatten. Auf einem Foto von dieser Pressekonferenz breitet Solschenizyn beide Arme vor sich aus, deutet einen mächtigen Bauch an und scheint sagen zu wollen:

„In der Kälte im Gulag wurde ich so oft geschlagen, dass ich angeschwollen bin.“

Nachdem sie ihre Außenaufnahmen gemacht hatten, kamen sie nach drinnen, haben die Küche gefilmt, gingen dann gemeinsam in den ersten Stock, ins Arbeits- und ins Schlafzimmer. Zwanzig Minuten später kamen sie, mit zufrieden lachenden Gesichtern, die Treppe runter, und dann war ich an der Reihe:

„Wie ist die Lage in Afghanistan? Es gibt wohl täglich Bombenanschläge?“

„Ja leider.“

Das fragt einer der deutschen Journalisten, während der andere seine Kamera und seine Aufnahmegeräte wieder in seinen Koffern verstaut. Leicht irritiert frage ich ihn:

„War’s das schon?“

Er antwortet:

„Ja, wir drehen eine Dokumentation über ihn“, und deutet auf den chinesischen Kollegen.

Und unser chinesischer Freund, übers ganze Gesicht strahlend, wirft ein:

„Ich habe vor ein paar Jahren hier in diesem Haus gelebt. Das war eine sehr gute Zeit. Seitdem lebe ich in Deutschland.“

Er sagt das auf Englisch. Ich will ihn fragen: ,Weshalb haben Sie in all den Jahren nicht Deutsch gelernt?’, behalte meine Frage aber für mich. Ich denke: ,Die Chinesen haben also auch solche alten, hoffnungslosen Pessimisten, die ihre jungen Leute beharrlich dazu drängen, in Deutschland zu bleiben. Doch weshalb die Chinesen?’ Man scheint mir meine Verwunderung anzusehen, denn alle drei Anwesenden schauen einander an, nehmen in aller Ruhe auf den Küchenstühlen Platz und haben beschlossen, sich so schnell nicht von mir zu verabschieden. 

Unser chinesischer Freund fragt mich:

„Wie geht’s Malala? Sie ist ein besonderes Mädchen.“

Woraufhin ich zurückfrage:

„Wie geht’s Haruki Murakami?“

Wenn er Afghanistan mit Pakistan verwechseln kann, muss ich Japan mit China verwechseln dürfen.

Ein Windhauch weht durchs Fenster zu uns in die Küche. Süßsäuerliche Kälte kriecht mir unter die Haut, und ich spüre meine Hände leicht zittern. Während ich das Küchenfenster schließe, sehe ich die grünen Hügel und die Obstbäume draußen im Garten. Ein schöner Anblick. ,Allzu lange ist es nicht her’, denke ich, ,dass auch Heinrich Böll durch dieses Fenster geschaut und genau diesen erfreulichen Anblick vor Augen hatte.’ Ein sonderbares Gefühl, dass ich jetzt hier sitze, wo er einst saß - im Hintergrund die Stimme eines chinesischen Journalisten - und den Herbst betrachte. Ich weiß nicht, ob die BILD-Zeitung noch immer die ist, von der Böll einst sprach, oder ob Brot noch immer so große Bedeutung hat, dass man ein Buch darüber schreiben kann. Noch weiß ich es nicht. Wenn Böll noch leben würde, denke ich, wären wir einander sicher gute Freunde geworden. Wir hätten stundenlang darüber diskutieren können, wie wichtig Brot ist, um Hunger zu stillen, und wir hätten sogar Bäckereien hier in der Gegend aufsuchen können. Er würde seine Brote sorgfältig auswählen und mich sehr geduldig mit den verschiedenen Sorten vertraut machen, und ich würde ihm beschreiben, welches Brot wir in Afghanistan essen.

In meiner Fantasie höre ich ihn sagen:

„Bleibt der Magen lange leer, gerät er bald so heftig in Bewegung, dass man’s kaum glauben mag. Wie ein eigenständiges Lebewesen im Innern des Menschen wirft er sich hin und her und macht dabei sogar Geräusche, die klingen, als würden Wölfe heulen. Oder bildet man sich solche Sachen ein, wenn man sehr großen Hunger hat? Wie dem auch sei, die frischen Brötchen hier sind sehr empfehlenswert.“

Böll wusste all das. Auch ich weiß es. Wahrscheinlich wussten es auch die meisten, die nach Bölls Tod in dieses Haus eingeladen wurden. Alle haben ein paar Monate hier verbracht, haben ihren Kummer hier im Haus ausgebreitet und sind wieder gegangen. Ich spüre ihn plötzlich, den Kummer, der sich über Jahre hin hier angestaut hat. Mir wird schlecht, ich öffne das Fenster wieder und murmele vor mich hin:

,Bölls Geist ist noch hier und sucht nach Freunden.’

Diesen Satz habe ich später oft gesagt, wenn Besuch kam, und er hat mir Mut gemacht, auch Lob eingebracht. Gesagt habe ich ihn erst gestern wieder, als ein knappes Dutzend Mitglieder der Fördergemeinschaft des Böll-Hauses vorbeikamen, jede Ecke des Gebäudes geprüft und sich eifrig Notizen gemacht haben. Und um ihnen zu zeigen, dass ihr Geld gut angelegt ist und das Stipendium an die richtige Person vergeben wurde, habe ich mich auf Deutsch vorgestellt, einen Satz von Nietzsche eingeflochten und schließlich gesagt: 

„Bölls Geist ist noch hier und sucht nach Freunden.“

Zum Nietzsche-Zitat hat der Satz zwar nicht gepasst, aber ich nehme an, dem Besuch hat er gefallen, denn alle haben gleichzeitig gelächelt und ihre Prüfrunde vergnügt fortgesetzt. Die Zimmer waren bald von dem erfüllt, was ich den ,Deutschen-Geruch’ genannt habe. Kein unangenehmer Geruch, auch kein Schweißgeruch, nein. Es ist ein ganz typischer, ständig präsenter und mir völlig neuer Geruch. In Afghanistan haben wir solche Gerüche nicht. Weshalb er mir sofort auffiel. Die meisten Deutschen, denen ich begegnet bin, riechen so. Mir fehlt zwar ein treffender Begriff dafür, aber ich kann mit Sicherheit sagen, der Geruch ist nicht lästig, weshalb auch kein Grund zur Beunruhigung besteht. Zumindest für mich nicht.

Eine der Frauen aus der Gruppe, von besagtem Geruch umgeben, kam mit einer Frage auf mich zu:

„Arbeiten Sie hier an einem bestimmten Projekt?“

Eigentlich wollte sie in Erfahrung bringen, ob ich, neben dem Deutschlernen, noch anderen nützlichen Arbeiten nachgehe. Ihre Frage war zwar nicht ungewöhnlich, aber sie kam in dem Moment überraschend. Ich hatte keine Antwort parat. Ich konnte zehn Minuten am Stück über Afghanistan und seine Sorgen und Nöte reden, aber woran ich arbeitete, war mir selbst nicht ganz klar. An manchen Tagen habe ich mich stundenlang am Laptop abgequält und musste erkennen, dass ich außer zwei wässrigen Sätzen nichts Brauchbares zustande gebracht hatte. Eine Zeit lang habe ich mir meine Beobachtungen und Erlebnisse notiert und gehofft, ich könnte eines Tages etwas daraus machen, aber letztendlich entpuppten auch diese Notizen sich als eine Handvoll zusammenhangloser Sätze oder Satzfetzen, die mir nicht weiterhalfen. Natürlich konnte ich keine einzige dieser Aufzeichnungen ,Projekt’ nennen und beschloss, offen damit umzugehen, nichts zu beschönigen:

„… ich …“

Schlagartig wurde mir klar, mein deutscher Wortschatz reichte nicht annähernd aus, um meine komplizierte Lage zu beschreiben. Da stand ich nun vor der Förderin und musste mir schleunigst etwas einfallen lassen. Andernfalls würde sie nicht nur denken, dass ich nichts Brauchbares zu Papier bringe, sondern auch merken, dass mein Deutsch schlechter ist, als es zunächst den Anschein hatte. Nach langem Zögern vollendete ich meinen Satz mit den Worten:

„… schreibe einen Roman.“

Was schon aus technischer Sicht nicht stimmte. Zudem hatte ich den Satz so gesagt wie jemand, der von Geburt an heftig stottert, was mir einen sehr mitfühlenden Blick der Böll-Haus-Förderin einbrachte. Sie stellte mir keine weitere Frage, bat nicht um nähere Erklärung. Wir standen lange schweigend nebeneinander, bis der Besuch beendet war, einer nach dem anderen sich verabschiedete und seiner Wege ging.

Wieder allein, ging ich ins Schlafzimmer, legte mich aufs Bett und atmete laut aus wie jemand, der lange die Luft angehalten hat.

„Atme, mein Freund, hol tief Luft. Damit wir schnell ein paar Brötchen essen gehen können.“ So sprach Bölls Geist.

Ein Selbstmordattentäter und ein Nazi 

Auch in den folgenden Wochen kam Besuch. Kam und ging in großen und kleinen Gruppen, denen ich unermüdlich Tee servierte. Manchmal, wenn kein Besuch kam, brachte man mich in Schulen, präsentierte mich Deutschlands Zukunftsmachern und stellte mich stets mit denselben Worten vor:

„Taqi aus Afghanistan.“

Anders als ganz zu Anfang. Anfangs folgte auf Taqi noch das Suffix ,Autor’. Weil mir und meinen Gastgebern aber mit der Zeit dessen Bedeutungslosigkeit klar wurde, nutzten wir es irgendwann nicht mehr, als hätten wir das in einem ungeschriebenen Vertrag vereinbart. Es kam immer wieder vor, dass nach meinen Vorträgen jemand aufstand und fragte: „Weshalb herrscht so viel Krieg in Afghanistan?“, oder: „Was tun Sie, wenn die Taleban Kabul einnehmen?“, oder: „Wie kann man die Korruption und die Drogen in Afghanistan bekämpfen?“

Egal, wie oft ich laut und vernehmlich die Begriffe ,Schriftsteller’ oder ,Autor von Kurzgeschichten’ ins Spiel brachte, die Fragen meiner Gegenüber kreisten immer aufs Neue um Politik und Sicherheit, wodurch ich mich in die Rolle des Afghanistanexperten gedrängt sah. Weshalb ich mich vor jeder Literaturtagung und jeder Lesung auf den neusten Stand brachte und mir wichtige historische Daten und Fakten notierte - Afghanistans Unabhängigkeit von Großbritannien, Einmarsch der Sowjetarmee, Ankunft der Taleban, die Bonner Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg usw. -, damit ich sie parat hatte, wenn jemand mich danach fragte. Und ich wusste mittlerweile, am Ende jeder literarischen Zusammenkunft unter Freunden würde jemand die Hand heben und wissen wollen: „Wird es in Afghanistan einen weiteren Bürgerkrieg geben?“ Als Vertreter meines Landes musste ich darauf vorbereitet sein und überzeugende Antworten auf diese und ähnliche Fragen geben können. Meinen Namen hatten die Anwesenden meist nicht mitbekommen oder vergessen und fanden mich mit „aus Afghanistan“ angemessen benannt. Leute sagten zum Beispiel:

„Verzeihen Sie, Ihren Namen hab ich nicht genau gehört, aber dass Sie aus Afghanistan sind, hab ich mitbekommen.“

Ich stellte mir vor, dass sie sich mein Bild zusammen mit der Bezeichnung ,aus Afghanistan’ einprägten. Als sei das mein Nachname. Es war eigenartig, aber in einer Welt, in der man Menschen an ihrem Reichtum misst oder anhand ihres Berufs beurteilt, galten für mich andere Kriterien. Um genau zu sein, galt nur ein Maßstab, nämlich Afghanistan. Manche Leute schraken auch kurz zusammen, wenn sie das Wort Afghanistan hörten, und gingen auf Distanz zu mir. Einen Höhepunkt erreichte das, als jemand mich am Rande eines Theaterfestivals in Potsdam einem israelischen Künstler vorstellte. Kaum hatte ein gemeinsamer Freund von uns  „Taqi aus Afghanistan“ gesagt, wurde der arme Künstler kreidebleich und unerwartet still. Kurz zuvor hatte er noch lebhaft über seine Arbeit gesprochen. Plötzlich aber fehlten ihm die Worte. Er schaute unter sich, nippte an seinem Bier, hob dann den Kopf und sah hoch in den wolkenverhangenen Himmel, als täte er’s zum letzten Mal. Er tat mir sehr leid, und ich hätte ihm gern versichert, dass ich kein Selbstmordattentäter war, mich immerhin noch nicht in die Luft gesprengt hatte, aber ich bekam keine Gelegenheit dazu. Der israelische Künstler entschuldigte sich und verließ nicht nur uns, sondern die gesamte Veranstaltung. Später habe ich nach ihm gesucht, doch er war unauffindbar. Vielleicht verhielt es sich aber auch so, dass er seine Vermutung bestätigt sah, weil ,Taqi aus Afghanistan’ hinter ihm her war und sich bei anderen nach ihm erkundigte, weshalb er sich schleunigst in Sicherheit bringen und spurlos verschwinden musste, sofern ihm sein Leben lieb war. Langsam meldete sich mein schlechtes Gewissen, ich sprach mir Trost zu: ,Du bist nicht verantwortlich für die Vorurteile anderer Leute!’, was meine Bedenken nicht zerstreute. Letztendlich hatte ich dem Künstler den Abend ruiniert. Der arme Kerl hat vielleicht auch eine schlaflose Nacht vor sich, so mein Gedanke. Wenigstens wird er sich stolz auf die Schulter klopfen, weil er’s wohlbehalten bis nach Hause geschafft hat. Ich malte mir aus, wie er, zufrieden lächelnd, vor seinem Badezimmerspiegel stand und befand:

,Du hast’s echt drauf, Alter!’ Diese Vorstellung fand ich dann doch erleichternd.

Schlimmer waren Privatgespräche nach Veranstaltungen. Kaum war deren offizieller Teil vorbei, klopften meist drei, vier wildfremde Gäste mir ungeniert auf die Schulter und fühlten sich berufen, mir Fragen wie diese zu stellen: