Versuchen Sie's mal mit Schreiben! - Alexandra Peischer - E-Book

Versuchen Sie's mal mit Schreiben! E-Book

Alexandra Peischer

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Beschreibung

Schreiben ist vielmehr als das Aufzeichnen von Informationen. Es ist ein kraftvolles Werkzeug für die Selbstentfaltung und ein effizientes Tool für die Begleitung von Lern- und Entwicklungsprozessen. Schreiben regt Veränderungsprozesse an, generiert Ideen, erweitert Gedanken, ermutigt, inspiriert und stärkt den Selbstwert. Wie das vermittelt werden kann, zeigt Alexandra Peischer in diesem Buch. Sie integriert das Schreiben in Coaching- und Lernprozesse und öffnet damit den Blick für ein äußerst effizientes und wirksames Werkzeug für Alltag und Beruf. Mit nützlichem Wissen rund ums Schreiben, didaktischem und pädagogischem Know-how sowie einer Fülle an Methoden und Techniken führt sie in den Schreibprozess ein. Praktische Schreibanregungen laden zum direkten Einsatz im Einzel- sowie im Gruppencoaching ein. Übungen dienen der Selbstreflexion und Vertiefung der Inhalte, konkrete Anleitungen, Fallbeispiele und Arbeitsblätter erleichtern die Anwendung in der Praxis. Wer kreatives Schreiben als Methode in seine beraterische oder pädagogische Arbeit aufnehmen möchte, wird von diesem Buch profitieren.

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Seitenzahl: 346

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Die Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Die Bücher der petrolfarbenen Reihe Beratung, Coaching, Supervision haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des »Counselling«. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche –, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff »Work-Life-Balance« schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autor:innen, aber auch von Erstautor:innen.

In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemisch-integrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier und Jetzt Rechnung trägt) wie auch die »dritte Welle« des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.

Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-Schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheitsund Bildungssystem integriert werden. Vom Unternehmen finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.

Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil »Beratungsratgeber«. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Berater:innen, Coachs und Supervisor:innen dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein.

Dr. Dirk RohrHerausgeber der Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Alexandra Peischer

Versuchen Sie’s mal mitSchreiben!

Ein effektives Werkzeug für Coaching,Beratung und Erwachsenenbildung

2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Beratung, Coaching, Supervision«

hrsg. v. Dirk Rohr

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: © iStock.com/JakeOlimb

Illustrationen: Lisa Klingler

Redaktion: Nicola Offermanns

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0480-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8435-5 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Arbeitsblätter zu diesem Buch finden Sie unter https://www.carl-auer.de/versuchen-sie-s-mal-mit-schreiben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Teil I: Das Einmaleins des Schreibens

1Schreiben – was es ist und was es kann

1.1Schreiben ist nicht gleich Schreiben

1.2Ein Ausflug in die Geschichte

1.3Funktionen von Schreiben

2Jeder Mensch kann schreiben

2.1Schreiben als Prozess

2.2Gehirngerechtes Schreiben

2.3Schreibprozessmodelle

Allgemeines Schreiben

Kreatives und biografisches Schreiben

Wissenschaftliches Schreiben

2.4Schreibtypen

2.5Selbstmanagement und Rahmenbedingungen

Raum und Zeit zum Schreiben

Selbstmanagement und Selbstfürsorge

Schreibgeräte und -materialien

2.6Und wenn es mal stockt: Die Schreib- und Kreativitätsblockade

Ursachen von Schreibblockaden

Hilfreiche Tipps und Strategien

2.7Schreiben und Emanzipation

3Kreatives Schreiben

3.1Wurzeln, Begriff und Verständnis des kreativen Schreibens

Creative Writing

Wer oder was ist eigentlich kreativ?

Vielfalt der Ansätze

Der integrative Ansatz

Was wir durch kreatives Schreiben gewinnen

3.2Grundlegende Methoden

Automatisches Schreiben

Clustering

Freewriting/assoziatives Schreiben

Fokussiertes Freewriting/Mindwriting und Schreibdenken

Meditatives/achtsames/intuitives Schreiben

Mindmapping

Vier-Spalten-Methode

3.3Schreibtechniken und lyrische Spielformen

ABC-Darium

Akrostichon

Anapher

Cinquain

Elfchen

Gedicht mit allen Sinnen

Haiku – japanischer Dreizeiler

Limerick

Ode

Rondell

Schneeball

Zevennar

Weitere lyrische Formen

Teil II: Schreiben als Methode zur (Selbst-)Reflexion

4Schreiben als Begleiter durchs Leben

4.1Schreiben als Weg zu sich selbst

Regelmäßige Schreibpraxis

Journal und Tagebuch

Schreiben als Selbstcoaching

4.2Schreiben als Coaching-Tool

Die Wurzeln: Heilsames und therapeutisches Schreiben

Wirkung reflexiven Schreibens

Gefahren und Nebenwirkungen

Therapie versus Selbsterfahrung

4.3Schreiben im Coaching: Praktische Anwendung

Schreiben im Rahmen von Einzelcoaching

Schreiben im Rahmen von Gruppen(-Coaching)

Allgemeine Tipps

4.4Konkrete Schreibanregungen

Breit einsetzbare Schreibanregungen

Schreibanregungen zu spezifischen Themen

Bekannte Coaching-Tools schreibend bearbeiten

4.5Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug

Über die Selbsterfahrung hinaus: (Selbst-)Erkenntnis und Lernen

Schreiben als pädagogisches und didaktisches Werkzeug

Teil III: Schreiben als Begegnungsraum

5(Kreatives) Schreiben in Gruppen

5.1Das Geschenk der Gruppe

Geschichte der Schreibgruppen

Die Kraft der Gemeinschaft

TZI – Themenzentrierte Interaktion

Gestaltpädagogik

Systemisch-konstruktivistische Pädagogik

5.2Gruppendynamik

Rollen und Muster

Aufgaben der Gruppenleitung

5.3Schreibgruppen-Pädagogik und -Didaktik

Systemisch-konstruktivistische (Schreib-)Didaktik

Andragogik – Didaktik für Erwachsene

Didaktik des kreativen Schreibens

Aufgaben der Schreibgruppen-Leitung

5.4(Text-)Feedback

Text-Feedback als Geschenk und Motor

Text-Feedback in der Gruppe

Text-Feedback-Methoden

6Schreibgruppen-Design

6.1Von der Idee zum Konzept: Die Komposition des Ganzen

Vorüberlegungen

Inhalt und Ziel bestimmen das Setting

Aufbau planen

Schreibimpulse gezielt setzen

Anfänge gestalten: Schreibeinstiege und Schreibfluss anregen

Schreibspiele für die Gruppe

Ein gutes Ende finden

Evaluation

6.2Beispiele für Schreibworkshops

Schreiben zur Wintersonnenwende: Ein Abend voller Rauhnachts- und Weihnachtszauber

Schreiben für die Seele: Ein Psychohygiene-Tag für Gesundheitsberufe

Reflexive Jahresschreibgruppe: Im Schreiben Ruhe und Kraft finden

Teil IV: Schreibprozesse begleiten

7Schreibende coachen

7.1Vom Coaching zum Schreibcoaching

Konzept und Definition

Schreibcoaching versus Schreibberatung

7.2Schreibende coachen

Einsatzfelder und Ziele

Ablauf, Dauer und Setting

Rollen und Kompetenzen als Schreibcoach

Interventionen im Schreibcoaching

Kreativ Schreibende coachen

8Als Schreibpädagog·in und Schreibcoach arbeiten

8.1Tätigkeitsfelder

8.2Profil und Angebot/USP

8.3Ausblick

Verzeichnisse der Abbildungen und Tabellen

Verzeichnis der Übungen

Index

Literatur

Verwendete und zitierte Literatur

Weiterführende Literatur zu speziellen Themen

Zeitschriften

Hilfreiche Internetadressen

Über die Autorin

Vorwort

Schreiben ist mein täglicher Begleiter, beruflich wie privat. Schreiben ist dabei so vielfältig wie mein Leben: Mal beruhigt es mich, mal inspiriert es mich. Mal bringt es Unbewusstes zum Vorschein, mal ordnet es meine Gedankenknäuel. Mal verdichtet es das Erlebte, mal führt es mich in die Weite.

Schreibend kann ich meinen Alltag besser bewältigen, die Herausforderungen des Lebens meistern. Schreiben sortiert meine vielen Ideen, beruhigt meine Seele. Manchmal reinigt es mich: Im Schreiben werde ich schlechte Gedanken, Wut, Aggression oder Trauer los. Und schaffe so wieder Raum für die guten Gefühle, für die positiven Seiten des Lebens. Schreiben rettet mich über schwierige Zeiten. Und es hilft mir in den guten Phasen, dankbar und bewusst zu bleiben.

Schreiben fokussiert mich, bringt meinen Geist zur Ruhe, das Wesentliche auf den Punkt. Es lockt ungeahnte Schätze aus mir hervor. Im Schreiben sehe ich neue Möglichkeiten, entdecke Ressourcen und Lösungen. Schreibend schaffe ich mir mein Bild der Wirklichkeit, das mich stärkt und positiv denken lässt.

Im Schreiben darf ich alles denken, alles tun. Darf kreativ sein, meinen Fantasien Raum geben, Unmögliches möglich werden lassen. Angstfrei probehandeln, lustvoll ausprobieren. Und erleben, wie die Lebendigkeit in mir wächst, sich entfaltet, mich mit immer mehr Lebensfreude füllt.

Ja, ich bin dem Schreiben sehr dankbar. 2010 durfte ich es sogar zu meinem Beruf machen – und habe dabei meine Berufung gefunden: Die Vielfältigkeit und Chancen des Schreibens auch an andere weiterzugeben, Menschen beim und mit Schreiben zu begleiten und sie anzustecken mit dieser Freude und Begeisterung.

Vieles hat sich mir in den letzten Jahren durchs Schreiben eröffnet: Ideen sind Wirklichkeit geworden, haben Gestalt angenommen. Der schreib.raum, mein kleines Schreibzentrum in Innsbruck, ist beim Schreiben und durchs Schreiben entstanden, ebenso mein Lehrgangskonzept Schreibagogik®, das Grundlage dieses Buches ist. All das entwickelt sich schreibend weiter, genauso wie ich selbst.

Ich freue mich, dass Sie jetzt dieses Buch in Händen halten und so Teil des Abenteuers sind. Denn eine meiner Lieblingstätigkeiten ist es, Menschen zu begleiten und zu inspirieren. Danke, dass ich Sie inspirieren darf!

Ich danke aber auch allen Menschen, die mich auf meinem Weg bis hierher begleitet haben und die dieses Buchprojekt entscheidend mitgetragen haben: Meinen unterschiedlichen Lehrer·innen und Mentor·innen für ihr Wissen, ihre Erfahrung und vielfältige Inspiration. Meinen Teilnehmenden und Coachees für ihr Vertrauen und ihr Einlassen auf meine Schreibimpulse und Anregungen. Meinen Praxis- und Intervisions-Kolleginnen für kollegiale Supervision und Ermutigung zum Dranbleiben. Meiner Schreib-Community für unzählige gemeinsame Schreibzeiten und wichtigen Austausch. Meinen Testleserinnen Christine Hartmann und Nikoletta Zambelis für die kritische Durchsicht des Manuskripts und ihr wertvolles Feedback. Meiner Coach Sabine Ebersberger für fachliche und emotionale Unterstützung von der ersten Idee bis zur Abgabe des Manuskripts. Dem Carl-Auer Verlag und insbesondere Frau Nicola Offermanns für die gute Zusammenarbeit und das sorgfältige Lektorat. Und nicht zuletzt meinem Mann Robert für seinen seelischen Beistand und sein uneingeschränktes Ja zu vielen Wochen Schreibklausur, für die ich mich an einsame Orte zurückgezogen habe. Ohne diese Auszeiten wäre das Buch wohl nicht entstanden und nie fertig geworden!

Noch eine Bemerkung zu meinem Umgang mit gendergerechter Sprache: Ich habe mich für die Verwendung des Gender-Mediopunktes entschieden, um alle Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtszughörigkeit anzusprechen. Der Mediopunkt ist ein sehr altes diakritisches Zeichen und zudem in der Debatte um gendersensible Sprache noch unverbrauchter als andere Genderformen. Mir ist bewusst, dass jede Form geschlechterinklusiven Sprachgebrauchs ein Bemühen ist, Lesbarkeit und inklusives Denken bestmöglich zu verbinden. Dies versuche ich in diesem Buch mit dem Mediopunkt.

Nun wünsche ich Ihnen ein spannendes, erkenntnisreiches und inspiriertes Lesevergnügen!

Alexandra PeischerInnsbruck, im Januar 2023

PS: Für Fragen oder Anregungen erreichen Sie mich unter [email protected]. Ich freue mich über Ihr Feedback.

Einleitung

Wenn Sie dieses Buch in Händen halten, interessieren Sie sich vermutlich fürs Schreiben. Oder dafür, Schreiben in Ihre Coachingprozesse zu integrieren und Menschen schreibend zu begleiten. Vielleicht wissen Sie noch gar nicht, wie das genau ausschauen könnte, und sind erst einmal nur neugierig. Das ist gut so. Vielleicht haben Sie auch schon konkrete Vorstellungen und suchen nach Input und Inspiration oder nach neuem Wissen. Auch dann sind Sie hier richtig.

Auf den folgenden rund 250 Seiten versuche ich, verschiedenste Facetten des Themas einzufangen. An manchen Stellen muss ich dazu etwas ausholen, weil ich nicht genau weiß, wie viel Vorwissen Sie mitbringen. Diese Seiten können Sie getrost überspringen, falls Sie schon viel mit Schreiben zu tun hatten. An anderen Stellen werde ich sehr konkret, mit vielen Methoden, Übungen, Anwendungs- und Fallbeispielen. Den Rahmen für all das bildet die Schreibpädagogik: die Begleitung von Menschen mit Schreiben (Einsatz von Schreiben als Methode zur Persönlichkeitsentfaltung, Problemlösung oder Stressbewältigung in Beratung, Coaching und Erwachsenenbildung) oder beim Schreiben (Schreibcoaching, Schreibwerkstätten und -trainings).

Wozu braucht es eine Schreibpädagogik, wozu Schreibcoaching?

Schreiben ist viel mehr als das Niederschreiben von Informationen. Schreiben ist ein kraftvolles Werkzeug für die Selbstentfaltung und effizientes Tool für die Begleitung von Lern- und Entwicklungsprozessen. Schreiben regt Veränderungsprozesse an und unterstützt sie, generiert Ideen, erweitert Gedanken, ermutigt, inspiriert, lädt zu einer schöpferischen Lebensgestaltung ein und stärkt insbesondere den Selbstwert.

Leider wissen das viele Menschen nicht. Oder sie haben sogar ganz andere, gegenteilige Erfahrungen gemacht: Leistungsdruck und schlechte Noten, starre Konventionen und strikte Vorgaben, regelrechte »Korsette« für Texte, die sie für Schule oder Studium schreiben mussten. Dazu vielleicht noch eine strenge Lehrperson, die den persönlichen Stil nicht mochte oder als einzigen Kommentar »Thema verfehlt« unter die Erörterung schrieb – in leuchtend roter Signalfarbe, wie das früher so üblich war. Solche Erfahrungen verhindern einen positiven Zugang zum Schreiben und begleiten Betroffene oft ein Leben lang. Jedes Mal, wenn sie schreiben müssen – beruflich oder privat –, kommen die alten Erinnerungen hoch. Dann sträubt sich scheinbar jeder Finger, auch nur einen Satz aufs Papier zu bringen. Wie oft habe ich das in Coachings und Schreibworkshops schon erlebt!

Wer aber um die vielen Facetten des Schreibens weiß, wer erlebt hat, wie hilfreich Schreiben in Beruf und Alltag ist, wer (wieder) entdeckt, wie lustvoll Schreiben sein kann, wenn Leistungsdruck und Produktorientierung wegfallen, der wird sich ein Leben ohne nicht mehr vorstellen können! Die Schaffensfreude kommt meist schnell zurück, begleitet von neuer, sprudelnder Kreativität und sehr oft dem Wunsch, auch anderen das Schreiben als Werkzeug und Weg zu vermitteln. Genau dafür braucht es die Schreibpädagogik. Sie vermittelt Schreiben als hilfreiches Werkzeug für Alltag und Beruf – dabei nutzt sie das Schreiben als Lernform in pädagogischen Feldern wie Schule und Universität, aber auch in jeder anderen Form von Bildung und Beratung. Hier geht es nicht um Pädagogik im Sinne von Erziehung, sondern im Sinne von Begleitung, Coaching und Hilfe zur Selbsthilfe. Schreibcoaching ist somit eines von vielen Anwendungsfeldern der Schreibpädagogik.

Das von mir entwickelte Konzept der Schreibagogik® (als spezielle Richtung der Schreibpädagogik) verknüpft die Lehre über das Leiten und Begleiten von Menschen (= Agogik) – insbesondere von Erwachsenen – mit Wissen, Techniken und Methoden des kreativen Schreibens und der Poesietherapie. Dabei stützt sie sich auf systemische und gestaltpädagogische Konzepte und Grundhaltungen.

Schreibpädagog·innen1 wenden kreatives Schreiben gezielt an und können es weitervermitteln. Sie wissen um dessen Wirkungen und setzen dieses Wissen in der Begleitung von Menschen effektiv ein. Je nach Bedarf und Situation regen sie Veränderungsprozesse an, ermutigen, inspirieren und fördern Kreativität sowie Persönlichkeitsentwicklung. Als Schreibcoachs verwenden sie Schreiben als Tool in ihren Coachingprozessen und darüber hinaus und/oder begleiten, beraten und trainieren Schreibende bei wissenschaftlichen, beruflichen und anderen Schreibprojekten. Dieses Buch behandelt vor allem den erstgenannten Anwendungsbereich: das Coaching mithilfe des Schreibens. Schreibcoaching als das Coaching von Schreibenden wird nur kurz angerissen: Einige Facetten werden aufgezeigt, jedoch nicht vertieft.2

Die Beschäftigung mit Schreibpädagogik erweitert neben der fachlichen Qualifikation auch die eigene Schreibkompetenz sowie Kreativitäts- und Persönlichkeitsentfaltung, zusätzlich werden kommunikative, methodisch-didaktische und beraterische Kompetenzen vertieft. Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten im pädagogischen und beraterischen Alltag tun sich auf: vom Einsatz des (kreativen) Schreibens in Coaching, Therapie oder Erwachsenenbildung über das Anbieten und Leiten von Schreibgruppen, -werkstätten und -trainings bis hin zum Schreibcoaching auf institutioneller oder selbstständiger Basis.

Warum dieses Buch?

Dieses Buch verbindet theoretische Grundlagen der Pädagogik und des Coaching mit der Praxis von Schreibpädagogik und Schreibcoaching. Es will aber vor allem Lust auf Schreiben (als Tool) machen, Lust auf eine Entdeckungsreise: eine Reise zu den Wurzeln und Benefits des (kreativen) Schreibens, eine Reise zu den vielfältigen Anwendungsbereichen von kreativem Schreiben und schließlich eine Reise zur eigenen, oftmals brachliegenden Kreativität, zu den eigenen Ressourcen, zu sich selbst.

Ein kurzer Ausflug in meine Biografie zeigt meine persönliche Reise, meinen Weg zum Schreiben bzw. mit dem Schreiben und wie er mich dorthin führte, wo ich heute stehe: Mit unzähligen Büchern und einem schreibenden Vater (Historiker und Autor) aufgewachsen war ich schon immer in Sprache verliebt. Diese Liebe durfte ich als Buchhändlerin und langjährige Verlags-Mitarbeiterin vertiefen. Während meines Studiums der Erziehungswissenschaften lernte ich dann den wissenschaftlichen Aspekt des Schreibens kennen. Durch die Gestaltpädagogik und einige Kurse zum kreativen Schreiben fand ich zurück zu meiner Kreativität und entdeckte das Schreiben als persönliche Ausdrucksform und wichtiges Denkwerkzeug für mich wieder. Meine Schreibfreude als Jugendliche hatte ich zu diesem Zeitpunkt längst vergessen. Schließlich nahm ich in meinen Ausbildungen zur Supervisorin/Coach und zur Schreibtrainerin eine beraterische Perspektive auf das Schreiben ein. Ich erkannte, wie hilfreich Schreibinterventionen auch in anderen Settings (wie z. B. dem Coaching) sein können. Einen körperlichen Zugang erfuhr ich zuletzt im Rahmen meiner Yoga-Ausbildung, als mir klar wurde, wie wichtig der Körper für jegliche geistige Tätigkeit ist und wie gut sich Körperarbeit, Yoga und Meditation mit Schreiben verbinden lassen.

So kann ich heute all diese Erfahrungen und Zugänge zum Schreiben miteinander verbinden und damit Menschen in unterschiedlichen Kontexten unterstützen und begleiten. Als Coach, Supervisorin und Trainerin arbeite ich seit vielen Jahren mit Schreiben in allen möglichen Kontexten: Schreibseminare und -trainings für Beruf und Wissenschaft, kreatives und reflexives Schreiben, Schreibcoaching für Studierende und Sachbuch-Autor·innen, Schreiben in Verbindung mit Kunst, Musik und Körperarbeit, Schreibworkshops in Kombination mit Yoga. Dabei habe ich unzählige Male erlebt, wie Schreiben hilft, Gedanken zu ordnen, klarer zu sehen, Entscheidungen zu treffen, Probleme zu lösen, innerlich frei zu werden, …

Das vorliegende Buch basiert auf meinen theoretischen Kenntnissen, Aus- und Fortbildungen genauso wie auf meinen praktischen Erfahrungen als Seminarleiterin und Coach. Es gibt Werkzeuge an die Hand, um das Schreiben als Lebensbegleiter·in kennen und lieben zu lernen. Es kann als Ideen-Pool für die berufliche Tätigkeit genauso dienen wie zum Selbstcoaching. Alle Übungen sind so aufbereitet, dass sie sofort ausgeführt und angewandt werden können: für sich selbst oder als Tool in Coaching, Beratung, Therapie oder Lehre. Fallbeispiele, genaue Übungsanleitungen, praktische Tipps bis hin zu fertig ausgearbeiteten Arbeitsblättern3 helfen dabei, die Methoden direkt in den Alltag zu transferieren. Das Spektrum reicht dabei von reflexiven Schreibanregungen über Mini-Schreibinterventionen bis zu mehrstündigen Schreibgruppen-Designs.

An wen richtet sich dieses Buch?

Das Buch dient allen beratend, therapeutisch und pädagogisch tätigen Menschen als eine Art Hand- und Praxisbuch. Insbesondere angesprochen sind:

•Coachs, Berater·innen, Trainer·innen, Erwachsenenbildner·innen, Lehrer·innen aller Schulstufen, Universitätslehrende, aber auch Psychotherapeut·innen, Psycholog·innen, Seelsorger·innen und Sozialarbeiter·innen

•im weitesten Sinne alle Menschen, die mit Menschen arbeiten – sozial, pädagogisch oder beratend.

Außerdem spricht das Buch speziell jene Menschen an, die …

•Schreibgruppen und Schreibwerkstätten leiten (wollen)

•kreatives Schreiben für sich und andere nutzen möchten – als Coaching-Tool und zur Kreativitäts- bzw. Persönlichkeitsentfaltung

•andere Menschen schreibend begleiten und ihnen einen neuen, positiven Zugang zum Schreiben vermitteln möchten.

Was erwartet Sie?

Das Buch ist in vier Teile gegliedert:

Teil I versorgt Sie mit allgemeinen Informationen und Gedanken zum Schreiben. In Kapitel 1 geht es um die Grundfragen des Schreibens: Was ist Schreiben überhaupt und welche Funktionen kann es erfüllen? Kapitel 2 schaut auf die Rahmenbedingungen: Wie läuft Schreiben ab? Was braucht es dazu? Kapitel 3 macht einen Ausflug in die Geschichte des kreativen Schreibens sowie seine unterschiedlichen Zugänge und zeigt grundlegende Methoden.

Teil II (Kapitel 4) stellt Schreiben als Lebensbegleiter und Methode zur Selbstreflexion vor: Schreiben als Weg zu sich selbst, als (Selbst-)Coaching-Tool und wirksames Instrument in verschiedenen Anwendungsfeldern. Schließlich geht es um Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug für Unterricht, Lehre und Erwachsenenbildung.

Teil III widmet sich dem Schreiben als Begegnungsraum: Schreiben in der Gruppe als Raum für Kreativität, Entfaltung und Begegnung. In Kapitel 5 erfahren Sie viel über (kreatives) Schreiben in Gruppen, die Möglichkeiten und Chancen von Gruppen(-Coaching), außerdem Wissenswertes über Gruppenpädagogik, Gruppendynamik und -leitung sowie Schreibgruppendidaktik. Das Kapitel schließt mit Infos und Methoden zu (Text-)Feedback in der Gruppe. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Konzeption und Durchführung von Schreibgruppen und bietet schreibdidaktisches Know-how inklusive einiger Beispielkonzepte.

Teil IV gibt einen kleinen Einblick in die andere Seite des Schreibcoachings, die Begleitung von Schreibenden und ihren Schreibprozessen. Im Kapitel 7 werden einige Aspekte zum Coaching von kreativ Schreibenden kurz ausgeführt. Kapitel 8 schließlich zieht Resümee, gibt Tipps zu Berufsfeldern und Tätigkeitsbereichen für Schreibpädagog·innen bzw. Schreibcoachs und wagt einen Ausblick in eine Schreibpädagogik der Zukunft.

Wie nutzen Sie dieses Buch am besten?

So vielfältig wie die Facetten von Schreiben, Schreibpädagogik und Schreibcoaching sind, so vielfältig sind auch die Nutzungs- und Einsatzmöglichkeiten dieses Buches:

•Sie können das Buch von vorne bis hinten lesen und durcharbeiten. So bauen Sie schrittweise ein Verständnis von Schreiben und Schreibpädagogik bzw. -coaching auf, verfeinern und vertiefen Ihr Wissen zunehmend und nähern sich so der Leitung einer Schreibgruppe oder eines Schreibworkshops und der Verwendung des kreativen Schreibens in Coaching und Beratung an.

•Sie können im Buch schmökern und sich Anregungen und Inspiration für Ihr eigenes Schreiben und Ihre berufliche Tätigkeit holen. Dabei müssen Sie keinerlei Reihenfolge beachten, auch die Übungen stehen jeweils für sich. Wenn das einmal anders sein sollte, gibt es einen ausdrücklichen Vermerk.

•Sie können in den praxisorientierten und methodischen Teilen (s. Kap. 3.2, 3.3, 4.4 und 6) gezielt nach Schreibübungen und Impulsen für eine bestimmte Situation oder ein spezielles Thema suchen.

•Falls Sie bereits Schreibgruppen oder -werkstätten leiten, können Sie das Buch als Weiterbildung und Ideengeber nutzen, um Ihre Arbeit zu reflektieren, weiterzuentwickeln und ggf. neue Aspekte einfließen zu lassen.

•Sollten Sie oder jemand in Ihrem Umfeld gerade Schreibschwierigkeiten haben, finden Sie Tipps und Hilfe in Kapitel 2.6.

Wo sind Sie angesprochen?

Wenn Sie sich bisher noch wenig mit Schreiben beschäftigt haben, starten Sie am besten mit Teil 1. Ansonsten können Sie diesen überspringen oder nur jene Kapitel daraus lesen, die Ihre Neugierde wecken.

Wenn Sie vor allem am Schreiben für sich selbst interessiert sind oder wenn Sie Berater·in, Coach, Psychotherapeut·in oder Erwachsenenbildner·in sind und kreatives Schreiben in Ihre Beratungs- und Lernprozesse integrieren wollen, werden Sie in Teil II fündig.

Falls Sie Schreibgruppen und -werkstätten leiten (wollen), finden Sie in Teil III alles, was Sie dafür brauchen.

Ein Wort zu den Übungen

Die Übungen und Reflexionsfragen in diesem Buch laden dazu ein, die vorgestellten Modelle und Methoden praktisch zu erproben und/oder zu reflektieren. Am Beginn jedes Kapitels finden Sie eine Übung, manchmal auch noch weitere zwischendurch, am Ende jedes Kapitels regen Reflexionsfragen zum vertiefenden Denken und Wiederholen an: »Futter für das Hirn« sozusagen.

Die Übungen sind so konzipiert, dass Sie sie sowohl für sich persönlich machen können als auch in Schreibwerkstätten und -trainings einbauen bzw. an Coachees weitergeben (in der Coachingsitzung oder als »Hausaufgabe«).

Ich gehe davon aus, dass Coachs, Berater·innen oder Lehrende nur das gut weitergeben können, was sie am eigenen Leib erfahren durften. Deshalb empfehle ich sehr, die Übungen selbst auszuprobieren, bevor Sie sie für andere anleiten. Zudem ist die stetige Reflexion des eigenen Schreibens eine wesentliche Säule der schreibpädagogischen Arbeit.

Gerne darf und soll jede Übung so abgewandelt werden, wie es für Sie und die jeweilige Situation, Zielgruppe, für das Setting und die zur Verfügung stehenden Rahmenbedingungen passt.

Folgende Icons und Formate werden Sie durchs Buch begleiten:

KURZ ERKLÄRT

In solchen Kästen finden Sie das Wesentliche kurz und knapp erklärt.

Übung: Hier lädt eine Übung Sie ein, selbst kreativ zu werden und etwas auszuprobieren.

Schreibanregung: Unter diesem Icon finden Sie Schreibanregungen, die Sie direkt im Coaching/im Training an Ihre Coachees und Teilnehmer·innen weitergeben und/oder in Schreibgruppen verwenden können.

Reflexionsfragen: An jedem Kapitelende gibt es etwas »Futter für das Hirn«: Fragen zum Überdenken des Gelesenen und zum Weiterdenken. Gerne dürfen Sie diese schriftlich beantworten.

In diesem Format lesen Sie kurze Fallvignetten aus meiner Praxis, die den Einsatz von kreativem Schreiben im Coaching anhand eines konkreten Beispiels zeigen.

Außerdem stehen Ihnen einige Arbeitsblätter unter folgendem Link zur Verfügung: https://www.carl-auer.de/versuchen-sie-s-mal-mitschreiben. Im Buch sind die Arbeitsblätter mit gekennzeichnet.

1 Ich verwende den Gender-Mediopunkt, um alle Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtszughörigkeit anzusprechen (s. dazu auch meine Bemerkung im Vorwort).

2 Zum Vertiefen verweise ich auf meine im »schreib.raum« angebotenen Fortbildungen zum Thema (s. www.schreibagogik.at).

3 Die Arbeitsblätter finden Sie unter https://www.carl-auer.de/versuchen-sie-s-mal-mitschreiben.

Teil I: Das Einmaleins des Schreibens

1Schreiben – was es ist und was es kann

Schreiben ist nicht gleich Schreiben. Schreiben ist so vielschichtig wie kaum eine andere Tätigkeit. Schreiben kann eine Vielzahl von Funktionen erfüllen. Die Textsorten und Genres, die daraus entstehen, sind zahlreich. Es gibt Hunderte verschiedene Arten zu schreiben, Tausende Herangehensweisen und vermutlich Millionen von Schreibanlässen, eigentlich in jeder Minute des Tages einen neuen.

Schreiben scheint dabei etwas Simples zu sein. Wir haben es alle in der Schule gelernt: Buchstabe für Buchstabe, die aneinandergereiht Worte ergeben. Dann das Aneinanderreihen von Worten, um Sätze zu bilden. Und schließlich entsteht Satz für Satz ein (zusammenhängender) Text. So einfach ist das. Oder doch nicht?

Übung 1: Schreiben bedeutet für mich …

Nehmen Sie sich Papier und Stift, stellen Sie Ihren (Handy-)Wecker auf 5 Minuten und schreiben Sie einen »Seriensprint« (nach Scheuermann 2012, s. auch S. 83).

Beginnen Sie mit »Schreiben bedeutet für mich …« und vervollständigen Sie den Satz schnell und ohne viel zu überlegen. Danach schreiben Sie wieder den gleichen Satzanfang »Schreiben bedeutet für mich …« und vervollständigen ihn mit einem neuen Gedanken. Das machen Sie ca. 5- bis 10-mal bzw. so lange, bis Ihr Wecker läutet:

Schreiben bedeutet für mich …

Schreiben bedeutet für mich …

Schreiben bedeutet für mich …

… usw.

1.1Schreiben ist nicht gleich Schreiben

Auf der einen Seite ist Schreiben einfach. Auf der anderen Seite hochkomplex. Sich Notizen zu machen, Einkaufszettel zu schreiben oder schnell mal eine kurze SMS an eine Freundin – das verlangt nicht viel mehr als das Wissen um die richtigen Worte, eventuell noch etwas Rechtschreibung.

Ein Tagebuch zu führen, das nur für mich selbst bestimmt ist, ist ähnlich und doch schon anders. Privates Schreiben erfüllt zwar nach außen hin keinen Anspruch, kann die Schreibenden aber durchaus in eine innere Komplexität führen, vielleicht sogar in einen inneren Konflikt. Wenn z. B. Gefühle und Sachverhalte »zur Sprache kommen«, die sonst ungesehen blieben. Oder wenn bisher verborgene innere Anteile und Ambivalenzen zum Vorschein kommen, Sehnsüchte und unerfüllte Bedürfnisse spürbar werden und plötzlich gehört werden wollen.

Und wie ist das schließlich bei zusammenhängenden, längeren Texten, die für eine Leserschaft im Außen geschrieben sind? Zum Beispiel Romane und Geschichten, die einen durchdachten Plot brauchen, um interessant zu sein? Krimis, die einer ausgeklügelten Dramaturgie folgen? Was ist mit Gebrauchsanweisungen, die komplizierte Sachverhalte einfach darstellen sollen? Mit Berichten oder Dokumentationen? Wie ist das mit Verkaufstexten, die ein Produkt schmackhaft machen sollen? Mit Werbebriefen, die verkaufen wollen? Wie zeigt sich das Schreiben bei wissenschaftlichen Artikeln oder Fachbüchern, die Unmengen an Information verarbeiten, aufbereiten und in eine gute Struktur mit logischem Aufbau bringen müssen, um gelesen und verstanden zu werden? Das alles sind Schreibsituationen und -anlässe, die sich sehr voneinander unterscheiden.

Das in der Schule praktizierte Schreiben, das sich größtenteils als Re-Produzieren, als Niederschreiben von (fremden) Gedanken und Informationen zeigt, ist nur ein kleiner Ausschnitt der großen Palette an Möglichkeiten, die unter dem Begriff Schreiben zusammengefasst sind.

Unterschiedliche Schreibanlässe und Ziele benötigen naturgemäß auch unterschiedliche Strategien, Methoden und jeweils anderes Wissen. Die wichtigste Frage lautet also: Wovon sprechen wir, wenn wir das Wort schreiben benutzen? Meiner Erfahrung nach hat jeder Mensch ein anderes (inneres) Bild davon: Vom Schreibenlernen in der Grundschule über das beruflich ausgeübte Schreiben bis hin zum literarischen Schreiben und der Vorstellung des Schriftstellers ist da alles dabei. Was bedeutet Schreiben für Sie? Haben Sie es in Übung 1 herausgefunden?

Welcher Begriff von Schreiben liegt diesem Buch zugrunde?

Was Schreiben für mich bedeutet und warum es mir so wichtig (geworden) ist, habe ich bereits in Vorwort und Einleitung ausgeführt. An dieser Stelle möchte ich den Versuch einer Begriffsbestimmung wagen, der mein Verständnis von Schreiben zusammenfasst und der gleichzeitig diesem Buch eine Richtung gibt: Schreiben ist für mich etwas Ganzheitliches.

Schreiben ist neben dem geistigen auch ein körperlicher Vorgang. Ich setze meine Hand in Bewegung, die den Stift hält oder die Finger an der Tastatur aufsetzt. Erst die körperliche Bewegung setzt Buchstaben aufs Papier oder auf den Bildschirm. Mein ganzer Körper schreibt also mit. Das merke ich immer wieder, wenn ich länger schreibe: Ich spüre das Schreiben körperlich. Handschreiben wirkt sich auf meine rechte Hand, die Finger und den rechten Arm samt Schulter und auf die rechte Seite des Trapezius aus. Computerschreiben spüre ich – v. a. nach ein paar Tagen intensiven Schreibens – im ganzen Rücken, im Nacken und in beiden Armen und Schultern.

Mit der Hand zu schreiben schenkt mir zusätzlich einen haptischen Genuss: Ich liebe es, die Beschaffenheit des Papiers, seine Glätte oder Struktur zu fühlen, das Kratzen der Feder zu hören, die Tinte auf dem Papier fließen zu sehen. Außerdem habe ich handschriftlich eine stärkere Verbindung zu meinen Gefühlen. Nicht umsonst werden in manchen Traditionen wie der chinesischen Medizin oder dem Yoga die Hände als Verlängerung des Herzens gesehen. Noch stärker ist diese Verbindung spürbar, wenn man mit der schreibungewohnten Hand schreibt (s. Übung 2). Mit ganzheitlich meine ich aber auch einen integrativen Zugang, der alle Arten von Schreiben nutzt und dessen volles Potenzial ausschöpft.

Übung 2: Ich erinnere mich

Stellen Sie Ihren (Handy-)Wecker auf 10 Minuten und schreiben Sie mit Ihrer schreibungewohnten Hand über erste Erfahrungen mit dem Schreiben. Beginnen Sie mit »Ich erinnere mich …«. Tauchen Sie ganz ein in die aufsteigenden Bilder und Gerüche. Jede Erinnerung, die vor Ihrem inneren Auge erscheint, wird niedergeschrieben. Wenn der Wecker läutet, stellen Sie ihn nochmals auf 5 Minuten (wenn Sie mögen, auch länger) und schreiben Sie jetzt mit der anderen Hand weiter, also mit Ihrer üblichen Schreibhand: darüber, wie es Ihnen mit dem (vermutlich sehr langsamen und vielleicht mühsamen) Schreiben ergangen ist. Und/oder über die Erinnerungen, die aufgetaucht sind. Wie wirken sich diese auf Ihr heutiges Schreiben aus?

Schreibpädagog·innen und Schreibcoachs begleiten und nutzen sowohl das berufliche und wissenschaftliche Schreiben als auch das persönliche Schreiben: reflexives, intuitives, meditatives, therapeutisches oder biografisches Schreiben. Sie beziehen ihre Methoden dabei vorrangig aus der Schreibdidaktik und dem »kreativen Schreiben«, das auf mehreren Konzepten beruht (s. dazu ausführlich Kap. 3.1). Die Schreibagogik® legt dabei besonderen Wert auf den Selbsterfahrungsaspekt, der im klassischen »kreativen Schreiben« oft zu kurz kommt.

Jürgen vom Scheidt (2006) nennt diese Art von Schreiben »HyperWriting«: writing in Anlehnung an »Creative Writing« und hyper im Sinne von »mehr als« – ein Schreiben also, das weit über das hinausgeht, was üblicherweise unter kreativem Schreiben verstanden wird: Schreiben als Weg zu Selbsterkenntnis und seelischer wie geistiger Freiheit; als Möglichkeit, Geborgenheit in sich selbst zu finden, aber auch Bedürfnisse nach außen zu kommunizieren. Auch wenn ich selbst nicht unbedingt diese Bezeichnung verwenden würde, schließe ich mich seiner Sichtweise und seinem Verständnis von Schreiben voll und ganz an.

KURZ ERKLÄRT

•Reflexives Schreiben:

Schreiben als Denkwerkzeug: Im Schreiben entwickeln sich Gedanken, Antworten und Lösungen. Themen werden klarer und bekommen mehr Struktur. Methoden wie »Schreibdenken« oder »Mindwriting« gehören zu dieser Kategorie. Es handelt sich dabei immer um privates Schreiben, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist.

•Therapeutisches/heilsames Schreiben:

Schreiben zur Selbstfindung und Selbstheilung: Hier gibt es viele Anwendungsmöglichkeiten und zahlreiche Methoden und Techniken (s. Kap. 4.2). Ziel ist immer Selbsterfahrung und persönliche Entwicklung. Im Unterschied zum reflexiven Schreiben (wo es ebenfalls um Selbsterfahrung und Entwicklung geht) zielt therapeutisches Schreiben jedoch auf Heilung psychischer Erkrankungen oder Traumata ab. Die Methoden werden gezielt im Rahmen eines therapeutischen Settings eingesetzt und aufgearbeitet.

• Intuitives/meditatives Schreiben:

Schreiben aus dem Bauch heraus oder Schreiben aus dem Herzen: Die Schreibenden überlassen sich ganz dem Fluss der Gedanken und Gefühle und schreiben nieder, was auftaucht. Das Schreiben wird durch eine kurze Meditation/Stille eingeleitet, die meditative Haltung bleibt während des Schreibens erhalten. Diese Art zu schreiben wird gern für persönliches Wachstum und Selbstentfaltung eingesetzt (deshalb manchmal auch die Bezeichnung »spirituelles Schreiben«). Dazu gehören z. B. die »Morgenseiten« (nach Cameron 2000) oder auch das »automatische Schreiben« (nach Breton 1986).

•Kreatives Schreiben/Creative Writing:

Bezeichnet eine eigene Bewegung aus den USA (s. Kap. 3.1), die als Überbegriff für viele Methoden, Techniken und eine bestimmte Zugangsweise zum Schreiben verwendet wird. Die Methoden aus dem »kreativen Schreiben« eignen sich jedoch für alle Arten des Schreibens, auch für berufliches und wissenschaftliches Schreiben. Dort leisten sie sogar oft besonders wertvolle Dienste.

•Tagebuch-/Journal-Schreiben:

Privates, regelmäßiges Schreiben, meist täglich: Dabei gibt es unterschiedliche Formen, vom biografischen über das chronologische oder Reisetagebuch bis hin zum »neuen Tagebuch« (vgl. Rainer 2005) oder dem »Creative Journaling« (vgl. z. B. Nelson 2004). Meist handelt es sich dabei um eine Mischung aus allen bisher genannten Arten von Schreiben (s. dazu ausführlich Kap. 4).

•Biografisches Schreiben:

Schreiben mit Blick auf die eigene Biografie und/oder Ausschnitte davon: Das kann sowohl eine therapeutische Richtung haben als auch eine literarische. Oft ist es eine Kombination aus beidem.

•Literarisches Schreiben:

Schreiben nach bestimmten ästhetischen und sprachlichen Kriterien, meist zur Veröffentlichung (am Buchmarkt oder in Zeitschriften, manchmal auch speziell für Lesungen oder Literaturfestivals). Die Genres sind zahlreich: Gedichte, Kurzgeschichten, Romane, Krimis, Liebesromane und vieles mehr.

•Berufliches Schreiben:

Schreiben im und für den Beruf: Dabei reicht das Spektrum von Korrespondenz (E-Mails und Geschäftsbriefe) bis zu komplexen Dokumentationen auf der einen und Werbetexten oder PR-Arbeit auf der anderen Seite. Immer geht es aber ganz besonders um eine Serviceleistung und damit noch mehr um Leser·innen-Orientierung als bei anderen Textsorten.

•Wissenschaftliches Schreiben:

Schreiben während des Studiums (Hausarbeiten und andere Qualifizierungstexte bis hin zu den oft gefürchteten Abschlussarbeiten) oder im Rahmen einer wissenschaftlichen Karriere und Tätigkeit: Hier handelt es sich um komplexe Prozesse, in denen viel Wissen verarbeitet wird, das ausgehend von einer Fragestellung verständlich und logisch dargestellt werden soll. Die Einbettung in die wissenschaftliche Diskursgemeinschaft spielt hier genauso eine Rolle wie die Konventionen und das Regelwerk des jeweiligen Faches.

Alle diese Formen von Schreiben haben ihre Eigenart und jeweils andere Prozessverläufe. In der Schreibforschung wurden unzählige Modelle erarbeitet, die zeigen, wie Schreiben typischerweise abläuft oder ablaufen kann. Ebenso hat man Strategien untersucht, wie verschiedene Menschen ans Schreiben herangehen, und Typisierungen daraus entwickelt (mehr dazu in Kap. 2.3). All das soll helfen, das Schreiben überschaubarer und leichter zu machen, vor allem das sogenannte »elaborierte Schreiben«. Ortner (2006, S. 77 ff.) unterscheidet nämlich grundsätzlich zwischen zwei Arten von Schreiben: dem »Spontanschreiben« und dem »elaborierten Schreiben«.

Spontanschreiben meint das Schreiben von (meist) kurzen Texten in einem Schwung, ohne vorherige Planung oder Recherche. Alles, was es dafür braucht, ist im Kopf und wird rasch und in einem Zug aufs Papier gebracht. (Die meisten Methoden des kreativen Schreibens arbeiten so bzw. nutzen diese Art zu schreiben, zumindest für einen ersten Rohtext.)

Elaboriertes Schreiben ist jenes Schreiben, das viel Wissen verarbeitet, auf verschiedene Quellen zurückgreift, eine gute Planung braucht und unterschiedliche Tätigkeiten wie Zerlegen, Ordnen, Differenzieren, Analysieren und Komponieren beinhaltet. Es kommt klassischerweise beim wissenschaftlichen Schreiben zum Tragen, aber auch bei anderen, längeren Textprojekten, z. B. im Journalismus oder in der Literatur.

Im Folgenden werde ich das Thema Schreiben mit all seinen Möglichkeiten noch weiter vertiefen. Nach einem Ausflug in die Geschichte, der zeigt, dass Schreiben immer schon einen wichtigen Teil unseres Lebens eingenommen hat, widme ich mich den unterschiedlichen Funktionen von Schreiben.

Reflexionsfragen

•Welche Definitionen und Arten von Schreiben sind Ihnen vertraut?

•Wie würden Sie persönlich Schreiben definieren?

•Wie und wo schreiben Sie am häufigsten – beruflich, privat, wissenschaftlich, literarisch?

•In welchem Bereich würden Sie gerne mehr schreiben?

•Erleben Sie Schreiben als ganzheitliche Tätigkeit oder eher als rein geistige?

1.2Ein Ausflug in die Geschichte

Über die Kulturgeschichte des Schreibens ist bereits viel und ausführlich geschrieben worden (vgl. u. a. Ludwig 2005; Haarmann 2021; vom Scheidt 2006, S. 22–67). Ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit sei mir dennoch erlaubt, um zu zeigen, welche wichtige Rolle und Wirkung das Schreiben in der Menschheitsgeschichte schon seit Urzeiten hatte.

Gehen wir einen Schritt zurück: Bevor die Menschen die Schrift entdeckten, gab es bereits das gesprochene Wort. »Am Anfang war das Wort«, sagt uns schon die Bibel im Johannes-Evangelium. Das Wort hat Gestaltungs- und Schöpferkraft: »Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht« – wieder eine Erzählung aus der Bibel. Aber auch, wenn wir heidnische Beschwörungsformeln lesen, wie z. B. die »Merseburger Zaubersprüche«, wird klar, dass dem Wort schon immer magische Qualitäten zugesprochen wurden. So macht- und kraftvoll ist das Wort bis heute, das geschriebene genauso wie das gesprochene, denn Sprache dient nicht nur zur Beschreibung und Darstellung der Realität, sondern auch zur Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Berger u. Luckmann 1993; von Glasersfeld 1987; Watzlawick 2018). Menschen erfinden, gestalten und formen das, was sie erleben. Die Sprache hat einen wesentlichen Anteil daran, der insbesondere in der Poesie- und Bibliotherapie bewusst genutzt wird. Auch in der Systemischen Therapie kennt man die performative Kraft des Schreibens seit Langem (vgl. Penn 2009; Unterholzer 2017, 2021).

Bevor es eine geschriebene Sprache gab, waren es mündliche Überlieferungen, mit denen Menschen wichtige Informationen von Generation zu Generation weitergaben. Umfangreiche Lehrgebilde wie z. B. die indische Yoga-Lehre und -Philosophie wurden jahrzehntelang nur mündlich – persönlich von Lehrer zu Schüler – weitergegeben. Aber auch das Geschichten-Erzählen hat eine lange Tradition: Früher versammelten sich die Menschen ums Lagerfeuer, heute gibt es Bücher, Radio, Film und Fernsehen sowie das Internet.

Schon früh zeugen Höhlenmalereien und geritzte Zeichen auf Steinen und Gräbern vom Bedürfnis des Menschen, der Nachwelt etwas zu hinterlassen. Diese Zeugnisse gelten heute als die Vorstufen von Schrift. Erste »Kritzeleien« an Felswänden stammen aus der Zeit um etwa 50.000 v. Chr., an verschiedenen Fundorten überwiegend in Europa, aber auch in Afrika und Asien. Meist handelt es sich dabei um magisch-symbolische Zeichnungen, bei denen die Beziehung zwischen Mensch und Tier im Vordergrund steht, manchmal ergänzt durch unbestimmbare Zeichen und Linien (vgl. Hemberger 2014).

Lange war sich die Wissenschaft uneinig, welche die ersten erkennbaren Schriftzeichen waren: germanische Runen, sumerische Keilschrift oder ägyptische Hieroglyphen? Während Carl Faulmann (1880) noch davon überzeugt war, dass die germanischen Runen die Urschrift der Menschheit waren, weiß man heute – u. a. durch neue Möglichkeiten zur exakten Datierung alter Schriftfunde –

»dass die Runen um mehrere Jahrtausende jünger sind als die ältesten Schriften Mesopotamiens oder Ägyptens« (Haarmann 2021, S. 7 f).

Eine wichtige Fundstätte in Ägypten ist z.B. der Königsfriedhof von Abydos, der auf die Jahre 3320 und 3150 v. Chr. datiert wird:

»Auf Siegeln, mit denen Vorratsbehälter verschlossen worden waren, finden wir die ältesten Schriftzeichen Ägyptens, und deren Gebrauch ist älter als die Verwendung von Schrift in Altsumer« (ebd., S. 9).

Archäologische Funde auf der Balkanhalbinsel, darunter auch »alte Schriftzeugnisse der Donauzivilisation«, ließen sich mithilfe modernster Messverfahren sogar noch weiter zurückdatieren, nämlich auf die Zeit um 5300 v. Chr. (vgl. ebd., S. 8 f.).

Schrift ist also keine Erfindung der Moderne. Die Art und Weise, wie wir Schrift(-Zeichen) erzeugen und aufbewahren, hat sich freilich im Lauf der Jahrzehnte verändert. Heute schreiben wir nicht mehr mit Keil und oft nicht mal mehr mit einem Stift, sondern häufig auf der Computertastatur. Damit geht der sinnlich-haptische und körperliche Aspekt des Schreibens leider größtenteils verloren. Im Gegenzug ist es uns heute möglich, in Windeseile Schriftstücke zu produzieren und sie zu verbreiten – so können wir sie übers Internet mit Millionen von Menschen teilen. Wir können rasch und kostengünstig Druckwerke erstellen, jede und jeder kann Bücher ohne Verlag (per »book on demand«) publizieren.

Das alles hat große Vorteile, bringt jedoch auch Probleme mit sich. Man denke nur an die Fülle von Informationen, die uns tagtäglich erreichen, und an die Schwierigkeit des Filterns und Auswählens. Auch das Selfpublishing hat nicht nur positive Seiten, es wirft so manche Frage auf (wie z. B. die nach einem sorgfältigen Lektorat).

Was ich mit all dem sagen will: Die Entwicklung der Schrift und des Schreibens, die Schreibkultur unserer Zeit und unserer sozialen wie geographischen Heimat beeinflussen unser Schreiben und Schreibverhalten. Die Kurzlebigkeit des heutigen Buchmarktes, die Schnelligkeit der modernen Medien – all das hat auch Auswirkungen auf unsere Sprache, unsere Texte und letztlich unser Gehirn (vgl. Carr 2010). Je mehr wir uns dessen bewusst sind, desto mehr können wir darauf achten und ggf. gegensteuern oder einen für uns passenden Umgang damit finden.

Auch die heilsame Wirkung von Schreiben ist seit jeher bekannt (s. auch Kap. 4.2). Vom griechischen Schreiber Cheti ist uns ein Brief an seinen Sohn überliefert, in dem er das Schreiben in höchsten Tönen lobt:

»Du sollst dein Herz an die Schreibkunst setzen! Siehe, da ist nichts, das über die Schreibkunst geht. Die Schreibkunst – du sollst sie mehr lieben als deine Mutter. Schönheit wird vor deinem Angesicht sein …« (Ekschmitt 1968, zit. n. vom Scheidt 2006, S. 50).

Ein anderer ägyptischer Schreiber spricht davon, dass Schreiben »angenehmer als Brot und Bier, als Kleider und Salben« sei und »glückbringender als ein Erbteil in Ägypten und als ein Grab im Westen« (Brunner 1957, zit. n. ebd.).

Eine weitere Überlieferung schildert die »Rettung« eines lebensmüden Ägypters durch die Zwiesprache mit sich selbst bzw. seiner Seele auf dem Papyrus (= innerer Dialog), in dessen Verlauf seine Seele ihn zum Weiterleben motiviert (vgl. vom Scheidt 2006, S. 51). Ein sehr frühes Zeugnis der therapeutischen Wirkung von Schreiben!

Auch später loben bedeutende Künstler·innen immer wieder den seelischen Nutzen des Schreibens: »Was ich auf dem Herzen habe, muss heraus, und darum schreibe ich«, soll Ludwig van Beethoven einmal gesagt haben. Oder Goethe, der wohl auch nicht nur aus einem literarischen Antrieb heraus schrieb:

»Geschichten schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen« (Goethe 2016, S. 21).

Zuletzt sei Friedrich Nietzsche genannt, um den Möglichkeits-Raum des Schreibens noch weiter aufzumachen (und damit bereits auf das folgende Kapitel zu verweisen, das sich mit diesen vielen Möglichkeiten beschäftigt):

»Ich brauche nichts als ein Stück Papier und ein Schreibwerkzeug, und ich werde die Welt aus den Angeln heben« (zit. n. Heimes 2011b, S. 92).

Reflexionsfragen

•Können Sie sich ein Leben ohne Sprache vorstellen?

•Was täten Sie ohne die Möglichkeit, sich schriftlich mitzuteilen?

•Haben Sie Schreiben bereits einmal bewusst als »Rettung« erlebt, ähnlich wie der lebensmüde Ägypter oder wie zahlreiche Künstler·innen und Schriftsteller·innen (s. dazu auch S. 107 f.)?

1.3Funktionen von Schreiben

»Warum schreibe ich? Aus Trieb, aus Spieltrieb, aus Lust.«

Max Frisch