Versuchung pur - Nora Roberts - E-Book

Versuchung pur E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Eden Carlborough hatte alles: Einen guten Namen in der Gesellschaft, einen wunderbaren Alltag und einen Verlobten, der sie in die besten Restaurants der Stadt ausführt. Als sie alles verliert, muss sie sich ein neues Leben aufbauen. In direkter Nachbarschaft zu einer Apfelplantage gründet die Bostonerin ein Sommercamp für junge Mädchen. Hier endlich kann sie ihren Seelenfrieden wiederfinden. Bis zu dem Tag, an dem sie aus einem der Apfelbäume fällt ... und direkt ihrem attraktiven Nachbarn in die Arme. Er ist das Gegenteil der Ruhe, die sie zu finden hoffte.

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Nora Roberts

Versuchung pur

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Sonja Sajlo-Lucich

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe Temptation ist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.
Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Copyright © 1987 by Nora Roberts Published by Arrangement with Eleanor Wilder Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Umschlagabbildung: Corbis GmbH, Düsseldorf Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-12120-4 V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

»Wenn ich etwas hasse«, murmelte Eden, »dann sechs Uhr in der Früh.«

Die Morgensonne strahlte durch die dünnen Vorhänge ins Blockhaus. Sie malte Muster auf den Holzboden, auf das Bettgestell aus Metall und auf Edens Gesicht. Laut hallte das Läuten des Weckers in ihrem Kopf nach. Auch wenn sie dieses schrille Klingeln erst seit drei Tagen kannte – Eden hatte bereits eine inbrünstige Abneigung dagegen entwickelt.

Einen fantastischen Moment lang vergrub sie das Gesicht unter dem Kopfkissen und träumte sich in ihr großes Himmelbett. Die feine Bettwäsche roch nach Zitrone, ganz leicht nur, ein Hauch. Die Vorhänge in dem luftigen, in Pastellfarben gehaltenen Schlafzimmer waren gegen die aufdringliche Morgensonne fest zugezogen, und frische Blumen versüßten mit ihrem Duft die Luft.

Doch dieser Kissenbezug hier roch nach Federn und Desinfektionsmittel.

Mit einem leisen Fluch schleuderte Eden das Kissen zu Boden. Der Wecker hatte inzwischen sein aufdringliches Schrillen eingestellt, dafür hörte man jetzt das aufgeregte Krächzen der Krähen. Aus der Hütte direkt gegenüber ertönte laute Rockmusik. Mit schläfrigem Blick sah Eden zu, wie Candice Bartholomew schwungvoll aus ihrem schmalen Feldbett sprang.

»Guten Morgen!« Ein strahlendes Lächeln zog auf Candys vorwitziges Elfengesicht. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch den leuchtend roten Haarschopf und zerzauste ihn dabei nur noch mehr. Für Eden bestand Candys Wesen hauptsächlich aus Energie. »Was für ein wunderschöner Tag!«, verkündete sie mit bester Laune und reckte sich ausgiebig in ihrem Rüschenbabydoll.

Eden gab nur einen unverständlichen Laut von sich. Sie streckte die nackten Beine unter dem Bettzeug hervor und setzte sich auf. Als ihre Füße den Holzboden berührten, gratulierte sie sich im Stillen zu dieser erstaunlichen Leistung.

»Wenn du so weitermachst, fange ich noch an, dich zu hassen«, brummelte sie schlaftrunken. Mit geschlossenen Augen strich sie sich das wirre blonde Haar aus dem Gesicht.

Candy grinste und stieß die Tür auf, um frische Morgenluft ins Zimmer zu lassen. Dann drehte sie sich um und musterte die Freundin. In der frühen Sommersonne wirkte Eden fein und zerbrechlich. Das helle Haar fiel ihr in Stirn und Wangen, die Lider waren geschlossen. Ihre schmalen Schultern sackten zusammen, bevor sie ausgiebig gähnte.

Candy hielt sich mit Kommentaren weise zurück. Sie wusste, dass Eden ihre eigene Begeisterung für den Sonnenaufgang keineswegs teilte.

»Die Nacht kann doch unmöglich schon vorbei sein!«, murmelte Eden jetzt gerade. »Ich bin doch eben erst ins Bett gegangen.« Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte einen hellen Teint, ihre Wangen waren leicht rosig. Ihre Nase war klein, und die Nasenspitze zeigte ein wenig aufwärts. Wäre da nicht der volle, großzügige Mund, hätte man ihr Gesicht als kühl und aristokratisch bezeichnen können.

Candy machte noch ein paar tiefe Atemzüge an der offenen Tür, dann schloss sie sie wieder. »Du brauchst nur eine Dusche und einen Kaffee, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Die erste Woche im Camp ist immer die schlimmste, das weißt du doch.«

Eden richtete große dunkelblaue Augen auf Candy. »Du hast gut reden! Du bist ja auch nicht in Giftefeu gefallen.«

»Juckt es noch?«

»Ein bisschen.« Edens schlechtes Gewissen regte sich. Es gab keinen Grund, ihre üble Laune an der Freundin auszulassen. Und so versuchte Eden sich an einem Lächeln. Sofort wurden ihre Gesichtszüge nachgiebig und weich, die Augen, der Mund, sogar die Stimme. »Es ist ja auch das erste Mal, dass wir die Leiterinnen des Camps sind und nicht die Camper.« Noch einmal gähnte sie mit offenem Mund, dann stand sie auf und zog den Morgenmantel über. Die Luft war erfrischend, aber auch eiskalt. Eden wünschte, sie könnte sich daran erinnern, was sie mit ihren Pantoffeln angestellt hatte.

»Versuch’s mal unter dem Bett«, schlug Candy vor.

Eden beugte sich vor und schaute nach. Tatsächlich, da waren sie. Bestickte pinkfarbene Seidenpantöffelchen, wenig geeignet für ein Feriencamp. Aber irgendwie war es Eden nicht lohnenswert erschienen, sich andere zu besorgen.

Das Anziehen der Pantoffeln lieferte ihr immerhin den passenden Vorwand, sich wieder zu setzen. »Meinst du wirklich, fünf aufeinanderfolgende Sommer in Camp Forden haben uns ausreichend auf das hier vorbereitet?«

Candy hatte mit ihren eigenen Zweifeln zu kämpfen. Sie verschränkte die Hände. »Hast du jetzt etwa Bedenken, Eden?«

Weil sie das Zögern in Candys sonst immer so quicklebendiger Stimme hörte, schob Eden die eigenen Unsicherheiten beiseite. Schließlich hatten sie beide ein sowohl finanzielles als auch emotionales Interesse daran, dass das neu gegründete Camp Liberty ein Erfolg wurde. Herumzujammern würde sie sicherlich nicht dorthin bringen.

Sie schüttelte den Kopf, ging zu Candy und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich bin einfach nur ein hoffnungsloser Morgenmuffel. Lass mich schnell unter die Dusche springen. Dann bin ich auch bereit, mich unseren siebenundzwanzig Campern zu stellen.«

»Eden.« Candy hielt sie auf, bevor sie die Badezimmertür hinter sich schloss. »Es wird klappen. Für uns beide. Ich weiß es.«

»Ja, davon bin ich auch überzeugt.« Doch kaum hatte sie die Tür geschlossen, lehnte Eden sich mit dem Rücken dagegen. Jetzt, da sie allein war, konnte sie es zugeben: Sie hatte eine Heidenangst. Ihren letzten Cent und ihre letzte Hoffnung hatte sie in die sechs Blockhütten, die Ställe und den Speisesaal von Camp Liberty gesteckt. Was verstand Eden Carlbough aus Philadelphia schon von der Leitung eines Sommercamps für Mädchen? Gerade genug, um sich selbst in Angst und Schrecken zu versetzen.

Wenn sie versagte – würde sie dann die Scherben aufsammeln und weitermachen können? Gäbe es dann überhaupt noch Scherben zum Aufsammeln? Zuversicht und Selbstvertrauen, das war es, was hier gebraucht wurde, sagte sie sich, als sie sich in die enge Duschkabine zwängte. Dann drehte sie das Wasser auf; den Hahn, auf dem »Heiß« stand, sogar bis zum Anschlag. Lauwarm tröpfelte das Wasser aus dem Duschkopf. Zuversicht und Selbstvertrauen, sagte Eden sich erneut, fröstelnd unter dem kümmerlichen Strahl. Sowie ein dickes Bündel Banknoten und eine ganze Wagenladung Glück.

Sie griff nach der Seife und begann sich zu waschen. Ein feiner Duft stieg ihr in die Nase. Die parfümierte französische Seife war eines der wenigen Dinge, die sie sich noch gönnte. Vor einem Jahr hätte sie wahrscheinlich gelacht, hätte man zu ihr gesagt, dass sie einmal ein Seifenstück als Luxus betrachten würde.

Vor einem Jahr.

Eden drehte sich, damit das schnell abkühlende Wasser auch ihren Rücken erreichte. Vor einem Jahr wäre sie um acht Uhr morgens aufgestanden, hätte in aller Ruhe eine prasselnde heiße Dusche genommen, dann Frühstück mit duftendem Kaffee und frischem Toast und vielleicht noch luftigen Rühreiern. Gegen zehn wäre sie dann zur Bibliothek gefahren, zu ihrer ehrenamtlichen Arbeit. Danach hätte sie sich zum Lunch mit Eric im französischen Edelrestaurant Deux Cheminées getroffen. Schließlich hätte sie am Nachmittag dem Museum ihre Dienste zur Verfügung gestellt oder Tante Dottie bei einer ihrer vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen geholfen.

Die schwierigste Entscheidung des Tages wäre gewesen, ob sie das rosa Seidenkostüm oder doch lieber das elfenbeinfarbene Leinenensemble anziehen sollte. Sie hätte einen geruhsamen, friedlichen Abend zu Hause verbracht. Oder sie wäre zu einer der eleganten Dinnerpartys in Philadelphia eingeladen gewesen.

Kein Druck. Keine Probleme. Aber vor einem Jahr hatte ihr Vater ja auch noch gelebt.

Mit einem leisen Seufzer wusch Eden sich die Seife von der Haut. Der feine Duft haftete an ihr, auch als sie sich mit den eher zweckdienlichen als flauschigen Handtüchern des Camps abtrocknete.

Als ihr Vater noch lebte, da hatte sie Geld als etwas betrachtet, das lediglich dazu da war, um ausgegeben zu werden. Damit war sie aufgewachsen. Sie war dazu erzogen worden, ein Menü zu planen – nicht dazu, es zu kochen. Sie war dazu erzogen worden, einen Haushalt zu führen – nicht zu putzen.

Sie hatte eine sorgenfreie und glückliche Kindheit verbracht. Sie war bei ihrem verwitweten Vater aufgewachsen, in der zeitlosen Eleganz der Carlbough-Villa in Philadelphia. Es hatte immer hübsche Kleider gegeben und Debütantinnenbälle, Teegesellschaften und Reitstunden. Der Name Carlbough war ein altehrwürdiger Name, ein respektierter Name. Das Vermögen der Carlboughs war schlicht immer da gewesen.

Wie schnell sich die Dinge doch ändern konnten.

Jetzt nahm sie keine Reitstunden mehr, sondern unterrichtete sie. Und sie jonglierte mit Zahlen, in der unsinnigen Hoffnung, dass eins und eins vielleicht doch mehr als zwei ergab.

Mit dem rauen Handtuch wischte Eden den beschlagenen kleinen Spiegel über dem ebenso kleinen Waschbecken sauber. Mit einer Fingerspitze nahm sie etwas von der Gesichtscreme. Einen halben Tiegel hatte sie noch, der würde den Sommer über halten müssen. Wenn sie diesen Sommer durchhielt, würde sie sich zur Belohnung einen neuen Topf kaufen.

Als Eden aus dem Bad kam, war die Blockhütte bereits leer. So, wie sie Candy kannte – was man nach zwanzig Jahren Freundschaft sicher sagen konnte –, war der Rotschopf längst zu den Mädchen gegangen. Wie mühelos ihre Freundin sich doch den Umständen angepasst hat, dachte Eden. Dann ermahnte sie sich, dass es auch für sie höchste Zeit war, sich daran zu gewöhnen. Sie nahm Jeans und ein rotes T-Shirt hervor und zog sich an.

Selbst als Teenager hatte Eden sich selten so lässig gekleidet. Sie hatte ihr Gesellschaftsleben genossen – die Partys, die Skiurlaube in Vermont, die Einkaufstrips und Theaterbesuche in New York, die Reisen nach Europa. Das Konzept, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen zu müssen, hätte sie niemals für sich in Betracht gezogen, ebenso wenig wie ihr Vater. Die Frauen der Carlboughs arbeiteten nicht. Sie saßen diversen Komitees vor.

Das College hatte eher dazu gedient, ihre Erziehung zu vervollständigen, nicht als Grundlage für eine bestimmte Karriere. Und jetzt, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, musste Eden sich eingestehen, dass sie über keinerlei Qualifikationen verfügte, um einen Beruf auszuüben.

Sie könnte ihrem Vater die Schuld dafür geben. Doch wie sollte sie einem so nachsichtigen und liebevollen Mann etwas vorwerfen? Sie hatte Brian Carlbough angebetet. Nein. Sie hatte sich selbst die Verantwortung zuzuschreiben. Sie war es, die naiv und kurzsichtig gewesen war! Ihr Vater konnte nichts dafür. Auch ein Jahr nach seinem plötzlichen und unerwarteten Tod saß die Trauer immer noch tief.

Doch damit konnte sie umgehen. Denn wenn sie etwas gelernt hatte, dann ihre Gefühle unter würdevoller Haltung zu verbergen. Eiserne Selbstbeherrschung. Tag für Tag, Woche um Woche würde sie in diesem Sommer mit den Mädchen im Camp und den Betreuerinnen, die Candy angeheuert hatte, zusammen sein. Und keiner von ihnen würde merken, wie sehr sie noch immer um ihren Vater trauerte. Oder welch vernichtenden Schlag Eric Keeton ihrem Stolz zugefügt hatte.

Eric – der vielversprechende junge Banker aus der Firma ihres Vaters, immer charmant, immer aufmerksam. Ein überaus untadeliger junger Mann. In ihrem letzten Jahr im College hatte Eden seinen Ring angenommen.

Es tat immer noch weh. Eden beeilte sich, den Schmerz unter einer ordentlichen Portion Groll zu begraben. Vor dem Spiegel band sie resolut ihr Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen. Bei dieser Frisur hätte ihren ehemaligen Coiffeur das kalte Grausen ergriffen.

Nun, es ist aber praktisch, sagte Eden trotzig zu ihrem Spiegelbild. Schließlich war Eden Carlbough jetzt eine praktische Frau. Seidiges Haar, das sanft um die Schultern wehte, wäre beim morgendlichen Reitunterricht wohl eher störend. Und genau der stand jetzt auf dem Programm.

Für einen Moment presste sie ihre Hände gegen die Stirn. Warum waren die Morgen immer am schlimmsten? Wenn sie aufwachte, hatte sie oft das Gefühl, aus einem bösen Traum aufzutauchen und wieder zu Hause zu sein. Dabei war die Villa gar nicht mehr ihr Zuhause. Fremde wohnten jetzt dort. Und Brian Carlboughs Tod war kein Albtraum, sondern grausame Realität.

Ein völlig unerwarteter Herzinfarkt ohne jegliche Vorwarnung hatte ihn über Nacht dahingerafft. Bevor Eden Zeit gehabt hatte, den Schock überhaupt zu begreifen, war schon der nächste gefolgt.

Plötzlich waren da überall Anwälte in strengen dunklen Anzügen, die lange und trockene Monologe hielten. Ihre Kanzleien rochen nach altem Leder und frischer Möbelpolitur. Mit ernsten Mienen und verschränkten manikürten Fingern hatten sie Edens Welt zum Einsturz gebracht.

Unüberlegte Investitionen war der Ausdruck, der immer wieder fiel. Schlechte Marktlage, Hypotheken, zweite Hypotheken, Kredite mit kurzer Laufzeit … Nachdem alle Details gesichtet waren, stand fest: Es blieb kein Cent vom Familienvermögen übrig.

Brian Carlbough war ein Spieler gewesen. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er sich inmitten einer Pechsträhne befunden. Ihm war keine Zeit mehr geblieben, seine Verluste wettzumachen.

Seine Tochter sah sich gezwungen, den gesamten Besitz zu liquidieren, um die aufgelaufenen Forderungen begleichen zu können. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war und das sie so sehr liebte, musste verkauft werden. Noch von Trauer betäubt, stand sie plötzlich ohne Heim und ohne Einkommen da. Erics Verrat hatte dem Ganzen dann die Krone aufgesetzt.

Eden riss die Tür des Blockhauses auf. Die frische Bergluft strich sanft über ihre Wangen. Doch sie sah nichts von den grünen Hügeln, nahm den strahlend blauen Himmel nicht wahr. Sie glaubte sich wieder in Philadelphia.

Der Skandal. Auf dem Weg zu der großen Hütte, in der der Speisesaal untergebracht war, hörte sie Erics nüchterne Stimme. Sein Ruf. Seine Karriere. Ihr war alles genommen worden, was sie liebte. Doch er dachte nur daran, welche Auswirkungen es für ihn haben könnte.

Er hatte sie nie geliebt. Eden steckte die Hände in die Taschen und ging weiter. Wie dumm von ihr, das nicht von Anfang an zu erkennen. Aber sie hatte etwas gelernt. Auf die harte Tour.

Für Eric wäre eine Heirat mit ihr nichts anderes als eine geschäftliche Verbindung gewesen, bei der ihm der Name der Carlboughs, das Vermögen der Carlboughs und die Reputation der Carlboughs zugefallen wären. Als diese Dinge nicht mehr existierten, hatte er sich aus dem Deal zurückgezogen. Schadensbegrenzung nannte man so etwas wohl in der Welt der Finanzen.

Eden verlangsamte ihre Schritte, als sie merkte, dass sie außer Atem war. Nicht weil sie zu schnell gegangen wäre, sondern weil Wut in ihr aufschäumte. Es wäre nicht gut, mit erhitzten Wangen und blitzenden Augen beim Frühstück aufzutauchen. Sie blieb einen Moment stehen, um tief durchzuatmen, und schaute sich um.

Der Morgen war noch kühl, doch bis zum Vormittag würde die Sonne die Luft aufgewärmt haben. Der Sommer hatte gerade erst Einzug gehalten.

Es war wunderschön hier. Ein halbes Dutzend kleiner Blockhäuser stand auf dem Gelände. Die Fensterläden waren alle geöffnet, um die frische Luft hereinzulassen. Helles Mädchenlachen schallte aus dem Speisesaal, wehte über den Platz. Am Wegrand zwischen Haus vier und Haus fünf wetteiferten erblühte Anemonen mit ihrer Farbenpracht. Weiter hinten stand ein alter Hartriegelstrauch, an dem sich trotzig ein paar hartgesottene Blüten hielten. Über Haus zwei zwitscherte eine Spottdrossel im Geäst.

Jenseits des Hauptplatzes fielen grüne Hügel sanft gen Westen ab. Pferde grasten friedlich, vereinzelte Bäume würden später Schatten und Schutz vor der Frühsommersonne spenden. Es war eine weite, offene Landschaft, mit einem unglaublichen Gefühl von Raum und Platz, das Eden noch immer nicht recht begreifen konnte. Ihr Leben war bisher in der Stadt verlaufen. Straßen, Verkehr, Hochhäuser, Menschenmengen – das war es, woran sie gewöhnt war.

Manchmal verspürte sie einen flüchtigen Stich von Sehnsucht nach dem, was einst gewesen war. Sie könnte es immer noch haben. Tante Dottie hatte Eden ihre Liebe angeboten – und ein Zuhause. Niemand würde jemals erfahren, wie lange und hart Eden mit der Versuchung gerungen hatte, die Einladung ihrer Tante anzunehmen. Und sich weiter durchs Leben treiben zu lassen.

Aber vielleicht lag ja auch ihr das Spielen im Blut. Warum sonst hätte sie auf die Idee kommen sollen, alles, was ihr geblieben war, in ein Sommercamp für Mädchen zu stecken?

Weil sie es versuchen musste! Deshalb. Sie musste irgendetwas tun, musste selbst etwas wagen. Ihr Leben als wohlbehütete, zerbrechliche Porzellanfigur würde sie nie wieder aufnehmen können. Hier, in dieser endlosen Weite, würde sie Zeit haben, sich selbst kennenzulernen. Wer war Eden Carlbough? Was steckte in ihr? Vielleicht, nur vielleicht, würde sie ihren Platz im Leben finden, wenn sie ihren Horizont erweiterte.

Candy hatte völlig recht. Eden holte ein letztes Mal tief Luft. Es würde klappen. Sie würden es schaffen.

»Hunger?« Mit noch feuchtem Haar, welche Dusche auch immer sie benutzt hatte, kam Candy auf Eden zu.

»Ich komme um vor Hunger.« Eden legte freundschaftlich einen Arm um Candys Schultern. »Wohin bist du denn abgetaucht?«

»Du kennst mich. Ich kann hier nichts unbeaufsichtigt lassen.« Wie auch Eden vorhin, so ließ Candy jetzt den Blick über den Platz schweifen. Auf ihrer Miene stand alles zu lesen, was sie in diesem Moment empfand – die Freude, die Angst, der Stolz. »Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Candy, du weißt doch, dass ich ein schrecklicher Morgenmuffel bin.« Sie blickte einer Gruppe Mädchen nach, die fröhlich schnatternd auf den Speisesaal zustrebten.

»Wir sind beste Freundinnen, praktisch seit wir in den Windeln lagen, Eden. Niemand weiß besser als ich, was du durchmachst.«

Nein, das wusste niemand. Und da Candy die Person war, die Eden am meisten liebte, musste sie sich noch mehr anstrengen, um die offenen Wunden vor ihr zu verbergen. »Ich habe das alles hinter mir gelassen, Candy.«

»Mag sein. Aber die Idee mit diesem Camp stammt ursprünglich von mir. Ich habe dich da mehr oder weniger mit hineingezogen.«

»Du hast mich in nichts hineingezogen. Ich wollte ein bisschen Geld investieren. Wir beide wissen doch, dass die Summe lächerlich gering war.«

»Nicht für mich. Dein Geld hat es ermöglicht, die Pferde mit ins Programm aufzunehmen. Und als du dann auch noch zugesagt hast, die Reitstunden zu übernehmen …«

»Ich muss doch meine Investition im Auge behalten«, erwiderte Eden leichthin. »Und nächstes Jahr will ich keine Teilzeit-Reitlehrerin und -Buchhalterin mehr sein. Ich bin dann eine vollwertige Betreuerin. Ich bereue gar nichts, Candy.« Und dieses Mal meinte sie es auch so. »Das Camp gehört uns.«

»Und der Bank.«

Ein Detail, das Eden mit einem Schulterzucken abtat. »Wir brauchen dieses Camp. Du, weil du so etwas schon immer wolltest und darauf hingearbeitet hast. Und ich …« Sie zögerte, dann seufzte sie. »Machen wir uns nichts vor: Ich habe nichts anderes. Das Camp garantiert mir ein Dach über dem Kopf und drei Mahlzeiten am Tag. Und es steckt mir ein Ziel. Ich werde beweisen, dass ich es schaffen kann.«

»Alle halten uns für verrückt.«

Der Stolz kehrte zurück, zusammen mit dem Gefühl einer tollkühnen Verwegenheit, die Eden gerade erst zu schätzen lernte. »Sollen sie ruhig.«

Lachend zupfte Candy an Edens Pferdeschwanz. »Komm, gehen wir frühstücken.«

Zwei Stunden später brachte Eden den ersten Reitunterricht des Tages zu Ende. Das war ihr Beitrag zu der Partnerschaft, die Candy und sie eingegangen waren. Eden war auch die Buchhaltung überantwortet worden, schon aus dem einfachen Grund, weil es auf der ganzen Welt niemanden gab, der so schlecht mit Zahlen umgehen konnte wie Candice Bartholomew.

Candy hatte die Bewerbungsgespräche geführt und die Betreuer, eine Ernährungsexpertin und eine Krankenschwester eingestellt. Sie hofften, eines Tages auch einen eigenen Swimmingpool und einen Schwimmlehrer zu haben. Doch im Moment schwammen die Mädchen noch in dem nahe gelegenen See – unter Aufsicht natürlich –, und es wurden Kunst- und Bastelkurse, Wandern und Bogenschießen angeboten.

Candy hatte das Programm ausgearbeitet, während Eden den Etat aufgestellt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das Geld reichte.

Im Gegensatz zu Candy war Eden sich keineswegs sicher, dass die erste Woche im Camp die schwierigste sein würde. Candy hatte die Ausbildung und die Qualifikationen, um ein Sommercamp zu leiten. Aber Edens optimistische Partnerin besaß ebenso das beneidenswerte Talent, Details wie rote Zahlen in den Bilanzen vollkommen zu ignorieren.

Eden verdrängte die Gedanken und gab den Mädchen von der Mitte des Reitplatzes aus ein Zeichen. »Für heute war’s das.« Sie besah sich die sechs jungen Gesichter unter den schwarzen Reitkappen. »Ihr macht euch gut.«

»Wann lernen wir denn, zu galoppieren, Miss Carlbough?«

»Nachdem ihr Traben gelernt habt.« Sie klopfte einem der Pferde auf die Flanke. Wie wunderbar wäre es, über die hügelige Landschaft zu galoppieren, so schnell, dass nicht einmal die Erinnerungen folgen konnten. Albern, schimpfte Eden sich in Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Mädchen. »Steigt jetzt ab und geht eure Pferde versorgen. Denkt daran: Sie sind auf euch angewiesen.« Der Wind blies ihr die Haarsträhnen ins Gesicht, und sie strich sie abwesend zurück. »Vergesst nicht, das Zaumzeug wieder an seinen Platz zu hängen, damit die nächste Gruppe es findet.«

Wie erwartet, erfolgte ein kollektives Stöhnen. Reiten und mit den Pferden spielen war eine Sache, die Arbeit danach eine ganz andere. Dass sie Disziplin erreicht hatte, ohne Trotz und Aufsässigkeit geschürt zu haben, verbuchte Eden als Erfolg für sich.

In der letzten Woche hatte sie gelernt, die Namen der Mädchen den Gesichtern zuzuordnen. Der Enthusiasmus der elf- bis zwölfjährigen Mädchen ihrer Gruppe ließ sie durchhalten, vor allem, weil sie in dreien von ihnen wahre Pferdenarren erkannt hatte. Das war sie in ihrer Teenagerzeit auch gewesen. Es war ein gutes Gefühl, die aufgeregten Fragen der erhitzten Mädchen zu beantworten. Schließlich jedoch hatte sie alle so weit, dass eine nach der anderen mit den Pferden in Richtung Ställe zog.

»Eden!«

Sie drehte sich um und sah, dass Candy auf sie zurannte. Selbst auf die Entfernung hin war zu erkennen, wie aufgelöst sie war.

»Was ist denn passiert?«

»Es fehlen drei Mädchen!«

»Was?!« Panik rollte heran, wollte Eden verschlingen, doch Jahre der Erziehung hielten sie im Zaum. »Was heißt das, sie fehlen?«

»Das heißt, sie sind nirgendwo im Camp zu finden. Roberta Snow, Linda Hopkins und Marcie Jamison.« Wenn Candy sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, dann war das immer ein Zeichen von Anspannung. »Barbara wollte mit ihrer Gruppe zum Rudern gehen, doch die drei sind nicht aufgetaucht. Wir haben sie überall gesucht.«

»Wir dürfen nicht in Panik ausbrechen.« Damit ermahnte Eden sich selbst ebenso wie Candy. »Roberta Snow? Ist das nicht die kleine Brünette, die einem anderen Mädchen eine Eidechse in die Bluse gesteckt hat? Und die die Weckglocke am ersten Tag auf drei Uhr morgens eingestellt hat?«

»Richtig, das ist sie. Der kleine Engel«, meinte Candy mit zusammengebissenen Zähnen. »Richter Snows Enkelin. Falls sie sich auch nur die Knie aufschlägt, landen wir wahrscheinlich vor dem Kadi.« Candy schüttelte leicht den Kopf. »Das letzte Mal, als sie gesehen wurde, soll sie in diese Richtung gegangen sein.« Mit einem von ihrem Malkurs farbverschmierten Finger zeigte sie nach Osten. »Die anderen Mädchen hat niemand gesehen, aber ich gehe jede Wette ein, dass sie mit Roberta zusammen sind. Die süße Kleine ist nämlich die geborene Unruhestifterin.«

»Wenn sie in diese Richtung gehen, landen sie dann nicht auf der Apfelplantage?«

»Genau.« Candy schloss die Augen. »Ich würde ja selbst gehen, aber in zehn Minuten habe ich meine nächste Gruppe – Töpfern. Eden, ich bin eigentlich ziemlich sicher, dass sie zu der Plantage gelaufen sind. Eines der anderen Mädchen hat zugegeben, dass sie sich ein paar Äpfel zum Probieren holen wollten. Wir wollen wirklich keinen Ärger mit dem Besitzer bekommen. Er lässt uns den See auf seinem Land nur benutzen, weil ich ihn schamlos angebettelt habe. Er war nicht unbedingt begeistert, ein Sommercamp für Mädchen als neue Nachbarn zu bekommen.«

»Nun, jetzt hat er uns aber als Nachbarn«, meinte Eden resolut, »und wir alle müssen uns daran gewöhnen. Da ich diejenige bin, die hier am leichtesten erübrigt werden kann, gehe ich ihnen nach.«

»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Ehrlich, Eden, wenn sie sich in die Apfelplantage geschlichen haben – und ich verwette meinen letzten Cent darauf, dass sie das getan haben –, dann sind wir dran. Der gute Mann hat keinen Zweifel daran gelassen, wie er zu seinem Privatbesitz steht.«

»Drei kleine Mädchen können ein paar Apfelbäumen wohl nicht allzu viel antun, oder?« Eden setzte sich in Bewegung.

Candy lief hektisch neben ihr her. »Wir reden von Chase Elliot! Du weißt schon, von Elliot Apples. Saft, Cidre, Mus, Gelee, Apfelstückchen in Schokolade – alles, was sich aus Äpfeln produzieren lässt, produzieren sie auch. Er hat unmissverständlich klargemacht, dass er keine kleinen Mädchen in seinen Bäumen herumklettern sehen will.«

»Er wird sie auch nicht sehen. Weil ich sie vorher finde und da raushole.« Eden kletterte über einen Zaun und ließ Candy zurück.

»Roberta legst du besser an die Leine, sobald du sie findest!«, rief Candy ihr nach.

Eden verschwand im Espenhain. Ein zerknülltes Bonbonpapier lag auf dem Boden. Roberta. Mit einem grimmigen Lächeln hob Eden es auf und steckte es sich in die Tasche. Richter Snows Enkelin war bereits allseits bekannt für den Vorrat an Süßigkeiten, den sie mitgebracht hatte.

Inzwischen war es warm geworden. Der Pfad schlängelte sich unter hohen Espen hindurch. Die Sonne fiel durch das Blätterdach und ließ goldene Punkte auf dem Waldboden tanzen. Dieser Spaziergang, obwohl eine Mission, war auch angenehm. In den Baumkronen hüpften Eichhörnchen von Ast zu Ast, sie ließen sich von Eden nicht stören. Einmal jagte sogar ein Kaninchen quer über den Weg und verschwand raschelnd im Unterholz. Irgendwo hämmerte ein Specht an einen Baumstamm.

Eden schoss der Gedanke in den Kopf, dass sie noch nie so allein gewesen war. Kein einziges Zeichen von Zivilisation. Sie bückte sich erneut, um ein weiteres Papierchen aufzuheben. Nun gut – fast kein Zeichen.

Neue Gerüche strömten auf sie ein – Erde, Waldtiere, Pflanzen. Wildblumen reckten ihre Blütenköpfe aus dem Grün, weit widerstandsfähiger als Rosen aus dem Gewächshaus.

Eden freute sich darüber, dass sie inzwischen einige sogar mit Namen nennen konnte. Diese Blumen wuchsen Jahr für Jahr neu, ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Sie kamen immer wieder zurück, begnügten sich mit dem, was sich ihnen bot, und machten das Beste daraus. Sie waren wie ein Symbol der Hoffnung für Eden. Sie könnte hier ihren Platz finden. Nein, sie hatte ihn schon gefunden, verbesserte sie sich still. Ihre Freunde in Philadelphia mochten sie für verrückt halten. Aber sie fing an, es hier zu genießen.

Der Espenhain war abrupt zu Ende. Die Sonne stand strahlend am Himmel und blendete Eden. Blinzelnd beschattete sie die Augen mit der Hand und sah zu der Elliot-Plantage hinüber.

Apfelbäume, so weit das Auge reichte. Nach Norden, Süden, Westen, Osten. Reihe um Reihe zogen sie sich über die sanften Hügel, manche alt und knorrig, andere jung und schlank. Eden stellte sich vor, wie wunderschön es hier im Frühling sein musste, wenn die Bäume in voller Blüte standen und die Luft mit ihrem süßen Duft erfüllten.

Überwältigend schön, dachte sie und trat an den Zaun, der den Besitz begrenzte. Ein Meer aus zarten weißen Blüten, inmitten hellgrüner Blätter, das musste einfach betörend sein. Jetzt waren die Blätter von einem dunklen, kräftigen Grün. Eden konnte in den Bäumen, die ihr am nächsten standen, die Früchte hängen sehen. Klein, schimmernd und grün, warteten sie darauf, dass die warme Sommersonne sie reifen lassen würde.

Wie oft in ihrem Leben hatte sie schon Apfelmus gegessen, das seinen Weg genau hier begonnen hatte? Bei dem Gedanken musste sie lächeln, während sie über den Zaun kletterte. Vor allem, weil sie sich immer einen kleinen Apfelhain vorgestellt hatte, gepflegt und gehegt von einem liebenswerten alten Kauz im Overall. Ein malerisches Bild, zudem ein schiefes, das mit der beeindruckenden Realität nichts gemeinsam hatte.

Ein Kichern drang an ihre Ohren. Eden drehte sich in die Richtung, aus der es gekommen war. Ein Apfel fiel von einem Baum und rollte ihr genau vor die Füße. Eden bückte sich und warf ihn mit Schwung fort, während sie auf den Baum zuging. Als sie aufschaute, sah sie drei Paar Turnschuhe auf den Ästen zwischen den Blättern leuchten.

»Meine Damen.« Eden hielt ihre Stimme kühl, prompt erfolgten drei erschreckte leise Laute. »Anscheinend habt ihr euch auf dem Weg zum See verlaufen.«

Robertas sommersprossiges Gesicht erschien zwischen den Blättern. »Hi, Miss Carlbough. Möchten Sie auch einen Apfel?«

Das freche Gör! Doch noch während sie das dachte, musste Eden sich ein Grinsen verkneifen. »Runter«, sagte sie nur und trat näher an den Stamm, um zu helfen.

Die drei brauchten keine Hilfe. Innerhalb kürzester Zeit standen drei Mädchen sicher auf dem Boden vor Eden.

Die eine Augenbraue kritisch hochzog – eine Geste, die einschüchternd wirken sollte. »Ich bin mir sicher, ihr wisst, dass das Verlassen des Camps ohne Aufsicht und ohne Erlaubnis gegen die Regeln verstößt.«

»Ja, Miss Carlbough.« Die Antwort hätte betreten wirken können, wäre da nicht das spitzbübische Funkeln in Robertas Augen gewesen.

»Da offensichtlich keiner von euch Lust hatte, heute rudern zu gehen … In der Küche bei Mrs. Petrie gibt es jede Menge zu tun.« Eden war zufrieden mit sich über ihren Einfall. Candy würde bestimmt dazu gratulieren. »Ihr meldet euch erst bei Miss Bartholomew, und danach zum Küchendienst bei Mrs. Petrie.«

Nur zwei der Mädchen ließen die Köpfe hängen und starrten auf ihre Fußspitzen.

»Halten Sie es für fair, uns Küchendienst aufzubrummen, Miss Carlbough?« Roberta, den angebissenen Apfel noch immer in der Hand, hob ihr Kinn. »Immerhin bezahlen unsere Eltern für das Camp.«

Edens Handflächen wurden feucht. Richter Snow war ein extrem wohlhabender und einflussreicher Mann. Zudem war allgemein bekannt, dass er seine Enkelin anbetete. Sollte dieses kleine Biest sich beschweren … Nein! In Gedanken atmete Eden tief durch. Sie würde sich nicht von diesem aufmüpfigen Zwerg einschüchtern oder gar erpressen lassen.

»Richtig, Roberta. Eure Eltern haben dafür bezahlt, dass ihr schöne Ferien verbringt und etwas lernt. Disziplin gehört ebenso dazu. Als sie euch in Camp Liberty angemeldet haben, geschah das in dem Einverständnis, dass ihr euch an die aufgestellten Regeln haltet.« Sie blickte die Mädchen nacheinander an. »Aber wenn ihr darauf besteht, kann ich natürlich gern eure Eltern anrufen und den Vorfall mit ihnen besprechen.«

»Nein, Ma’am, das wird nicht nötig sein.« Roberta wusste, wann sie den Rückzug anzutreten hatte. »Wir helfen Mrs. Petrie gern in der Küche, und es tut uns leid, dass wir die Regeln nicht beachtet haben«, fügte sie mit einem gewinnenden Lächeln hinzu.

Sicher, und wenn ich nicht aufpasse, verkaufst du mir auch noch eine Waschmaschine, dachte Eden, doch sie ließ sich nichts anmerken. »Gut. Dann auf jetzt, zurück zum Camp.«

»Meine Kappe!« Roberta wäre auf den Baum zurückgeklettert, hätte Eden sie nicht im letzten Moment festgehalten. »Sie hängt noch da oben an dem Ast. Bitte, Miss Carlbough!«, quengelte der kleine Satansbraten. »Das ist meine Phillies-Kappe! Da sind Autogramme von allen Spielern drauf!«

Eden nickte. Ihre eigene Begeisterung für Baseball hielt sich in Grenzen, selbst wenn es um das Team ihrer Heimatstadt ging. Aber sie konnte sich durchaus vorstellen, was eine handsignierte Kappe der Philadelphia Phillies einem Fan bedeutete. Noch dazu einem zwölfjährigen Mädchen. Noch dazu der Enkelin von Richter Snow. »Ihr geht zurück. Ich hole sie«, bestimmte sie. »Miss Bartholomew soll sich nicht noch länger Sorgen um euch machen.«

»Wir entschuldigen uns bei ihr.«

»Das ist auch mehr als angebracht.« Eden sah den dreien nach, wie sie über den Zaun kletterten. »Und keine Umwege!«, rief sie. »Oder ich konfisziere die Kappe.« Ein Blick auf Roberta überzeugte sie, dass diese Drohung ausreichte. »Monster«, murmelte sie grinsend, als die drei über den Weg unter den Espen rannten.

Sie drehte sich wieder um und schaute an dem Baum hoch. Das Grinsen schwand. Alles, was sie nun tun musste, war, dort hinaufzuklettern. Bei Roberta und ihren Komplizinnen hatte es eigentlich recht einfach ausgesehen. Jetzt allerdings wirkte es irgendwie nicht mehr so leicht.

Eden reckte die Schultern, machte einen Schritt vor und griff nach einem tief hängenden Ast. Früher war sie alljährlich in die Schweiz gefahren, zum Bergsteigen. So viel schwerer konnte das hier nicht sein.

Sie zog sich hoch und verkantete den Fuß am ersten Aststumpf, der sich bot. Die Rinde fühlte sich rau an ihren Händen an. Eden konzentrierte sich auf ihre Aufgabe und ignorierte die Abschürfungen. Beide Füße sicher verankert, griff sie nach dem nächsten Ast. Stück für Stück arbeitete sie sich nach oben. Blätter streiften über ihr Gesicht.

Dann sah sie die Kappe. Sie hing an einem kurzen Ast, knapp einen Meter über ihr. Als Eden den Fehler machte und nach unten sah, zog sich ihr Magen ungut zusammen. Also sieh nicht hinunter, befahl sie sich. Was du nicht sehen kannst, kann dir auch nichts antun. Hoffte sie. Inständig.

Vorsichtig reckte sie sich nach der Kappe. Als ihre Finger sie endlich fühlten und fassten, stieß Eden einen erleichterten Seufzer aus. Sie setzte sich die Kappe auf. Dann wurde ihr Blick unwillkürlich von dem Bild angezogen, das sich ihr darbot.

Von hier oben aus der Vogelperspektive konnte sie die ganze Plantage übersehen. Die perfekte Symmetrie der Anlage fesselte sie. Es war unsagbar faszinierend. Hinter dem Wäldchen konnte sie noch das leuchtende Blau des Sees erkennen. Weiter hinten lagen scheunenähnliche große Gebäude und etwas, das wie ein Gewächshaus aussah. Vielleicht eine Viertelmeile entfernt stand ein Pick-up auf einer staubigen Lehmstraße geparkt. Jetzt, da es wieder still geworden war, nahmen die Vögel ihren Gesang erneut auf. Eden drehte den Kopf, als ein zitronengelber Schmetterling vorbeiflog, und sah ihm nach.

Die Aromen von Blättern, Obst und Erde vermischten sich zu einem urwüchsigen Geruch. Eden konnte nicht widerstehen, sie streckte die Hand aus und pflückte einen sonnenwarmen Apfel.

Der eine wird sicher nicht fehlen, entschied sie und biss herzhaft hinein. Der Apfel war noch nicht ganz reif, und sein herber Geschmack ließ in Sekundenbruchteilen ihre Geschmacksknospen aufblühen. Eden erschauerte leicht. Es war eine geradezu sinnliche Erfahrung. Sie nahm den zweiten Bissen. Köstlich! Das war alles, was sie denken konnte. Köstlich und aufregend. Aber das sagte man ja wohl im Allgemeinen von verbotenen Früchten. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie zum dritten Mal in den Apfel biss.

»Was, zum Teufel, tust du da?«

Erschreckt zuckte Eden zusammen. Sie wäre fast vom Baum gefallen, als die donnernde Stimme zu ihr hinaufschallte. Erst schluckte sie hastig den Bissen im Mund herunter, bevor sie nach unten schaute.

Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Schlanke Hüften. Ein Hemd aus ausgewaschenem Jeansstoff spannte sich über breiten Schultern, aufgerollte Hemdsärmel gaben den Blick auf gebräunte, athletische Unterarme frei.

Mit einem mulmigen Gefühl richtete Eden die Augen auf sein Gesicht. Es war sonnengebräunt wie seine Arme. Er hatte ausgeprägte Wangenknochen und eine lange Nase, die nicht wirklich gerade war. Die vollen Lippen presste er jetzt gerade zusammen. Ungebändigtes schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn und über den Hemdskragen. Helle grüne Augen, unglaublich klar, sahen böse zu ihr auf.

Ein Apfel, Eden und jetzt auch noch die Schlange. Der Vergleich schoss ihr in den Kopf, ohne dass sie richtig überlegt hatte. Na großartig! Da war sie also vom Vorarbeiter beim Apfelstibitzen erwischt worden. Da unauffälliges Verschwinden unmöglich war, öffnete sie den Mund, um zu einer Erklärung anzusetzen.

»Gehörst du etwa zum Camp, junge Lady?«

Die Frage und der Ton ließen Eden die Stirn runzeln. Sie mochte keinen Cent mehr haben, sie mochte ihren Lebensunterhalt zusammenkratzen müssen, aber sie war immer noch eine Carlbough. Und eine Carlbough konnte ganz sicherlich mit dem Vorarbeiter einer Apfelplantage umgehen. »Stimmt, ich gehöre zum Camp. Ich würde gern …«

»Dir ist klar, dass das hier Privatbesitz ist, in den du unbefugt eingedrungen bist?«

Das Blau ihrer Augen verdunkelte sich, das einzige sichtbare Zeichen von Verlegenheit und Wut. »Ja, das weiß ich, aber …«

»Diese Bäume hier wurden nicht gepflanzt, damit kleine Mädchen darauf herumklettern können.«

»Ich glaube kaum …«

»Komm sofort da runter.« Das war definitiv ein Befehl. »Ich werde dich zur Leiterin des Camps bringen.«

Das Temperament, das Eden bisher immer mühelos im Zaum hatte halten können, begann zu brodeln. Sie spielte ernsthaft mit dem Gedanken, ob sie diesem Mann da nicht ihren angebissenen Apfel an den Kopf werfen sollte. Niemand, aber wirklich absolut niemand, gab Eden Carlbough Befehle. »Das wird kaum nötig sein.«

»Ich entscheide, was nötig ist und was nicht. Komm runter.«

Oh ja, sie würde von dem Baum herunterkommen. Und dann würde sie diesen Rüpel mit ein paar wohl gewählten Worten auf den Platz verweisen, auf den er gehörte.