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Ängste können wie ein hilfreiches Alarmsystem wirken. Es gibt aber auch die Angst vor der Angst, die einen einschließt wie in einem Gefängnis. Sie verhindert ein Leben in Fülle. Von solcher Angst frei zu werden ist ein wichtiges Ziel. Anselm Grün geht es um spirituelle Wege: mit seiner Angst ins Gespräch zu kommen, sein Herz aus der Enge zu befreien und neuen Mut zu schöpfen.
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Seitenzahl: 188
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Anselm Grün
Verwandle deine Angst
Ein Weg zu mehr Lebendigkeit – Spirituelle Impulse
Titel der Originalausgabe: Verwandle deine Angst
Ein Weg zu mehr Lebendigkeit – Spirituelle Impulse
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011, 2014
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagkonzeption und -gestaltung:
Agentur R·M·E, R. Eschlbeck und Team
(Kornelia Bunkofer, Liana Tuchel)
Umschlagfoto: © Gettyimages
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80445-8
ISBN (Buch): 978-3-451-06420-3
Inhalt
Einleitung
Die Angst, sich auf Neues einzulassen
Die Angst, die lähmt
Die Angst, sich zu blamieren
Die Angst vor dem Unbekannten in uns
Die Angst, verletzt zu werden
Die Angst, allein gelassen zu werden
Die Angst um unsere Beziehungen
Die Angst um sich selbst
Die Angst, keinen Boden unter den Füßen zu haben
Die Angst vor Gott
Die Angst, nicht zu genügen
Die Angst vor der Zukunft
Die Angst vor dem Tod und die Auferstehung Jesu
Die Überwindung der Angst im Gebet
Erlösung als Befreiung aus der Angst
Die Angst in der Welt
In der Liebe gibt es keine Angst
Furcht Gottes – Anfang der Weisheit
Schluss
Literatur
Über das Phänomen der Angst gibt es zahlreiche psychologische Bücher. Schon das ist ein Zeichen dafür, dass dieses Thema heute viele Menschen bewegt. Es ist das Thema, das immer wieder, und in jüngster Zeit verstärkt, auch in Gesprächen auftaucht, die ich führe. Als ich anfing, mich selbst intensiver mit der Angst und ihrer Verwandlung zu beschäftigen, fiel mir erst auf, wie häufig meine Gesprächspartner aus sich heraus davon und von ihren Versuchen erzählten, damit umzugehen. Das Thema begegnet mir immer wieder in den verschiedensten Situationen. Menschen sprechen von ihrer Angst vor der Zukunft, von drohender Arbeitslosigkeit und davon, dass sie dann die finanziellen Belastungen des Haushalts nicht mehr bewältigen können. Sie kommen aber auch unabhängig von der momentan schwierigen wirtschaftlichen Lage, der gegenüber sie sich ohnmächtig empfinden, immer wieder auf das Thema zu sprechen – ob von Krankheit die Rede ist oder vom Älterwerden, ob es um die Angst, verlassen zu werden geht oder um die Angst vor Verletzung und Ablehnung, um die Angst, im Leben zu scheitern und es nicht zu schaffen oder um die Angst vor dem Sterben. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die so wohlhabend ist wie nie zuvor in der Geschichte, die über früher undenkbare technische Möglichkeiten verfügt und in der es gegen alle möglichen Risiken Versicherungen gibt. Und doch spüren viele Menschen heute in ihrem Leben Unsicherheit, sie fühlen sich von angstauslösenden Faktoren geradezu umzingelt.
Angst ist natürlich nichts Neues, sondern etwas, was die Menschen seit jeher beschäftigt hat. Und doch scheint unsere Zeit und unsere Gesellschaft heute in besonderer Weise von diesem Lebensgefühl geprägt zu sein, so sehr, dass der Psychologe Wolfgang Schmidbauer sogar von der „Generation Angst“ gesprochen hat. Das hat sicher auch viele Gründe, die nicht nur aktuell bedingt sind. Nach dem Krieg haben viele die Ängste, die sie in Luftschutzbunkern erlebt hatten und die auf der Flucht ihre ständigen Begleiter waren, einfach verdrängt. Sie wollten von der Angst nichts mehr wissen, haben sie gleichsam abgelegt, um sich den Problemen des Überlebens zu widmen. Man könnte auch sagen: Sie sind vor ihrer Angst davongelaufen, indem sie in die Aktivität flüchteten. Doch heute werden viele verlassene Kriegskinder von den alten Ängsten eingeholt. Die Verdrängung hatte sie dazu geführt, einfach zu funktionieren und die eigenen Gefühle zu übergehen. Heute drängen diese Emotionen mit Macht an die Oberfläche. Mit der Angst steigt zugleich die Sehnsucht auf, das eigene Leben anzuschauen, darüber zu sprechen und sich damit auszusöhnen.
Der russische Romanautor Daniil Granin beschreibt sein eigenes Leben in einem autobiographischen Rückblick unter dem einprägsamen Stichwort „Jahrhundert der Angst“. Er meint damit die Erfahrung des Krieges und das Leben unter einem totalitären Staat. Auch bei Menschen, bei denen die Erfahrung des Totalitarismus nicht so tief greifend oder lang anhaltend war, können weit zurückliegende Erfahrungen eine starke Nachwirkung haben. Die Angst, die heute viele Menschen der älteren Generation bewegt, kann in der Tat mit den verdrängten Ängsten der Kriegsgeneration zusammen hängen. Sie beschränkt sich aber nicht auf eine Altersstufe und sie hat auch neue Wurzeln. Während der Weg nach dem Krieg immer nur bergauf ging, scheint er jetzt nach unten zu führen, in ein nebliges Tal. Dort unten ist es dunkel und kalt. Man fühlt sich nicht wohl in diesem Tal. Eine undurchsichtige Zukunft macht unsicher. Und vieles, was dort unten geschieht, erzeugt Angst. In der Arbeitswelt ist ein rauer Ton an der Tagesordnung. Eine Frau erzählte kürzlich von ihrem Büroalltag, der seit einiger Zeit geprägt ist von einem stets brüllenden Chef und Kolleginnen, die sich aus Furcht ducken. Das Beispiel zeigt, wie verflochten die Situation ist: Die aggressiven Angstmacher sind selbst voller Angst. Und so verbreiten sie um sich herum immer mehr Angst und verstärken die Unsicherheit in ihrer Umgebung. Es braucht schon ein starkes Selbstvertrauen, um sich von dieser angstbesetzten Atmosphäre nicht anstecken zu lassen. Doch nicht nur im kleinen Raum der individuell erfahrbaren Arbeitswelt ist das Klima infiziert. Auch die Zukunftsprognosen der Politiker und Wirtschaftsforscher erzeugen Angst. Die organisierte Kriminalität und die terroristischen Netzwerke lassen manche vor Angst kaum mehr schlafen: Die ganze Welt verwandelt sich für sie in ein angstbesetztes dunkles Szenario der Bedrohung.
Es handelt sich bei all dem nicht um etwas Irreales. Die Menschen haben reale Ängste. Eine der wichtigsten Ängste kreist um die eigene Zukunft, nicht nur um die wirtschaftliche, sondern auch um die gesundheitliche und um die familiäre Zukunft, um die Frage, ob die Beziehung in der Ehe hält, ob die Familie zusammenhält. Neben diesen realen Ängsten gibt es auch irrationale – etwa die Angst vor der Angst. Viele Menschen werden davon geplagt. Sie haben Angst, die Angst könne derart Besitz von ihnen ergreifen, dass sie davon gelähmt und am Leben gehindert werden. Immer mehr Menschen leiden heute unter Panikattacken. Die Angst hindert sie, nach draußen zu gehen. Sobald sie in einem engen Raum sind, ergreift sie Panik. Sie müssen augenblicklich heraus aus der Enge, um sich überhaupt aushalten zu können. Angst wird hier bedrohlich.
Daniil Granin bezieht sich in seinem Buch über das „Jahrhundert der Angst“ auf eine Definition der alten Griechen: „Schreck ist Angst, die erstarren lässt. Scham ist Angst vor dem Verlust der Ehre. Krankhafte Verzagtheit, Furcht ist Angst vor dem Handeln. Entsetzen ist Angst, die einem die Sprache verschlägt. Qual ist die Angst vor dem Unbestimmten.“ (Granin 6) Schon die Griechen der Antike kannten also die Angst in vielen Ausprägungen. So zeigt sich auch bei uns die Angst in vielen Facetten. Wenn man sie auf ihre Funktion hin befragt, dann könnte man von einem Doppelgesicht sprechen: Es gibt die Angst, die uns zittern lässt. Aber es gibt auch Ängste, die uns auf etwas Wichtiges in unserer Umwelt oder in unserer Seele hinweisen. Es gibt die Angst, die uns auf Gefahren verweist. Und es gibt die Angst, die uns mahnt, unser Maß nicht zu überschreiten.
Psychologen und Philosophen sind sich darüber einig, dass Angst nicht nur etwas Schlechtes ist. Angst ist für den Menschen notwendig. „Sie ist ein Alarmsystem, das uns vor Bedrohungen warnt,“ sagt der Psychologe Heinrich von Stietencron. Die Angst zeigt mir immer, dass ich mich bedroht fühle. Und sie regt mich an, mich gegen die Bedrohungen zu schützen. Angst kann Kräfte in mir mobilisieren, damit ich wachsamer und achtsamer auf Gefahren reagiere. Die Bedrohungen, auf die die Angst in uns reagiert, können von außen und von innen kommen. Die Angst bezieht sich dabei nie nur auf ein „Wovor“, sondern immer auch auf ein „Worum“. Worum habe ich Angst? Habe ich um Menschen Angst, die mir lieb sind? Oder habe ich um mich selbst Angst, um mein Leben, meine Gesundheit, mein Heil? In unserer Angst steckt also letztlich Hoffnung auf Leben. Letztlich ist Angst „Ausdruck von Begrenztheit und Vergänglichkeit, aber zugleich Ausdruck auch von Hoffnung und Verlangen“, sagt der Philosoph Ulrich Hommes. Er verweist auf Franz Kafka, dessen Werk wesentlich um die Angst kreist. Kafka hat in der Angst letztlich die Sehnsucht nach Leben und Liebe gesehen. In einem Brief an seine Verlobte schreibt er einmal: „Allerdings ist diese Angst vielleicht nicht nur Angst, sondern auch Sehnsucht nach etwas, was mehr ist als alles Angsterregende.“ Hier ist etwas ganz Wichtiges gesehen. Daher geht es in diesem Buch auch nicht darum, zu zeigen, wie wir alle Ängste überwinden zu können. Es geht vielmehr darum, dass wir lernen, mit der Angst zu leben. Sobald ich mich aussöhne mit meiner Angst, wandelt sie sich. Sie ist weiterhin da. Aber sie hat mich nicht mehr im Griff. Angst gehört wesentlich zum Menschen. Ohne Angst hätten wir kein Gespür für das rechte Maß. Wir würden uns ständig überfordern. Die Angst zeigt mir meine Grenzen auf. Und normalerweise soll ich meine Angst ernst nehmen. Sie zeigt mir, dass ich hier nicht weiter gehen soll, da ich sonst Gefahr laufe, in einen Abgrund hinabzustürzen.
Die Angst weist uns auf unsere Grenzen hin. Doch in uns ist auch eine Tendenz, grenzenlos zu sein. Eugen Drewermann sieht in seiner tiefenpsychologischen Auslegung der Schöpfungsgeschichte die Urversuchung von Adam und Eva darin, sein zu wollen wie Gott, ohne die Begrenzung durch unseren Leib und unsere Psyche zu akzeptieren. Auch der Psychologe Willi Butollo sieht die Angst im Zusammenhang mit dem Thema Grenze und Grenzenlosigkeit: „An die Grenzen der eigenen Macht zu stoßen, erzeugt für das denkende Ich enorme Angst, existentielle Angst. Wenn der Mensch an die Grenzen seiner Macht erinnert wird, dann ist das für den Teil in ihm, der sich selbst als grenzenlos, gottgleich sehen möchte, eine existentielle Bedrohung.“ (Butollo 186) Die Angst hat also die positive Funktion, mich immer wieder an meine Grenzen und meine Menschlichkeit zu erinnern. Ohne Angst verlieren wir das Gespür für unsere Menschlichkeit. Wir übernehmen uns. So hat die Angst die Funktion, unsere Fassaden und Masken zu zerstören und uns menschlicher und zugleich entwicklungsfähiger zu machen (vgl. auch Herrad Schenk, Psychologie heute, August 2005, 27).
Aber es gibt Ängste, die mich am Leben hindern. In mir kann Angst aufsteigen, ohne dass ich vor einem Abgrund stehe. Irgendetwas in mir wird eng. Ich kann es oft nicht verstehen. Die Angst lähmt mich. Ich kann nicht weiter. Sie bedroht mich. Alles in mir zieht sich zusammen. Ich weiß nicht mehr, wie ich reagieren soll. Solche Ängste können zerstörerisch sein. Sie schließen mich wie in einem Gefängnis ein, aus dem ich nicht ausbrechen kann. Mein Leben reduziert sich immer mehr. Die Angst verhindert ein Leben in Fülle, wie es uns Jesus versprochen hat (Joh 10,10). Von solcher Angst möchte ich frei werden. Der normale Weg, sich von der Angst zu befreien, besteht darin, sie anzuschauen und mit ihr ins Gespräch zu kommen. Dann kann ich erkennen, was die Angst mir sagen will: Ob sie mich auf meine Grenzen hinweist oder aber auch auf neurotische Muster, die sich in mich eingegraben haben und mich am Leben hindern. Wenn die Angst größer ist als die reelle Gefährdung, dann weist sie immer auf neurotische Störungen hin. Solche neurotischen Ängste behandelt die Therapie. Doch in diesem Buch soll es nicht um die klassische Therapie gehen, sondern um spirituelle Wege, mit der Angst umzugehen. Im Zentrum stehen soll, was ich die Angsttherapie Jesu nennen will. Als ich die Bibel zu dem Thema Angst befragte, kamen mir wichtige Einsichten, die auch für jede psychologische Therapie charakteristisch sind. Doch zugleich zeigte sich mir immer klarer: Die biblischen Texte haben eine eigene Kraft, die Angst zu verwandeln. Sie überspringen die Angst nicht, sondern lassen sie zu. Aber sie laden uns ein, sie anzuschauen und sie auszuhalten und sie in die Begegnung mit Gott einzubringen. Die Art, mit der Jesus angsterfüllte Menschen behandelt, wie er sie berührt und wie er sie anspricht und mit ihnen über ihre Angst und den Weg der Verwandlung spricht, zeigt uns Jesu Weisheit und sein Gespür, sich auf jeden Einzelnen behutsam und achtsam einzulassen.
Manchmal kenne ich in mir selber eine eigenartige Angst. Im sonntäglichen Konventamt taucht etwa die Angst auf, dass der Mitbruder, der zum Predigen eingeteilt wurde, auch wirklich da ist. Vielleicht hat er es vergessen. Dann höre ich bei der Verkündigung des Evangeliums genau hin und überlege mir, was ich jetzt spontan predigen könnte, wenn der zum Predigen bestimmte Mitbruder es vergessen hätte. Mit dieser Angst hörte ich am 12. Sonntag im Jahreskreis aufmerksam das Evangelium aus Matthäus 10,26 – 33. In diesem Evangelium fordert Jesus die Jünger dreimal auf: „Fürchtet euch nicht!“ Beim Hören des Evangeliums kam mir der Gedanke, dass Jesus hier auf drei verschiedene Weisen von Angst antwortet und eine Therapie für unsere ganz verschiedenartigen Ängste anbietet. Das hat mich dazu ermutigt, in der Bibel genauer nachzusehen, was sie uns zum Thema Angst sagt und was sie uns für den Umgang mit der Angst rät. Und in der Tat: In der Bibel habe ich viele Ängste wiedergefunden, die heute die Menschen bedrücken. Es war für mich interessant, die Ängste der Menschen, die vor zweitausend Jahren Jesus begegnet sind, mit den heutigen Ängsten zu vergleichen und die heutigen Ängste im Licht dieser alten Texte zu sehen und zu verstehen.
Wenn ich in diesem Buch von der Bibel und ihrem Umgang mit der Angst ausgehe, so möchte ich damit nicht den therapeutischen Umgang mit der Angst übergehen. Oft sind die Ängste so stark, dass sie einer Therapie bedürfen. Doch nicht jede Angst muss ich in einer Therapie verarbeiten. Die Bibel gibt uns spirituelle Wege an, wie wir mit unserer Angst umgehen können. Diese spirituellen Wege helfen uns, mit den normalen Ängsten, die einfach zu unserem Leben gehören, besser umzugehen. Aber die spirituellen Wege sind auch hilfreich, wenn wir von neurotischen Ängsten geplagt werden. Sie möchten die Therapie nicht ersetzen. Doch auch in einer Therapie ist es sinnvoll, diese spirituellen Wege zu gehen. Sie unterstützen den therapeutischen Prozess.
Mir ist bei der Beschäftigung mit den vier Evangelien aufgegangen, wie gut Jesus den Menschen kennt. Es hat mich fasziniert, wie Jesus auf die verschiedenen Ängste reagiert, die er in den Menschen wahrnimmt. Ich lese die Bibel natürlich immer auch vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen mit den Menschen, die ich begleite. Daher beschränke ich mich nicht auf die historische oder theologische Auslegung. Ich versuche, die biblischen Texte immer auch durch eine psychologische Brille zu betrachten. Dies ist sicher nur eine Weise, mit der Bibel umzugehen. Und damit möchte ich die vielen anderen Auslegungsweisen auch nicht abwerten. Es gibt immer viele Wege, sich dem Geheimnis der Bibel zu nähern. Ich habe beim Lesen der vier Evangelien nicht nur die Weisheit Jesu neu entdeckt, sondern auch die Weisheit der Evangelisten. Jeder hat offensichtlich andere Erfahrungen mit der Angst gemacht und Jesus daher auf seine ganz persönliche Weise als Angsttherapeut beschrieben.
Schon seit einigen Jahren werde ich immer wieder gefragt, ob ich das Thema Angst einmal behandeln möchte. Ich habe mich bisher immer geweigert. Denn wenn ich in der Bibliothek unter dem Stichwort Angst nachgesehen habe, war meine spontane Reaktion immer wieder die gleiche: Es ist doch zu diesem Thema eigentlich schon alles gesagt worden. Ich werde auch nichts Neues beitragen können. Doch als ich das Matthäus-Evangelium hörte, kam in mir die Idee auf, Jesu Angsttherapie einmal näher anzusehen und mich, davon inspiriert, mit dem Thema der Angst in seiner aktuellen Dimension zu beschäftigen.
Es ist gewiss ein beschränkter Zugang zu diesem weiten Thema. Aber ich vertraue darauf, dass gerade dieser biblische Zugang vielen hilft, mit ihrer Angst so umgehen zu lernen, dass sie davon nicht gelähmt werden, sondern Vertrauen finden in den Gott, der unsere Angst verwandelt in einen Weg zu einem menschlicheren und achtsameren Leben.
In der folgenden Darstellung möchte ich mich vor allem auf die beiden Evangelien nach Matthäus und Lukas konzentrieren. Bei beiden Evangelisten kann man beobachten, dass ihnen das Thema der Angst wichtig ist und dass sie Jesus als Erlöser unserer Ängste schildern. Das Thema Angst kommt in der Bibel selbstverständlich immer wieder vor. Vor allem in den Psalmen und bei den Propheten finden wir sehr aufschlussreiche Stellen dazu. Das Thema im Blick auf die ganze Bibel zu behandeln, würde jedoch den Rahmen dieses Buches sprengen und auch meine Möglichkeiten überschreiten. Mich aber hat vor allem der Umgang Jesu mit der Angst fasziniert. Auf diesen Aspekt beschränke ich mich also ganz bewusst.
Viele sind froh, wenn sie etwas Neues kaufen, wenn das Haus nach der Renovierung wie neu erscheint und wenn die Firma erneuert wird. Doch nicht immer ist das so. Das Neue kann auch Angst machen. Heute ist die Sehnsucht nach Neuerungen eher der Angst vor dem Ungewissen gewichen. Wenn eine Firma umstrukturiert wird, löst dies häufig vor allem Befürchtungen aus. Es ist die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Das Neue wird erfahrungsgemäß auf Kosten der alten Mitarbeiter durchgesetzt, ohne Rücksicht auf Verluste. Wer sich in seinem Beruf viele Kenntnisse erworben hat, schaut Neuerungen, die diese Kenntnisse in Frage stellen oder überholen, eher skeptisch entgegen. Er erwartet von noch so effektiven und hoch gepriesenen technischen Revolutionen nichts Gutes. Neue Wege, neue Methoden, neue Produkte lösen Angst aus.
Die Angst vor dem Neuen beschränkt sich selbstverständlich nicht nur auf die Arbeitswelt. Sie beginnt schon bei Kindern. Sie brauchen erst einmal Geborgenheit. Dann freuen sie sich auch auf Neues. Doch wenn das Neue immer das Unerwartete und Unangenehme war, dann wird jede Neuerung in ihrem Herzen Angst aufsteigen lassen.
Von solcher Angst vor dem Neuen als einer Grunderfahrung des Menschen sprechen Matthäus und Lukas schon zu Beginn ihres Evangeliums. Dort, wo das göttliche Kind geboren wird, das alles neu macht, muss Gott selbst erst die Angst vor dem Neuen in den Herzen der Beteiligten ansprechen und verwandeln.
Die Kindheitsgeschichte Jesu ist vom Thema Angst und Vertrauen geprägt. In jeder Therapie fragen wir nach den Ursachen der Angst in der Kindheit. Das Kind erfährt von der Mutter Urvertrauen ins Leben und vom Vater Mut, ins Leben hinaus zu gehen und es selbst in die Hand zu nehmen. Oft ist diese Erfahrung aber nicht stark genug, um die Ängste, die ein Kind auch hat, zu überwinden. Kinder haben Angst vor der Nacht und vor den Träumen, in denen sie sich wilden Tieren hilflos gegenüber sehen. Die Seele des Kindes ist sehr empfänglich für beides – für Botschaften des Vertrauens und der Angst. Ein Kind sehnt sich danach, in den Armen der Mutter geborgen zu sein und in der Nähe des Vaters innere Festigkeit und Mut zu erfahren. Und es hat zugleich aber auch Angst, die Eltern zu verlieren. Diese Angst gehört zu jedem Kind. Sie gründet letztlich in der Trennungsangst, die das Kind schon bei der Geburt befällt. Die Angst kann im Kind krankhaft werden. Dann wird jedes Verlassen des Hauses durch die Mutter für das Kind zu einem Albtraum. Es kann es kaum aushalten. Solche Ängste können von Erfahrungen im Mutterleib herrühren oder von frühkindlichen Verlassenheitsängsten. Ein Mann erzählte, dass er als Kind immer in den dunklen Keller gesperrt wurde. Dort sah er dämonische Fratzen. Die Mutter hatte ihm gesagt, er sei vom Teufel besessen, wenn er so unartig sei. Diese frühe Erfahrung holt den Mann heute noch oft ein. Er bringt es als erwachsener Mann nicht fertig, in einen dunklen Keller zu gehen. Und manchmal in der Nacht wacht er auf, weil er solche dämonischen Fratzen sieht. Je früher die Ängste in der Kindheit als bedrohlich erfahren wurden, desto schwieriger sind sie aufzulösen. Wir können uns nur den Erfahrungen der Angst in der Kindheit stellen und versuchen, durch die Erinnerung und das Anschauen das Angstmachende zu entmachten. Dabei hilft es uns, wenn wir uns auch an die Erfahrungen des Vertrauens und des Geborgenseins erinnern, die es uns als Kind ermöglicht haben, mit und trotz unseren Ängsten zu überleben.
Sigmund Freud meint, die Angst entstehe im Kind, wenn es die wichtigen Triebregungen wie Sexualität und Aggression unterdrücke. Das ist sicher ein mögliches Erklärungsmodell für viele Ängste, vor allem für Ängste, die keinen realen Hintergrund haben. Solche Ängste werden oft durch zwanghaftes Verhalten abgewehrt. Die Angst vor der eigenen Aggression versuchen manche durch besonders angepasstes Verhalten zu überwinden. Eine zu sanfte Stimme weist oft auf unterdrückte Aggression hin. Psychologen erklären heute die Ursachen der Angst anders als die klassische Psychoanalyse. Für die Verhaltenstherapie ist „Angst eine Emotion, die auf einer Bewertung einer bedrohenden Situation beruht“ (Günther 88). Oft bewerten wir eine Angstsituation unangemessen und unrealistisch. Dann reagieren wir auf kleine Gefahren schon mit großer Angst. Beides ist wohl wichtig: die Ursachen in der Kindheit zu erforschen und sich zu fragen, wie ich jetzt diese konkrete Situation bewerte. Oft bewerten wir falsch, weil sich die Bewertungsmuster aus der Kindheit in unserer Seele fest gesetzt haben.
Matthäus und Lukas beginnen ihr Evangelium jeweils mit der Geschichte der Kindheit Jesu. Doch sie beschreiben weniger die Angst des Kindes als vielmehr die Angst der Erwachsenen vor dem Neuen, das in Gestalt des Kindes in ihr Leben einbricht. Matthäus schildert drei verschiedene Reaktionen auf den Einbruch des Neuen. Josef ist verwirrt durch die Schwangerschaft seiner Verlobten. Er möchte sie heimlich entlassen, sie also