Verwechslung - Hans Rudolf Ruchti - E-Book

Verwechslung E-Book

Hans Rudolf Ruchti

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Beschreibung

Pierre Trittin, der kauzige Journalist, hat in der New York Times die unglaubliche Geschichte einer Verwechslung verfolgt, die schließlich zum Tod eines erwiesenermaßen Unschuldigen geführt hatte. Weil sein Chefredaktor nichts von der Story wissen will, entschließt sich Trittin, unbezahlten Urlaub zu nehmen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Aber aus dem Urlaub wird nichts. Stattdessen Trittin wird entlassen. Auf eigene Faust und auf eigene Kosten beginnt er, der Sache nachzugehen, die sich zwischen der schweizerischen Provinz und der Millionenstadt New York abgespielt hat. Begegnungen mit interessanten Menschen und spannende Erfahrungen bei den aufwändigen Recherchen entschädigen Trittin für den Frust seines Rausschmisses bei der Zeitung, bei der er langjähriger Mitarbeiter war. Angefangen hat das Drama eines unbescholtenen, gutgläubigen Schweizertouristen bei seiner Reise in die Sommerferien an die Südspitze der Halbinsel Florida. Alles verlief planmäßig und völlig harmlos, bis er in Miami aus dem Strom ankommender Fluggäste abgedrängt wurde und in die Fänge amerikanischer Sicherheitsdienste geriet … Sämtliche Namen und Orte sind frei erfunden. Zeitgeschichtliche Ereignisse entstammen offiziellen Quellen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Prolog

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5: Verhaftung

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21: Verurteilung

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49: Freilassung

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72: Hinrichtung

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89: Epilog

1

PROLOG

Juli 2008

Pierre Trittin legte ein Exemplar der New York Times und zwei ausgedruckte Internetseiten auf den Schreibtisch von Dr. Ducret, dem Chefredaktor des Express de Neuchâtel. Die Times vom 22. Juli 2005 war aufgeschlagen bei der Rubrik U.S., die Seite leicht vergilbt. Trittin zeigte mit dem Finger auf einen Artikel. Titel: ͵Mann sass 16 Jahre unschuldig im Gefängnisʹ. Auf dem Bild unter der Schlagzeile sah man zwei Männer, die eine Strasse entlanggingen. ͵Der freigelassene Jonathan Fleming wird von seinem Anwalt beim Gefängnis von Brooklyn abgeholtʹ, stand darunter.

Ducret las das Fettgedruckte:

͵Die amerikanische Justiz hat den Irrtum zu verantworten, der den Mann ins Gefängnis gebracht hat. Gestern ist der 45jährige Jonathan Fleming nach sechzehn Jahren und 19 Tagen Haft entlassen worden. Sein ehemaliger Strafverteidiger hat ihn an einen unbekannten Ort gebracht. Familienangehörige, die ihn hätten abholen und in Empfang nehmen können, hat der Mann nicht. Ein Sprecher der Justiz erklärte Medienvertretern, dass der Freigelassene keine Interviews geben werde‘.

Ducret hielt nichts von einem drei Jahre alten Bericht über ein Fehlurteil in den USA. Aber irgendetwas hatte ihn neugierig gemacht. Also überflog er den ersten Teil des Textes:

͵Der Freispruch für Fleming ist erfolgt, weil eine Zeugin ihre Aussage widerrufen hat. Wie sich nachträglich herausstellte, soll die angebliche Augenzeugin ihre Falschaussage unter der Drohung des effektiven Täters gemacht haben, ihr die Kinder wegzunehmen, wenn sie der Polizei nicht sagen würde, was er ihr über den Mord eingeschärft hatte. Heute steht fest, dass die Zeugin zum Zeitpunkt der Tat nicht am Tatort gewesen war. Im Zuge neuer Untersuchungen sind Zeugen und Indizien aufgetaucht, die auf den Mann als Täter schliessen lassen, mit dem die Frau damals zusammengewohnt hatte. In New York ist seit kurzem ein Bezirksstaatsanwalt im Amt, der fragwürdige Verurteilungen überprüfen lässt. Dabei ist auch dieser sogenannte Gramercy-Mord neu aufgerollt worden.ʹ

Ducret schaute zu Trittin. „Und?“

„Lesen Sie weiter.“

Ducret nahm die Zeitung auf, hielt sie in der linken Hand und fuhr rechts mit Daumen und Zeigefinger dem Artikel entlang. Dabei murmelte er:

„Der Kerl hatte einen Drogendealer erschossen.“ Ducret überflog die nächsten Zeilen.

„Wegen Geld, natürlich. Es geht ja fast immer um Geld“, nuschelte Ducret und sah erneut zu Trittin. Der zeichnete mit dem Zeigefinger Kreise in die Luft. Ducret schaute wieder auf die Zeitung und überflog den Rest des Berichts.

„Ein Lehrer mit sexuellen Kontakten zu Minderjährigen. Und der soll jetzt auf freiem Fuss sein?“, fragte Ducret und schaute Trittin skeptisch an.

„Hat ja lange genug gebüsst“, meinte Trittin, „aber es kommt noch besser. Lesen Sie, was die New York Times im Juni dieses Jahres schreibt.“

„Bitte!“ Trittin legte die Kopien mit Texten der Online-Ausgabe auf die Papierausgabe der New York Times. Auf dem ersten Blatt stand, dass in den Social Media eine absurde Geschichte kursiere. Darunter war der Versuch einer Erklärung:

͵Ben Carter, ein Veteran aus dem Irakkrieg, wurde wegen Mordes an Max Beer, einem schweizerisch-amerikanischen Doppelbürger, zu lebenslanger Haft verurteilt. Sein Komplize, beziehungsweise Auftraggeber, Jonathan Fleming, muss wegen Beihilfe zu Mord ebenfalls für viele Jahre ins Gefängnis. Das Groteske an der Geschichte ist, dass der ermordete Max Beer unter dem Namen Jonathan Fleming vom 1989 bis 2005 eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte. Unschuldig, wie die Medien bei seiner Entlassung berichtet hatten.

„Glauben Sie eigentlich, was in der Zeitung steht?“ fragte Ducret seinen Mitarbeiter und schaute ihn von unten her belustigt an.

„Nein, natürlich nicht. Aber diese Sache beschäftigt mich, seit ich zum ersten Mal davon gelesen habe. Und jetzt hat sie nochmals eine tragische Wende genommen. Eine Woche nach dem da“ – Trittin nahm die erste Kopie weg – „brachte die New York Times einen Hintergrundbericht. Hier. Das müssen Sie unbedingt lesen!“

„Lesen Sie denn die New York Times regelmässig?“

„Ja, täglich. Ich hatte sie jahrelang abonniert. Jetzt bin ich eingeschriebener User der Online-Ausgabe.“

„Chapeau!“

„Bitte lesen Sie. Ich möchte Sie nämlich um etwas bitten.“

„Sie bitten mich ja schon die ganze Zeit!“

Über einem Bild, das angeschrieben war mit ‚Max Beer, alias Jonathan M. Fleming‘ stand: ‚Das Recht hat gesiegt – die Gerechtigkeit aber ist auf der Strecke geblieben‘. Ducret überflog auch diesen Kommentar, weil Trittin offensichtlich nicht lockerliess. Ein paar Stellen las er halblaut vor:

„Der vor einem Jahr ermordete Max Beer soll derselbe sein, der 1990 wegen Mordes an einem Drogendealer verurteilt worden war und dafür eine Gefängnisstrafe abgesessen hat.“

„Abstruse Sache, interne Abrechnung. Aber das wissen wir ja nun schon“, murmelte Ducret, las weiter und kommentierte im Selbstgespräch:

„Die Staatsanwaltschaft von New York konnte nachweisen, dass 1989, bei der Einreise Beers als Tourist in die USA, von den Justizbehörden geschlampt und eindeutigen Hinweisen nie nachgegangen worden war. Sämtliche persönlichen Utensilien Beers sollen bis 2007 am Flughafen Miami unter Verschluss geblieben und nie konsequent untersucht worden sein.“

„Kaum zu glauben“, sagte Ducret und schüttelte den Kopf. Am Schluss der Zeitungsnachricht stand, dass der 1989 eigentlich gesuchte Jonathan Fleming 2006 seinen alten Namen wieder angenommen habe, um an ein Erbe zu kommen, das aber bereits Max Beer zuerkannt worden sei, von dem auch bei seiner Entlassung immer noch alle angenommen hätten, er wäre Jonathan Fleming. Das Gericht von New York sähe es nun aber als erwiesen, dass Fleming den Mord an Beer in Auftrag gegeben habe, um seinen unfreiwilligen Doppelgänger aus dem Weg zu schaffen. Beer habe bis zu seinem gewaltsamen Tod in den USA unter dem Namen Jonathan M. Fleming gelebt. Der falsche Name sei Beer von den Behörden solange aufgedrückt worden, bis er selber geglaubt habe, Fleming zu sein. Das Recht habe zwar schliesslich gesiegt, schloss der Bericht, aber die Menschen, die Max Beer gekannt hätten, seien in Trauer um seinen Tod zurückgeblieben. Beer selber habe bei seiner Verurteilung jedes Vertrauen in den Rechtsstaat verloren aber bis zu seinem Tod an Gerechtigkeit geglaubt oder wenigstens darauf gehofft.

„Dann ist ja nun alles geklärt, oder?“ Ducret raffte die Times und die Kopien zusammen und drückte Trittin alles in die Hand.

„Ja, so scheint es. Aber es ist ungeheuerlich, dass so etwas überhaupt hat passieren können.“

„Das war bei weitem nicht das einzige Fehlurteil in der Geschichte der Juristerei. Und es wird bestimmt nicht das letzte sein.“

„Macht die Sache aber auch nicht besser“, sagte Trittin, räusperte sich und stellte sich aufrecht vor seinen Chef hin:

„Monsieur Ducret, ich möchte der Story nachgehen, sie aufarbeiten und in irgendeiner Form veröffentlichen. Als Serie im Express am Sonntag, zum Beispiel. Was meinen Sie?“

„Davon halte ich gar nichts. Was interessieren amerikanische Gerichtshändel unsere Leser? Zudem ist das Ganze längst Geschichte.“

„Immerhin war ein Schweizer das Opfer!“

„Ein Deutschschweizer, genaugenommen. Hier in Neuchâtel und überhaupt in der französischsprachigen Schweiz interessiert das keinen.“

„Jetzt im Sommer hätten wir aber Platz für so eine Reportage?“

„Das ist nicht der Punkt.“

„Und was genau ist denn dann der Punkt?“

„Ich will diese Story nicht in meinem Blatt. Das ist der Punkt!“

Trittin vergewisserte sich mit einem Blick in Ducrets Gesicht, dass es dem Chef ernst war mit dem, was er sagte. Die Körpersprache schien die verbale Aussage zu unterstreichen. Also machte Trittin sich vom Acker.

„Warten Sie, Monsieur Trittin“, sagte Ducret versöhnlich. „Sie sind mein bestes Pferd im Stall. Sie kann man überall einsetzen. Sie sind unser Experte in Wirtschaftsfragen, Sie haben sich in die Energiethematik reingekniet und machen bei Bedarf auch mal den Sportreporter. Aber diese Geschichte“, er deutete auf die Papiere unter Trittins Arm, „die passt nicht in den Express. Okay?“

„Okay“ sagte Trittin und hatte nicht die geringste Ahnung, was es heissen sollte.

Trittin besprach sich mit Anne-Marie, seiner langjährigen Freundin, die ebenfalls beim Express arbeitete, als Bürofachkraft, wie sich der Job nannte. Eigentlich sei sie Chefsekretärin, sagte Anne-Marie. Nur wollte der Chef auch davon nichts wissen.

„Ducret will die Story nicht“, sagte Trittin. „Aber ich will sie schreiben!“

„Was willst du tun?“

„Keine Ahnung.“

„Du könntest dich ja beurlauben lassen und auf eigene Kosten recherchieren.“

„Und wer soll das bezahlen?“

„Ich verdiene ja auch ein wenig.“

„Kommt nicht in Frage, dass du mich durchfütterst.“

„Dir ist nicht zu helfen!“

„Genauso ist es. Ich bin hilflos glücklich“, sagte Trittin, wusste aber immer noch nicht, wie er an der Sache dranbleiben könnte, die ihn so nachhaltig gepackt hatte.

Widerwillig versuchte sich Trittin ein Bild seiner finanziellen Situation zu machen. Alles, was mit Geld zu tun hatte, war ihm zuwider. Es sei denn, es ging um das Geld anderer, um Wirtschaftsthemen. Aber das war sein Beruf und das war etwas ganz anderes. Immerhin fand er heraus, dass man Geld von der Pensionskasse rückkaufen konnte, wenn man sich beruflich selbständig machte.

„Vielleicht sollte ich das tun, anstatt immer nur von den Dingen zu träumen, die mich wirklich interessieren“, dachte Trittin und schrieb seinem Chef in einem Anflug von Übermut, wie er selbstironisch feststellte, dass er sich auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen möchte.

2

August 2008

„Super! Sie kommen wie gerufen“, sagte der Amerikaner, der gemäss Trittins erster Recherchen Aufzeichnungen Beers verwaltete und mit dem Trittin wegen der Fleming/Beer-Story Kontakt aufgenommen hatte. Ganz unverbindlich, wie sich Trittin selber einzureden versucht hatte.

„Ich habe alles hier, was Sie brauchen und wir werden Sie selbstverständlich nach unseren Möglichkeiten unterstützen.“

Trittin hatte die Adresse des Mannes, der den Hintergrundbericht zum Fall in der Online-Ausgabe verfasst hatte, von der Redaktion der New York Times. Nun vereinbarte er mit dem freundlichen Herrn ein Treffen in den USA. Er hoffte, dass sein Urlaub bis dahin bewilligt sein würde.

Aus dem befristeten Urlaub Trittins wurde jedoch nichts. Stattdessen wurde er beim Express als Wirtschaftsredaktor entlassen. Offiziell wurde das Ausscheiden des langjährigen Mitarbeiters mit der sinkenden Print-Auflage und den daraus resultierenden notwendigen Umstrukturierungen begründet. In einer hitzig und laut geführten Auseinandersetzung zwischen Ducret und Trittin hatte der Chefredaktor hingegen als Hauptgrund für die Kündigung mangelnde Loyalität und die Starrköpfigkeit Trittins ins Feld geführt.

Anne-Marie half Trittin mit den vielen Papieren, die es brauchte, um sich beruflich selbständig zu machen. Berufliche Unabhängigkeit war Voraussetzung, um Angespartes aus der Altersvorsorge flüssig zu machen und in das – vorläufig noch sehr vage – private Schreibprojekt Trittins zu investieren. Eine Frau bei der Pensionskasse hatte Trittin gesagt, um sich glaubhaft selbständig zu machen, brauche er einen Businessplan.

„Ich werde mich darum kümmern“, hatte Trittin der Frau versichert, obwohl er keine Ahnung hatte, worum es ging.

Anne-Marie hatte ihn mehrmals auf das Risiko aufmerksam zu machen versucht, das er mit diesem Schritt eingehen würde.

„Ohne Risiko, keine Chance“, war Trittins Haltung, von der er sich nicht mehr abbringen liess.

Trittins vertraglich geregelte Kündigungsfrist betrug drei Monate. Überzeit, nichteingezogene Ferienguthaben und sogenannte Kompensationstage erlaubten es Trittin trotzdem, seinen Termin in den USA wie vereinbart wahrzunehmen. Natürlich war er froh, dass noch während ein paar Wochen der Lohn auf sein Konto fliessen würde.

3

Oktober 2008

Ein jüngerer und ein älterer Herr holten Pierre Trittin, den beim Express de Neuchâtel abgehalfterten Journalisten, am John-F.-Kennedy-Flughafen bei New York ab. Gemeinsam fuhren sie nach South Norwalk in Connecticut, wo der ältere der beiden Herren wohnte. Schon auf der Fahrt vom Flughafen an den Long Island Sound überboten sich die beiden Amerikaner mit Ideen und Vorstellungen, wie der Report aussehen müsste, damit er der Geschichte ihres Jon gerecht würde und damit die Story in angemessener Form daherkäme.

„Wieso Jon? Der Mann hiess doch Max Beer, oder bin ich nun im falschen Film?“ fragte Trittin irritiert.

„Das werden Sie alles verstehen, sobald Sie die Notizen gelesen haben“, sagte der jüngere der beiden Männer. „Und by the way: Gerade dieses Namensdurcheinander muss ein zentraler Aspekt im Buch werden.“

„Ich weiss noch gar nicht, ob ich ein Buch schreiben will“, sagte Trittin. „Eigentlich habe ich an eine Fortsetzungsgeschichte in einer Zeitung oder in einem Magazin gedacht.“

„Ein Buch! Es muss ein Buch sein“, insistierten die Amerikaner in Stereo.

„Sie schreiben Englisch, oder?“ wollte der Ältere wissen.

„Nein, auf Französisch, natürlich, in meiner Muttersprache“, versuchte Trittin die offenbar gigantischen Erwartungen schon mal etwas runterzuschrauben.

„Nein, nein“, entrüstete sich der Jüngere, „das Buch muss unbedingt in Englisch sein, damit wir das Manuskript lesen und begutachten können.“

„Well, mit zwei so kompetenten Lektoren könnte ich mir ja vielleicht sogar zutrauen, in Englisch zu schreiben.“

In South Norwalk angekommen, wollten die ehemaligen Gewährsleute Beers gleich mit dem Durchgehen der umfangreichen Aufzeichnungen beginnen. Es gelang Trittin kaum, den Eifer der beiden Männer zu bremsen, aber nach der langen Reise musste er nun erstmal eine Runde schlafen.

Als er Trittin sein Zimmer zeigte, sagte der Hausherr:

„Bei mir gibt’s grosses amerikanisches Frühstück“. Er lächelte einladend.

„Vor zwölf Uhr mittags geht bei mir gar nichts“, sagte Trittin. „Das ist übrigens einer der Gründe, wieso ich nicht mehr beim Express bin.“ Dann legte er sich hin und schlief augenblicklich ein.

Die Amerikaner hatten zwar nicht verstanden, was Trittin gemeint hatte, liessen den kauzigen Mann aber fürs erste in Ruhe.

Die Notizen, die Trittin vorfand, waren sauber geordnet, einerseits als Daten-CD mit Word-Dokumenten und anderseits auf handgeschriebenen Blättern in einem Heftordner. Die Notizen waren in Beers schöner Handschrift, in Englisch, Deutsch und Französisch abgefasst. Da sah Trittin kein Problem. Wie er aber seine Arbeit angehen und organisieren sollte, davon hatte er keine Ahnung. Bisher hatte er stets überschaubare Schreibaufträge gehabt, mit redaktionellen Vorgaben und fixen Abgabeterminen. Jetzt war er plötzlich sein eigener Chef und hing völlig im Leeren: Keine Termine und keine Vorschriften, von denen er sich bisher zwar stets eingeengt gefühlt hatte, die ihm aber jeweils einen klaren Rahmen gesetzt hatten.

„Du kannst hier bei mir wohnen und arbeiten, solange du willst, wann du willst und wie du willst!“ hatte der Amerikaner gesagt, bei dem Trittin untergekommen war und nachdem sie bei einem Bourbon oder zwei Freundschaft getrunken hatten.

Trittin wusste das grosszügige Angebot zu schätzen. Zudem gefielen ihm das Haus und die Lage am Meer ausgezeichnet. Aber er wusste immer noch nicht, wie er mit der plötzlichen Freiheit, so ganz ohne Zeitdruck und ohne redaktionelle Strukturen, umgehen sollte. Er rief Anne-Marie an und sagte ihr, dass es ihm gut gehe. „Aber ich brauche schon wieder deine Hilfe.“

„Dafür sind Freunde doch da. Was kann ich für dich tun, so aus der Distanz über einen Ozean?“

„Ich vermisse meinen Chef!“

„Das sollte ein Witz sein, oder?“

„Klar. Aber irgendwie fehlt mir der Zwang, etwas Bestimmtes auf Zeit liefern zu müssen. Hier bin ich zwar ganz frei und ungebunden, aber ich weiss nicht, ob ich unter solchen Bedingungen überhaupt etwas Gescheites zustande bringe.“

„Jetzt geniess doch erst mal deine Freiheit. Das mit dem Schreiben wird schon werden. Du hast gesagt, was du vorgefunden hast, sehe gut aus. Nimm es doch erst mal wie Ferien.“

„Ja, schon. Aber diesmal sind die Ferien unbezahlt und das hindert mich, ehrlich gesagt, etwas am Geniessen.“

„Was kann ich für dich tun?“

„Ich möchte dir Leseproben schicken, falls ich dann mal was gebrünzelt habe. Ist das okay für dich?“

„Ja, sicher.“

„Auf Englisch.“

„Sicher nicht!“

„Anne-Marie, ich liebe dich!“

„Das hast du mir schon seit Jahren nie mehr gesagt!“

„Vielleicht braucht es Distanz, damit man merkt, was man hat.“

Nach dem Telefongespräch mit Anne-Marie begann Trittin, sich aufgrund von Beers Aufzeichnungen eigene Notizen zu machen. Nach der ersten Woche in Amerika traf er sich mit seinen Gastgebern auf der gedeckten Terrasse vor dem Haus zu einem ‚Redaktionsmeeting‘, wie er lachend spöttelte.

„Was ihr mir da gegeben habt, ist bestens. Damit kann ich arbeiten. Was mir fehlt, sind Angaben zu Ben Carter und zum echten Fleming. Ebenso habe ich in den Aufzeichnungen fast nichts gefunden über die ehemalige Freundin Beers, diese Lea Stauffer. Aber die drei scheinen mir wichtige Protagonisten zu sein für die Story. Was denkt ihr?“

„Mit Carter und Fleming kenne ich mich ziemlich gut aus“, sagte der jüngere der beiden Gesprächspartner grinsend. „Am besten, du interviewst mich, wenn du soweit bist.“

„Gut. Und Lea Stauffer?“

„Über Lea Stauffer weiss bestimmt Lea Stauffer selber am besten Bescheid“, meinte der Ältere und lächelte dabei wie stets, wenn er etwas sagte. „Ihr seid Landsleute. Das schaffst du doch mit links, die Frau zu treffen und zu befragen, nicht wahr?“

„Ja, stimmt. Für amerikanische Verhältnisse liegt La Neuveville nur um die Ecke von Neuchâtel, wie wir sagen. Da müsste sich etwas machen lassen.“

„Vielleicht wäre ein Buch tatsächlich das passende Format“, dachte Pierre Trittin, als er in Beers Notizen nochmals las, wie alles begonnen hatte, vor bald zwanzig Jahren.

4

1. Juli 1989

Im Oberstufenzentrum der Quartiersschule in Biel-Bienne sassen unmotivierte Lehrerinnen und Lehrer rund um den grossen Tisch des Konferenzraums und warteten auf den Schulleiter. Die Runde war gelichtet, denn ein paar Kolleginnen und Kollegen waren bereits in die Sommerferien abgereist. Andere fehlten krankheitsbedingt und dies war der Grund für die ausserordentliche Lehrerkonferenz an einem Samstagmorgen, wo die meisten lieber ausgeschlafen oder sonst was gemacht hätten. Man müsse aber unbedingt noch vor den Ferien den Stundenplan für das neue Schuljahr auf die Reihe kriegen, hatte der Schulleiter in einem Rundschreiben mitgeteilt und die Lehrkräfte verbindlich dazu eingeladen.

Endlich kam Hans Perren, der grosse, schlanke Mann ohne Alter, mit stets verstrubbeltem Haar und dicker Brille in seinem altmodischen Anzug zur Türe herein. Unter dem Arm trug er einen Stoss loser Blätter, die herunterzurutschen drohten, als er mit dem Ellenbogen die Türe zudrückte. Keiner der Lehrer stand auf, um zu helfen. Es herrschte dicke Luft.

„Ich habe den provisorischen Stundenplan kopiert“, kam Perren grusslos zur Sache und strich sich Haare aus der Stirn. „Eigentlich hätten wir den definitiven Stundenplan schon längst einreichen sollen.“ Er gab die Papiere nach rechts und zeigte mit dem Finger an, dass die Kopien um den Tisch verteilt werden sollten.

„Falsch!“ ereiferte sich Wälti, der übergewichtige Kollege, dessen dicke Füsse in Birkenstocksandalen steckten. „Du hättest den Stundenplan einreichen müssen. Ist dein Job. Für irgendwas hast du ja deinen Managerlohn!“ Wälti wirkte gereizt.

„Ich pflege eben einen kollegialen Führungsstil und beziehe euch mit ein in Entscheidungen, die euch betreffen“, verteidigte Perren sein Vorgehen. „Und apropos Managerlohn: Die Gehälter der Schulleiter sind ebenso geregelt wie die Lehrerlöhne. Jeder kann nachsehen, wieviel ich verdiene.“

„Und übrigens hätten wir heute frei. Es sind Sommerferien!“ kritisierte eine junge Sprachlehrerin.

„Unterrichtsfreie Zeit!“ korrigierte Perren und schickte böse Blicke in die Runde. „Die Sommerferien für die Schüler beginnen, genau genommen, am nächsten Montag. Und euch Lehrern stehen – genauso wie mir – offiziell fünf Wochen Ferien zu, pro Jahr. Alles andere ist unterrichtsfreie Zeit, in der im Prinzip für die Schule gearbeitet werden sollte. So wie jetzt, zum Beispiel.“

Unterdessen lag der Rest der Blätter wieder beim Schulleiter. Es hatte lange nicht alle Kopien gebraucht und die Lücken in der Runde waren nicht zu übersehen. Perren nahm die Papiere zusammen und knallte den Stapel mit der Unterkannte auf den Tisch. Dann erklärte er, den Blick auf den Stundenplanentwurf gerichtet, welche Lektionen in welchen Klassen immer noch ohne Lehrperson waren im Schuljahr, das nach den Sommerferien begann. Gehässiges Feilschen ging los unter Kollegen, bei denen kaum einer dem andern einen Schnupfen gönnte. Einzig Max Beer, der Jüngste in der Runde der Phil-Zweier, stellte sich freiwillig für die Biologielektionen in der 3C zur Verfügung. Alle andern versuchten, sich um jede zusätzliche, unbezahlte Schulstunde zu drücken. Rehag regte sich auf über die, wie er sagte, völlig unrealistische Idee des Schulleiters, die vielen Absenzen ohne externe Stellvertretungen regeln zu wollen.

„Wir haben genug erlebt mit Stellvertretern, die nichts taugen, falls sie überhaupt zur Verfügung stehen“, sagte Perren und zählte das Angebot an den Fingern der linken Hand auf: „Studenten ohne jede Erfahrung, Ausländer, Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung. Seit Jahren findet man kaum qualifizierte Leute.“ Auch Perren war frustriert. Züllig schlug vor, die offenen Lektionen gleichmässig unter den anwesenden Kolleginnen und Kollegen aufzuteilen. Wälti erhob lautstark Einspruch:

„Und was bitte schön ist mit denen, die bereits in die Ferien abgerauscht sind?“

Schliesslich einigte man sich darauf, den Kolleginnen und Kollegen, die abwesend waren, die offenen Lektionen aufzubürden. Wälti grinste hämisch.

„Ich habe eine Information an euch weiterzugeben“, sagte Beer, nachdem der Stundenplanmurks zu Ende war. Die Ankündigung Beers löste Getuschel aus in der Runde. Man hatte geglaubt, endlich fertig zu sein mit diesem Gedöns an einem Samstagmorgen.

„Ich war gestern Abend an einer Informationsveranstaltung der Bieler Sozialdienste zur Drogenproblematik. Ich bin vom Kollegium dahin delegiert worden, wie ihr euch sicher erinnert. Ich mach es kurz. Erstens: Die Altersgruppe unserer zwölf- bis sechzehnjährigen Schüler ist, gemäss einer Untersuchung, ein namhaftes Potenzial der Drogenszene, sowohl als Konsumenten illegaler Drogen wie auch als Dealer. Zweitens: Schulhäuser sind gemäss Polizei wichtige Umschlagplätze, oft sogar während der Unterrichtszeit. Drittens: Polizei und Sozialdienste vermuten, dass auch Lehrer in der Szene mitmischen. Bisher sei allerdings erst eine Bieler Lehrperson überführt worden.“

Betroffenes Schweigen in der Runde. Dann sagte Wälti, dass er dies alles nicht glaube und jedenfalls noch nie von so etwas gehört habe. Ein paar der Anwesenden stimmten ihm nickend zu.

„Und? Was sollen wir mit dieser Information?“ Der Schulleiter hatte die Frage an Beer gerichtet.

„Wir werden uns darum kümmern müssen“, sagte Beer und schaute in die Runde.

„Aber nicht heute“, meinte Rehag. „Das hat Zeit bis nach den Ferien.“

„Wo wir bestimmt mit vielen anderen Dingen befasst sein werden“, wandte Beer ein.

Alle schauten weg. Die einen gelangweilt, andere trotzig. Keiner hatte Lust, jetzt auch noch auf diese Drogensache einzugehen.

Perren schloss die Konferenz mit verkniffener Miene und ohne Dank oder Wunsch für schöne Sommerferien. In Grüppchen verliessen die Lehrerinnen und Lehrer das Konferenzzimmer.

„Gehen wir noch eins Trinken?“ fragte Züllig seine Phil-Zweier-Kollegen.

„Warum nicht?“ meinte Rehag und nahm Wälti am Arm:

„Du kommst auch auf ein Bier, oder?“

„Und du Maxe?“ fragte Züllig Beer, der eben zügigen Schrittes das Schulhaus verliess.

„Ich bin mit dem Rad. Aber gut, ich komm auch noch kurz.“

Die vier Männer setzten sich auf der Gartenterrasse des Quartierrestaurants an einen runden Tisch. Beer legte seine abgewetzte Lederjacke, von der er sich auch im Sommer nie trennte, über einen der metallenen Gartenstühle. Eine Frau mittleren Alters eilte mit einer rot-weiss karierten Tischdecke herbei und breitete sie über die rostige Tischplatte.

„Es kommt gleich jemand für die Bestellung“, sagte die Frau und verschwand im Haus.

„Das war ja wieder mal so ein Furz vom Perren“, sagte Rehag und schüttelte den Kopf. „Soll der doch seinen Organisationsscheiss selber machen! Dafür ist er schliesslich da! Aber der Maxe, unser Musterlehrer, engagiert sich freiwillig für zusätzliche Lektionen, ha ha ha!“ Und an Beer gewandt sagte er und klopfte ihm dabei gönnerhaft auf die Schulter: „Du bist wohl stets motiviert und gutgelaunt, was? Wie lange bist du jetzt eigentlich schon bei uns?“

Die Lehrer bestellten bei einer jungen Frau eine Runde Bier vom Fass.

„Fünf Jahre“, beantwortete Beer die Frage Rehags, „und ich kann mir keinen besseren Beruf vorstellen.“

„Auch dir wird der Idealismus noch vergehen“, sagte Wälti, der Senior am Tisch und lehnte sich zurück, während er lamentierte:

„Ich finde den Lehrerberuf insgesamt einen Scheissjob. Zunehmend. Fachfremder Unterricht mit völlig uninteressierten Schülern und ständig kontrollierenden Eltern mit unrealistischen Erwartungen an die schulische Entwicklung ihrer verwöhnten Gofen. Aber das Schlimmste am Lehrersein ist die berufliche Sackgasse. Neuerdings taugen wir nicht mal mehr als Schulleiter. Dazu brauche es Leute aus der Wirtschaft mit Managementerfahrung. Damit ist jede berufliche Perspektive für gewöhnliche Schulmeister wie mich sowieso im Eimer.“

Die Servierfrau brachte Bierdeckel und Biere und knallte eine Schale mit geschälten Erdnüssen auf den Tisch. Die Lehrerkollegen prosteten sich zu.

„Unmotivierte Lehrer sind mitverantwortlich für unmotivierte Schüler“, sagte Beer, ohne dabei einen der Kollegen anzuschauen.

„Und nun kommt offenbar auch noch diese unselige Drogensache auf uns zu. Oder wie siehst du das?“ Rehag sah Beer fragend an.

„Es sieht so aus, als wäre das Problem bereits da. Die Drogenbeauftragte der Stadt meint, man müsste in den Schulen vermehrt informieren und präventiv wirken. Sie wollen altersgerecht aufgemachte Broschüren drucken und in den Schulen verteilen lassen.“

„Genau, das ist es, was ich meine! Schon wieder ein Thema, das mit dem Lehrstoff überhaupt nichts zu tun hat!“ Wälti schlug die Faust so fest auf den Tisch, dass die Biergläser überschwappten. Dunkle Flecken bildeten sich rund um die Bierdeckel auf dem karierten Tischtuch.

„Dem müssen wir uns aber stellen“, entgegnete Beer. „Unser Auftrag ist es, die Schüler auf das Leben vorzubereiten.“

„Und was, bitte schön, sollten Drogen mit dem Leben zu tun haben?“ Wälti blickte fragend in die Runde. Keiner antwortete. „Ich fühle mich zunehmend hilflos“, jammerte Wälti, „wenn Schüler zu spät oder gar nicht zum Unterricht kommen. Und wenn sie da sind, sind sie nicht bereit, elementarste Regeln zu befolgen, etwa minimalen Anstand erwachsenen Personen oder Mädchen gegenüber.“

Wälti beugte sich vor und streckte den dicken Zeigfinger in die Luft:

„Stellt euch vor, kürzlich habe ich mitbekommen, wie Schüler aus einer Parallelklasse ihre Kolleginnen in der Pause unter Druck gesetzt haben, für sie zu lügen und dem Lehrer zu sagen, sie seien krank oder hätten einen Arzttermin, nur weil es ihnen gestunken hat, zum Unterricht zu gehen. Sie drohten den Mädchen mit Gewalt, wenn sie nicht spuren würden. Was sagt man denn zu sowas?“ Und an Beer gewandt fragte Wälti:

„Auf was für ein Leben willst du solche Flegel denn vorbereiten, he?“

„Auch Gewalt müsste meines Erachtens thematisiert werden“, meinte Beer nachdenklich. „Sie ist allgegenwärtig, in den Nachrichten, in Videospielen und auf dem Pausenplatz, wie du eben gerade gesagt hast. Die Schule ist kein Schonraum. Für unsere Schüler ist sie Teil des Lebens.

Und Auseinandersetzung gehört zum Leben, ob es uns passt oder nicht. Schüler müssten lernen, Probleme und Konflikte konstruktiv zu lösen.“

„Dafür sind doch die Eltern zuständig! Oder die Klassenlehrer. Gerade dafür haben wir ja das System mit dem Vertrauenslehrer“, sagte Rehag.

„Aber was ist, wenn der Vertrauenslehrer kein Vertrauen in die Schüler hat? Oder die Schüler nicht in ihn? Vertrauen muss entstehen und wachsen. Es ist nicht einfach da oder kann verordnet werden“, wandte Züllig ein.

„Sehe ich nicht so“, sagte Beer zuversichtlich. „Die meisten Menschen haben ein natürliches Grundvertrauen in andere Menschen. Ein Problem ist meiner Meinung nach unsere Spezialisierung, wo jeder denkt, der andere schaue dann schon für ...“

„Nein, nein, das ist es nicht!“, fiel Wälti Beer ins Wort. „Das Problem ist, dass viele Kolleginnen und Kollegen ausgebrannt sind, sich nicht mehr anstrengen mögen für Störungen, die nichts mit dem Lehrstoff zu tun haben. Das sehen wir ja jetzt gerade wieder an den vielen krankheitsbedingten Absenzen!“

„Und wieso sollte man als Lehrer denn ausgebrannt sein?“ fragte Beer erstaunt und wirkte amüsiert.

„Weil uns keiner mehr ernst nimmt und weil uns keiner je gesagt hat, wie es ist, sich hauptberuflich mit pubertierenden, rebellierenden Jugendlichen herumschlagen zu müssen. Und weil uns keiner gefragt hat, ob wir Kinder mögen, als wir uns für den Lehrerberuf entschieden haben!“

„Ich finde es nach wie vor eine tolle Aufgabe, junge Menschen auf dem Weg ins Leben zu begleiten“, sagte Beer. Und nach einer Weile setzte er zögernd nach: „Und dazu gehört meines Erachtens neben Bildung auch ein stückweit Erziehung, meine ich.“

„Gutmensch Maxe hat gesprochen“, sagte Züllig, der sich bis jetzt kaum an der Diskussion beteiligt hatte. „Wir sind weder Sozialarbeiter noch Therapeuten. Unser Thema ist der Unterricht, die Bildung. Erziehung ist Sache der Eltern. Und wenn die nicht fähig sind, müssen spezialisierte Institutionen übernehmen, Erziehungsberatung, Schulpsychologie oder Sozialdienste.“

„So ist es“, bekräftigte Wälti und hob sein Glas auf den Vorschlag Zülligs zur Rettung der Institution Schule. „Und übrigens“, schaltete Wälti übergangslos in den Freizeitmodus, „was macht ihr denn Schönes in den Sommerferien?“ Er beantwortete seine Frage gleich selber: „Wir fahren mit dem Camper los. Südfrankreich. Spanien, vielleicht. Ist ja der Vorteil der ͵Schneckenhäuserʹ, dass man überall da zuhause ist, wo es einem gerade gefällt. Und? Was ist mit euch?“

„Wir fahren vier Wochen in den Norden. Dänemark und Schweden. Hoffentlich macht das Wetter mit. Soll ja manchmal garstig sein da oben“, sagte Züllig wenig begeistert. „Und du Pesche?“

„Ich muss mit dem Umbau vorwärts machen. Das wird mich den grössten Teil der Zeit auf Trab halten.“

„Ich gehe nach Florida zum Tauchen“, sagte Beer ungefragt.

„Aber du hast doch gesagt, zum Tauchen käme für dich nur Südostasien in Frage. Wieso jetzt Florida?“

„Ja“, schmunzelte Beer, „es ist eben etwas dazwischen gekommen.“

„Die neue Freundin?“

„Genau.“ Beer errötete. „Sie will für nur zwei Wochen nicht nach Asien reisen. Ich fliege morgen nach Miami und Lea wird Mitte Juli nachkommen.“ Beer schaute auf die Uhr und erschrak. „Oh, so spät schon! Ich muss mal telefonieren.“ Er verschwand im Restaurant, suchte den öffentlichen Telefonapparat und rief Lea an, um sich für den Abend mit ihr zu verabreden. Es wurde ein langes Gespräch wie immer, wenn sie miteinander telefonierten und keiner sich entschliessen konnte, aufzulegen, obwohl sie sich ja schon bald wieder treffen würden. Aber Beer musste allein nach Key Largo reisen und konnte erst in zwei Wochen mit Lea, seiner neuen Freundin, zusammen die Sommerferien geniessen. Und um die unendlich lang scheinende Zeit der zweiwöchigen Einsamkeit ertragen zu können, brauchte es heute Abend einen gebührenden Abschied.

Als Beer aus dem Restaurant auf die Gartenterrasse zurückkam, standen auf dem Tisch mit der rotkarierten Decke noch die leeren Biergläser und die Schale mit den Erdnüssen. Die Erdnüsse waren weg und ebenso die Kollegen. Beer ging zurück ins Restaurant und zückte sein Portemonnaie.

„Ist alles bezahlt“, sagte die Frau hinter dem Tresen.

„Ah ja. Bestens. Dann auf wiedersehen.“

Beer nahm seine Lederjacke, die mal braun gewesen war und nun viele Gebrauchsspuren aufwies, vom Gartenstuhl und stieg aufs Rad, mit dem er bei jedem Wetter zur Schule fuhr.

In der Wohnung packte Beer den Reisekoffer. Als Handgepäck diente, wie stets auf seinen Flugreisen, ein lederner Umhänge-Beutel. In den Taschen seiner Lederjacke würde er am Schluss alles verstauen, was er zur Hand haben musste: Reisedokumente, Sonnenbrille, Taschenmesser, Kaugummi, einen kleinen Haarkamm und das dicke Portemonnaie, auf dem er die ganze lange Reise sitzen müsste, würde es in der Gesässtasche stecken. Lea hatte kürzlich gesagt, seine Jacke sei so etwas wie die ‚Handtasche für den Mann‘.

Am Nachmittag brachte Beer Nachbarn den Zweitschlüssel zu seiner Wohnung. Die Nachbarn würden während seiner Abwesenheit Zimmer- und Balkonpflanzen giessen. Dann packte er die Schulmappe aus und legte alles bereit, um nach der Rückkehr aus den Ferien unverzüglich mit dem Vorbereiten für das neue Schuljahr beginnen zu können. Zwei Biologiebücher packte er in den Tragbeutel. Er würde gleich auf dem Flug damit beginnen, sie erneut durchzuarbeiten. Es waren amerikanische Werke, die er von seinem Auslandsemester in Boston mitgebracht hatte. Er freute sich auf die neue siebte Klasse, deren Klassenlehrer er für die nächsten drei Jahre sein würde. Zudem sah er es als sportliche Herausforderung, zum ersten Mal Darstellende Geometrie zu unterrichten. Bisher war Mathematik die Domäne der beiden älteren Kollegen gewesen. Weil einer der erfahrenen Lehrer aber einen längerdauernden Klinikaufenthalt vor sich hatte, übernahm Beer das Mathe-Pensum in der 1C.

Am Abend traf sich Beer wie vereinbart mit Lea Stauffer, der hübschesten Frau, der er jemals begegnet war. So wenigstens kam es ihm vor, seit er über beide Ohren in sie verliebt war. Sie hatten im italienischen Restaurant abgemacht. Beide schätzten die stimmungsvolle Atmosphäre und die grosse Auswahl an südländischen Speisen. Lea hatte gesagt, das Lokal hätte ein gutes Karma. Beer wusste nicht, was es war, aber es klang gut. Alles klang gut für Beer, was Lea sagte und wie sie es sagte. Er liebte ihre feine aber klare Stimme, so wie er alles an Lea liebte. Es fiel den beiden Verliebten schwer, sich für eines der leckeren Menüs zu entscheiden. Dabei spielte es eigentlich keine grosse Rolle, was sie assen, denn sie waren sowieso vor allem mit sich als Liebespaar beschäftigt und mit der traurigen Aussicht, bald für ganze zwei Wochen getrennt zu sein. Während Beer schon in Florida sein würde, musste Lea weiter ihrer Arbeit als Pflegefachfrau nachgehen. Es war schon schwierig genug gewesen, kurz nach dem Kennenlernen von Max die Ferien so umdisponieren zu können, dass es nun wenigstens für zwei gemeinsame Wochen reichte. In der Klinik fehlte es immer wieder an Personal und Lea musste oft für zwei arbeiten, was automatisch auf Kosten der Patientenkontakte ging. Heute Abend aber gelang es ihr problemlos, die Klinik mit den ständig neuen Problemen Klinik sein zu lassen und sich ganz dem Zusammensein mit Max zu widmen. Als das Geschirr abgeräumt war, stand immer noch die halbvolle Flasche Valpolicella Classico auf dem Tisch. Die Beiden hatten aber nun mehr Lust aufeinander als auf mehr Wein. Lea beharrte darauf, die Rechnung zu bezahlen. Dann gingen sie engumschlungen zur nahgelegenen Wohnung von Lea.

Lea Stauffer und Max Beer hatten sich bei einer Weiterbildungsveranstaltung für angehende Führungskräfte kennengelernt. Weder Lea noch Beer wären von sich aus da hingegangen. Beer war vom Schulleiter zum Kurs angemeldet worden, weil ihn Perren eventuell zu seinem Stellvertreter machen wollte. Perren schätzte den hilfsbereiten und stets aufgestellten jungen Kollegen. Gesagt hatte er es ihm zwar noch nie. Dafür würde er ihn ja nun vielleicht befördern. Aber auch darüber hatte er mit Beer nicht ausdrücklich gesprochen. Lea sollte auf der Intensivstation ein Pflegeteam übernehmen, was sie auf gar keinen Fall wollte. Ihr war längst klar, dass die Pflege zunehmend im Büro stattfand anstatt am Patienten. Führungskräfte kamen oft kaum noch dazu, direkte Pflegearbeit zu leisten. Aber der Pflegedienstleiter hatte darauf beharrt, dass Lea die Weiterbildung besuchte.

Gleich in der Vorstellungsrunde hatten beide, sowohl Lea wie Beer, deutlich gemacht, dass sie zur Weiterbildung geschickt worden seien und nicht aus eigener Motivation hier wären. Die Kursleiter hatten die Offenheit der beiden Teilnehmer zwar geschätzt, waren aber über die Ausgangslage nicht erbaut gewesen. Das war den Beiden zum Kurs Verknurrten aber ziemlich egal gewesen, denn noch bevor die Veranstaltung richtig begonnen hatte, hatten sie sich bereits hoffnungslos ineinander verguckt. Schon am Abend des ersten Kurstags hatten sie ein Rendezvous für die kommende Woche vereinbart.

Lea hatte im Prinzip nicht viel übrig für Lehrer. Aber Max war so ganz anders. Der grossgewachsene, sportlich-schlanke Mann mit den dichten, dunklen, gewellten Haaren, hatte ihr auf Anhieb so sehr gefallen, wie schon lange keiner mehr. Seine hellbraunen Augen strahlten Ruhe und Wärme aus. Der ganze Mensch ruhte in sich selbst. Er hatte eine kräftige, dunkle Stimme und sprach stets ruhig und besonnen. Zu Beginn der Weiterbildungsveranstaltung war ihr die abgewetzte Lederjacke aufgefallen und sie hatte sich gewundert, wie angehende Manager heute daherkamen.

Beer hatte vom ersten Moment der Veranstaltung an nur noch Augen für Lea gehabt, die feingliedrige, aussergewöhnlich hübsche Frau. Die naturgewellten, dunkelblonden Haare hatte sie meistens zu einem einfachen Knoten hochgesteckt, aber ein paar widerspenstige Strähnen fielen stets neckisch in ihr schlankes Gesicht. Am meisten hatten Beer gleich bei der ersten Begegnung die grossen, blaugrauen Augen der tollen Frau fasziniert.

Von der Weiterbildung hatten die Beiden nicht besonders viel profitiert. Aber sie hatten sich gefunden und konnten sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr vorstellen, ohne einander zu sein.

5

VERHAFTUNG

2. Juli 1989

Max Beer wachte am Sonntagmorgen nach wenig Schlaf und viel Liebe in Leas breitem Bett auf. Er fühlte sich entspannt und war zufrieden mit sich und der Welt. Es duftete nach frischem Kaffee. Beer suchte seine Uhr und erschrak. Für ein Frühstück mit Lea reichte es nicht mehr, wenn er rechtzeitig auf dem Flughafen sein wollte. Rasch schrieb er eine Botschaft auf die Rückseite einer Visitenkarte und schob sie unter die Matratze. Dann war nur noch Abschied. Sie trennten sich so, als würden sie sich nie mehr wiedersehen. Dabei würden sie sich in zwei Wochen schon wieder in den Armen liegen.

Zuhause verstaute Beer rasch alles, was nicht schon gepackt war, in den Taschen seiner Lederjacke, eilte mit dem Reisegepäck an die Bushaltestelle und schaffte den Anschluss am Bahnhof Biel gerade noch rechtzeitig.

Der Linienflug der Swissair landete pünktlich um 17:45 Ortszeit am Miami International Airport. „Wir sind der Sonne entgegengeflogen“, dachte Beer und stellte seine Taucheruhr zurück: Fünf Stunden für die Zeitzonenverschiebung plus eine Stunde wegen der Sommerzeit in Europa. Der Flug hatte zehn Stunden gedauert, mit dem Warten am Flughaben war die Reisezeit aber deutlich länger gewesen. Beer spürte sein Schlafmanko. Im Vordergrund waren aber Gefühle von Glück und Wohlbefinden und die Sehnsucht nach der nächsten intensiven Liebesnacht mit Lea. In Miami schien die Sonne und an Schlafen war nicht zu denken, denn er wollte sogleich weiterreisen zum Hotel in Key Largo. Er nahm den Reisekoffer vom Gepäckband und verliess den Flughafen durch den Zollfrei-Ausgang. Er war überzeugt, dass er nichts zu deklarieren hatte. Kurz vor dem Ausgang in den Besucherbereich wurde Beer von zwei Männern in dunklen Overalls abgedrängt und angehalten. Die Männer zückten Ausweise. Der eine brummte ͵Security Servicesʹ, der andere war angeschrieben mit ͵Immigration Controlʹ und sagte etwas in sein Funkgerät. Beer wurde durch eine Metalltüre geschoben, die in die Seitenwand eingelassen war. Sein Rollkoffer blieb an der Aluschwelle hängen. Der eine der Männer entriss ihm den Koffer und der andere steuerte ihn am Arm einen Korridor entlang.

„Worum geht’s?“ fragte Beer. Er sprach akzentfrei amerikanisch. Er hatte zwei Semester in Boston Biologie studiert.

„Shut up!“, sagte der Bodybuilder mit der Kurzhaarfrisur, zerrte Beer weiter und schob ihn schliesslich in einen Raum mit einem Tisch in der Mitte und einer Liege an der Wand. Auf dem Tisch stand ein Wäschekorb aus Plastik.

„Legen Sie Ihre Kleider in den Korb“, befahl der Mann.

„Alles?“ fragte Beer und schaute sich verunsichert um.

„Die Unterwäsche können Sie anbehalten.“

Beer faltete seine Lederjacke so zusammen, dass nichts herausfallen konnte. Den Umhänge-Beutel mit den Büchern, einer angebrochenen Flasche Mineralwasser, einer leichten Wolljacke und dem Reise-Necessaire hatte er auf den Boden gelegt. Dann zog er die helle Leinenhose und das türkisfarbene T-Shirt aus.

„Stellen Sie sich an die Wand.“

Beer wurde von einem der Männer abgetastet. Es war unangenehm und es war ihm peinlich.

„Legen Sie sich hin.“ Der Mann deutete auf die Liege. Ein weiterer Mann in weisser Kleidung betrat den Raum.

„Ich entnehme Ihnen Blut“ sagte der Mann in Weiss. Kein Gruss, keine Entschuldigung und kein Wort der Erklärung. Wortlos nahm man Beer die Fingerabdrücke. Die Männer hantierten routiniert, wie unbeteiligt und ohne jeden Respekt, so kam es Beer vor.

„Sorry“, sagte er auf dem Bett liegend, „können Sie mir bitte sagen, was hier gerade abgeht?“

„Sie sind verhaftet“ sagte einer der Männer, die ihn am Ausgang für ankommende Passagiere abgefangen und mitgenommen hatten. „Warum?“

„No comment.“

„Sie werden mir doch sagen können, wieso ich verhaftet bin!“

„Sie werden eines Gewaltverbrechens verdächtigt. Wir haben Grund zur Annahme, dass Sie auf der Flucht sind.“

„Kann ich meine Reisdokumente haben, bitte!“ Beer schaute sich nach dem Korb um, worin er seine Kleider hatte deponieren müssen. Der Korb war weg, sein Koffer war weg und ebenso der Umhängebeutel. Alles weg.

„Wird alles untersucht“, sagte der Mann in der schwarzen Uniform, „und ab sofort sind wir diejenigen, die Fragen stellen.“ Die Männer verliessen den Raum und schlossen die Türe von aussen ab. Beer rieb sich die Augen. Er konnte nicht fassen, was mit ihm geschah. Er lag in Boxershorts auf einer harten Liege. Seine Kleider, die Jacke mit allen Dokumenten, dem Geld, dem Fettstift für die Lippen, den er gerade dringend gebraucht hätte, alles hatte man ihm abgenommen. Auch den Lederbeutel mit der Wasserflasche. Beer fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und fühlte sich elend. Was war nur passiert? Bestimmt war es ein Missverständnis. Bald würde sich alles aufklären. Mit diesem Gedanken drehte sich Beer auf die Seite und döste ein.

6

3. Juli 1989

Beer fror, als er aufwachte. Er wusste nicht, wo er war. Milchig-weisses Licht in einem kahlen Raum, Wände aus Aluminiumprofilen und weissen Kunststoffplatten gefügt. Die Türe hatte oben ein Glas. Draussen war es dunkel. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte. Die Uhr hatte man ihm abgenommen, so wie alles andere auch. Er stellte die Füsse auf den Boden und rieb sich die Arme. Er trug dünne Socken und Boxershorts. Er musste zur Toilette. Er klopfte an die Türe. Nichts regte sich, kein Laut war zu hören. Die Erinnerung an seine Ankunft in Amerika stieg hoch. Er brauchte seine Sachen. Er konnte sich ausweisen. Er klopfte wieder an die Tür, diesmal stärker und länger, aber nichts geschah. Er hatte Durst, sein Mund fühlte sich verklebt und ausgetrocknet an und er musste mal. Er setzte sich wieder auf die Pritsche und versuchte, nachzudenken. Ruhig und tief atmen, sagte er sich. Das half normalerweise, sich zu konzentrieren oder zu entspannen. Jetzt half es nicht. Er machte Kniebeugen, um sich aufzuwärmen. Dann ein paar Liegestützen. Der Boden fühlte sich kalt und feucht an. Ausser der einfachen Liege, überzogen mit einer Papierbahn und dem kleinen Tisch mit zwei Stühlen gab es nichts im Raum. Vier Neonlampen waren in die Decke eingelassen und mit Gittern geschützt. Max suchte den Raum ab. Keine Lüftungsöffnung, kein Lichtschalter, nichts ausser den weissen Wänden. Die Türe konnte man nur von aussen abschliessen. Er drückte die Falle. Geschlossen. Klar, er hatte ja gehört, wie der Schlüssel im Schloss gedreht worden war. Er liess sich auf die Pritsche sinken und versuchte, seine Lage einzuschätzen.

Er werde eines Gewaltverbrechens verdächtigt, hatte einer der Männer gesagt und dass er auf der Flucht sei. Es musste sich um ein Missverständnis handeln, um eine Verwechslung, denn weder hatte er ein Gewaltverbrechen begangen noch war er auf der Flucht. Es wird sich alles klären, es muss sich aufklären, dachte Beer und legte sich wieder hin. Er krümmte sich zusammen, um die Kälte weniger zu spüren. Ausserdem war die Liege zu kurz für seine Körpergrösse. Heute war Montag, und er sollte in Key Largo sein.

Beer träumte. Er spielte in einer Band. Aber der grosse Konzertsaal war leer. Er wollte seine Kollegen fragen, wieso man denn spiele, wenn doch niemand da war. Aber die Kollegen hörten nicht auf ihn. Alle spielten wild durcheinander. Plötzlich hatte Beer anstelle der Gitarre ein Gewehr in der Hand.

„Mister Fleming. Mister Fleming, aufwachen!“

Die beiden Männer, die im Raum standen, hatte Beer noch nie gesehen. Aber die Security-Gorillas sahen einer aus wie der andere, trugen Overalls und hohe Schuhen. Auch diese beiden trugen Kurzhaarfrisur, steckten in einer schwarzen Uniform und hatten Funkgeräte am Gürtel.

„Ich bin nicht Mister Fleming“, sagte Beer. Er hatte Mühe, mit dem ausgetrockneten Mund überhaupt zu sprechen. „Ich bin Max Beer!“

„Ja, so steht es in Ihrem Reisepass. ͵Mäx Bierʹ. Lustig. Aber wir wissen, dass Sie Jonathan Fleming heissen und auf der Flucht sind. Mit gefälschten Papieren.“

Beer war sprachlos. Das durfte nicht wahr sein. War es auch nicht. Bestimmt würde sich alles aufklären, davon war Beer fest überzeugt.

„Kann ich meine Kleider haben, bitte“, sagte Beer, als er sich vom Schock etwas erholt hatte.

„Ziehen Sie das an“, sagte der Mann und legte eine beige Hose und ein graues T-Shirt auf die Pritsche.“

„Wo sind meine Kleider?“

„Zur Untersuchung. Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit.“

Der zweite Mann hatte bis jetzt nichts gesagt.

Verwirrt zog Beer die Kleider an, die man ihm hingelegt hatte. Das T-Shirt war zu gross und die Hose zu kurz. Die Strandsandalen passten auch nicht. Schlurfend folgte er den beiden Männern durch den Korridor, den er gestern schon entlanggeschoben worden war.

Vor einem Raum, in den man durch eine grosse Scheibe hineinsehen konnte, blieben sie stehen. Der Mann, der mit Beer gesprochen hatte, schloss auf und schob ihn unsanft in den Raum. Innen war die Glaswand verspiegelt. Der Mann verschloss die Türe von innen und nahm den Schlüssel an sich. Er führte Beer an den Tisch und die beiden schwarzgekleideten Männer setzten sich gegenüber. Beer sah sich und die Rücken der beiden Männer in der verspiegelten Scheibe. Der Mann, der Beer in den Raum gebracht hatte, nahm den roten Schweizerpass und ein Papier, das aussah, wie ein amtliches Formular, aus einer Dokumentenhülle.

„Na, endlich! Geht doch!“ seufzte Beer erleichtert.

„Wir haben den Bericht der Zollbehörde. Dieser Pass ist gestohlen und gefälscht, Mister Fleming. Zwar professionell, aber doch gefälscht. Beim Geburtsdatum muss aus einer 0 eine 2 gemacht worden sein, 24/04/1960 anstatt 04/04/1960. Das Foto wurde ausgetauscht, Ihr Bild, Mister Fleming, gegen das Foto des ursprünglichen Besitzers Max Beer, der Sie behaupten, zu sein. Sollte wohl witzig sein.“ Bei der Aussprache von Beer, dem amerikanischen Wort für Bier, hatte der Mann erneut gegrinst. „Wir wissen nicht, wie der rechtmässige Besitzer dieses Passes aussieht. Die Angaben über Statur, Haar- und Augenfarbe stimmen einigermassen mit Ihnen überein. Der Pass ist erst kürzlich ausgestellt worden und ausser dem Einreisevisum für die USA gibt es keinen Eintrag.“

„Mein alter Pass war abgelaufen“, sagte Beer leise und völlig verstört. Was sollte man denn sagen, wenn nichts von dem stimmte, was der Mann behauptete.

„Aber dies hier ist nicht abgelaufen!“ Der Mann legte ein durchsichtiges Säckchen mit weissem Pulver auf den Tisch. „Feinste Ware. War bestimmt teuer, oder?“

„Was ist das? Woher haben Sie das?“

„Heroin. Aus Ihrer Jacke. Ist das für Ihren Eigenbedarf oder dealen Sie damit?“

„Das gehört mir nicht!“

„Menge und Qualität lassen darauf schliessen, dass Sie mit dem Zeug dealen. Solch reinen Stoff kann man problemlos strecken.“

„Das hat nichts mit mir zu tun. Das müssen Sie mir glauben!“ Beer schluckte mühsam. „Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“

Der Mann drehte sich zum Einwegglas und schnippte mit den Fingern. Fast sofort drehte sich ein Schlüssel im Schloss und ein weiterer Mann in Schwarz brachte ein Glas Wasser.

„Der Stoff passt zum Verbrechen, weswegen Sie arretiert worden sind. Es geht um Mord an einem Drogendealer.“

„Hören Sie, ich habe mit dem allem nichts zu tun. Ich bin Schweizerbürger. Sehen Sie ja an meinem Pass. Ich will jetzt sofort raus hier. Nehmen Sie doch bitte Kontakt mit den Schweizerbehörden auf, mit der Botschaft, wenn Sie mir nicht glauben. Und Rauschgift habe ich noch nie im Leben auch nur angerührt, geschweige denn konsumiert oder gar gedealt mit!“

„Und wie kommt denn das hier in Ihre Jackentasche?“ Er schwenkte das Säckchen vor Beers Nase.

„Keine Ahnung, ich schwöre!“ schrie Beer verzweifelt. Er war einem Weinkrampf nahe.

„Und wieso sprechen Sie akzentfrei amerikanisch, wenn Sie angeblich Schweizer sind?“

„Ich habe in Boston studiert. Sehen Sie doch am unbefristeten B-Visum, das in diesem Pass erneuert worden ist.“

Der Mann blätterte gelangweilt die leeren Seiten des Schweizerpasses durch. „Ich sehe hier nirgendwo einen Eintrag für Boston.“

„Aber das B-Visum, das sehen Sie doch. Das erhält man nur für einen längeren, bewilligten Aufenthalt in den USA.“

„Ja, wir glauben Ihnen sogar, dass Sie in Boston studiert haben. Sie sind ja Lehrer. Und die zwei Bücher, die wir gefunden haben, passen perfekt ins Bild.“

Beer lief es kalt den Rücken runter, als er hörte, dass er angeblich mit einem Lehrer verwechselt wurde und dass man seine amerikanischen Lehrbücher gefunden hatte. Zerknirscht und niedergeschlagen schüttelte er den Kopf.

„Ein Haftrichter wird über das weitere Vorgehen entscheiden.“

„Nein! Das können Sie doch nicht machen! Ich will einen Anwalt sprechen!“

„Den sehen Sie in New York. Vorläufig halten wir Sie hier fest. Es besteht Fluchtgefahr.“

„Wieso New York?“

„Weil dort der Mord geschah, weswegen Sie festgenommen sind.“

„Und was tun Sie hier?“ fragte Beer den zweiten Mann in Schwarz am Tisch, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte.

„Ich bin der Team Leader der Security Agents und stelle sicher, dass hier alles korrekt abläuft.“

„Und Sie finden korrekt, was hier gerade abgeht?“ schrie Beer wütend und enttäuscht.

„Kommen Sie. Wir bringen Sie jetzt in den Sicherheitsbereich.“

Und was zum Henker war das denn gewesen, was er bisher gesehen hatte, fragte sich Beer. Gefühle von Angst, Wut und Resignation übermannten ihn.

7

4. Juli 1989

Beer war schon seit Stunden wach. Nichts rührte sich im sogenannten Sicherheitsbereich des Miami International Airport. Er wartete und wartete. Ihm war kalt und er sollte schon lange zur Toilette. Ihm war klar, dass das Kältegefühl und der Harndrang miteinander zu tun hatten. Das Wasser in der Harnblase, das auf Körpertemperatur gehalten wurde, verbrauchte Kalorien. Aber er hörte keinen Laut. Absolut nichts rührte sich. Ab und zu döste er wieder ein auf der harten Liege. Er hatte bizarre Träume von irgendwelchen Aktionen im Schnee. Immer wieder dieselben Bilder und Empfindungen. Unwegsames Gelände. Ein Auto, das steckenblieb.

Endlich wurde die Türe aufgeschlossen und ein mürrisch dreinschauender Mann in Schwarz – das übliche Modell, gross, kräftig, Bürstenschnitt – stellte ein Kunststoffgefäss auf den Tisch.

„Ihr Essen.“

„Etwas zu trinken, bitte“, sagte Beer mit trockener Stimme.

„Gibt es nicht. Ich bin nur Aushilfe. Heute ist der vierte Juli. Independence Day. Heute geht gar nichts hier unten. Sie können froh sein, dass überhaupt jemand da ist.“

Der Mann begleitete Beer wortlos zur Toilette. Nachdem Beer zurück in der Zelle war, schloss der Mann die Türe von aussen ab ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben. Beer dachte an Folter und an Amnesty International. Es half nichts. Er schaute nach, womit er sich verpflegen sollte, am Unabhängigkeitstag seines Gastlandes. Die Kunststoffschale war mit einer Plastikfolie verschweisst. Er brach einen Fingernagel beim Lösen der Folie. Undefinierbare Klösse schwammen in einer braunen Sauce. Die kleine Plastikgabel brach beim ersten Versuch, etwas aus dem Kunststoffgeschirr zu fischen. Angewidert schob er das Zeug von sich. Er konnte immer noch nicht fassen, was mit ihm geschah. Er fühlte sich hilflos ausgeliefert. Ein unangenehmer Essensgeruch verbreitete sich im kleinen Raum und liess bei Beer Brechreiz aufkommen.

„Schon Dienstag“, dachte er verzweifelt „und ich sitze im Sicherheitstrakt des Flughafens fest anstatt im Hotel zu sein und in der Florida Bay zu tauchen.“

8

5. Juli 1989

Daniel war einer der Männer beim Sicherheitsdienst, die keine schwarze Uniform trugen. Er war heute zur Frühschicht eingeteilt und sass vor der Wand mit den Überwachungs-Monitoren. Er fühlte sich müde und schläfrig, denn er hatte gestern mit seinen Freunden bis in alle Nacht Unabhängigkeitstag gefeiert. Er wusste zwar nicht, was für eine Unabhängigkeit da zelebriert worden war, aber Hauptsache, es hatte etwas zu feiern gegeben und die Grill-Bar im Quartier hatte bis in die frühen Morgenstunden geöffnet gehabt. Daniel wusste genau, dass er niemals alkoholisiert zum Dienst hätte antreten dürfen. Da kannte der Elefant nichts. Pete Zampa war Kommandant der Sicherheitsdienste. Warum Zampa hinter vorgehaltener Hand ‚der Elefant‘ genannt wurde, das wusste Daniel auch nicht. Er hatte Zampa als ͵scharfen Hundʹ kennengelernt, der jedes Übertreten einer Dienstvorschrift sofort mit voller Härte ahndete. Daniel hatte schon einen Verweis und einen Eintrag in seiner Dienstakte, weil er ein einziges Mal zu spät zur Arbeit erschienen war. Und jetzt sollte er zwanzig Bildschirme gleichzeitig überwachen und mit den Porträts vergleichen, die über der Monitorwand an einer Leiste klebten.

Heute wäre er um ein Haar wieder zu spät zum Dienst gekommen. Zum Glück mussten sie hier keinen Alkoholtest machen wie die Piloten und die Leute vom Tower. Noch nicht. Wer weiss, wie lange es noch dauern würde, bis auch sie vor Dienstantritt ins Röhrchen blasen mussten. Heute hätte sein Restalkoholpegel bestimmt über dem Grenzwert von 0,0 Promille gelegen. Und für den Elefanten galt Nulltoleranz.

Plötzlich schreckte Daniel aus seinen Gedanken auf. Auf einem der Bildschirme glaubte er einen Mann zu erkennen, dessen Phantombild er kürzlich selber an die Latte geheftet hatte. Die betreffende Kamera nahm Passagiere bei der Passkontrolle in der Abflughalle auf.

„Dieses Gesicht kennen wir doch“, sagte Daniel halblaut zu sich. „Wo haben wir ihn denn bloss?“

Er ging die Fotos und Phantombilder von links nach rechts durch. „Wo ist der denn jetzt nur hingekommen? Erst letzte Woche haben wir den doch reingekriegt und ich hab ihn selber an die Latte getackert. Ich kann mich noch genau an das Gesicht erinnern. Aber jetzt ist das Bild weg.“ Er schaute wieder auf die Bildschirme. „Und jetzt ist natürlich auch der Typ weg von den Kameras!“ Daniel schaute ganz genau hin, was die Kameras bei den Gates auf die Monitoren schickten. Nichts. Er hatte den Mann verloren.

Nach Dienstschluss schaute er die Rapporte durch. Da war das Phantombild. Auf dem Laufzettel stand: „Jonathan Fleming. Verhaftet am 2. Juli.“

„Dann ist ja gut“, sagte sich Daniel erleichtert. „Oder doch nicht?“ Er war plötzlich unsicher, was nun zu tun war. „Ob ich die Beobachtung wohl melden sollte?“ Natürlich musste er melden, wenn ihm eine der gesuchten Personen vor die Kamera gelaufen war. Aber der hier war ja schon verhaftet, hiess es im Rapport. Merkwürdig. Wie konnte das denn sein? „Hab ich nun schon Halluzinationen?“ fragte sich Daniel halblaut. Er entschied sich, nichts zu melden, weil er sonst womöglich hätte erklären müssen, wo und wieso er den Mann verloren hatte. Schlimmstenfalls käme es zu einer internen Untersuchung und das hätte ihm gerade noch gefehlt. Ein Eintrag in der Dienstakte war eh schon einer zuviel.

Zwei Stockwerke unterhalb des Arbeitsplatzes von Daniel war Beer aus einer Arrestzelle in den Verhörraum mit dem Einwegglas gebracht worden.

„Sie werden nun nach New York City überstellt, dem Ort, wo Sie mutmasslich ein Gewaltverbrechen verübt haben. Dort wird der Haftrichter entscheiden, ob Sie aufgrund der vorliegenden Indizien in Untersuchungshaft genommen oder freigelassen werden.“

Beer erkannte einen der beiden Männer wieder. Er war bei seiner Verhaftung am Sonntag dabei gewesen. Auch heute trug er die furchteinflössende, schwarze Uniform. Neben ihm sass ein älterer, freundlich dreinschauender Herr. Er war braungebrannt und trug legere Sommerbekleidung.

„Ich will jetzt unverzüglich all meine Sachen zurück!“ sagte Beer laut und klar. Er hatte seine Stimme wieder gefunden, nachdem man ihm Wasser in die Zelle gebracht hatte. Und er hatte sich fest vorgenommen, dieser unglaublichen Sache hier und jetzt ein Ende zu setzen.

„Wir bereiten die Überstellung vor. Sie können dann dem Haftrichter erklären, was Sie zu erklären haben.“

„Dann will ich jetzt sofort einen Anwalt sehen. Sofort!“

„Den werden Sie in New York sehen, sobald Sie dort sind. Dr. Dinep wird Sie jetzt darüber informieren, wie das Ganze abläuft. Ich lasse Sie solange allein.“

“Things ain‘t what they seem to be”, sagte der ältere Herr, der sich als Amtsarzt vorgestellt hatte. „Es ist nicht, wie es scheint. Die Leute hier erledigen Routinearbeit. Sobald es kompliziert wird, schalten sie auf ͵Dienst nach Vorschriftʹ. Am besten, Sie spielen das Spiel vorläufig mit, sonst verschwenden Sie nur Ihre Energie, die Sie später vielleicht dringend brauchen werden.“

„Was für ein Spiel meinen Sie?“ Beer hatte etwas Vertrauen zu dem Mann, der sich als Arzt ausgab und vom Alter her sein Vater hätte sein können. Er sprach ruhig und schaute Beer dabei freundlich an und nicht so, wie die Sicherheitsleute mit ihren verbissenen Mienen.

„Sie werden hier für etwas festgehalten, wofür es noch keine Beweise gibt, allenfalls Indizien.“

„Es handelt sich um eine simple Verwechslung, um ein Missverständnis. Ich bin nicht Mister Fleming sondern Max Beer, ein Schweizer auf Urlaubsreise!“

„Ja, das haben Sie schon gesagt. Jetzt warten Sie mal die Vorladung beim Haftrichter ab. Das ist der Vorgang, von dem der Sicherheitsmann gesprochen hat. In New York wird sich alles klären. Die Leute hier machen nur ihren Job. Und würden sie einen Mörder laufen lassen, bekämen sie ein grosses Problem.“

„Ich bin aber kein Mörder!“ schrie Beer verzweifelt.

Dinep strich sich ein paar dünne Haarsträhnen aus der Stirn. Der junge Mann wirkte auf ihn keineswegs wie ein Gewaltverbrecher. Tatsache war aber, dass er aufgrund von Fahndungshinweisen verhaftet worden war und nun in New York dem Haftrichter vorgeführt werden sollte. Dinep versuchte es mal so:

„Solange Sie nicht verurteilt sind, gilt die Unschuldsvermutung. Man muss Ihnen beweisen können, dass Sie ein Verbrechen begangen haben, bevor man Sie verurteilen kann.“

„Und was kann ich denn tun, um meine Unschuld zu beweisen? Man hat mir all meine Dokumente weggenommen!“

„Das gehört zu den Routinevorgängen.“

„Was soll ich nun machen?“

„Am besten geben Sie den Widerstand auf. Es zermürbt Sie nur und hilft Ihnen doch nicht weiter. Wenn Sie sich wehren, rennen Sie gegen Mauern.“

„Sie meinen, ich sollte tun, als wäre ich Mister Fleming?“

„Richtig. Am besten sagen Sie gar nichts mehr, bis sich ein Anwalt um Sie und Ihren Fall kümmert.“

„Ich bin aber kein Fall!“

Der Arzt beugte sich vor, lächelte und nahm Anlauf, um etwas zu erwidern. Dann besann er sich und lehnte sich wieder zurück. Das freundliche Lächeln blieb auf seinem Gesicht. Beer war aufgefallen, dass der Arzt die Augenbrauen hochzog, wenn er sprach und dass er sich die schütteren Haare aus der Stirn strich, wenn er nachdachte.

„Was für ein Arzt sind Sie denn? Und wozu brauche ich überhaupt einen Arzt? Ich bin ja nicht krank!“

„Ich bin von Beruf Psychiater und heute bin ich hier in der Funktion des Gerichtsarztes. Es ist Vorschrift, dass bei einer Verhaftung ein Gerichtsarzt beigezogen wird. Ich bin heute Morgen früh extra aus New York hierhergeflogen.“

„Verhaftung!“ dachte Beer entsetzt. „Sagen Sie mir doch bitte nochmals Ihren Namen.“

Der Arzt entnahm seiner Ledermappe eine Visitenkarte und reichte sie Beer über den Tisch. ‚Dr. Martin Dinep, Court psychiatrist‘, stand da dunkelgrau auf weiss, darunter ‘Detention Center Brooklyn, New York’ und zwei Telefonnummern. Beer suchte nach einer Tasche, wo er die Karte hätte einstecken können. Die Kleidung, die er seit seiner Verhaftung trug, hatte keine Taschen. Also schob er die Karte unter den Bund seiner Boxershorts, die er liebend gern endlich gewechselt hätte.

Anschliessend an das Gespräch mit Dr. Dinep wurde Beer in Handschellen zu einem dunkelbraunen GM-Van gebracht. Man hatte ihm für die Reise eine Jeansjacke und billige Stiefel abgegeben.

„Ich will meine Sachen, das Reisegepäck und meine Dokumente“, sagte Beer dem Mann der ihn zum Van brachte. Beim Fahrzeug angekommen, weigerte sich Beer, einzusteigen und brachte sein Anliegen erneut vor.

„Ihre persönlichen Sachen sind zur Untersuchung. Sobald die abgeschlossen ist, erhalten Sie das Zeug zurück.“

„Aber dann bin ich in New York und meine Sachen sind hier!“

Ohne weiter auf sein Anliegen einzugehen, forderte der Mann Beer auf, sofort einzusteigen. Der Befehl wurde durch zunehmenden Druck an Beers Oberarm bekräftigt. Der Mann im obligaten schwarzen Overall stieg dazu. Eine dicke Scheibe trennte den Fond des Wagens von der Führerkabine. Auf der dritten Sitzreihe hinter Max und seinem Bewacher hatte ein weiterer Mann in Schwarz Platz genommen. Beer versuchte, sich trotz der Handschellen zu entspannen. Es würde eine lange Reise werden von Miami nach New York City. Er kannte die Strecke von der Reise in einem Bus der Greyhound-Linien, die er während seines ersten USA-Aufenthalts gemacht hatte. Damals allerdings in umgekehrter Richtung, von New York nach Miami. Die Distanz bleibt aber dieselbe, dachte Beer und versuchte, es sich einigermassen bequem zu machen. Dann ging die Fahrt los. Der Mann am Steuer fuhr wie ein Räuber um Kurven und forsch auf Stoppstrassen und Ampeln zu, um im letzten Moment voll auf die Bremse zu treten. Die Passagiere wurden ganz schön durchgeschüttelt. Fahrer und Beifahrer waren Männer ohne schwarze Anzüge. Der Eine würde die Ablösung für den andern sein, nahm Beer an. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, den Rat des Doktors zu befolgen und aufzuhören, sich dagegen zu stemmen, was ihm unterstellt wurde und widerfuhr.