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Bon appetit en Alsace! Laurent Wendling, ein junger Elsässer Landwirt, liegt erschlagen auf seinem Acker in der Nähe des idyllischen Örtchens Pfaffenhoffen. Noch am selben Abend verunglückt seine Frau mit ihrem Auto. Ex-Commissaire Jean Paul Rapp kennt die Familie persönlich und ist mit den Ermittlungen seines Nachfolgers Rimbout keineswegs einverstanden. Entschlossen macht er sich selbst daran, dem mysteriösen Fall auf den Grund zu gehen, und stößt dabei auf brisante Verwicklungen jeglicher Couleur ...
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Seitenzahl: 368
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Suzanne Crayon – ein deutsches Autorenduo – kennt, liebt und bereist das Elsass seit mehr als drei Jahrzehnten. Sie wird von manchen Störchen im Elsass bereits klappernd begrüßt und könnte für »Grumbeerkiechle« mit einem Gläschen Pinot Blanc glatt einen Mord begehen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Zdenek Matyas Photography
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat, Bremberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-891-7
Originalausgabe
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Wir machen uns Feinde.
Aber hatten wir denn Freunde?
Jules Renard,
Prélude
La Forêt de Pfaffenhoffen
Donnerstag, 23.September, früher Abend
Laurent Wendling spürte keinen Schmerz. Der Schlag hatte ihn an der Schläfe getroffen, er sackte zusammen und sank langsam auf die Knie. Sein Kopf, in dem er nur noch ein dumpfes Rauschen fühlte, glitt nach hinten, von einer unsichtbaren Macht zum Nacken hingezogen. Sodass sein Blick wie selbstverständlich, auf fast natürliche Weise, nach oben gelenkt wurde, hinauf zum flimmernden Himmelsblau. Zarte weiße und graue Wolkenfäden spannten sich darüber. Oder darunter? Und dieser winzige blutrote Fleck, der dort schwebte, hoch, hoch über ihm, war das ein Paraglider? Oder ein Insekt, direkt vor seinen erlöschenden Augen?
Er zwang sich mit geradezu übermenschlicher Kraft, den Kopf wieder nach vorn zu richten. Sein flackernder Blick ruckelte über das Feld reifer sattgrüner Kohlköpfe, auf dessen Erde er kraftlos kniete. Ein letztes Mal erfasste er mit den brechenden Augen das Dorf wie am Ende eines endlos langen Tunnels. Ein idyllisches Ensemble sandsteinfarbener Häuser mit roten Ziegeldächern vor der gigantischen waldgrünen Kulisse der Vogesen.
Er meinte sogar, seinen Hof zu erkennen. Der seine Zukunft hätte werden sollen und der jetzt vielleicht das Letzte war, was er in seinem Leben sehen sollte.
Das Bild erlosch. Stattdessen stieg in seinem Innern die Vorstellung von einem Meer aus riesigen schneeweißen Kugeln auf. Jede einzelne zentnerschwer, von der äußeren grünen Hülle befreit, weiß, leuchtend wie Lampions.
Tausende Messer schossen plötzlich heran, lang wie Degen, scharf wie Schwerter. Sie säbelten und metzelten, hackten und schnitten. Aber nicht zartweiße Fäden waren das Resultat, sondern labbrige Fetzen wie nasses Herbstlaub, zu nichts zu gebrauchen.
Die Anstrengung war zu groß. Wieder glitt sein Kopf in den Nacken. Sein Blick war endgültig blind geworden, doch in das Rauschen in seinem Kopf drangen noch immer die Vogelstimmen aus dem Wald in seinem Rücken. Sie schwollen an zu einem einzigen klanghellen, überirdisch schönen Ton, der seinen ganzen Körper erfasste und ihn ausfüllte wie eine Hymne auf das Leben.
Dann traf ihn der zweite Schlag an der Schläfe. Und im selben Moment erstarb die Hymne.
EINS
Freitag, 24.September, früher Abend
Es war bereits kurz nach sieben, als Jean Paul Rapp bei Burnhaupt-le-Bas, auf halber Strecke zwischen Belfort und Mulhouse, auf die Route nationale abbog. Nach knapp siebenstündiger Fahrt von Paris lagen nun nur noch gut zwanzig Kilometer bis Pfaffenhoffen vor ihm.
»Bald zu Hause, Honoré«, versprach er mit einem Blick in den Rückspiegel seinem Hund, der zusammengekringelt wie eine Lyoner Wurst auf dem Rücksitz des Wagens lag und als Antwort nur müde eine Augenbraue anhob. Hund und Auto waren beide nicht mehr die Jüngsten. Rapp hatte den Eindruck, dass Honoré, sein inzwischen fünfzehn Jahre alter schwarz-weiß-braun gefleckter Terrier-Rüde, und sein 2CV, eine rot-schwarz lackierte Charleston-Ente, die Ruhepausen an den Aires de service, den Raststätten der Autobahn, die er während der Fahrt eingelegt hatte, beide gleichermaßen gebraucht hatten. So wie er selbst.
Er konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Nicht, weil um diese Uhrzeit noch viele Fahrzeuge unterwegs gewesen wären, das Gegenteil war der Fall. Sondern weil er nachtblind war, und die Dämmerung hatte längst eingesetzt. Die Route nationale schlängelte sich als graues Band entlang der Weinhänge im Westen, deren Übergang zu den bewaldeten, kühleren Zonen in den höheren Lagen er kaum noch erkennen konnte. Am Himmel flimmerte ein weiches, diffuses Abendlicht, reflektiert von einer matt leuchtenden Wolkendecke über der flachen, fruchtbaren Landschaft des Rheintals. Weiter hinten im Osten streckten die Spitzen des Schwarzwalds ihre Häupter, als wollten sie noch die letzten Sonnenstrahlen trinken, ehe sich die Nachtschwärze auf sie herabsenkte.
Rapps Gedanken wanderten zurück zu seinem Aufenthalt in Paris bei seinem Sohn Edgar und dessen Mann Julien, und vor allem zu Maëlle, seiner kleinen, knapp einjährigen Enkelin. Ihm ging buchstäblich das Herz auf, wenn er an sie dachte.
Edgar und Julien führten schon seit einigen Jahren sehr erfolgreich ein Restaurant, das Petite Cigogne in der Rue de la Bourgeoisie, ganz in der Nähe der Place Jean Gabin am Montmartre. Und vor einem Jahr etwa waren sie Väter geworden. Rapp hatte inzwischen auch Maëlles leibliche Mutter kennengelernt, Maélys. Sie hatte zwar den Wunsch nach einem Kind gehabt, doch als Restaurant- und Hoteltesterin für den Guide Michelin musste sie ständig unterwegs sein; ein Baby zu versorgen, schien ihr daher unmöglich. Julien und Edgar hatten das Mädchen adoptiert. Einer von beiden, Julien oder Edgar, war auch der biologische Vater, schwer zu sagen, wer, denn die kleine Maëlle glich irgendwie beiden, fand Rapp. Wie ihre Mutter und wie ihre beiden Väter hatte sie brünette Haare und nussbraune Augen. »Und wie ihre beiden Väter hat sie wunderschöne O-Beine«, hatte Rapp gescherzt. Was man inzwischen auch beim Laufen bewundern konnte. Die Kleine hatte kürzlich die ersten eigenen Schritte gewagt.
Rapp hatte die knappe Woche genossen, die er mit Edgar, Julien und Maëlle in Paris hatte verbringen dürfen. Er war erstaunt und erleichtert, wie wunderbar die beiden Männer das neue Familienleben mit Maëlle hinbekamen. Sicherlich trug nicht zuletzt die Tatsache dazu bei, dass Julien, Chefkoch im Petite Cigogne, ein Jahr Auszeit vom Restaurant genommen hatte und sich von einem Kollegen vertreten ließ. Zum Ausgleich hatte Julien neben Maëlle auch Rapp, solange er zu Besuch war, bekocht. Überhaupt nutzte er die berufliche Auszeit, um zu Hause an neuen Choucroute-Rezepten zu basteln, »die das Traditionelle mit dem Verwegenen kreuzen« sollten, wie er sich ausdrückte. Unter anderem hatte Rapp Choucroute au loup de mer probieren dürfen – Sauerkraut an Seewolf, einfach köstlich. In der knappen Woche hatte er sicher anderthalb bis zwei Kilo zugelegt. Sylvie, die für so etwas ein Auge hatte, würde das sicher sofort auffallen, wenn sie sich demnächst trafen.
Thann und Cernay waren die nächsten Städtchen, an denen er vorbeifuhr.
Sylvie Printemps war nun schon seit zwei Jahren Rapps Nachbarin in Pfaffenhoffen. Und seitdem waren sie sich peu à peu nähergekommen. Und doch – Rapp konnte nicht sagen, woran es lag – waren sie noch immer kein Paar. An Rapp konnte das nicht liegen (fand Rapp). Auf die eine oder andere Weise war immer etwas dazwischengeraten, ehe sie wirklich hätten zusammenkommen können. Momentan war Sylvie schlicht noch verreist. Sie besuchte eine Freundin in Basel und wollte am Samstag oder Sonntag zurück sein.
Inzwischen war die Sonne so tief hinter dem Horizont abgetaucht, dass nicht mal mehr die Bäuche der Wolken von ihr angestrahlt wurden. Der nachtblinde Rapp war daher froh, dass er gleich hinter Rouffach die Ausfahrt nach Pfaffenhoffen nehmen und über die Rue du Fossé und die Rue Grand Cru das Maison Michelberger ansteuern konnte.
Er parkte den Charleston in dem Carport auf der Rückseite des Hauses und sog die herbstfrische Luft ein, die von den Vogesen herab ins Rheintal strömte. Honoré stand zwar ebenfalls wieder auf allen vieren, ließ sich aber von Rapp aus dem Wagen tragen, da seine alten Hundeknochen den Sprung hinaus nicht mehr schmerzfrei schafften. Rapp setzte ihn behutsam auf dem Boden ab, streckte sich auch selbst, nahm den Koffer in die Hand und ging, gefolgt vom Hund, zum Hintereingang des Hauses.
Das Maison Michelberger war ein schöner alter, vollständig restaurierter Weinbauernhof aus traditionellem Elsässer Fachwerk, in dem Rapp eine gemütliche Wohnung auf der Vorderseite hatte. Die Wohnung der Michelbergers, seiner Vermieter, in einem modernen Anbau auf der Rückseite des Hauses war unbeleuchtet. Monsieur und Madame Michelberger waren für ein paar Tage verreist. Irène Michelberger hatte vor einem Jahr eine Schilddrüsenerkrankung überstanden, seitdem gönnte sie sich hin und wieder ein Wellnesswochenende, drüben auf deutscher Seite, in einem Spa im Schwarzwald. Martin, ihr Mann, begleitete sie, wenn er die Zeit dazu fand.
Rapp machte Licht in der Halle, die früher einmal ein Speicherraum gewesen sein mochte, durchquerte sie mit dem braven Honoré an seiner Seite, trat auf der Hofseite wieder hinaus und öffnete die Tür, die über eine Sandsteintreppe hinauf zu seiner Maisonettewohnung im ersten und zweiten Stock führte. Die Stufen waren tückisch und hoch. Er ließ den Koffer zunächst unten stehen, klemmte sich Honoré unter den Arm und hangelte sich mit Hilfe des dicken Taus an der Wand, das als Geländer diente, hinauf.
Als er seine Wohnungstür erreichte, haftete in Augenhöhe ein Zettel daran. Im funzligen Flurlicht erkannte er zu seinem Erstaunen den Briefkopf der Gendarmerie Rouffach. Pfaffenhoffen, ein Fünfhundert-Seelen-Ort, besaß keinen eigenen Gendarmerieposten.
Rapp setzte den Hund ab, nahm den Zettel von der Tür, der nur leicht angeklebt war, um ihn in der Wohnung zu lesen. Doch als er versuchte, die Tür zu öffnen, passte der Schlüssel nicht.
»Alors?«
Er versuchte es erneut. Vergeblich.
»Was ist das?«
Honoré sah ratlos zu ihm auf.
Jetzt las Rapp den Text, der offenbar standardmäßig auf den Zettel gedruckt worden war: Seine Wohnung habe leider von der Feuerwehr gewaltsam geöffnet werden müssen. Da weder er selbst noch eine andere verantwortliche Person auffindbar gewesen sei, habe ohne seine Einwilligung ein neuer Schlosszylinder eingebaut werden müssen. Die Wohnung sei unter Aufsicht der hinzugerufenen Gendarmerie wieder verschlossen worden. Den Schlüssel dazu könne er sich jederzeit in der Gendarmerie Rouffach, Rue Rettig 57, abholen. In Klammern die Telefonnummer der örtlichen Gendarmerie.
Rapp nahm sofort sein Mobiltelefon zur Hand und rief an. Besetzt.
»Man sperrt mich aus! Was zum Teufel soll das?«
Honoré, der ungeduldig zu ihm aufblickte, schien Herrchens Empörung zu teilen. Trotz all ihrer Lebenserfahrungen hatten sie beide so etwas noch nie erlebt.
Rapp probierte erneut anzurufen. »Immer noch besetzt. Herrgott!«
Kurzerhand klemmte er sich Honoré wieder unter den Arm, stakste, so schnell es ging, die Stufen hinunter, ließ den neben der Haustür abgestellten Koffer stehen, schloss von außen ab und fuhr mit Honoré zur Gendarmerie in Rouffach.
Über die kleine Nebenstraße parallel zur Route nationale waren es nur zwei Kilometer bis nach Rouffach, die Gendarmerie in der Rue Rettig befand sich ein paar Steinwürfe hinter dem Intermarché am Ortseingang. Dennoch erforderte die schmale Spur der Straße Rapps volle Konzentration, und er fuhr beinahe im Schritttempo, um nicht nachtblind auf dem Gemüseacker von Michel Courent zu landen, einem jungen Landwirt, der als Junge mit Edgar befreundet gewesen war.
Alles ging gut. Er parkte den Wagen vor dem modernen Flachbau der Gendarmerie und betrat mit Honoré das fast leere Entree des Gebäudes. Nur einer der Schreibtische hinter dem hüfthohen Empfangstresen war noch besetzt. Eine blonde Polizistin in der hellblauen Uniformbluse der Gendarmerie saß daran. Sie blätterte in irgendwelchen Papieren und hörte nebenbei Radio über den Bildschirmlautsprecher des Computers auf ihrem Tisch. Rapp erkannte die Beamtin – und sie ihn –, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, aufstand und an den Tresen trat.
»Monsieur Rapp«, grüßte sie ihn verhalten.
»Madame Haller, salut.«
Rapp war überrascht. Er hatte Fabienne Haller letztes Jahr im Zusammenhang mit der Aufklärung des Mordes an Alain Kieffer, Rouffachs früherem Museumsdirektor, kennengelernt. Damals hatte sie zeitweise im Team seines ehemaligen Assistenten Rimbout gearbeitet, der nach Rapps Ausscheiden aus dem Dienst sein Nachfolger als leitender Commissaire geworden war. Danach hatte er Fabienne wieder aus den Augen verloren.
»Sie sind zurück in der Gendarmerie?«, fragte er.
»Zurück zu den Wurzeln, wie man so sagt.« Sie lächelte. »Man hat mir die Leitung angeboten.«
»Meinen Glückwunsch!« Rapp erinnerte sich, dass Fabienne Haller ihm erzählt hatte, sie habe als junge Polizistin zuerst bei der Gendarmerie angeheuert. Nun war sie deren Chefin in Rouffach.
Fabienne bückte sich und holte aus einem Fach unterhalb des Tresens eine kleine Plastikschale hervor, in der sich ein Schlüssel befand. »Sie kommen natürlich wegen der Nachricht an Ihrer Wohnungstür.«
»Allerdings.« Rapp war bereits im Begriff, den Zettel, den er in seine Jacketttasche gesteckt hatte, herauszuholen, unterließ es jetzt aber. »Ihr habt mein Schloss ausgetauscht. Warum?« Manchmal, wenn er wieder mit der Polizei zu tun hatte, fiel er unversehens in das kollegiale Du seiner aktiven Dienstzeit.
Fabienne Haller schob ihm den Schlüssel aus der Plastikwanne zu und legte ein Formular zum Unterschreiben dazu.
»Die Sache ging von der Feuerwehr aus«, erklärte sie.
»Das habe ich gelesen. Aber wieso war das nötig? War Feuer in der Wohnung ausgebrochen?« Von außen hatte er keinen Schaden gesehen. Nicht mal Brandgeruch hatte er wahrgenommen.
»Die Feuerwehr hat heute früh einen Notruf von Mietern einer Touristenwohnung in Ihrem Haus erhalten. Sie hatten den Alarm von Rauchmeldern in Ihrer Wohnung gehört. Nichts passiert«, beruhigte ihn Fabienne Haller sogleich. »War ein Fehlalarm. Aber um sicherzugehen, musste die Feuerwehr die Wohnung aufbrechen, da Sie nicht zu Hause und auch Ihre Vermieter nicht zu erreichen waren.«
»Ich war verreist. Meine Vermieter ebenfalls.«
»Der Rauchmelder ist defekt, hat die Feuerwehr festgestellt. Sie müssen dringend einen neuen anbringen lassen, Monsieur Rapp. Vorschrift.«
Rapp seufzte. Er hatte noch vor seiner Paris-Reise Martin Michelberger, seinen Vermieter, darauf hingewiesen, dass der Rauchmelder in der Küche praktisch auf alles reagiere. »Er schlägt sogar Alarm, wenn ich die Kühlschranktür öffne«, hatte er Michelberger erklärt. Also hatte Martin Michelberger umgehend die für die Wartung zuständige Firma beauftragt. Und die hatte ihm versichert, der Schaden sei behoben. »Nur die Batterie«, hatte ein Techniker behauptet. Wahrscheinlich reagierten die Dinger auf Temperaturveränderungen jeglicher Art.
Rapp nahm den Schlüssel an sich und quittierte den Erhalt.
Als er sich von Fabienne bereits mit einem Dank verabschieden wollte, auch Honoré machte schon den Ansatz zur Kehrtwende, bemerkte Rapp einen besonderen Blick in ihren Augen. Er zögerte.
»Alors, Monsieur Rapp«, sagte sie, »was halten Sie von der Sache, die am Forêt passiert ist?« Sie sah ihn interessiert an.
Rapp stutzte. »Welche Sache an welchem Forêt?«
»Pardon, Sie waren ja verreist. Wirklich nichts davon gehört, dass Laurent Wendling drüben am Forêt de Pfaffenhoffen erschlagen wurde?«
»Laurent Wendling? Erschlagen, sagen Sie?«
Rapp war fassungslos. Er kannte den jungen Landwirt. Laurent war der Sohn des alten Schàngi Wendling, dessen Hof sich am östlichen Rand von Pfaffenhoffen befand. Rapp kaufte dort frische Eier und Milch, wenn er die Zeit dazu fand. Vor allem aber Choucroute, das die Wendlings noch selbst herstellten. Sie besaßen einen Streifen Ackerland, der sich vom Bauernhof bis zu dem ausgedehnten Waldstück hinzog, das in und um Pfaffenhoffen schlicht »La Forêt« genannt wurde.
»Wann ist das passiert?«, wollte Rapp wissen.
»Gestern Abend, wie es aussieht. Spaziergänger haben Laurent gefunden. Er lag mit einer klaffenden Wunde am Kopf auf seinem Acker, neben den Kohlfeldern direkt am Waldrand.«
Rapp fiel Laurents Vater ein. Und seine Frau. »Armer Schàngi. Arme Sandrine«, sagte er.
Fabienne schüttelte nachdenklich den Kopf. »Was die Sache noch trauriger macht, ist, dass auch Sandrine schwer verletzt ist. Sie liegt im Krankenhaus auf der Intensivstation.«
»Was sagen Sie da?« Rapp starrte Fabienne Haller ungläubig an.
»So ist mein Stand. Wir von der Gendarmerie hatten wie üblich den Tatort und die Unfallstelle zu sichern. Sandrines Wagen lag im Graben, ganz in der Nähe der Stelle, wo man Laurent entdeckt hat. Was nach Meinung von Commissaire Rimbout auch der Tatort zu sein scheint. Ich hatte Gelegenheit, kurz mit ihm zu sprechen.«
»Und wie geht es Sandrine jetzt?«
»Sie liegt im Koma. Die Folge ihrer schweren Kopfverletzungen, dazu vermutlich starker Blutverlust. Die Notärzte waren spontan sehr skeptisch, ob sie überlebt. Und wenn ja, ob sie je das Bewusstsein wiedererlangt.«
Rapp musste tief durchatmen, um diese Nachrichten zu verdauen. Das Ganze war schrecklich. Und merkwürdig zugleich, schien ihm. »Seltsames Zusammentreffen«, sagte er halblaut, mehr zu sich als zu Fabienne. »Laurent Wendling wird erschlagen. Und Sandrine verunglückt in der Nähe.«
»Commissaire Rimbout vermutet einen Zusammenhang«, sagte Fabienne.
»Natürlich. Aber in welcher Weise?«
»Das hat er mir nicht genau erklärt, Monsieur Rapp. War auch keine Zeit dazu. Vielleicht fragen Sie ihn einmal selbst? Sie kennen ihn ja gut.« Sie sah ihn schelmisch an.
Rapp schloss daraus, dass sie sich noch gut an seine mehr als unterstützende Rolle bei der Aufklärung des Alain-Kieffer-Falls aus dem letzten Jahr erinnerte.
»Vielleicht sollte ich das tun, ja«, antwortete er leichthin, verabschiedete sich endgültig von ihr, schnalzte mit der Zunge als Zeichen für Honoré, dass es hinausging, und verließ mit ihm das Gebäude.
Draußen entschloss er sich, wegen seiner Nachtblindheit den Charleston auf dem Parkplatz der Gendarmerie stehen zu lassen und zu Fuß nach Hause zu gehen. Das würde Honoré den Spaziergang verschaffen, den er sich nach der langen Autofahrt verdient hatte – und ihm auch. Morgen war auch noch ein Tag, um das Auto abzuholen.
Während er nun gemächlich mit dem Hund durch die laue Nacht spazierte, denselben Weg neben der Route nationale zurück, den er zuvor hergefahren war, gingen ihm die schockierenden Neuigkeiten durch den Kopf, mit denen ihn Fabienne Haller so unverhofft konfrontiert hatte.
Laurent und Sandrine Wendling.
Er tot. Sie lebensgefährlich verletzt und im Koma.
Beide am Rande des Forêt aufgefunden.
Ja, er würde auf jeden Fall mit Rimbout darüber sprechen, was der davon hielt.
Als er eine halbe Stunde später seine Wohnung erreichte, steckte er gespannt den Schlüssel, den er von Fabienne erhalten hatte, in das neu eingebaute Schloss. Er funktionierte.
Seltsamerweise waren bis auf ein paar Dreckspuren auf den Fliesen in der Küche keinerlei Anzeichen zu erkennen, dass sich während seiner Abwesenheit überhaupt jemand in der Wohnung befunden hatte. Dann bemerkte er die leere Stelle an der Decke, wo sich vorher der Rauchmelder befunden hatte. Jemand von der Feuerwehr hatte ihn anscheinend vorsorglich abmontiert und zusammen mit einer schriftlichen Belehrung, dass er unverzüglich einen neuen anzubringen habe, auf den Küchentisch gelegt.
Rapp räumte das defekte Teil fort und brachte es in die Kammer neben dem Bad. Dann füllte er Honorés Schale mit Wasser und stellte ihm ein paar frische Brocken Futter dazu. Antiallergen, weil Honorés Reizmagen nichts anderes vertrug.
Der Anrufbeantworter blinkte. Vier Anrufe. Zweimal hatte Isabelle, seine Ex-Frau, angerufen, um Kommentare zu hinterlassen, irgendwo zwischen Enttäuschung und Vorwurf, dass er nicht abnahm (ihre Handynummern hatten sie einander wohlweislich nie gegeben). Ein Anruf wurde ohne Nachricht beendet. Und der letzte kam von Edgar, der vom Petite Cigogne aus angerufen hatte, um sich zu erkundigen, ob Rapp wieder wohlbehalten zu Hause angekommen sei.
»Braver Junge.« Auch mit Mitte dreißig noch.
Leider kein Anrufversuch von Sylvie.
Rapp versuchte, sich seine leichte Enttäuschung darüber nicht einzugestehen, und rief Edgar zurück, der jedoch bereits voll im Stress des Abendbetriebs seines Restaurants war, er klang gehetzt. Rapp ersparte ihm die neuen schlechten Nachrichten aus Pfaffenhoffen. Er war nicht sicher, wie gut sich Edgar an Laurent und Sandrine Wendling erinnerte, bedankte sich daher nur für die schönen Tage in Paris und ließ Julien »und natürlich die kleine Maëlle« grüßen.
Seit Maëlle auf der Welt war, dachte Rapp zufrieden, nachdem er aufgelegt hatte, verstand er sich mit seinem Sohn so gut wie schon seit Jahren nicht mehr.
Anschließend aß er den Rest des riesigen Gourmetsandwichs mit Rinderfilet und Avocadocreme, das Julien für ihn vor der Rückreise mit geübter Hand bereitet hatte – »Damit du mir unterwegs nicht vom Fette fällst, mein Lieber, haha!« –, und trank einen herben Riesling dazu.
Laurent und Sandrine Wendling, ging es ihm durch den Kopf, was war da geschehen? Er würde dem Schàngi einen Kondolenzbesuch abstatten. Das war er dem alten Mann schuldig, dessen guter Kunde und quasi Nachbar er seit Jahren war. In den nächsten Tagen, vielleicht schon morgen.
ZWEI
Samstag, 25.September
Jeannettes Boulangerie öffnete auch an den Samstagen schon um sieben in der Früh (schloss dafür bereits um zwölf). Rapp verband daher seinen gewohnten Morgenspaziergang mit Honoré am Fuß des Weinbergs oberhalb von Pfaffenhoffen mit einem Abstecher in die Bäckerei. Praktischerweise befand sich neben dem Eingang ein kleiner Eisenring, an dem er die Hundeleine festmachen konnte.
Jeannette, sonst von sprudelnder Munterkeit, bediente gerade wortlos Schàmpatiss Leduc, und der alte Mann mit dem struppigen Kinn strich ebenso stumm das Wechselgeld für seine Flûte, die Baguettestange, ein. Mit einem Nicken verließ er den kleinen Laden und streichelte, wie Rapp durch das Schaufenster sehen konnte, Honoré liebevoll über die Schnauze, ehe er langsam über die Rue de la Liberté davonging.
Jeannette legte Rapp die Papiertüte mit seinen zwei Samstags-Brioches auf die Glastheke. »Noch eine Flûte, Jean Paul?«
»Nein danke, Jeannette. Heute nicht.« Er klatschte sich mit der Zeitung, die er aus dem Ständer neben der Tür genommen hatte, gegen den in Paris gemästeten Bauch.
An anderen Tagen hätte Jeannette einen Scherz darauf gemacht. Aber heute tippte sie nur den zusätzlichen Betrag für den Courant Alsacien ein, nahm mit bedrückter Miene seinen Geldschein an, legte ihn in die Ladenkasse und schloss sie.
Rapp sah sie überrascht und etwas verlegen an.
Plötzlich begriff sie. »Excuse-moi! Wo habe ich nur meine Gedanken?« Sie öffnete rasch wieder die Kasse und gab ihm sein Wechselgeld heraus. »Entschuldige nochmals, Jean Paul! Der Mord an Laurent Wendling, Sandrines Unfall, du hast natürlich davon gehört, ich kann es nicht fassen. Es bringt mich ganz durcheinander. Uns alle hier im Ort.«
»Ich habe erst gestern Abend davon erfahren«, antwortete Rapp. »War bei Edgar in Paris.«
»Ah, verstehe. Wie geht es dem Jungen?«
Jeannette war etwa im gleichen Alter wie Rapp und kannte Edgar schon von klein auf. Lange her.
Sie redeten noch eine Weile über die alten Zeiten und Edgars Restaurant am Montmartre; als Geschäftsfrau interessierte sich Jeannette auch dafür sehr.
Dann nahm sie den Mord an Laurent Wendling wieder auf: »Was für eine Katastrophe für den alten Schàngi. Der Sohn tot. Und die Schwiegertochter lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus. Wie soll ein Vater das überleben? Wie soll man begreifen, was da passiert ist?« Plötzlich wechselte der Ausdruck in ihrem Gesicht: »Die Wendlings sind Pfaffenhoffener, du bist Pfaffenhoffener, Jean Paul. Ich finde, du solltest der Polizei zur Hand gehen.« Sie weitete die Augen, um ihrer unverblümten Forderung Nachdruck zu verleihen.
»Zur Hand gehen?« Rapp unterdrückte ein Lachen. »Ich bin nicht mehr Commissaire, Jeannette, mein Nachfolger heißt Rimbout, wie du weißt.«
Sie verdrehte die Augen. »So ein Quatsch. Commissaire bleibt man ein Leben lang. Hast du selbst gesagt, mein Lieber.«
»Im Ernst? Kann mich nicht erinnern.«
»Aber ich.«
Zwei junge Frauen in Jogginganzügen betraten mit verschwitzten Gesichtern den Laden. Rapp kannte sie nicht. Vielleicht Touristinnen.
»Bonjour, Mesdames!«, grüßte Jeannette wie immer formvollendet, aber dennoch nicht so gelöst wie sonst.
Während die Kundinnen ihre Wahl trafen, wandte sie sich erneut an Rapp. »Alors, Jean Paul, hilf der Polizei ein wenig«, sagte sie augenzwinkernd. »Damit wir in Pfaffenhoffen wieder ruhig schlafen können.«
Rapp stieß einen Seufzer aus und hob zum Abschied die Tüte mit den Brioches.
»Salut, Jeannette.«
»Salut, mein Lieber.«
Zum Frühstück trank er wie üblich seinen Café noir, eine große Schale, schwarz, stark, ohne Zucker, und schlug die Zeitung auf. Und zwar wie üblich hinten, bei den Nachrichten aus der Region:
Touristen aus China, las er, entdeckten zunehmend das Elsass. In Rouffach veranstalteten junge Landwirte aus dem Dreiländereck Frankreich, Schweiz und Deutschland eine Art Nutzpflanzenausstellung. In Basel war ein Buch erschienen mit »Gschicht’ uff Baselditsch«. Dies nutzte die Samstagskolumne »Sproochkischt« des Courant Alsacien für einen kleinen Seitenhieb, um zu illustrieren, »wie schlaacht bhàndelt d’Regionalsproche in Frànkrich« werde.
Neben ein paar Konzert- und Kulturhinweisen, unter anderem auf die neue Ausstellung im Stadtmuseum Rouffach über »Geschichte und Gegenwart des Elsässer Wassers«, gab es viel regionalen Sport. Vor allem regionalen Sport.
Über den Mord an Laurent Wendling fand Rapp nur einen einzigen Artikel. Der aber füllte die halbe Seite »Sud-Alsace« des Courant. Die Autorin war, wie konnte es anders sein, Aimée Polignac.
Rapp und Aimée waren sich vor gut zwei Jahren das erste Mal über den Weg gelaufen. Aus unterschiedlichen Motiven hatten sie sich beide für den Mord an dem damaligen Bürgermeister Leroux aus Winzenheim interessiert. Und beide nicht ganz unwesentlich zu seiner Aufklärung beigetragen.
Rapp las den Artikel daher mit gesteigertem Interesse. Aimée fasste darin kurz den Stand der Dinge zusammen, wie Rapp ihn bereits am Vorabend durch Fabienne Haller in der Gendarmerie Rouffach erhalten hatte: Laurents Leiche auf seinem Acker, unmittelbar am Forêt de Pfaffenhoffen, entdeckt von abendlichen Spaziergängern. Und ganz in der Nähe des Tatorts die schwer verletzte, bewusstlose Sandrine Wendling, verunglückt mit ihrem Auto.
Es folgten überaus betroffene und geschockte Stimmen aus der Pfaffenhoffener Bevölkerung. Eine Tragödie für die Familie natürlich. Und wie schrecklich und beunruhigend eine solche Tat für alle im Ort sei. Schon aus diesem Grund, gaben sich die Leute überzeugt, komme nur ein Auswärtiger oder allenfalls ein Zugezogener aus dem Ort als Täter in Frage.
Commissaire Rimbout, schrieb Aimée weiter, habe in seinem kurzen Statement für die Presse bereits durchblicken lassen, dass es seiner Einschätzung nach »eine recht einfache Erklärung« für den Fall geben könne. Der für Laien freilich auf den ersten Blick komplizierter erscheine, als er es tatsächlich sei. In Kürze erfahre die Öffentlichkeit mehr dazu von der Polizei.
Rapp hoffte für seinen alten Freund Rimbout, dass es sich wirklich so verhielt, und faltete die Zeitung zusammen. Er warf einen Blick durch das Küchenfenster, sah den strahlend blauen Himmel und weckte Honoré, der in seinem Korb neben der Heizung gedöst hatte.
Kurz darauf spazierten sie nach Rouffach. Rapp wählte einen Umweg, die Strecke unterhalb der Weinberge, in denen die diesjährige Ernte bereits die letzte Phase erreicht hatte. Wegen der großen Hitze im Sommer hatte die Lese schon Mitte August begonnen. Mit den Trauben für den Crémant d’Alsace, den Elsässer Schaumwein, war der Anfang gemacht worden. Doch auch die Sorten für die »stillen Weine« waren in diesem Jahr früh, schon ab Anfang September, geerntet worden.
Bei den Michelbergers, wusste Rapp, war die Weinlese so weit gediehen, dass sie sich nach der Plackerei im Wingert endlich wieder ein gemeinsames Erholungswochenende im Schwarzwald gönnen konnten.
Er ließ sich viel Zeit auf dem Spaziergang, Rapp mit seinem Hund. Genoss die milde morgendliche Septembersonne. Atmete die klare Luft, die heute einen Blick nach Süden bis zu den Alpen zuließ. Und nahm schließlich den Abzweig nach Osten, der zum Ortseingang von Rouffach führte. Von dort war es nur noch ein Katzensprung (bildlich gesprochen) bis zu dem Parkplatz neben dem Flachbau der Gendarmerie, wo Rapps Charleston stand.
Er hätte gern Fabienne Haller kurz Bonjour gesagt, doch von der Eingangstür aus bemerkte er, dass heute zwei Kolleginnen von ihr Dienst in der Gendarmerie schoben. So machte er kehrt und stieg in den Wagen, nachdem er Honoré auf der Rückbank platziert hatte.
Als er den Motor anließ, glaubte er, ein seltsames Klackern zu hören, das jedoch nach gut hundert Metern Fahrt wieder verschwand. Er überlegte, wann er den Charleston zuletzt zur Generalinspektion in Güschtis Garage gebracht hatte, konnte sich nicht genau erinnern und beschloss daher, dass es wieder mal an der Zeit wäre. Güschtis göttliche Mechanikerhände waren vermutlich nicht für raffinierte Zärtlichkeiten gemacht, wie Paulette, seine Frau und zugleich Chefsekretärin des kleinen Reparaturbetriebs, mitunter seufzend andeutete. Aber auf französische Oldtimer wie Rapps »Geschoss« (O-Ton Paulette) hatten Güschtis öl- und schweißgetränkte Pranken heilende Wirkung.
Am Intermarché in der Rue de Pfaffenhoffen stellte er den Wagen auf dem riesigen Parkplatz unter zwei jungen Bäumchen ab, die einen mageren Schatten warfen. Er ließ Honoré auf dem Rücksitz dösen und kaufte in dem riesigen Supermarkt das Nötige für das Wochenende. Er fand auch einen guten Crémant, den er hoffte mit Sylvie köpfen zu können, wenn sie hoffentlich heute oder morgen aus Basel zurückkehrte.
Auf der Rückfahrt über die Route nationale kam ihm kurz vor der Ausfahrt Pfaffenhoffen der Einfall, statt nach Hause zu fahren noch einen kleinen Abstecher in östliche Richtung zu machen: über einen Wirtschaftsweg entlang der von Wendling bestellten Felder. Bis zum Waldrand des Forêt, wo man Laurents Leiche gefunden hatte, war es nur ein knapper Kilometer.
Der Weg war asphaltiert, dennoch musste der Charleston über so manches Schlagloch hinwegtanzen. Links und rechts lagen Kohlfelder, flankiert von Blühstreifen hüfthoher Pflanzen, die blau und lila in der Mittagssonne leuchteten. Weiter hinten wechselten sich Raps- und Maisfelder bis zum Waldrand hin ab.
Am Ende des Wegs befand sich rechts eine kleine schotterige Parkbucht. Ein schmaler, unbefestigter Abzweig führte von dort entlang des Forêt Richtung Süden.
Rapp parkte den Wagen und leinte Honoré vorsorglich an. Für den Fall, dass der alte Terrier-Instinkt in ihm erwachte und er Hasen oder Kaninchen wittern sollte. Dann ging er mit ihm ein Stück parallel zum Feldrand. Sein Blick wanderte über die langen Reihen medizinballgroßer Kohlköpfe mit ihren teils den »Apfel« noch bedeckenden, teils ausladenden grünen Blättern. Er kannte sich kein bisschen aus mit dem Anbau von Weißkohl, der zum traditionellen Elsässer Choucroute verarbeitet wurde. Aber die Größe der Köpfe auf diesen Feldern schien ihm doch darauf hinzudeuten, dass ihre Ernte unmittelbar bevorstehen musste.
Nachdem Honoré genussvoll in den Sand gepinkelt hatte, folgte Rapp dem Feldweg noch etwas weiter bis zu einem unbestellten Stück Ackerland von etwa einer halben Fußballfeldgröße. An dessen Ende schloss sich bereits wieder ein neues Weißkohlfeld an, das bis zum Dorfrand von Pfaffenhoffen reichte. Weit hinten meinte Rapp denn auch die Silhouette des Wendling-Hofs zu erkennen, doch er war nicht ganz sicher.
Er betrat die Ackerbrache und wandte sich nach rechts, einer Stelle im angrenzenden Kohlfeld zu. Dort waren deutlich sichtbar einige Pflanzen beschädigt, und als Rapp neben Honoré in die Hocke ging, entdeckte er dunkle Stellen an manchen der Blätter. Auch Honoré, der die Schnauze nach ihnen reckte, schien sich dafür zu interessieren. Reste von Blutspuren vermutlich, die die Forensik sicher jetzt auswertete.
Rapp richtete sich wieder auf, ging ein paar Schritte zurück und betrachtete von dort die Situation. Der Boden war zu fest, um beurteilen zu können, ob ein Kampf stattgefunden hatte. Falls ja, ließen sich vielleicht DNA-Spuren des Täters an der Leiche nachweisen.
Rapp wandte sich um und kehrte mit dem Hund auf den Weg zurück. Er entschied sich, noch ein Stück weiterzugehen. Nach gut einem halben Kilometer erreichte er einen unbefestigten Waldweg, der tief in den Forêt hineinzuführen schien. »Zutritt verboten« stand auf einem verwitterten Schild. Vermutlich benutzten hauptsächlich Jäger oder Pächter des Walds den Weg.
Rapp kehrte um und ging zurück bis zu der schotterigen Parkbucht am Rand des Kohlfelds. Er blickte sich um und sah schräg gegenüber einen weiteren Waldweg, wesentlich breiter als sein Pendant weiter südlich, frei zugänglich und sogar asphaltiert. Er entschloss sich, ihm zu folgen.
Nach etwa fünfhundert Metern entdeckte er Spuren von starkem Reifenabrieb. Das Fahrzeug schien ins Schlingern geraten und seitlich gegen einen Baum gerast zu sein. Der massive Stamm der Buche sah deutlich beschädigt aus.
Rapp ließ das Ganze auf sich wirken. Die würzige Waldluft, das Hämmern eines Schwarzspechts im Geäst einer Baumkrone, das leise Rauschen des Windes in den Wipfeln hoch über ihm – die Idylle wirkte in diesem Augenblick gespenstisch angesichts der Vorstellung, dass vermutlich an dieser Stelle Sandrine Wendling mit ihrem Wagen von der Straße abgekommen und verunglückt war. Während ihr Mann womöglich schon zu diesem Zeitpunkt erschlagen am Rand des Ackers lag, wenige Steinwürfe entfernt.
Nach dem Spaziergang fuhr er nach Hause und setzte sich als Erstes mit dem Handy an seinen Küchentisch, um Sylvie eine SMS zu schreiben. Die er dann doch nicht abschickte. Sie waren kein Paar – noch immer nicht –, es stand ihm nicht zu, sie zu fragen, ob sie heute oder morgen von Basel zurück sei. Und seine unbeholfenen Versuche, ihr den Crémant schmackhaft zu machen, brach er nach dem dritten Anlauf ab, um den Text endgültig zu löschen.
Stattdessen stieg er vorsichtig die glatte Holztreppe hinauf in die obere Etage seiner Maisonettewohnung. Dort setzte er sich an den kleinen Schreibtisch, auf dem der Laptop stand. Nachdem er noch eine Weile etwas missmutig (wegen Sylvie und der nicht abgeschickten Textnachricht) über die Stallungen des Maison Michelberger hinweg zu den im Hintergrund sanft ansteigenden Weinbergen geschaut hatte, klappte er den Deckel des Computers auf und gab unter Maps »Forêt de Pfaffenhoffen« ein.
Den Fundort der Leiche, zugleich, wie es aussah, auch der Tatort, hatte er schnell ausgemacht. Aus der Vogelperspektive des Satellitenbilds, das den Angaben zufolge etwa ein Jahr alt war, erschien er gleichmäßig grün, es war keine Lücke in der Bepflanzung zu erkennen. Kein Unterschied also beim Vergleich des Abschnitts, der heute Brache war, mit den anderen Feldern.
Wie war es dazu gekommen, dass Laurent Wendling hier auf seinen Mörder getroffen war? Schwer vorstellbar, dass sich ihm der Täter unbemerkt hatte nähern können. Entweder war er dem Opfer bekannt gewesen oder ihm ungefährlich erschienen.
Und Sandrine, Laurents Frau? Der asphaltierte Waldweg, auf dem sie verunglückt war, wurde auf dem Satellitenausschnitt nur durch einen schmalen Strich gekennzeichnet, der – Rapp verfolgte ihn mit seinem Finger – in nordöstlicher Richtung aus dem Forêt hinaus und via Schnellstraße nach Colmar führte. In südlicher Richtung war die Straße gesperrt, dort befand sich momentan eine Baustelle, wie Rapp erst kürzlich festgestellt hatte, als er von Strasbourg kommend östlich an Colmar vorbeigefahren war, um noch einen Abstecher nach Rouffach zu machen.
In welcher Absicht also war Sandrine Wendling mit dem Wagen nach Nordosten gerast? Vom kleinen Schotterparkplatz aus hätte sie in die entgegengesetzte Richtung fahren müssen, um nach Hause zu kommen. Wollte sie nach Colmar? Nach Strasbourg? Nach Deutschland? Und war sie vor oder nach dem Tod ihres Mannes davongefahren?
Rapp klappte den Laptop zu und stieg, noch vorsichtiger, als er hinaufgegangen war, wieder hinunter in die untere Etage. Er nahm sein Festnetztelefon und wählte die Nummer des Commissariat Colmar-Rouffach.
»Salut, Jean Paul! Ça va?« Rimbout schien bester Laune.
»Merci, François, mir geht’s gut. Und dir? Was macht die Familie?«
»Danke, prächtig, prächtig. Alle wohlauf. Marianne arbeitet wieder halbtags im Büro, bei einer Weinfirma in Thann. Und Jeanne und Richard freuen sich auf das Wochenende bei ihrer Tante Bernadette in Winzenheim. Mariannes Schwester hat ihnen ein buntes Programm versprochen. Ich bin sehr froh darüber. So können die zwei gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen, du verstehst.«
Rapp musste lachen. Er erinnerte sich, dass Jeanne und Richard, die Zwillinge, ihre Eltern letztes Jahr in ziemliche Verlegenheit gebracht hatten, weil sie draußen vor einem Getränkehandel einen ganzen Kasten Crémant »gefunden« hatten, der angeblich »herumgestanden« hatte. Um ein Haar wäre es sogar zur Anzeige gekommen, was glücklich hatte abgewendet werden können.
»Du arbeitest an einem neuen Mordfall, habe ich in der Zeitung gelesen«, wechselte Rapp auf einmal forsch das Thema. »Laurent Wendling.«
»Ah, ich dachte mir schon, dass dich das interessiert, Jean Paul.«
»Der Mord geschah immerhin fast vor meiner Haustür. Die Wendlings leben hier im Ort«, gab Rapp etwas humorlos zurück.
»Bien sûr. Schon klar.«
»Merkwürdiger Fall, scheint mir. Laurent erschlagen auf seinem Feld und seine Frau unweit davon verunglückt.«
»Das mag so scheinen, wenn man es in der Zeitung liest. Aber die Sache ist im Grunde kein Rätsel.«
»Nicht?«
»Nein.«
»Darf man fragen, wieso nicht?«
»Du darfst. Kurz gesagt, und vorerst noch unter uns, steckt wohl eine Familiensache dahinter.«
»Eine Ehekrise, meinst du?«
»In der Tendenz, ja. Aber da ist noch mehr.«
»Du klingst wie ein Orakel, François.«
Rimbout lachte. »Bon, ich schreibe gerade meine Einschätzung für die Zentrale in Colmar, darin fasse ich mich weniger kurz. Aber ohne in die Details zu gehen, die ich dir natürlich nicht nennen darf …«
»Natürlich nicht.« Obwohl es Rimbout damit in der Vergangenheit durchaus nicht so genau genommen hatte, wenn er selbst nicht weitergekommen war.
»Alors, die Tatumstände deuten sämtlich darauf hin, dass Laurent Wendling von seiner Frau getötet worden ist. Nachdem sie ihn, vielleicht im Affekt, erschlagen hat, fuhr sie in Panik davon und verunglückte.«
Sehr gut möglich, dachte Rapp. »Und ihr Motiv?«
»Spannungen zwischen ihr und Laurent. Und zwischen ihr und dem Schwiegervater. Sie sah sich isoliert, war zutiefst frustriert und so weiter. Eine Impulshandlung. Kommt vor, wie du weißt.«
»Schon. Aber du erwähntest ihren Schwiegervater, den alten Schàngi. Was hat der damit zu tun?«
»Eine Menge, mein Lieber!«, entgegnete Rimbout mit einem Schuss Überheblichkeit in der Stimme. »Schon die ersten Zeugen, die wir befragen konnten, hauptsächlich benachbarte Landwirte, die die Wendlings gut zu kennen scheinen, haben uns darauf gestoßen, dass das Verhältnis zwischen Sandrine und Laurent Wendling seit geraumer Zeit reichlich abgekühlt wirkte. Es ging anscheinend um die Zukunft des Hofs. Der alte Schàngi sei ja bekannt für seinen Starrsinn. Dafür, dass er so ziemlich jede Neuerung ablehne. Im Gegensatz vor allem zu Sandrine, die bereits manches angestoßen haben soll. Laurent wurde dagegen so eingeschätzt, dass er sich nicht vollends gegen seinen Vater stellen wollte. Infolgedessen hätte es eben auch zwischen dem jungen Ehepaar geknirscht.«
»Wissen oder glauben deine Zeugen?«, fragte Rapp spitz.
»Es sind ihre Beobachtungen. Die Schlüsse müssen wir natürlich selbst daraus ziehen, wie du sicher noch weißt.« Rimbout klang beleidigt.
»Bon«, sagte Rapp fast ganz ohne ironischen Unterton, »dann möchte ich auch etwas zu deinen Einschätzungen beisteuern, François. Ich kenne ihn nämlich ganz gut, den alten Schàngi. Hole manchmal Eier und Milch und vor allem frisches Choucroute von den Wendlings.«
»Ah, direkt vom Erzeuger, verstehe. Dazu ökologisch, wie man hört.«
»Richtig. Das junge ökologische Ehepaar, Laurent und Sandrine, hatte zwar fast immer irgendwo auf den Feldern oder im Büro zu tun. Aber mit Schàngi habe ich oft ein Schwätzchen gehalten. Starrsinnig kam er mir eigentlich nicht vor, François.« Wenn auch politisch arg konservativ eingestellt.
»Ja, man täuscht sich eben oft in diesen alten, knorrigen Elsässern, nicht wahr?« Rimbout lachte, und es war klar, wen er mit demjenigen meinte, der sich hier täuschte.
»Bon.« Rapp stieß ein Seufzen aus. »Dann wünsche ich dir viel Erfolg mit dem Fall, François.«
»Den werde ich haben. Bin schon beim ersten Bericht, wie gesagt.«
»Übrigens war ich vorhin am Tatort«, schob Rapp unvermittelt nach.
»Ah ja?« Rimbout hörte sich wenig amüsiert an.
»Ja. Und ich habe mich gefragt, womit der arme Laurent eigentlich erschlagen wurde.«
»Einem Feldstein vermutlich. Meint die Forensik.«
»Und wo ist dieser Stein? Habt ihr ihn gefunden?«
»N-nein, leider noch nicht.«
»Merkwürdig.«
»Was ist merkwürdig, Jean Paul?« Rimbout hörte sich zunehmend genervt an. Beunruhigt sogar.
»Wenn Sandrine, wie du glaubst, ihren Mann erschlagen hat, kann sie das Tatwerkzeug, den Stein, nur auf dem Feld oder in seiner unmittelbaren Nähe entsorgt haben. Andernfalls bliebe nur noch ihr Auto, mit dem sie ja nicht weit gekommen ist.«
»Alors, manche Details sind eben noch nicht geklärt, du kennst das ja.«
Rimbout lenkte ab.
»Ihr habt den Stein, das Tatwerkzeug, also nicht gefunden?«, bohrte Rapp weiter. »Weder auf dem Feld noch in der Nähe noch in Sandrines Wagen?«
»N-nein. Nein.«
»Ihr wollt die Suche aber fortsetzen?«
»Nun, der Fall liegt ja klar. Und dann der Personalmangel. Du weißt selbst, dass es die Suche nach der Nadel im Heuhaufen wäre.«
Ein Feldstein, blutverschmiert und groß genug, um als Mordinstrument zu taugen, war nicht gerade mit einer Nadel vergleichbar. Aber Rapp wollte nicht rechthaberisch sein. »Was ich mich übrigens ebenfalls frage«, fügte er stattdessen hinzu, »ist, warum sich die beiden ausgerechnet dort getroffen haben. An dieser seltsamen Brache neben den Kohlfeldern.«
»Das kann ich dir sagen«, antwortete Rimbout, und er klang geradezu erleichtert, weil er sich offenbar wieder auf sicherem Terrain bewegte. »Die Brache, wie du sagst, ist Bauland. Genauer gesagt: Bau-Erwartungsland. Dort sollte eine neue Produktionshalle entstehen. Eine Art Manufaktur für die Herstellung von Choucroute. Ein ehrgeiziges Projekt, heißt es. Wahrscheinlich war das der Zankapfel zwischen den Eheleuten. Und dem alten Schàngi.«
»Denkst du?«
»Aufgrund der Zeugenaussagen bisher, ja. Voilà.« Rimbout ließ ein unmissverständliches Räuspern vernehmen. »Entschuldige, Jean Paul, aber wie ich schon sagte, der Bericht an die Zentrale wartet.«
»Natürlich.« Rapp wünschte ihm alles Gute für den Fall. Hatte aber das ungute Gefühl, dass Rimbouts Annahmen zwar nicht unbegründet, nur leider bislang vollkommen unbewiesen waren. Nicht einmal das Tatwerkzeug war gefunden worden. Kaum vorstellbar, dass ihm die Chefetage in Colmar das durchgehen ließ.
Mit dem vagen Wunsch, sich bald mal wieder zum Essen zu treffen, verabschiedeten sie sich voneinander.
Rapp schaute auf die Küchenuhr. Es war jetzt halb zwei. Nicht die schlechteste Zeit für eine Radtour, schien ihm. Und um Schàngi sein Beileid auszusprechen. Denn er mochte den Alten.
DREI
Eigentlich befand sich der Wendling-Hof, die Ferme Wendling, bereits jenseits der Ortsgrenze von Pfaffenhoffen. Haus und Hofgebäude lagen östlich der Route nationale, die als wichtige Nord-Süd-Verbindung entlang der Weinberge auch als Route des Vins d’Alsace bezeichnet wurde. Durch die Untertunnelung der Route war die Anbindung der Ferme Wendling an Pfaffenhoffen jedoch ebenso gewährleistet wie die der benachbarten Bauernhöfe bis zum Forêt. Die Landwirte waren von Rimbout offenbar wie Leumundszeugen befragt worden. Doch genau genommen, dachte Rapp, waren sie nicht nur Nachbarn, sondern wirtschaftlich gesehen auch Konkurrenten am Markt.
Mit seinem alten, aber immer noch schnittigen fünfgängigen Peugeot-Rad erreichte Rapp schon nach wenigen Minuten den Bauernhof, dessen Wohnhaus und Stallungen schwanweiß gestrichen waren. Zusammen mit der brusthohen Mauer zur Straße hin bildeten sie einen großen Innenhof, der mit groben Natursteinen gepflastert war.
Das breite Gatter stand offen, sodass Rapp sein Rad ohne Weiteres hineinschieben konnte, um es neben ein paar mannshohen Sonnenblumen an die Mauer zu lehnen, damit es niemandem im Weg stand. Denn trotz der Tragödie, die die Familie getroffen hatte, schien die Ernte nun doch begonnen zu haben. Vor dem Längsgebäude auf der linken Seite befand sich ein Anhänger, von dem zwei Erntehelfer riesige Kohlköpfe entluden und auf ein Förderband legten. In der Halle wurden, wie Rapp wusste, die »Äpfel«, das Innere der Kohlköpfe, von den äußeren grünen Blättern und dem Strunk in der Mitte befreit, dann in dünne Streifen geschnitten und nach der Zugabe von Meersalz in große Gärbehälter gegeben. Mehr brauchte es nicht, damit daraus durch Fermentierung das Choucroute mit dem milden, im Elsass typischen Geschmack entstand.
Rapp sah sich um, die Tür zu dem winzigen Verkaufsladen am Kopfende des Hofs, in dem man Schàngi gewöhnlich finden konnte, war geschlossen. Wenigstens ein Teil der Ernte musste jetzt also eingebracht werden, damit sie nicht verdarb, aber der Verkauf wurde wegen des Todesfalls offenbar ausgesetzt.
Rapp erkundigte sich bei den Arbeitern auf dem Anhänger nach Schàngi, und sie deuteten mit einer traurigen kleinen Geste zum Wohnhaus gegenüber. Er überquerte den Hof, ließ sich von einer Schar Hühner ignorieren und von zwei riesigen Gänsen mit gereckten Hälsen aufmerksam beobachten, dann trat er wie üblich durch eine massive Eichentür in den Hausflur, der rechter Hand zur Küche führte.
Das traditionelle Wohnhaus war vor einigen Jahren, nachdem Sandrine und Laurent Wendling geheiratet hatten, komplett saniert worden. Deshalb betrat Rapp nach dem Anklopfen eine modern eingerichtete, geräumige Küche. Nur die alten holzgerahmten Schwarz-Weiß-Fotografien an der Wand hinter dem Küchentisch erinnerten daran, dass man sich in einem vor Jahrhunderten errichteten Gebäude befand. Eine größere Aufnahme zeigte den noch jungen Schàngi, wie er stolz, in hohen Stiefeln, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, neben den mächtigen Kaltblütern herlief, die einen Leiterwagen voll mit frisch geernteten, hoch gestapelten Kohlköpfen zogen.
Der alte Bauer saß an dem runden Tisch aus massiver Buche und starrte todtraurig auf eine leere Kaffeetasse, die vor ihm stand. Er wandte den Kopf zur Tür, als Rapp eintrat.
Schàngi war ein großer, drahtiger Mann Anfang achtzig, der, wenn man es nicht besser wüsste, aussah wie ein Althippie. Er hatte lange, fadendünne silbergraue Haare, deren Spitzen ihm über der Stirn bis zu den Brauen hinunter und im Nacken bis auf die Schultern reichten. Seine Nase war lang und spitz wie die von Cyrano de Bergerac, die blassblauen Augen standen in gewissem Kontrast zu dem krebsroten, stets schlecht rasierten, knochigen Gesicht.
Schàngi trug wie üblich einen schwarzen Overall über dem karierten Hemd, obwohl er wegen eines Bandscheibenschadens schon seit Jahren keine schwere Arbeit mehr verrichten konnte. Nachdem vor gut zehn Jahren Cathérine, seine Frau, an einem Hirntumor gestorben war, kümmerte sich Schàngi um den Hofladen und »um das Federvieh«, wie er sich Rapp gegenüber einmal ausgedrückt hatte. Das hieß, er versorgte die Hühner und Gänse und half bei dem Verkauf von Eiern, Kartoffeln, Rüben, Dinkel und natürlich »Sürkrüt«, Choucroute in Eimern verschiedener Größe.
Der Bauer verzog die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. »Jean Paul«, sagte er zur Begrüßung und deutete ein Nicken an.
Rapp ging mit einem beklommenen Gefühl auf den traurigen alten Mann zu und drückte ihm – steif und unbeholfen, wie er sich vorkam – sein Mitgefühl aus.
»Ich danke dir, Jean Paul«, sagte Schàngi mit dünner, hoher Stimme. »Bitte hol dir eine Tasse aus dem Schrank, auf dem Herd steht der Kaffee.« Schàngi deutete vage mit der Hand in die Richtung.