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Verbrecherjagd zwischen Wein und Flammkuchen – ein herrlich leichter Sommerkrimi aus dem Herzen des Elsass. Der Bürgermeister eines kleinen Ortes an der Elsässer Weinstraße wird tot in seinem Büro aufgefunden, die Polizei geht von einem Raubmord aus. Doch Jean Paul Rapp, seit einem Jahr nicht mehr Commissaire im District Colmar-Rouffach, glaubt nicht daran. Unterstützt von seiner Nachbarin, der Deutsch-Französin Sylvie Printemps, ermittelt er wie in früheren Zeiten: beharrlich, klug und mit untrüglichem Instinkt. Und die Stille im Weinberg scheint ihm der Schlüssel zur Lösung des Falls zu sein.
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Seitenzahl: 344
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Suzanne Crayon – ein deutsches Autorenduo – kennt, liebt und bereist das Elsass seit mehr als drei Jahrzehnten. Suzanne wird von manchen Störchen im Elsass bereits klappernd begrüßt, Crayon könnte für Grumbeerkiechle mit einem Gläschen Pinot blanc glatt einen Mord begehen. »Mord Elsässer Art« ist ihr erster gemeinsamer Roman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/sorincolac
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-454-4
Originalausgabe
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Pour Marie
Winzenheim, Freitag, 10. Oktober, früher Nachmittag
Pierre Leroux hatte die Nase voll.
Endgültig.
Er straffte den Rücken auf seinem Schreibtischstuhl und ging ein weiteres Mal alle Unterlagen durch, rechnete die Zahlenkolonnen sämtlicher Aufstellungen nach.
»Unfassbar!«
So ging das nicht weiter. Er würde diese Art der Geschäftemacherei keinen Monat, ach was, keine Woche mehr dulden.
»Schluss mit dem Wucher. Nicht mit mir.« Und wenn die Banditen glaubten, sie könnten ihr feines Pferdchen bis in alle Ewigkeit fett füttern, dann hatten sie sich aber getäuscht.
Er stand auf und schritt wütend zum Fenster.
Die Sonne schien, es war warm, doch das durfte man vom été indien, dem Altweibersommer, auch erwarten, oder?
Vor lauter Ärger konnte sich Pierre Leroux nicht einmal über die herbstbunten Farben der Weinranken an der Rückwand des Gebäudes erfreuen, in dem sich der Weinverkauf seines Betriebs an die Touristen abspielte.
Sein Blick wanderte über das Dach des Gebäudes zur Kirchturmspitze von Sainte Marie du Vignoble, die nur darauf zu warten schien, dass sich endlich wieder ein Storchenpaar erbarmte, um darauf ein Nest zu bauen.
Schön wäre das. Und gut fürs Geschäft obendrein. Aber ebenso wenig zu erzwingen wie eigene Kinder. Also Erben.
Nichts als Ärger, wohin er schaute. Selbst der Anblick der Kirche spendete keinen Trost mehr.
Plötzlich glaubte er, ein Geräusch zu hören. Schritte im Flur. Oder?
Madeleine war vorhin zu ihrer Mutter gefahren, wie immer am Freitag würde sie vor sechs, halb sieben nicht zurückkommen. Also wer zum Teufel störte ihn unangemeldet in seinem Büro? Und wie waren er oder sie überhaupt hereingekommen?
Er wandte sich um. Da war er wirklich mal gespannt, wer sich vorgenommen hatte, ihm auf die Nerven zu gehen. Privat, zu Hause, versteht sich. Um ihm vermutlich irgendein krummes Geschäft anzudienen, das das Licht der Öffentlichkeit im Dienstgebäude der Mairie nicht gut vertrug.
Er grinste. Na, er war gerade in der rechten Stimmung, um zu zeigen, wer hier Herr im Haus war …
Pfaffenhoffen, Freitag, 10. Oktober, kurz vor Mitternacht
»Da, schon wieder!«
Jean Paul Rapp war sich diesmal ganz sicher.
Er stellte sein Gläschen Pinot gris auf dem kleinen runden Tisch neben der Couch ab und zeigte mit dem Finger auf die Ecke unter dem Küchenschrank, wo der winzige Schatten verschwunden war.
Rapp warf Balzac einen lebhaften Blick zu.
Doch sein alter Hund, ein in Ehren ergrauter Terrier-Mix mit schwarz-braunen Flecken im weißen Fell, blinzelte von seinem Weidenkörbchen neben der Heizung aus mit nur einem Auge und schnaufte.
Rapp knurrte leise, quasi stellvertretend für seinen müden Hund, und stand vom Sofa auf, um sich ächzend und mit reichlichem Ziehen und Zwicken im Lendenwirbelbereich auf seine Knie niederzulassen.
Er war kein Fachmann für Mäuse, das ließ sich wirklich nicht behaupten, aber wenn das nicht der Schatten einer souris war, die soeben durch die Küche gehuscht war, um in dem winzigen Spalt zwischen Küchenschrank und Kühlschrank zu verschwinden, wollte er auf der Stelle an Geister glauben.
Er erhob sich mühsam, öffnete den Kühlschrank, während er Balzacs kritisches Auge in seinem Rücken fühlte, und nahm den Munsterkäse heraus, um mit Daumen und Zeigefinger ein winziges Stück abzubrechen.
Er wechselte einen ernsten Blick mit Balzac, der nun beide Augen geöffnet hatte. »Wehe, mein Lieber!« Er hob mahnend den Zeigefinger. Balzac, das wusste er, war kein Kostverächter, und Munsterkäse stand gelegentlich schon auf seiner Speisekarte.
Mäuse zum Glück nicht. Rapp wollte sich die wilde Jagd durch die zwei Etagen seiner Wohnung und das blutige Ende (zugunsten von Balzac höchstwahrscheinlich) gar nicht vorstellen.
Er ging wieder auf die Knie und platzierte das Häppchen für den ungebetenen Gast unter dem Küchenschrank direkt vor dem winzigen Spalt, der Monsieur oder Madame Souris den Unterschlupf ermöglicht hatte. Dann stand er ächzend auf und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Gleich Mitternacht, Zeit, ins Bett zu gehen.
Er nahm sein Glas Pinot und kippte es sich unsentimental hinter die Binde, während Balzac ihm dabei zusah, missbilligend, wie ihm schien.
»Was denn, Balzac? Es ist mein drittes heute, und dabei bleibt’s auch. Kein Grund, mich so anzuschauen.«
Balzac stellte ein Ohr auf, das linke, klappte es zur Hälfte nach vorn und schnaufte erneut.
Rapp lächelte zufrieden und ging ins Bad am hinteren Ende des Flurs. Als er kurze Zeit später wieder herauskam, erwartete ihn Balzac bereits am Fuß der kleinen Wendeltreppe und tappte voraus, hoch zur oberen Etage.
Die Treppe aus gewachster Eiche war schmal und glatt, Rapp war sich des Risikos zu stürzen, auch ohne drei Pinot gris, die sanft in seinem Hirn kreisten, stets bewusst.
Sein Bett befand sich, zusammen mit dem alten Bauernschrank, in dem er die Wäsche aufbewahrte, auf der rechten Seite des lang gestreckten Dachgeschosses. Links von dem offenen Treppenaufgang befand sich nur noch sein schmaler Schreibtisch, hübsch alt, wurmstichig und unbequem, womit sichergestellt war, dass Rapp kaum einmal daran arbeitete. Da der Tisch vor einem der drei kleinen Fenster an der Längsseite des Hauses stand, eignete er sich viel besser, um daran café zu trinken und die Aussicht auf die Weinberge zu genießen.
Rapp wandte sich nach rechts, wo Balzac bereits mitten auf der Tagesdecke in seinem (Rapps) Bett lag, und warf noch einen letzten Blick aus dem winzigen Fenster der Kopfseite des Dachgiebels. Der Hof des »Maison Michelberger«, von dem seine Wohnung ein Teil war, lag tief im Dunkeln. Am Himmel hing der Mond irgendwie schlapp in den Seilen, selbst die uralte Laterne, hoch an der Hauswand des »Maison Michelberger«, beleuchtete den Hofausgang zur Rue Grand Cru heute Nacht heller als der alte Müßiggänger dort oben.
Rapp gähnte und wandte sich zum Bett um.
Balzac sah ihn kommen, runzelte die Stirn, wich aber keinen Zentimeter von der Stelle.
Rapp zog an der Tagesdecke.
Balzac ließ sich bis zum Bettrand transportieren, ehe er es sich überlegte, auf die Beine kam und einen Satz an das Fußende des Betts machte.
Rapp legte die Tagesdecke auf den Stuhl neben dem Bett, kletterte hinein und löschte das Licht durch den Kippschalter über dem Kopfende.
Balzac leckte seinem Chef hingebungsvoll die Füße, bis dessen Atemzüge regelmäßig und lang wurden.
Samstag, 11. Oktober, gegen halb neun
»Voilà!« Rapp stand vor dem Küchenschrank, den Blick gesenkt, und fühlte sich bestätigt. »Siehst du, Balzac, der Käse ist perdu. Die Maus hat ihn sich geholt.«
Balzac senkte ebenfalls den Blick, schnüffelte mit der spitzen Schnauze an der Stelle vor dem Spalt, wo das Käsestückchen gelegen hatte – perdu, wie sein Chef schon gesagt hatte. Es schien den Hund nicht allzu sehr aufzuregen. Wenn man seinem Schwanzwedeln Glauben schenkte, interessierte ihn viel mehr ihr allmorgendliches Ritual, das unweigerlich folgen musste:
Rapp ging in den Flur, nahm die Leine von Balzacs Garderobenhaken, der in Hüfthöhe angebracht war, und warf noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sein welliges, dunkles, immer noch volles, nur an den Schläfen leicht ergrautes Haar musste bald mal wieder geschnitten werden, aber nicht heute. Seine braunen Augen blickten klar und scharf wie immer, keine Spur von Pinot gris mehr darin.
»Siehst du, Balzac?«
Balzac wedelte mit dem Schwanz, hatte aber nur Augen für die Leine in Rapps linker Hand.
Mit der rechten streifte Rapp sich sein dunkles Jackett über und gab insgesamt eine für seine einundsechzig Jahre immer noch ansehnliche, hohe und schlanke Gestalt ab. Fand er selbst. Und fanden anscheinend auch nicht wenige Frauen in seinem Alter, denen er begegnete; jedenfalls meinte er das an ihren aufblitzenden Augen, sich rötenden Wangen und ihrem nervösen Lächeln ablesen zu dürfen. Dabei war er kein Schürzenjäger, sondern nur ein ganz klein wenig eitler, als er sich eingestehen wollte.
»Na komm, Balzac, allez!« Er wandte sich um, eine Hand schon auf der Türklinke.
Der Hund tappte über die hellbraunen Terrakottafliesen voran zur Wohnungstür. Rapp verschloss die Wohnung, griff sich Balzac und klemmte ihn unter den rechten Arm, um mit der linken Hand das dicke geflochtene Seil zu fassen, das sich als Geländer die Treppe aus rotem Sandstein hinunterwand.
Vor der Haustür im Parterre, wo sich verschiedene Nutzräume des »Maison Michelberger« befanden, setzte er Balzac ab und spazierte mit ihm über die klobigen Pflastersteine des Hofs zur Straße. An der Hausecke, unter der hoch hängenden Laterne an der Hauswand, hob Balzac das Bein und markierte ausgiebig sein Revier.
Rapp blickte in den Himmel, er war blassblau heute Morgen, ein paar unbedeutende Schleierwolken schwammen darin, es würde ein schöner Tag werden.
Ein Traktor mit Anhänger kam um die Ecke der Rue Grand Cru und dröhnte an ihm vorbei, der junge Michel Courent auf dem Fahrersitz hielt den Kopf stur geradeaus, ohne auch nur den Ansatz zu machen, ihn zu grüßen.
Rapp seufzte. Er hatte Michel schon als kleinen Jungen gekannt. Damals waren der kleine Courent und Edgar, Rapps Sohn, noch Schulkameraden gewesen, hatten dieselbe Klasse besucht und auch in der Freizeit oft zusammen gespielt. Heute lebte Edgar als Koch in Paris, seine Mutter Isabelle und Rapp waren seit zwei Jahrzehnten geschieden – und der Ex-Spielkamerad Michel Courent, Anfang dreißig wie Edgar, litt augenscheinlich bereits an Alzheimer: erkannte nicht mal mehr Jean Paul Rapp, den Vater von Edgar. Damals immerhin Leiter der Kriminalpolizei des Teildistrikts Colmar-Rouffach. Seit einem Jahr pensioniert. Leider.
Rapp entfuhr erneut ein Seufzer. Er sah auf seinen Hund hinunter. Der das als Aufforderung zu verstehen schien, es mit dem Markieren gut sein zu lassen und sich auf den Weg zu machen, um oben am Weinberg den zweiten Teil des Geschäfts zu verrichten.
Sie spazierten auf dem schmalen Trottoir die gewundene Rue Grand Cru entlang, während weitere Trecker und Erntefahrzeuge an ihnen vorbeidonnerten, und erreichten die halbrunde Place de la Mairie vor dem Bürgermeisteramt. Dort nahmen sie wie üblich die Rue de Vincent, die steil zwischen den Wohnhäusern zum Weinberg hinaufführte.
An der Weggabelung, von wo sich verschiedene Pfade die Weinberge, den Hohenwald oder zur Klosterruine hinaufschlängelten, hatten sie ihr Ziel erreicht. Rapp nahm dem Hund die Leine ab, und Balzac trabte gemächlich hinter das steinerne Denkmal des heiligen Vincent, um irgendwo im Gebüsch sein Geschäft zu machen.
Rapp wandte sich um, als hätte er mit keinem Hund der Welt auch nur das Geringste zu tun. Er ließ den Blick über die Weinberge wandern. Hoch und noch immer sattgrün standen die Rebstöcke in ihrem Herbst, die Trauben hingen wie schwere Kuheuter daran und schienen danach zu lechzen, endlich abgeerntet zu werden. Überall sah Rapp die Weinbauern mit ihren Fahrzeugen, auf denen die Erntehelfer saßen, zu ihren Wingerten fahren.
Er verstand nicht viel vom Weinbau – und vielleicht noch nicht einmal etwas vom Weintrinken –, aber dass die zunehmend heißeren Sommer zum Problem wurden, wusste auch er. Einige Winzer dachten bereits daran, den Hohenwald weiter abzuholzen und den Weinanbau in größere Höhen zu verlagern – oder neue Rebsorten zu pflanzen, die den hohen Temperaturen besser standhielten.
Im Gebüsch raschelte es, Balzac kam hechelnd mit zufriedenem Gesichtsausdruck heraus, und sie machten sich auf den Rückweg.
Schräg gegenüber der Mairie lag Jeannettes Boulangerie. Rapp befestigte Balzacs Leine an dem eisernen Ring neben der Eingangstür der Bäckerei und betrat den Laden. Ein junges deutsches Paar mit einem kleinen Mädchen an der Hand der Mutter bestellte soeben. Jeannette, die Rapp mit einem kurzen Blick und einem kleinen Lächeln begrüßt hatte, hörte angestrengt zu.
Der junge Vater mühte sich redlich, Jeannette per Schulfranzösisch seine speziellen Wünsche zu erklären. Bis es ihr zu bunt wurde. Auf Deutsch, mit ihrem besonderen elsässisch-alemannischen Zungenschlag, wiederholte sie, was sie verstanden hatte: »Alors, Sie wünschen zwei Baguettes, zwei pains au chocolat, also Schokobrötchen, ein Glas Himbeermarmelade und einen Liter H-Milch, nicht wahr?«
»Ähm …« Der junge Vater sah sie irritiert und erkennbar enttäuscht an. »Ja. Korrekt.«
»Bon. Gutt.« Jeannette brauchte nicht lange, um dem Paar seine Wünsche zu erfüllen und es freundlich mit seinem Kind zu verabschieden. »Salut, auf Widderrsen, messieurs-dames!«
Dann wandte sie sich Rapp zu. »Salut, Jean Paul. Wie geht’s?« In Windeseile hatte sie ihm das übliche flûte, eine Baguettestange, und seine Samstags-Brioche in eine Papiertüte geschoben und auf die Glastheke gelegt.
Rapp zog seine Börse aus der Hosentasche, zählte das Geld ab und reichte es Jeannette.
Ihre graublauen Augen blitzten kurz auf, ihre Wangen färbten sich rosa, und ihr Busen begann sich aufgeregt zu heben und zu senken. Sie hielt sogar seine Hand fest.
Rapp sah sie verlegen an.
»Hast du’s schon gehört, Jean Paul?«
»Was denn?«
»Oder gelesen? Es steht ja schon in der Zeitung!«
»Jeannette. Wovon redest du?«
»Na, von Pierre Leroux natürlich.«
»Leroux aus Winzenheim?« Pierre Leroux war dort Bürgermeister.
»Aber ja. Er ist tot.«
»Was?«
Jeannettes Augen blitzten wieder auf. »Er wurde ermordet.«
Rapp starrte sie an. Hatte Jeannette den Verstand verloren?
»Du glaubst mir nicht, was?« Sie sah ihn herausfordernd an. »Aber es stimmt. Es waren Einbrecher. Leroux war zufällig zu Hause in seinem Büro. Dort haben sie ihn … erschlagen.«
»Erschlagen? Wieso sollten sie?« Wenn sie doch Einbrecher und keine Mörder gewesen waren.
»Aah, lies doch selbst, Jean Paul. Steht alles im ›Alsacien‹.« Sie machte rasch ein paar Schritte zum Zeitungsregal neben der Eingangstür, kam mit einem Exemplar der Tageszeitung aus ihrer Region zurück und legte es auf die Theke neben die Brötchen. »Eins zwanzig noch, mein Lieber.«
Rapp öffnete erneut sein Portemonnaie und zählte ergeben das Geld ab.
Während er frühstückte – Rapp trank den café noir ohne Zucker, bestrich dafür die Brioche dick mit Butter und einem Klecks Honig –, las er den »Courant Alsacien«. Das heißt, an diesem Morgen interessierte ihn eigentlich nur der Artikel über den Tod des Bürgermeisters von Winzenheim.
Rapp kannte Pierre Leroux nicht persönlich, aber natürlich dem Namen nach. Leroux, so viel wusste er über ihn, war in seinem Brotberuf als Winzer einer der größten Weinbauern im ganzen Elsass gewesen, der schon seit Jahren als konservativer, ziemlich rigider, aber in der Sache unnachgiebiger und parteipolitisch unabhängiger Kandidat angetreten war – und jedes Mal gewonnen hatte.
Ein Reporter des »Alsacien«, nein, eine Reporterin namens Aimée Polignac, wusste zu berichten, dass »der im Ort äußerst angesehene und beliebte Leroux« gestern Nachmittag, am Freitag also, im privaten Büro seines Wohnhauses in der Rue de Schauenburg überfallen und brutal erschlagen worden war.
»Seine Frau, die sich unterdessen in einem Pflegeheim befunden hatte, um wie jeden Tag ihre neunzigjährige Mutter zu besuchen, fand ihren Mann nach ihrer Heimkehr am frühen Abend rücklings auf dem Boden liegend, mit einer klaffenden Wunde an der Schläfe. Sämtliche Schränke und Schubladen des Büros, in dem Leroux ausschließlich Unterlagen seines eigenen Winzerbetriebs verwaltete, waren durchwühlt. François Rimbout, seit einem Jahr Leiter des Kriminaldistrikts Colmar-Rouffach, geht davon aus, dass die Täter nicht mit der Anwesenheit ihres Opfers gerechnet hatten. Es sei schließlich bekannt, dass der Bürgermeister in der Regel am Freitagnachmittag Trauungen in der Mairie vornahm, doch an diesem schicksalhaften Tag war der Termin aus bislang noch unbekannten Gründen kurzfristig abgesagt worden. Man munkelt, dass der Braut überraschend Zweifel an der Verbindung gekommen seien. Rimbout: ›Einerseits kannten die Täter die Gewohnheiten des Bürgermeisters und seiner Frau dem Anschein nach sehr genau. Andererseits waren sie nicht in das Gerücht eingeweiht, das in Winzenheim bereits die Runde gemacht hatte, dass nämlich die übliche Trauung an diesem Tag ausfallen könnte. Wir stehen vor einem Rätsel.‹ – Das hoffentlich bald gelöst wird.«
Rapp schnalzte mit der Zunge und legte die Zeitung beiseite. »Klingt nach einem schweren Fall. Armer Rimbout.« Er seufzte und zwinkerte Balzac zu, der besorgt zu seinem Herrn aufsah. »Alles in Ordnung, mein Guter.«
Zumindest in Pfaffenhoffen. In Winzenheim dagegen …
Rapp kannte den Ort ganz gut, Winzenheim lag nur etwa zehn Kilometer entfernt, südlich von Rouffach. Und obwohl das mittelalterliche Städtchen malerisch schön war, seine ursprüngliche Bausubstanz zu fast hundert Prozent erhalten, hatte Rapp schlechte Erinnerungen daran. Nach der Scheidung hatte Isabelle einige Jahre dort gewohnt, zusammen mit Edgar – und ihrem Neuen, Rapps Nachfolger an Isabelles Seite. Und dessen Nachfolger. Und dessen … und so weiter. Rapp hatte Edgar jahrelang jedes Wochenende abgeholt, um ihn pünktlich um sechs am Sonntagabend zu seiner Mutter zurückzubringen. Die Abschiede hatten ihn jedes Mal ein gefühltes Jahr seines Lebens gekostet, aber gut, er lebte heute immer noch. Vatergefühle ließen sich dann doch nicht nach Adam Riese aufsummieren.
Das einzig Gute an Winzenheim war jedenfalls Rapps Meinung nach »Güschtis Garage«. Er hatte die Autowerkstatt eines Tages, als er wieder einmal Edgar abgeholt hatte, entdeckt, weil sein 2CV – das Sondermodell Charleston mit schwarz-weinroter Lackierung im Stil der zwanziger Jahre und Sitzpolstern im Hahnentrittmuster – seltsame Geräusche gemacht hatte und »Güschtis Garage« zufällig die nächstgelegene gewesen war.
Die kleine Werkstatt am Rande von Winzenheim, so hatte es sich überraschend herausgestellt, war ein echter Glücksfall gewesen. Güschti – sein Name war die elsässische Version von Auguste – war damals Anfang fünfzig gewesen. Heute schien er mit seinen mehr als siebzig Lenzen auf dem krumm gewachsenen Buckel so ziemlich der letzte Mechaniker des Elsass, der noch wusste, wie Rapps würdiger alter Charleston zu behandeln war, wenn es dem Wagen mal wieder nicht gut ging. Güschti war eine Art Heilpraktiker in seinem Beruf, der sich während der Arbeit mit den kranken Fahrzeugen unterhielt, denen er seine heilenden ölverschmierten Hände widmete.
Balzac hob die Schnauze, er hatte sein Frühstück beendet – immer das gleiche: allergenunbelastete Pellets, das Einzige, was der empfindliche Magen seines Hundes vertrug.
Rapp sah Balzac in die Augen. Der wich dem Blick nicht aus.
»Eins steht fest, mein Lieber, diese Einbrecher«, genau genommen waren sie spätestens seit gestern auch Raubmörder, »sind keine Kunden von Güschti.«
Balzac ließ einen hohen Ton vernehmen.
»Nein, wirklich nicht. Denn dann hätte ihnen Paulette gesteckt, dass an diesem Freitag die übliche Trauung in der Mairie ausfallen würde, weil die Braut kalte Füße bekommen hatte. Oder der Bräutigam.«
Paulette war Güschtis Frau und jedes Mal wieder eine Herausforderung für Rapp, ein Frontalangriff auf seine Nerven. Sie führte die Geschäfte, leitete das Büro, doch während ihr Mann gegenüber der Kundschaft kaum das Maul aufkriegte, blieb es bei Paulette niemals geschlossen. Ganz gleich, ob man nur schnell die Rechnung begleichen wollte oder noch eine Weile auf das Ende einer kleinen Reparatur warten musste – sobald man Paulettes Büro betrat, saß man in der Falle. Nichts in Winzenheim geschah, ohne dass Paulette Wind davon bekam und es sogleich in alle Richtungen streute. Kein Gerücht war ihr zu delikat, um ihm nicht noch eine spitze Note hinzuzufügen und es als »zumindest möglich« in Umlauf zu bringen.
Rapp hatte sich in der Vergangenheit immer davor gehütet, mehr als absolut belanglose Dinge von sich zu geben, wenn Paulette in Hörweite gewesen war. Nicht auszudenken, wenn ihr in seiner aktiven Dienstzeit durch eine Unachtsamkeit irgendetwas zu Ohren gekommen wäre, das auch nur minimale Brisanz besaß. Er hätte seinen Hut nehmen müssen.
Balzac knurrte leise. Rapp wusste sehr genau, wonach ihm der Sinn stand.
»Trotzdem merkwürdig, findest du nicht?« Rapp ließ nachdenklich seinen Blick über die Zeilen des Artikels wandern. »Diese Aimée Polignac vom ›Alsacien‹ schreibt nichts davon, dass nach Geld oder Wertgegenständen im Haus gesucht worden wäre.« Einzig das Chaos im Büro hatte sie erwähnt. Als hätten die Täter gezielt nur dort gesucht. Nicht etwa ganz allgemein nach Schmuck, Münzen, teurem Hi-Fi-Gerät oder Bargeld. Sondern nach etwas ganz Bestimmtem.
Rimbout hat schon recht, dachte Rapp, die Einbrecher kannten sich aus – und doch wieder nicht.
»Ich werde ihn später anrufen.«
Rapp schmunzelte. Er wusste genau, dass sein Kollege – vielmehr Ex-Kollege – alles andere als scharf darauf war, wenn sein ehemaliger Vorgesetzter, der liebe Jean Paul, dem guten François bei einem neuen Fall fortgesetzt auf die Finger schaute. Und das als Pensionär.
Doch genau die Vorstellung gefiel Rapp.
Er schob den Stuhl zurück und stand auf. Balzac bellte einmal kurz. Was ihm streng genommen verboten war. Rapp beließ es bei einem missbilligenden Blick. Dann ging er in den Flur, nahm wie gewohnt die Leine vom Haken und zog sein Jackett an.
»Allez hopp, Balzac!«
Sein ungezogener Hund kläffte erneut zweimal kräftig, dann ging es hinaus zum gewohnten Spaziergang nach dem Frühstück.
Unten im Hof traf Rapp Martin Michelberger, einen hochgewachsenen Mann mit spärlichen dunklen Haaren und hagebuttenroten Wangen. Wie alle Winzer war auch Michelberger auf dem Weg in den Weinberg, das hieß, nach dem zweiten Frühstück, einem meist etwas ausgiebigeren petit-déjeuner im Haus, machte er sich bereits zum zweiten Mal auf den Weg dorthin. Sein Van, ein grauer Renault Espace, stand unter dem Carport auf der anderen Seite des Hauses, gleich neben Rapps Charleston-2CV.
Sie grüßten sich höflich-distanziert wie immer. Michelberger wollte bereits weitergehen, blieb dann aber stehen. »Haben Sie’s schon gehört, Monsieur Rapp? Oder gelesen?«
»Beides.« Rapp war sofort klar, worauf Michelberger anspielte.
»Ja. Schrecklich, oder? Jetzt trifft es einen schon im eigenen Haus. Am helllichten Tag.«
»Die liebste Zeit des Einbrechers, Monsieur Michelberger. Weil er annimmt, dass alle aus dem Haus fort zur Arbeit sind.«
»Mag sein, aber es macht einem doch Angst, oder?«
»Ja, das stimmt. Aber die Polizei hat fähige Leute. Falls es eine Einbrecherbande war, wird man sie bald haben.«
»Falls es Einbrecher waren …? Ich dachte, das wäre sicher.«
»Nichts ist mehr sicher. Nicht mal meine Wohnung vor den Mäusen. Sagen Sie, Monsieur, Sie haben nicht zufällig noch eine Lebendfalle, die Sie mir freundlicherweise borgen könnten?«
Rapp erinnerte sich nämlich, dass Michelberger letzte Woche selbst darüber geklagt hatte, die Mäuse würden nach dem Ende des Sommers wieder verstärkt in die Häuser drängen, da es ihnen auf dem Feld zu kalt werde.
Michelberger wedelte mit der Hand. »Tut mir leid, Monsieur Rapp, aber ich muss leider zurück in den Weinberg. Wenden Sie sich an meine Frau, die kann Ihnen vielleicht aushelfen mit einer Falle. Sie ist eine begnadete Fallenstellerin. Im Augenblick ist sie noch im Haus.«
Michelberger verschwand, Rapp klingelte an der Tür des Hauses, und Irène Michelberger öffnete.
»Ah, Monsieur Rapp!« Sie begrüßte ihn, als hätte sie ihn bereits erwartet, und ging in die Hocke, um Balzac den Rücken zu streicheln. »Haben Sie schon gehört, Monsieur, in Winzenheim …«, begann sie, noch bevor Rapp den Mund aufbekommen hatte. Sie sah aus der Hocke besorgt zu ihm auf.
»Leroux, der Bürgermeister, ich weiß, Madame.«
»Meinen Sie, man wird die Täter schnappen?«
Rapp zuckte die Schultern. Madame Michelberger war eine lebenskluge Frau, der man nicht leicht etwas vormachen konnte. Nicht so leicht wie ihrem Mann jedenfalls, der ein gutherziger Kerl war, aber Rapp auch ein bisschen leichtgläubig schien.
»Ich bin mir nicht sicher, Madame, ob der Fall unsere hiesige Polizei nicht doch überfordert.«
»Sie meinen, es braucht Spezialisten? Aus Strasbourg oder so?«
»Möglich. Wer weiß?«
Madame Michelberger ließ es gut sein mit Streicheln und erhob sich. »Was ist mit Ihnen, Monsieur Rapp?« Sie lächelte ihn schelmisch an. »Kommen Sie, Jean Paul, unter uns Pastorentöchtern: Es kribbelt doch sicher schon ganz gewaltig in Ihren Fingern, wenn Sie von so einem Verbrechen hören, oder?«
Rapp zog vielsagend die Brauen hoch und stimmte dann in das herzhafte Lachen ein, das aus Madame Michelberger wie aus einer Fontäne herausschoss. Dann erzählte er ihr von der souris unter seinem Küchenschrank und vernahm zu seinem Bedauern, dass sämtliche Lebendfallen der Michelbergers bereits im Einsatz waren.
»Bei den Colheimers.« Dem Nachbarweinbetrieb, der gleich angrenzte. »Wir selbst fangen momentan schon die Siebenschläfer, hat mein Mann Ihnen das nicht gesagt? Sie turnen oben auf dem Dachboden herum und lärmen im Stall. Also, ich kann Ihnen sagen! Nichts für ungut und einen schönen Tag noch, Jean Paul.«
»Merci, Irène. Ebenso.«
Es war wie immer, sie kannten sich seit Jahren, aber er war nun mal kein Eingeborener, sondern gebürtig aus Colmar, daher wechselte ihrer beider Anrede noch immer munter hin und her zwischen Vor- und Nachnamen, Monsieur und Madame, Jean Paul und Irène.
So würde er also nach dem Spaziergang erst einmal seinen Charleston bewegen müssen, um im Intermarché, der auf halber Strecke zwischen Pfaffenhoffen und Rouffach lag, eine Lebendfalle für die souris zu kaufen.
Aber vielleicht lohnte sich ja ein kleiner Besuch im Commissariat, wenn er schon mal in der Stadt war? Nicht unwahrscheinlich, dass er Rimbout antraf, der sich den Kopf darüber zerbrach, was hinter dem Einbruch und dem Mord an Pierre Leroux in Winzenheim stecken mochte. Den ehemaligen Kollegen vorher anzurufen, unterließ er aber wohlweislich …
Sie gingen ihre übliche Runde, Rapp und sein Hund. Sobald sie den Dorfrand erreicht hatten, nahmen sie den steil ansteigenden Pfad hinter dem Wegkreuz der heiligen Barbara, der für die Erntefahrzeuge zu eng war. Die Steigung stellte für Balzac eine gewisse Herausforderung dar. Die Sonne schien unter dem blanken blauen Himmel, es war warm zwischen den Rebstöcken. Der Hund hechelte, doch es zog ihn weiter, da er wusste, dass oben im Wald frisches Wasser aus der Felsenquelle auf ihn wartete.
Auf halber Strecke zum Waldrand legte Rapp eine Pause ein. Er wandte sich um und ließ den Blick schweifen. An den Weinbergen bewegten sich die Erntehelfer wie Ameisen zwischen den wie mit dem Lineal gezogenen Reihen der Rebstöcke, von den Fahrzeugen war entferntes Brummen und Knattern zu hören, unten am Fuß der Weinberge lag Pfaffenhoffen im weichen Herbstlicht, die warmrote Sandsteinkirche Église Saint-Urbain in seiner Mitte. Die Sicht war so klar, dass Rapp den Schwarzwald als dunkles Band unter dem azurblauen Himmel auf der anderen Rheinseite erkennen konnte.
Sie setzten ihren Weg fort und erreichten bald die hüfthohe Mauer aus dem gleichen rötlichen Sandstein wie Notre-Dame. Balzac fixierte auf einmal etwas in einem schmalen Spalt der Mauer, aus dem gleich darauf eine Eidechse hervorhuschte, um blitzschnell in einem anderen Spalt zu verschwinden.
Der Pfad führte nach wenigen Schritten hinter der Mauer in den Wald hinein und hangelte sich dann an dessen Rand entlang, bis sie zur Quelle kamen. Aus einem Felsen floss das kristallklare Wasser von Sainte Eugénie dünn, aber stetig und sammelte sich darunter in einer leicht ausgehöhlten Sandsteinplatte, aus der Balzac nun genüsslich schmatzend soff.
Die jungen Buchen spendeten angenehmen Schatten. Rapp sog die würzige, von schweren Walddüften satte Luft tief in seine Lungen. Den Gesang der Vögel zog er jedem klassischen Konzert vor. Unter den Kastanienbäumen, an denen sie stellenweise vorbeikamen, lagen reichlich Samen, die in ihren aufgeplatzten stachligen Mänteln nicht ganz jugendfreie Phantasien in ihm auslösten …
Nach gut zwei Kilometern erreichten sie die Gabelung am südlichen Ende des Waldes, wo der Weg rechts tief in den Wald hinein, den Berg hinauf, links über die Weinberge wieder hinunter und zurück zum Dorf führte.
Sie gingen wie immer links und kamen nach wenigen hundert Metern zu der Stelle, an der aus dem grasbewachsenen Weg eine asphaltierte Straße wurde, auf der sie beinahe auf Schritt und Tritt den Weinbauern mit ihrem Helfertross begegneten.
Rapp grüßte nach allen Seiten hin und erntete selbst oft nur stumme Blicke oder ein Kopfnicken der alteingesessenen Bauern. Für sie war er eben immer noch der Zugezogene, auch nach bald dreißig Jahren.
Als sie das südliche Ende der Rue Mettmann und damit den Ortsrand erreichten, fielen Rapp ungewöhnliche Truppenbewegungen auf. Vor dem lachsroten Fachwerkhaus an der Ecke zur Rue de Kaefferling, das schon seit gut einem Jahr unbewohnt war, stand ein Möbelwagen mit Strasbourger Kennzeichen, den ein Trupp großer, kräftiger Männer entlud – dirigiert von einer zierlichen Frau Mitte fünfzig mit schulterlangen rotblonden Haaren.
Auf dem Trottoir standen Möbel und Hausrat, so war Rapp gezwungen, mit Balzac auf der Straße in einem Bogen um den Möbelwagen herum weiterzugehen.
Auf der anderen Seite erwartete ihn zu seiner Überraschung die Frau. In ihrem hellblauen Kleid und knallroten Sneakers tänzelte sie zwei Schritte auf ihn zu, und in ihrem herzförmigen Gesicht entfaltete sich ein geradezu entwaffnendes Lächeln.
»Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit, Monsieur! Aber ich verspreche Ihnen, es kommt so schnell nicht wieder vor, dass ich Ihrem kleinen Schatz und Ihnen den Weg verbaue.«
Schatz? Wie konnte diese Frau seinen durchaus muskulösen, mannhaften Hund so nennen? Umso mehr irritierte es ihn, dass Balzac jeden Stolz vermissen ließ und mit dem freundlichsten Grinsen, dessen er fähig war, zu Madame aufblickte, die mindestens zwei Köpfe kleiner war als Rapp.
»Nun, Monsieur, ich gedenke nämlich, nicht so bald wieder auszuziehen. Ich habe das Haus gekauft.«
»Ah.«
Sie reichte ihm die Hand. »Sylvie Printemps.«
»Printemps?« Frühling. »Wie kommt man denn zu so einem schönen Namen?«
»Indem man einen französischen Mann heiratet, zum Beispiel.«
»Sie sind Deutsche, richtig?«
»Ja, Monsieur. Und seit vielen Jahren auch Französin.«
Sie sprach zwar perfekt Französisch. Aber ihr deutscher Zungenschlag war unverkennbar. Nur strahlte sie mehr Temperament, mehr Feuer gewissermaßen, aus als die Deutschen, die er üblicherweise gewohnt war.
»Deutsche woher, wenn ich fragen darf?«
Sylvie Printemps kniff die Brauen zusammen. »Was sind Sie, Monsieur, Polizist?«
Er stutzte, sah sie verlegen an und bekannte sich schuldig.
»Früher war ich Polizist. Kriminalbeamter in Rouffach. Sogar Leiter des Commissariats.«
»Oh, là, là!« Sie lachte wieder derart entwaffnend, dass Rapp ihr die kleine Stichelei nicht mal mehr übel nahm (sie hatte wunderschöne kleine weiße Mäusezähne, und die souris fiel ihm wieder ein).
»Um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin in Berlin geboren. Aber später …«
»Sind Sie mit Ihrem Mann nach Frankreich gezogen.«
»Ja. Richtig.« Sie wurde ernst, doch nur für ein paar Sekunden, dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf. »Und Sie, Monsieur, heißen nicht zufällig été, Sommer, oder gar été indien, passend zur Jahreszeit?«
Rapp erschrak. »Pardon, Madame. Wie unhöflich von mir. Ich heiße Jean Paul Rapp.«
Unhöfliche Menschen konnte er auf den Tod nicht ausstehen, am wenigsten sich selbst, wenn er sich so verhielt.
Sylvie Printemps schien sein Fauxpas nicht der Rede wert zu sein, selbstbewusst lächelte sie ihn an. Langsam verstand er Balzac, der noch immer hechelnd zu Madame Frühling aufsah. Bis sie sich endlich zu ihm hinunterbeugte und ihm so intensiv das Fell rubbelte, dass Rapp eine kleine unanständige Regung zwischen Balzacs Hinterbeinen zu erkennen glaubte.
»Madame Printemps!« Ein Möbelpacker, der einen runden, an den Seiten etwas angestoßenen Mahagonitisch schulterte, rief Sylvie Printemps von der Haustür her spürbar genervt an. »Wohin mit dem alten Ding, Madame?«
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, ohne das Fellrubbeln zu unterbrechen. »Erster Stock, bitte. Und dann werfen Sie es einfach aus dem Fenster, das alte Ding, ich fange es auf. Macht Spaß, wissen Sie?«
Der Mann sah sie entgeistert an.
Sylvie Printemps richtete sich auf und lachte. »Kleiner Scherz.«
Der Packer bleckte seine nikotingelben Zahnreihen und trug den Tisch ins Haus.
Sie runzelte die Stirn und wandte sich Rapp zu. »Ich sollte das nicht tun, große, starke Männer ärgern, ich weiß. Aber was soll man machen, da blitzt meine schlechte Berliner Kinderstube wieder durch.« Sie warf einen verliebten Blick auf Balzac, der ihre Gefühle bereits intensiv zu erwidern schien. »Und wie heißt Ihr kleiner Monsieur, Monsieur Rapp?«
»Kleiner Monsieur« klang schon mal besser als »Schatz«, fand Rapp. Er verriet ihr den Namen.
»Balzac!« Sie lachte, ihre Mäusezähne blitzten in der Sonne. »Wie poetisch.«
Rapp war sich nicht sicher, ob er das Raubein der französischen Literatur, Honoré de Balzac, wirklich als Poeten bezeichnen würde. Aber die Deutschen hatten früher schließlich reihenweise ihre größten Dichter über die Grenze nach Frankreich gejagt – Büchner, Heine, Döblin et cetera –, da verlor sich der Maßstab vielleicht.
Balzac begann vor lauter Liebesblödigkeit, Madames Fuß zu lecken. Rapp ruckte an der Leine, um ihn zur Raison zu rufen. Sylvie Printemps gab dem Hund einen Klaps auf den strammen Rücken (ja, Balzac stand gut im Futter) und warf einen Blick über die Schulter.
Die Arbeiter hatten in der Zwischenzeit keine Pause gemacht. Zwei von ihnen stemmten die Fäuste in die breiten Hüften und sahen Madame Printemps fragend an.
Sie winkte achtlos mit der Hand ab. »Der Rest ist Brennholz. Klein hacken, Männer!«
Die Kerle glotzten sie an, als hätte sie ihnen eine Zote zugerufen.
Sichtlich amüsiert wandte sie sich wieder an Rapp. »Sie sehen, Monsieur, ich werde gebraucht. Au revoir.« Sie gab ihm, ganz die Deutsche, dachte er, wieder die kleine feste Hand und drückte kräftig zu. Klare Kante, er mochte das durchaus.
»War mir ein Vergnügen, Madame. Auf bald, hoffe ich.«
Sylvie Printemps beugte sich zum Abschied zu Balzac hinunter, um ihn noch einmal hinter den Ohren zu kraulen. Balzac lächelte beinahe schon entrückt.
»Allez, Balzac!« Rapp gab der Leine einen kleinen Ruck, und sie gingen weiter.
Als sie zu Hause ankamen und er die Leine an ihren Platz im Flur hängte, rief sich Rapp unwillkürlich den Namen der neuen Nachbarin in Erinnerung: »Sylvie. Printemps.«
Mal sehen, wie weit es die deutsch-französische Freundschaft im Elsass noch bringen konnte.
Sicher, Rapp hätte über die Route Nationale nach Rouffach fahren können, den Teil der N 83, der Route des Vins d’Alsace genannt wurde. Aber das wäre natürlich viel zu umständlich gewesen, denn es hätte ihn gezwungen, mit seinem Charleston dreimal um die Stadt herum zu fahren, nur um zum Intermarché am Ortseingang zu gelangen.
Nein, er fuhr wie alle Pfaffenhoffener parallel zur RN über die Rue de Rouffach, die konsequenterweise vor Rouffach zur Rue de Pfaffenhoffen wurde. Eine wunderbare Strecke, die am Fuß der Weinberge entlangführte, aber auch extrem eng war. Zum Glück war es nicht schwer, mit seiner schlanken alten Karosse entgegenkommenden Fahrzeugen auszuweichen, notfalls sogar über den Grasstreifen zu tanzen.
Balzac hatte er in der Wohnung zurückgelassen, um die souris zu bewachen. Natürlich würde der Hund in seinem Korb durchschlafen, bis sein Herr zurück war, und in der Zwischenzeit würde die Maus ihm auf der Schlafnase herumtanzen, jede Wette.
Rapp schaltete das Autoradio ein, »Radio Alsace Libre«, seinen Leib-und-Magen-Sender. »RAL« brachte Nachrichten und Kultur aus dem Dreiländereck Schweiz, Deutschland, Frankreich und war, anders als die großen kommerziellen Sender, politisch und wirtschaftlich unabhängig. Rapp mochte die kenntnisreichen Kommentare des Senders besonders zu regionalen Themen und ließ sich auch gern von der unkonventionellen, um nicht zu sagen unberechenbaren musikalischen Mischung aus Jazz und Pop, Rock und Klassik überraschen.
Im Augenblick nahm der unverkennbare Trompetenklang von Miles Davis seinen Ausklang, ehe eine gewisse Lizette begann, aktuelle Meldungen zu verlesen. Rapp wollte bereits ausschalten, er hätte lieber Musik gehört, als Lizette die Topnachricht verkündete: »Pierre Leroux, der Bürgermeister von Winzenheim, ist tot. Er starb laut Polizei gestern Nachmittag in seinem Haus infolge eines Gewaltverbrechens. ›RAL‹ sprach mit Anwohnern und politischen Weggenossen.«
Es folgten kurze Statements von Winzenheimer Stadtverordneten, die sich über den Mord an Leroux bestürzt zeigten und von Justiz und Polizei umgehende Aufklärung der Tat und die Ergreifung der Täter forderten. Die interviewten Nachbarn äußerten sich ebenfalls betroffen. Doch der eine oder andere von ihnen beklagte sich darüber, von der Polizei wie ein Verbrecher verhört worden zu sein.
Rapp schaltete aus, als Lizette zur nächsten Meldung überging. Die Nachrichten erinnerten ihn an das Dilemma, das er selbst früher allzu oft erlebt hatte. Einerseits sollte die Polizei die Täter am besten schon vor der Tat gefasst haben. Andererseits wurde sie keineswegs von allen mit offenen Armen empfangen, wenn sie ihrer Arbeit nachging, Fakten ermittelte und Zeugen befragte.
Zum Glück war das für ihn Vergangenheit. Er war Pensionär.
Rapp atmete durch. Es war ein herrlicher Herbsttag geworden. Er hatte das Verdeck seines Charleston einen Spaltbreit geöffnet, und so wölbte sich über ihm der blaue Himmel, in dem Wolkenschafe gemächlich grasten. Im rechten Seitenfenster segelte die grüne Silhouette der Weinberge vorbei, in denen reger Erntebetrieb herrschte.
In Rapp stiegen Erinnerungen an die Zeit auf, als sein Sohn noch ganz klein gewesen war und er an den Wochenenden, an Tagen wie diesen, mit Isabelle und Edgar durch die Weinberge gewandert war … Gott, das war schon wie lange her? Mehr als zwanzig Jahre. Solche Ausflüge waren, obwohl das Paradies quasi direkt vor der Haustür gelegen hatte, selten genug vorgekommen, da er auch an den Wochenenden allzu oft im Dienst gewesen war, zuerst in Colmar und die letzten fünfzehn Jahre als Distriktchef in Rouffach.
Er wich einer blauen Limousine, einem Peugeot 508, aus und erreichte das letzte Teilstück der Rue de Pfaffenhoffen, das rechts in die Rue du Général de Gaulle mündete, die nach Rouffach Centre führte.
Hier wurde es knifflig, denn die Rue de Gaulle diente als Ausfahrt der Route Nationale, und der Intermarché befand sich auf der gegenüberliegenden Seite. Man musste stets damit rechnen, dass Autos mit einem Affenzahn von der N 83 herunterfuhren, um fünf Sekunden schneller als der Tod in der Stadt zu sein. Aber Rapp hatte keine Lust, sich das Privileg nehmen zu lassen, zumal es schließlich alle Pfaffenhoffener so machten.
Alles ging gut, sein Charleston kreuzte unbehelligt von vorbeischießenden Fahrzeugen die Rue de Gaulle. Er parkte wie immer am äußersten Rand des Parkplatzes neben dem riesigen Flachdachgebäude des Intermarché, wo er vor dem Aussteigen noch die unverstellte Aussicht auf die Stadt genoss: die wuchtige Fassade der Nordseite von Notre-Dame de l’Assomption in der Mitte, rechts außen das Kloster und den Hexenturm an der Place de la République im Zentrum.
Im Eingangsbereich des Supermarkts befanden sich die Regale mit den Zeitschriften und Zeitungen. Die Wörter »Leroux«, »Mord«, »Winzenheim« prangten in riesigen Lettern auf den Frontseiten der Boulevardblätter. Unter den Schlagzeilen die Abbildungen eines stattlichen Wohnhauses in Winzenheim und einiger Fotos, die einen korpulenten Mann in mittleren Jahren, »das Opfer«, bei verschiedenen Amtstätigkeiten zeigten. Mit einem charakteristischen breiten Grinsen eröffnete Leroux Weinfeste, weihte neue Straßenabschnitte ein oder gratulierte frisch vermählten Paaren. »Passé«, kommentierte »Colmar Samedi«. »Und was tut die Polizei?«
Rapp war froh, nicht in Rimbouts Haut zu stecken.
Trotz der Erklärung eines drahtigen jungen Mitarbeiters an der Information des Supermarkts fand Rapp die Lebendfalle nicht auf Anhieb, sondern erst nach intensivem Suchen in der Haushaltswarenabteilung. Er kaufte gleich drei davon. Für den Fall, dass die souris sich inzwischen Gesellschaft verschafft hatte, nach dem Motto: Dieser Rapp ist ja so ein Idiot, Freunde! Vor dem Schlafengehen legt der Gute mir immer fette Käsestückchen vor mein Versteck. Ihr glaubt es nicht, ehe ihr es nicht selbst erlebt habt.
Über die Rue de Gaulle fuhr er dann ins Zentrum, um über die Rue du Marché im Herzen der Altstadt zu parken, auf der Place de la République, gleich hinter Notre-Dame.
Die Polizeistation befand sich neben dem Office de Tourisme (»Heute geschlossen«) in der Ancienne halle au blé, dem ehemaligen Kornhaus, einem Renaissancegebäude aus hellem Sandstein mit Treppengiebel und einem doppelläufigen Aufgang.
Rapp traf Rimbout wie erwartet in dessen kleinem Büro am hinteren Ende des dunklen Flurs, den er früher selbst so oft entlanggegangen war. Die zwei Schreibtische, heute für Rimbout und seinen Assistenten, und die grauen Aktenschränke links an der Wand standen dort wie eh und je. Auch die Detailkarte des Distrikts Rouffach an der Wand gegenüber hing noch wie damals, selbst in Zeiten des Internets war sie zur schnellen Orientierung noch immer unschlagbar, wie Rapp aus eigener Erfahrung wusste. Nur an der Fensterfront des Raums, gleich neben dem Porträt von Charles de Gaulle (statt des amtierenden Präsidenten, wie es Vorschrift gewesen wäre), prangten jetzt die Wimpel in den Vereinsfarben von Paris Saint-Germain und Farbfotos der aktuellen Stammspieler des Fußballclubs, dessen unerschütterlicher Fan François Rimbout war.
Rimbout wäre beinahe von seinem Schreibtischstuhl gefallen, als Rapp nach kurzem Anklopfen die Tür öffnete und das Büro betrat. Er erholte sich jedoch schnell und kam seinem ehemaligen Chef entgegen, um ihm die Hand zu schütteln.
Rapp hatte Rimbout schon immer gemocht. Er war ein großer, schlaksiger Mann in den Vierzigern, der mit seiner Halbglatze und den freundlichen blauen Augen aussah wie ein aus der Zeit gefallener Mönch. Sie duzten sich, was Rapp zuvor keinem seiner Assistenten zugestanden hatte und Rimbout sehr wohl als Zeichen der Wertschätzung verstand. Hoffte Rapp.
Er erkundigte sich nach dem Befinden von Rimbouts Frau und den Kindern, während er sich nonchalant auf dem verwaisten Schreibtischstuhl von George Sulzer, Rimbouts Assistenten, niederließ.
Rimbout sah ihn süßsauer an. »Du … bist ganz zufällig in der Stadt, Jean Paul? Wolltest nur mal vorbeischauen, ja?«
»Nein, nicht zufällig. Sondern wegen einer Falle.«
Rimbout riss die Augen auf. »Einer Falle?«
»Mäuse in der Wohnung.«
»Ah.« Rimbout wirkte erleichtert.
»Und du, François?« Rapp gestattete sich ein kleines Lächeln. »Bist ebenso zufällig im Büro? An einem Samstag? Statt zu Hause bei deiner Frau, deinen Kindern?« Rimbout hatte zwei Teenager, Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen, er lebte südlich von Rouffach, in Thann, am Fuß der Vogesen.
Rimbout seufzte und gab das Versteckspiel auf. »Ach was, nein. Der Fall Leroux, weißt du …« Er sah Rapp offen an. »Du hast davon gelesen, nehme ich an?«
Rapp nickte. »Im ›Alsacien‹. Merkwürdige Sache.«
»Findest du?«
»Du etwa nicht, François? Im ›Alsacien‹ hast du noch gesagt –«