Viel Lärm um Achtsamkeit - Jacob Schmidt - E-Book

Viel Lärm um Achtsamkeit E-Book

Jacob Schmidt

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Beschreibung

»Die Sache mit dem gelingenden Leben: Sie bleibt kompliziert.«

Achtsamkeit ist längst im Mainstream angekommen, in den Teeregalen im Supermarkt und in den Personalabteilungen der Konzerne. Millionen Deutsche meditieren regelmäßig. Das Versprechen ist verlockend: Stille und Frieden finden in unserer hektischen, schnelllebigen Zeit. Ein In-sich-Ruhen, das neue Kraft schenkt und nebenbei mitfühlender macht, konzentrierter, belastbarer.

Der Soziologe Jacob Schmidt hat den anhaltenden Trend untersucht und findet: Achtsamkeit verspricht viel mehr, als sie zu bieten hat. Sein Buch ist eine überfällige Auseinandersetzung mit diesem schillernden Begriff, hinter dem sich häufig wenig mehr als kapitalismusfreundliche Selbstoptimierung versteckt. Zugleich fordert Schmidts Analyse heraus, die gesellschaftlichen Gründe für die große Sehnsucht nach Ruhe und einem anderen Zusammenleben ernst zu nehmen – und für eine bessere Welt zu streiten, statt sich aufs Kissen zu setzen.

»Jacob Schmidt ist mit dieser Studie eine beeindruckende Analyse, ja ein großer Wurf gelungen.« Hartmut Rosa

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Seitenzahl: 259

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Über das Buch:

Achtsamkeit ist längst im Mainstream angekommen, in den Teeregalen im Supermarkt und in den Personalabteilungen der Konzerne. Millionen Deutsche meditieren regelmäßig. Das Versprechen ist verlockend: Stille und Frieden finden in unserer hektischen, schnelllebigen Zeit. Ein In-sich-Ruhen, das neue Kraft schenkt und nebenbei mitfühlender macht, konzentrierter, belastbarer.

Der Soziologe Jacob Schmidt hat den anhaltenden Trend untersucht und findet: Achtsamkeit verspricht viel mehr, als sie zu bieten hat. Sein Buch ist eine überfällige Auseinandersetzung mit diesem schillernden Begriff, hinter dem sich häufig wenig mehr als kapitalismusfreundliche Selbstoptimierung versteckt. Zugleich fordert Schmidts Analyse heraus, die gesellschaftlichen Gründe für die große Sehnsucht nach Ruhe und einem anderen Zusammenleben ernst zu nehmen – und für eine bessere Welt zu streiten, statt sich aufs Kissen zu setzen.

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Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Kathrin Sabeth Ohl, Hamburg

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-30688-5V001

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort von Hartmut Rosa

Einleitung: Aus der Zeit fallen

Die vergebliche Suche nach einem Kern

Was ist Achtsamkeit?

Der unreflektierte Blick in den »Fernen Osten«

Wie ist Achtsamkeit so populär geworden?

Die vermeintliche Macht des Individuums

Warum ist Achtsamkeit so umkämpft?

Die Kunst, freier zu sein

Wie wir Achtsamkeit begrenzen könnten

Das Rascheln in der Stille

Fragmente eines gelingenden Lebens

Zum Abschluss: Viel Lärm um Achtsamkeit

Literatur

Anmerkungen

Der Autor

Noch ein Eintrag auf der To-do-Liste, eine Waffe im Optimierungskampf, oder eine alternative Form des In-Der-Welt-Seins?

Die schillernde Gestalt der Achtsamkeitsbewegung

Vorwort von Hartmut Rosa

Keine Frage: Achtsamkeit und Meditation haben Konjunktur; immer noch und weiterhin. Sie treffen nicht nur einen ›Nerv‹ der spätmodernen Gesellschaft, sie scheinen geradezu eine soziale Funktion in ihr zu erfüllen. Aber worum handelt es sich bei diesen Praktiken, oder sollten wir sagen: bei dieser sozialen Bewegung, eigentlich? Achtsamkeit ist genau besehen nicht einfach ein bunt schillerndes zeitgenössisches Phänomen, sondern sie ist mindestens drei Phänomene zugleich: Erstens ein sowohl esoterisch-religiös als auch philosophisch und psychologisch-neurologisch unterfütterter Denkansatz; zweitens eine Vielzahl sich immer weiter verbreitender (und oft sehr unterschiedlicher) kultureller Praktiken, und drittens gerade deshalb in der Tat in manchen Zügen auch so etwas wie eine Neue Soziale Bewegung der Spätmoderne. Deren Zielsetzung ist dabei allerdings völlig unklar, oder vielmehr: widersprüchlich.

Geht es den Anhängern der Achtsamkeit darum, ihren Alltag besser zu bewältigen, gesünder, stärker, stressresistenter und leistungsfähiger zu werden, und darüber hinaus noch gelassener, besser und effizienter; oder geht es ihnen darum, eine gegenüber der Steigerungsmoderne mit ihren Beschleunigungszwängen und Optimierungsimperativen alternative Seinsform zu entwickeln? Oder anders ausgedrückt: Ist Achtsamkeit das affirmative Bestreben, in den bestehenden Verhältnissen besser zurecht zu kommen, oder ist sie eine subversive Bewegung, die auf die grundlegende Veränderung ebendieser Verhältnisse abzielt? Oder aus der Sicht der Individuen formuliert: Erscheint ‚Achtsamkeit üben‘ einfach als ein weiterer Eintrag auf der täglichen To-do-Liste, ist sie ein Werkzeug oder gar eine Waffe zur Optimierung des stresserfüllten Lebens, oder ist sie eine Alternative zu und ein Ausweg aus demselben? Und wenn sie Letzteres ist: Geht es dann nur um eine individuelle Lösung für spätmoderne gesellschaftliche Probleme, oder hat Achtsamkeit das Potenzial, auch für einen Umbau gesellschaftlicher Institutionen zu taugen, hat sie also politisches Potenzial?

Tatsächlich habe ich die Achtsamkeitsströmung in der Vergangenheit aus resonanztheoretischer Perspektive mehrfach für drei oder sogar vier zusammenhängende, problematische Tendenzen kritisiert. Erstens, für den Hang zur individualistischen Verkürzung. Diese besteht darin, dass die Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen des Lebens allein dem Individuum aufgebürdet wird: Wenn Du nur achtsam genug bist, dann wird Dein Leben gelingen. Dann wirst Du gelassen, resilient, und womöglich auch noch gesund, glücklich und erfolgreich sein. Wenn Du dagegen Burn-out-bedroht bist, warst Du eben nicht achtsam genug. Dein Versagen. Wo so gedacht wird, wird aus meiner Sicht übersehen, dass Weltbeziehungen immer zweiseitig sind: Sie hängen nicht einfach vom Subjekt ab, sondern sind immer auch und womöglich weit stärker das Ergebnis gesellschaftlicher Institutionen und Verhältnisse. Werden diese ausgeblendet, wird Achtsamkeit völlig unpolitisch und damit tendenziell affirmativ gegenüber den bestehenden Verhältnissen.

Zweitens, für die Tendenz zur universalistischen Überdehnung. Damit meine ich, dass in Achtsamkeitsratgebern oft gelehrt und in entsprechenden Übungen oft angestrebt wird, allem und jedem gleichermaßen achtsam zu begegnen, keinerlei Unterschiede zu machen und alles auf die gleiche (nämlich innerlich distanzierte, leidenschaftslose) Weise wahrzunehmen. Demgegenüber scheint mir gelingendes Leben vielmehr davon abzuhängen, dass wir in intensive, engagierte Beziehung zu je bestimmten Menschen, Dingen, Kunstwerken, Ideen oder auch Landschaften treten. Wir können nicht in Resonanz mit allem und jedem sein; eine Resonanzbeziehung zu einem Menschen oder einer Musik, einer Idee oder einer Arbeit ist immer leidenschaftlich und sozusagen parteilich; sie kann nicht neutral und distanziert gegenüber den Dingen bleiben; sie macht Unterschiede. In gewisser Weise kann man sagen: Wenn wir in Resonanz mit einer Sache sind, ist unser ganzes Wesen gerichtet und fokussiert; wir sind in einem Modus des Hörens und Antwortens auf etwas bezogen, von dem wir gleichsam ›angerufen‹ werden. Achtsamkeit beschreibt dagegen ein ganz anders geartetes Verhältnis der ›Weitwinkel-Aufmerksamkeit‹, in dem wir versuchen, alles gleichermaßen zu registrieren und dabei geradezu unbeteiligt zu bleiben. Sie zielt auf ein ›panoramatisches Registrieren‹ anstelle eines anverwandelnden Sich-Einlassens. Ich werde darauf gleich noch einmal mit dem Versuch eines ›Versöhnungsvorschlages‹ zurückkommen.

Die dritte problematische Tendenz der Achtsamkeit scheint mir im Impuls zu einer ›präsentistischen Verengung‹ zu bestehen. Damit meine ich die vielfach formulierte und oft mantraartig wiederholte Idee, dass wir ›ganz im Hier und Jetzt‹ sein sollen. Dies bedeutet, alles was in unserem Leben oder unserem Alltag davor war (Retention) und auch alles, was danach kommt (Protention), ›zu vergessen‹ oder auszublenden. Nur im Moment zu leben. Das scheint mir zu einer spätmodernen, dem neoliberalen Turbokapitalismus entsprechenden Kultur zu passen, die ein geradezu fragmentarisches Bewusstsein verlangt: Wir sollen an nichts hängen, alles loslassen, jederzeit offen für Neues sein, flexibel auf alle Zu- und Wechselfälle reagieren und keinerlei Erwartungen für die Zukunft ausbilden. Die Zeiterfahrung der Resonanz scheint mir demgegenüber geradewegs durch eine Weitung des zeitlichen Horizonts gekennzeichnet zu sein, die das Fragmentarische überwindet und in der sich eine Ko-Präsenz von Vergangenheit und Zukunft einstellt: Der resonante Moment ist sinnerfüllt gerade durch die angstfreie Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (des Lebens und/oder des Alltags). Resonanz hat in diesem Sinne eine intensive zeitliche Dimension: Sie besteht in der Erfahrung, dass es einen spürbaren, integrierten Zusammenhang zwischen den drei Zeitebenen des Alltags, des biografischen Lebensverlaufs und der geschichtlichen ›Welt da draußen‹ gibt.

Die vierte mir problematisch erscheinende Tendenz der Achtsamkeitsbewegung habe ich schon angedeutet, ich meine ihre instrumentelle Vereinnahmung im neoliberalen Optimierungs- und Steigerungsstreben. Wir begegnen ihr überall dort, wo versucht wird, Achtsamkeit als Instrument zur Verfügbarmachung noch der letzten psychophysischen Ressourcen im Konkurrenzkampf um bessere Leistungen und Ergebnisse zu machen oder sie mittels Apps und Ratgebern als Waffe gegen die Bedrohung durch Überlastung, Stress, Wettbewerbsdruck, Zeitnot etc. einzusetzen. Mehr Erfolg im Berufsleben, im Studium, in Liebe und Familie durch Achtsamkeit lauten dann etwa die achtsamkeitsindustriellen Verheißungen, oder auch: So entgehen Sie dem Burn-out an der Börse oder in den überlasteten Pflegeinstitutionen… Achtsamkeit wird so zu einem Instrument, mit dessen Hilfe schon Schulkinder gleichsam ›inwendig‹, nämlich psychophysisch auf Leistung und Optimierung getrimmt werden sollen.

Indessen: Man muss Achtsamkeit in allen vier Punkten nicht so verstehen und nicht so praktizieren. Es gibt jeweils auch die entsprechenden Gegentendenzen in dieser kulturellen Bewegung. Eine alternative Lesart, die sich bei der Gegenüberstellung mit der Resonanztheorie geradezu aufdrängt, besteht darin, in der Achtsamkeit den Versuch zu sehen, Anrufbarkeit wieder herzustellen, individuell und kulturell resonanzbereit zu werden. Aus dieser Perspektive betrachtet reagiert die Achtsamkeitsbewegung ganz ähnlich wie die Resonanztheorie auf die Erfahrung, dass uns die Welt ›stumm zu werden‹ droht, dass wir in einer falschen Beziehung zu ihr stehen, kurz: Sie reagiert auf die Wahrnehmung einer gestörten, entfremdeten Weltbeziehung, in der uns nichts mehr zu erreichen, zu berühren oder zu bewegen vermag. Die Achtsamkeitskultur wird dann geboren aus dem Wunsch, dass eine andere Form der Weltbeziehung, eine andere Weise des In-der-Welt-Seins möglich sein müsse. Wenn die (spät-) moderne Form der Weltbeziehung durch das Streben nach Kontrolle, Herrschaft und Verfügungsgewalt über die Natur und das Leben geprägt ist, dann scheint es offensichtlich, dass Achtsamkeit einen Gegenentwurf beinhaltet: Hier geht es gerade nicht um Kontrolle und Besitzergreifung, sondern um achtsames Loslassen – in den Begriffen der Resonanztheorie könnte man sagen: Um ein mediopassives Weltverhältnis, in dem wir bereit sind zu hören und zu antworten. In dem wir ganz aktiv und ganz passiv zugleich sind: Wir sind offen, wachsam und vielleicht sogar liebevoll auf eine Welt bezogen, ohne in ihr aktiv nach einem Ziel zu streben; in höchster Sensibilität für alles, was uns begegnet. Selbstwirksamkeit wird dabei nicht als Kontrolle oder Verfügung erfahren, sondern als Teilhabe – das Zentrum des Geschehens (›Agency‹) verlagert sich gleichsam zwischen Subjekt und Welt, in einen gleichschwebenden Zustand, in dem wir nicht mehr sagen können, ob wir (mental) etwas tun oder ob uns etwas begegnet. Eben das meint das Wort Mediopassiv, das zugleich ein Medioaktiv ist: Wir sind halb passiv und halb aktiv, oder vielmehr: ganz aktiv und ganz passiv zugleich. In meinem kleinen Buch Demokratie brauch Religion (Kösel-Verlag 2022) habe ich dies mit dem Begriff des Auf-Hörens zu beschreiben versucht: Die Praxis der Achtsamkeit zielt nach dieser Lesart auf die Kunst des Aufhörens.

Achtsamkeit erscheint dann also als das Bestreben, sich von der Welt ›anrufen‹ zu lassen, oder genauer noch: wieder anrufbar zu werden – resonanztheoretisch gesprochen: dispositionale Resonanz zu erlangen, um resonanzfähig zu sein. Und in Verbindung mit dem Gedanken, dass Anrufbarkeit bzw. Resonanzfähigkeit eben nicht nur von der subjektiven Verfassung, sondern auch von den objektiven, institutionellen Bedingungen abhängt, lässt sich daraus auch ein politischer Impuls gewinnen.

Aber welche Lesart der Achtsamkeit ist die richtige? Mit welcher Art eines sozialen Phänomens haben wir es bei ihr ›wirklich‹ zu tun? Auf welche gesellschaftliche Problemlage reagiert diese kulturelle Strömung, welche Bedürfnisse erfüllt sie, welche soziale Funktion hat sie, und welche Wirkung erzeugt sie? Vor dem Hintergrund seiner umfassenden und inzwischen nahezu globalen Verbreitung ist es erstaunlich, dass dieser Phänomenkomplex bisher zwar eine Vielzahl populärer Ratgeber und auch ironischer Bearbeitungen (man denke nur an die Achtsam morden-Krimis von Karsten Dusse) hervorgebracht hat, aber kaum je Gegenstand fundierter soziologischer oder sozialwissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist. Das von Jacob Schmidt verfasste Buch schließt diese Lücke, indem es Achtsamkeit in der Gesamtheit ihrer Erscheinungen als ein soziales und kulturelles Phänomen ernst nimmt und auf ihre Entstehungsbedingungen, Erscheinungsformen und Folgewirkungen hin analysiert. Es gelingt ihm, einerseits die kulturellen Wurzeln und Motivstrukturen der Achtsamkeitsbewegung zu erhellen und andererseits zugleich die ungeheure Popularisierung und Verbreitung der damit verbundenen Praktiken zu erklären.

Jacob Schmidt ist mit dieser Studie eine beeindruckende Analyse, ja ein großer Wurf gelungen. Im wohltuenden Kontrast zu einer Vielzahl von Auseinandersetzungen mit dem Phänomenbereich der Achtsamkeit zeichnet sich seine Arbeit durch analytische Schärfe und eine normative Äquidistanz zu ihren Verfechtern wie zu ihren Verächtern aus: Es geht ihm in der Hauptsache weder darum, die sozialtherapeutischen Vorzüge zu identifizieren noch darum, die ideologischen Untertöne zu entlarven. Indem er sich von Heilsversprechen wie Polemik gleichermaßen fernhält, gelingt es ihm, die vielen Nuancen der Strömung differenziert hervortreten zu lassen, dadurch die kritischen Aspekte schärfer zu fassen und im Ergebnis doch zu einer vorsichtigen, qualifizierten Bejahung zu gelangen. Darüber hinaus zeigt die Untersuchung, wie aktuelle kulturelle Bewegungen und Praktiken auf sozialstrukturelle Problemlagen reagieren und diese zu bearbeiten versuchen. Jacob Schmidts Buch lässt sich damit auch als bemerkenswerter Versuch der Selbstaufklärung der spätmodernen Gesellschaft darüber lesen, wie im Lärm der gehetzten Welt ein gutes Leben noch zu führen sein könnte.

Einleitung: Aus der Zeit fallen

Es war nicht schwer, ihn zu erkennen: gelbbraunes Gewand, kahler Kopf, asketischer Körperbau. Ich stand, etwas nervös, am Terminal des Ben-Gurion-Airports in Israel, mitten in der Nacht. Es muss gegen drei Uhr gewesen sein.

Ich begrüßte ihn betont ruhig. Ziemlich unbeeindruckt hastete er zum Taxi. Wahrscheinlich war er müde vom langen Flug aus Nepal, dachte ich mir, während ich ihm hinterherhetzte. Der Taxifahrer schaute eine ganze Weile verdutzt in seinen Rückspiegel, bevor er anmerkte, es sei schon etwas ungewohnt für ihn, einen buddhistischen Mönch (das sei er doch, oder?) herumzufahren.

In der Unterkunft angekommen, fragte mich der Mönch als Erstes nach dem WLAN-Passwort. Er wolle noch ein paar E-Mails checken. Etwas überrascht kramte ich es hervor.

Nach ein paar Stunden Schlaf machte ich Frühstück und bot es ihm an. Nehmen, so war ich zuvor angewiesen worden, dürfe er von sich aus nichts. Er nahm dankend an. Nach einer zweiten kurzen Bettruhe kochte ich etwas zu Mittag. Bei Nudeln in Zucchini-Champignon-Soße mit Salat und anschließendem Muffin echauffierte er sich über die Baupolitik seiner Heimatstadt. Um kurz vor zwölf Uhr waren wir rechtzeitig fertig. Rechtzeitig, denn nach Mittag durfte er nichts mehr essen. Klösterliche Regeln und so.

Wir verließen Tel Aviv und fuhren gen Norden. Nach den sechs Wochen, die ich dort gewohnt hatte, freute ich mich riesig auf eine Pause von dieser tosenden Stadt. Und auf eine Pause für meinen Körper. Denn eigentlich war ich damals nach Israel gekommen, um Aikido, diese japanische Kampfkunst, zu üben. Aber das ist eine andere Geschichte ...

Nun saß ich jedenfalls am Steuer, neben mir ein schlafender Mönch, und ich merkte, dass ich mir eine gewisse Enttäuschung nicht verhehlen konnte. Ich hatte ihn mir doch ein wenig anders, der Welt entrückter, vorgestellt. Weniger WLAN, mehr Lässigkeit sozusagen. Aber als er plötzlich im Nullkommanichts seinen Schlaf für beendet erklärte, wie ein kleines Kind, mit einem strahlenden: »Oh, that feels so much better!«, dachte ich: »Einen Versuch ist es allemal wert.«

Wir erreichten unser Ziel, ein Kibbuz nahe den Golanhöhen. Fortan war ich nicht mehr Koch und Fahrer, sondern sein Schüler. Schüler der vipassana-Meditation, die heute häufig, wie so vieles andere auch, als Achtsamkeitsmeditation bezeichnet wird.

Von 5 Uhr morgens bis 21 Uhr abends meditierte ich mit gut einem Dutzend anderer Aspirant:innen, abwechselnd eine Stunde sitzend und eine Stunde gehend. Unterbrochen wurde der monotone Ablauf dieses Retreats, wie solche intensiven Meditationskurse genannt werden, lediglich von

einem Frühstück um 6 Uhr (Brei mit Obst),einer Mahlzeit um 11 Uhr (meist Gemüse mit Tahina),einem Kräutertee um 17 Uhrund einem Vortrag des Mönchs um 19 Uhr.

Über den ganzen Tag hinweg schwiegen wir, vermieden jeden Augenkontakt, lasen keinen Satz – und führten jede Bewegung langsam, unendlich langsam aus. Die Pi mal Daumen 15 Meter vom Sitzkissen zum Klo? Etwa 5 Minuten – für einen Weg. Aber, was gab es schon groß anderes zu tun?

Jeden Atemzug, jeden Schritt, jede Bewegung sollten wir so fein und so präzise wie möglich beobachten. Und das versuchte ich. Natürlich auch, um etwas Fundierte(re)s in dem zehnminütigen Einzelgespräch erzählen zu können, das täglich mit dem Mönch stattfand.

Mein Termin war kurz nach neun Uhr. Ich schlich aus dem Haus, wartete, bis ich dran war, und setzte mich auf einen Plastikstuhl im Schatten eines Baumes zu ihm. Nach einem kurzen und engagierten Small Talk ging es zur Sache, er fragte mich regelrecht ab. »Welche Empfindungen nimmst du wahr, wenn du den Fuß abhebst?« Oder: »Nenne mir fünf Merkmale, die du beim Einatmen an der Bauchoberfläche spürst.« Oder, wenn ich, wie jeden Tag, auf meine schmerzenden Knie zu sprechen (lamentieren?) kam: »Aha, wie hat sich der Schmerz verändert, als du begonnen hast, ihn zu beobachten?«

Meine Beschreibungen der stundenlangen Körperbeobachtungen waren wohl meist nicht präzise genug – mit den fast gleichen Anweisungen wie am Vortag, einer kurzen Aufmunterung und einem gerufenen »Next, please!« entließ er mich wieder in die nächsten einsamen 24 Stunden.

Größtenteils war es eine Qual, anders kann ich es nicht sagen: Schmerzen beim Sitzen, Langeweile angesichts der immer gleichen Atmung, Kampf mit den nicht enden wollenden Gedankenströmen. Die Aufmerksamkeit wollte einfach nicht beim Atmen, beim Gehen, bei den Knieschmerzen verweilen!

Doch irgendwann kamen sie: Momente mir bislang unbekannter Ruhe, Leichtigkeit und Wachheit. Momente der Brillanz, in denen ich meinen Körper, die Blätter und Blüten so lebendig und farbenfroh erlebte, als ob 50 Jahre Fernsehgeschichte plötzlich übersprungen und ein Röhren- durch einen 4K-Fernseher ersetzt worden wäre. Ganz schön flashig.

Als ich dem Mönch davon am nächsten Morgen berichtete, schaute er mich unbeeindruckt an. Ich hatte wohl etwas zu begeistert erzählt. »Okay«, sagt er, »bitte beobachte diesen Zustand ganz genau und identifiziere dich bloß nicht mit ihm.« Das letzte Ziel, nibbana (Pali, wohl bekannter im Sanskrit: nirwana), sei so viel mehr und dürfe nicht angesichts solcher netter, aber letztlich mickriger Episoden aus dem Blick verloren werden.

Das war es dann auch mit den Anflügen von Ekstase. Die restlichen vier Tage träumte ich zumeist vom 14., dem letzten Tag im Retreat.

Zurück in Tel Aviv. Das Schleichen prallte auf das hektische Leben und unerlässliche Gewusel der Großstadt (dieser Gemüsemarkt!), die Stille und Ruhe auf die permanente Kommunikation (in Tel Aviv hatten schon damals so gut wie alle ein Smartphone vorm Gesicht), die Disziplin, sich in seinen Sinneslüsten zu zügeln, auf den an jeder Ecke kultivierten sinnlichen Genuss (dieser Hummus!), die frei zur Schau gestellten Zärtlichkeiten, das Flanieren am Strand.

Zwischen beiden Welten lagen gerade mal 150 Kilometer Luftlinie.

Hatte ich vor meiner Rückkehr noch einen Kulturschock befürchtet, so fühlte ich mich nach dem Retreat in dieser lauten, hastigen, lebendigen Betriebsamkeit seltsam wohl. Das Leben im Großstadtgetümmel war für mich plötzlich viel leichter zu ertragen als zuvor. Mein Geist schien all die Reize schneller und entspannter verarbeiten zu können, so als ob in einem Rechner ein neuer Prozessor eingebaut worden wäre – und gleich noch ein Grafikchip der neuesten Generation. Ich nahm das Getümmel klarer wahr – und doch trafen mich die Tausenden Reize nicht mehr bis ins Mark.

Es hatte sich ein großer, angenehmer Puffer zwischen mich und die Stadt geschoben.

Der ausbleibende Schock faszinierte mich mindestens genauso wie die verrückte Gleichzeitigkeit zweier so radikal ungleicher Welten – die der modernen Großstadt einerseits und die der asketischen und zurückgezogenen Meditation andererseits. Beides ließ mich nicht mehr los, zumal ich bald bemerkte, dass Meditation, und just diese südostasiatische vipassana- oder Achtsamkeitsmeditation, regelrecht einen Boom im Westen ausgelöst hatte.

Es ist ja immer eine zweischneidige Sache, von einem »Boom« zu sprechen. Hegt man erst einmal den Verdacht, einem wirklich spannenden Phänomen auf der Spur zu sein, sieht man plötzlich an jeder Ecke Beweise für seine These. Und so ging es auch mir mit der Achtsamkeit und ihren Verwandten, als ich von meinem Abenteuer in Israel wieder zurück zu Hause war. Sie begegneten mir plötzlich überall: die Buddhafigur beim Friseur, die Zeitschrift moment by moment im Buchladen, ein Flyer zur achtsamen Stressreduktion im Café, Zitate und Referenzen im Kino (zum Beispiel im 2014 oscarprämierten Film Birdman), die Achtsamkeit-App Headspace bei einer Apple-Keynote auf großer Bühne – und nicht zuletzt an der Uni, wo Achtsamkeit immer stärker beforscht und angeboten wurde.

Aber es gibt glücklicherweise einen Ausweg aus dieser Subjektivitätsfalle. Entweder Sie machen zur empirischen Erhebung bei Gelegenheit einen kurzen Spaziergang in einem hippen Viertel einer Großstadt, etwa im Prenzlauer Berg, und überzeugen sich selbst davon, dass Achtsamkeit en vogue ist. Oder ernster gesprochen, Sie schauen sich die Grafik auf der nächsten Seite an. In überregionalen Tages- und Wochenzeitungen taucht der Begriff Achtsamkeit seit den 90er-Jahren immer häufiger auf. Und auch die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen steigt seit der Jahrtausendwende rasant. Das Time Magazine sprach bereits 2014 von einer »mindful revolution«, andere davon, dass Achtsamkeit »mainstream« geworden sei.1 Um eine Praxis, die die Stille propagiert, ist es seltsam laut geworden.2

In einem Kibbuz irgendwo im Norden Israels wurde ich offenbar von einem in Nepal lebenden deutschsprachigen Mönch auf einen echten Hype gestoßen. Für mich war das Anlass genug, zunächst eine Abschlussarbeit und schließlich noch eine Doktorarbeit in der Soziologie zum Thema zu schreiben.3 Hat Meditation mein Leben verändert? So gesehen: Aber hallo!

Was aber reizte mich so an dieser Achtsamkeit? Warum habe ich mich so lange mit ihr wissenschaftlich auseinandergesetzt? Und warum schreibe ich jetzt schon wieder über sie?

Es ist das Versprechen der Achtsamkeit: Es gibt einen Ausweg aus einem unerfüllten Leben! Das Glück liegt ganz nahe, im Hier und Jetzt! Ein gelingendes Leben ist möglich! Dieses Versprechen erscheint uns in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen: mal, wie mir im Retreat, in Form einer sittlichen oder ethischen Selbstvervollkommnung (ein für viele vielleicht seltsam anmutendes Bestreben, für mich damals allerdings noch sehr naheliegend); mal, wie in vielen achtsamen Ratgebern, als Aufruf, dem etwas ergrauten Leben etwas mehr »Tiefe« und »Farbe« zu verleihen; mal, wie etwa in der oben erwähnten Achtsamkeits-App, als nützliches Tool, dem ganzen Alltagsstress zu trotzen und produktiver oder entspannter zu werden. Achtsamkeit verspricht in all ihren Formen ebendies: einen Beitrag zu leisten für ein besseres, gelingenderes Leben.

Dieses Versprechen ist zunächst ziemlich verführerisch. Denn Achtsamkeit formuliert nicht nur eine Theorie des gelingenden Lebens, sie versteht sich im Kern praktisch und bietet konkrete Übungsformen wie die klassische Sitzmeditation an. Achtsamkeit ist Karte und Gebiet zugleich. Zwischen Versprechen und Verwirklichung besteht keine Kluft, sondern eine Brücke, die jede:r gehen kann. Aus der Achtsamkeit spricht damit ein großes Zutrauen: Eine Weichenstellung ist möglich; es liegt in deiner Hand!

Ich muss gestehen: Mittlerweile schäme ich mich fast schon ein wenig dafür, dass ich diesem Verführungspotenzial zu Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit ein wenig erlag. Je länger ich mich mit Achtsamkeit als kulturellem Phänomen beschäftigte und je länger ich mich in der kritischen soziologischen Community bewegte, desto mehr verschob sich etwas. Die Faszination wich einer Ernüchterung und soziologischen Gewissheit: Im Kern, so meine sich verfestigende These, handelt es sich bei Achtsamkeitspraktiken um ein kulturelles Produkt, um eine Projektionsfläche, die Sehnsüchte des spätmodernen, entzauberten Subjekts bündelt, mehr noch, um eine perfekte, stark gezuckerte Pille für die überforderten Arbeitstiere unserer Beschleunigungsgesellschaft.

Hatte ich es nicht selbst erfahren? Das, was ich in der scheinbar so anderen Welt eingeübt hatte, entpuppte sich in der Großstadt als nützlicher Skill. Mit der vormals überfordernden Reizflut ließ es sich viel entspannter umgehen. Die anfangs angenommene Gegensätzlichkeit von Meditation und Gesellschaft wich mehr und mehr der Überzeugung, dass Achtsamkeit mit ihrer Zeit verflochten ist. So gesehen fiel ich im Retreat nicht aus der Zeit. Ich fiel in unsere Zeit. In eine Zeit, zu der eben auch ihr imaginiertes Außerhalb gehört.

Das Versprechen der Achtsamkeit ist also nicht nur verführerisch, sondern auch ungeheuer provokativ. Mit ihrem Versprechen stellt sie sich in die Arena einer aktuell so notwendigen wie virulenten Debatte um das gelingende Leben: Hyperkonsum, digitale Zerstreuung, die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, die drohende Klimakatastrophe – all das berührt ganz grundsätzlich die Frage, nach welchen Werten und Maßstäben wir unser Leben führen sollten. Ja, Achtsamkeit nimmt es in gewisser Weise mit dem Kapitalismus höchstpersönlich auf – und schien mir doch zunehmend Teil von dessen Verwertungslogik zu sein.

Und so ist es vielleicht kein ganz überraschender Schritt, dass ich mich nach meiner Promotion über Achtsamkeit in einem Bereich bewarb, der ganz genuin für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zuständig ist: der Politik. Ich tauchte ein in diesen elektrisierenden Betrieb, in das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein, Entscheidungen beizuwohnen, die Dörfer, Städte, Länder verändern.

Merkwürdigerweise hat diese Welt etwas mit der Achtsamkeit gemein: Es ist diese intensive Erfahrung von Gegenwart. Und doch unterscheiden sich die Gegenwärtigkeiten beider Sphären: Die Gegenwart der Politik steht immer unter Druck, sie changiert zwischen Flüchtigkeit und Eskalation, sie ist die Arena eines harten Kampfes um Aufmerksamkeit. Es ist eine Gegenwart ohne Stille (und wo Stille ist, verheißt sie nichts Gutes).

Ironischerweise hat diese Atemlosigkeit und permanente Kommunikation nicht dazu geführt, dass ich Achtsamkeit vergaß. Denn das intensive, beschleunigte Leben droht sich in ein Hamsterrad zu verkehren. Die »dunkle Seite« der beschleunigten, unter Druck stehenden Gegenwart ist ein schwirrendes Gefühl, das Gefühl, bei aller Aktivität nicht mehr wirklich etwas zu bewegen. Nur zu verständlich, dass Achtsamkeit da schnell als Sehnsuchtsort der gestressten spätmodernen Subjekte auftaucht, die sich nach Ruhe, Stille und nach Sinngebung sehnen.

Kurzum: Mich hat diese Stille auch nach all den Jahren der soziologischen Entzauberung nicht losgelassen – wie auch die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen gelingenden Lebens. Vier Jahre nachdem mein wissenschaftliches Sezieren der Achtsamkeit abgeschlossen ist, begleitet mich die Sehnsucht nach den Momenten der Ruhe in jenem Kibbuz weiter – und die Überzeugung, dass Stille und Klarheit aller Kritik zum Trotz wertvoll sind, dass sie für das Individuum und unsere Gesellschaft Wert haben (sollten).

Aber natürlich: Die gelebte Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Und so haben ein paar Hundert Seiten geschriebener Denkarbeit im Modus der Kritik (aka Dissertation) zu deutliche Spuren hinterlassen, als dass ich sie nun übergehen könnte. Daher frage ich in diesem Buch auch nicht direkt danach, was denn genau das gelingende Leben ist oder gar, ob Achtsamkeit dafür ein entscheidender Schlüssel sei. Vielmehr möchte ich zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der Achtsamkeit vor allem Antworten auf die Frage gibt, warum es in unserer Gesellschaft so schwer ist, ein gelingendes Leben zu führen.

In den ersten drei Kapiteln weise ich deshalb drei zentrale Annahmen und Tücken der Achtsamkeitsbewegung zurück: Achtsamkeit sei schlicht eine universelle menschliche Fähigkeit (Kapitel 1), es handele sich um eine Entdeckung einer uralten, fernöstlichen Praxis (Kapitel 2), Achtsamkeit sei der notwendige Ankerpunkt für die Verbesserung des Lebens (Kapitel 3). Diese drei Annahmen stellen Achtsamkeit auf verschiedene Weise außerhalb des sozialen und politischen Raums und geben damit vor, dass es eine einfache Lösung auf die Frage des gelingenden Lebens gäbe. Ich verankere in den ersten drei Kapiteln Achtsamkeit somit innerhalb unserer Welt – auch wenn es dadurch notwendigerweise verworren wird.

Zugleich lässt das Kerninteresse dieses Buches – Warum ist es in unserer Gesellschaft so schwer, ein gelingendes Leben zu führen? – Raum für die Frage, worum es sich denn handeln könnte, bei diesem gelingenden Leben, allen Schwierigkeiten zum Trotz. Dazu denke ich von zentralen Kategorien und Begriffen der Achtsamkeit ausgehend über sie hinaus. Im Fokus stehen die Freiheit (Kapitel 4) und unser Welt- und Zeitverhältnis (Kapitel 5). Anders gesagt: Ich nutze die Möglichkeiten dieses Buches, um mit dem »Untersuchungsgegenstand« etwas freier umzugehen.

Am Horizont entsteht so vielleicht das Bild einer reflektierten Selbstpraxis, die um ihre Begrenztheit weiß. Achtsamkeit wäre die Kunst, den Krisen dieser Welt mit Zuversicht zu trotzen. Eine Kunst, eine behutsame Weltbeziehung zu etablieren und im bedrohlichen Ticken der Uhr eine Melodie zu hören. Und sie wäre eine Kunst, die sich selbst nicht zu wichtig nimmt – und gerade deshalb die Herausforderungen der Gegenwart umso wichtiger nehmen kann. 

Was ist Achtsamkeit?

Was ist Achtsamkeit? Auf diese schlichte Frage gibt es zwei ganz unterschiedliche Antworten.

Die erste lautet: Achtsamkeit ist die Fähigkeit und der Zustand, ganz gegenwärtig zu sein.

Die zweite Antwort: viel komplizierter.4

Stellen wir uns vor, wir stehen spätabends an einem großen See, an dessen gegenüberliegender Seite ein gewaltiger Berg in die Höhe ragt. Die Dämmerung hat die Landschaft bereits in eine tiefe Stille eingehüllt. Über dem Berg erstrahlt der Himmel golden und erinnert an die Sonne, die schon vor einiger Zeit hinter dem Berg untergegangen sein muss. In solch schönen Abendstunden erscheint der Berg als Silhouette, als eine Wand mit Hauptgipfel, Bergsätteln und Nebengipfeln.

Doch am nächsten Morgen auf dem Weg zur ersten Bergtour stellen wir fest, dass wir uns am Vorabend von der Silhouette haben täuschen lassen. Jetzt erkennen wir mehrere sich nebeneinander auftürmende Berge und hintereinander gestaffelte Bergkämme. Je mehr wir uns nähern, desto vielfältiger wird das Bild: Täler, Schluchten, Wiesen, Hänge, Flüsse erscheinen. Wir fahren nicht zu einem Berg, sondern in ein Gebirge.

Die Sache ist aber nicht nur kompliziert, sondern viel komplizierter. Ein Gebirge ist ja nie nur ein Gebirge, keine reine Ansammlung von Steinen. Nehmen wir beispielsweise die Alpen: Sie erstrecken sich weit über das von unserem See aus Sichtbare hinaus und durchziehen zahlreiche Länder. Entstanden sind sie vor zig Millionen Jahren durch die Auffaltung tektonischer Platten, die auch den fernen Himalaya hervorgebracht haben. Lange Zeit stellten sie eine unüberwindbare Grenze dar und markierten gewissermaßen das Ende der Welt. Erst im 19 . Jahrhundert bröckelte diese gewaltige Mauer: Tunnel wurden gebohrt, Brücken gebaut, Schienen verlegt. Der Alpinismus kam auf, und die Alpen wurden zu einem Sehnsuchtsort, einem touristischen Hotspot. Sie sind und waren immer beides: Natur und Kultur, Gegebenes und Gedeutetes, Erlebtes und Erträumtes.5

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Achtsamkeit: Sie ist kein Berg, sondern ein Gebirge – und damit eine ziemlich verzwickte Angelegenheit. Zumindest ist das die Perspektive, für die ich in diesem Buch werben möchte.

Achtsamkeit erscheint von dieser Warte aus betrachtet zunächst als ein unüberschaubares Terrain. Wir stoßen auf eine schier unüberschaubare Anzahl von Übungsformen, Techniken und Definitionen. Gleichzeitig stehen diese nicht für sich. Sie sind verflochten mit verschiedenen religiösen Traditionen, in denen sie ihren Ausgang nahmen, mit zahlreichen Wissenschaften, die Achtsamkeit erforschen, mit Kontroversen über ihre gesellschaftliche Funktion und vor allem mit vielschichtigen Vorstellungen darüber, was es eigentlich heißt, ein gutes Leben zu führen. Etwas akademischer ausgedrückt: Achtsamkeit ist nicht nur eine Technik, sondern eine kulturelle Praxis.

In einem ziemlich theoretischen Buch über kulturelle Praktiken las ich vor einigen Jahren eine für mich sehr aufschlussreiche und gegen Ende fast poetische Passage. Ich möchte sie deshalb in ganzer Länge wiedergeben:

Wir können mit einer Praxis niemals vollständig allein sein. Selbst wenn wir beispielsweise meditieren, um ganz bei uns selbst zu sein, greifen wir Techniken auf, deren Geschichte mehr als zwei Jahrtausende zurückreicht, die schriftlich und mündlich überliefert worden sind und sich dabei auf spezifische Weise weiterentwickelt und in verschiedene Schulen ausdifferenziert haben, die ebenso von uns direkt Bekannten wie von gänzlich Fremden praktiziert werden, um die sich soziale Kreise von Praktizierenden bilden oder die von der Fitness- und Wellnessindustrie beworben und zum »Trend« erklärt werden. Von der vermeintlich lokalen und privaten Handlung des Meditierens führen Verbindungen an andere Orte und andere Zeiten.6

Gehen wir also auf Gebirgstour, lassen wir uns an »andere Orte und andere Zeiten« führen! Erst dadurch, davon bin ich überzeugt, verstehen wir sie, die Achtsamkeit. Und so werde ich im Folgenden einen kurzen geschichtlichen Überblick über ihre Entstehung geben, um dann ein wenig Ordnung in das unüberschaubare Terrain der Achtsamkeitsbewegung zu bringen.

Eine kurze Geschichte der Achtsamkeit

Südostasiatische Reformbewegung

Die erste Etappe unserer Reise führt uns in das Südostasien des späten 19. Jahrhunderts und zu einem sehr bemerkenswerten Umstand: Obwohl im »Westen« Meditation und Buddhismus als quasi ein und dieselbe Sache gelten, spielte bis dahin im dort verbreiteten Buddhismus, dem Theravada oder »Weg der Älteren«, Meditation keine entscheidende Rolle. Vielmehr bestand die Glaubenspraxis darin, sittliche Regeln zu befolgen, religiöse Rituale auszuführen und überlieferte Lehrreden des historischen Buddhas zu rezitieren.7

Erst im ausgehenden 19 . Jahrhundert erfährt die Meditation durch eine südostasiatische Reformbewegung eine radikale Aufwertung, wie zahlreiche religionswissenschaftliche Studien nachgewiesen haben. Wichtige Vertreter dieser auch als »Buddhistischer Modernismus« genannten Strömung waren beispielsweise Anagarika Dharmapala (1864–1933) aus Sri Lanka und Ledi Sayadaw (1846–1923) aus Myanmar.8