Vier mal Angst - Mike Chick - E-Book
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Mike Chick

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Beschreibung

Eine Familie – vier Geheimnisse. Abgründe hinter einer vermeintlich perfekten Fassade. Für alle Fans von Psychothrillern und Horrorromanen à la Stephen King und Sebastian Fitzek »Die Dunkelheit war so dicht und erdrückend, dass David sich vorkam, als hätte man ihn lebendig in einen Sarg gesteckt und den Deckel zugenagelt. Und wie in einem Sarg, gab es in diesem Keller nur zwei Dinge: Finsternis und jede Menge Zeit. Zu viel Zeit.« Die Kramers sind das Ebenbild einer perfekten Familie, da sie miteinander über ihre Probleme reden, bevor sie zu solchen werden können. Alles ist bestens. Bis eines Tages das Schweigen über die vier hereinbricht und aus ihren Ängsten ein Albtraum heranwächst, dem keiner von ihnen entkommen kann. »So spannend dass ich es nicht aus der Hand legen konnte bis es zu Ende gelesen war! Actionreich, brutal and spannend!! Hat alles was ein guter Thriller braucht!« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Das Grauen kommt auf leisen Sohlen und für alle unerwartet. Von mir gibt es eine ganz klare Leseempfehlung!« ((Leserstimme auf Netgalley))  

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitat

Post über den Gartenzaun

Teil I

Ein Tag – Vier Geschehnisse

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Teil II

Das erste Schweigen

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Teil III

Der Damm bricht

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Teil IV

Sie sind da

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Teil V

Abschied

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Epilog

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Mutterfür alles

Menschen, die Gedanken haben,

Können schweigen – schweigen – schweigen –

Und sich stumm und tief vergraben

In den Schatz, der ihnen eigen.

–Emil Claar

Nun lach nicht mehr so schaurig!

Dein Leben macht mich traurig!

Und sprich zu mir ein Wort!

Das Schweigen tötet die Liebe.

Du aber sollst mich lieben –

Ach, hörst du mich denn nicht?

–Paul Scheerbart

Post über den Gartenzaun

Ah, wie es mir geht? Ach, ganz okay. Das alte Rückenleiden und etwas zu wenig Schlaf, ansonsten ist alles prima. Was? Nein, das liegt nicht an den neuen Nachbarn. Die Kramers sind ruhige Zeitgenossen, sehr ruhig. Ja, ja, wohnen jetzt seit zwei Monaten in der Kronenstraße. Keine Probleme bisher. Um ehrlich zu sein … Kommen Sie mal näher, dann muss ich nicht so laut werden … Die verhalten sich geradezu sonderbar perfekt. Sehen Sie den Rasen? Kurz geschnitten. Nicht wie bei den vorherigen Hausbesitzern. Der Junge der Familie, gerade einmal zwölf, mäht ihn wöchentlich. Nicht zur Mittagsruhe, nein, morgens so gegen zehn. Er setzt sich seine Kopfhörer auf, füllt Benzin in den Tank und legt los. Ich kann ihn vom Wohnzimmerfenster aus sehen. Zwei Stunden, dann recht er das abgeschnittene Gras zusammen und wirft es in den Kompost hinterm Haus. Und das ist nicht alles. Ich habe ihn kürzlich dabei beobachtet – zufällig natürlich –, wie er seinem Vater dabei half, die Autoreifen zu wechseln. Ich kenne das von früher, als die Kinder grundsätzlich noch mehr im Haushalt helfen mussten. Aber heute? Sie kennen doch diese Jugend. Nichts anderes im Kopf als Party und Schule schwänzen. Wie er heißt? Wenn ich mich richtig erinnere, David. Ja, ja, eine Tochter haben die auch. Genauso ein Musterbeispiel. Blond, hübsch, stets gepflegtes Auftreten. Ihr Name? … Lassen Sie mich nachdenken … Sandra, genau. Geht regelmäßig mit dem Golden Retriever vor die Tür. Dreimal am Tag, mindestens. Und nicht nur um den Block, nein. Sehen Sie mal dort den Hügel hinauf. Erkennen Sie die Felder hinter den leeren Bauplätzen, auf denen unsere schöne Zwei-Häuser-Wohnsiedlung erweitert werden soll? Da bauen die hiesigen Landwirte Mais und Getreide an. Dort hinauf und noch weiter geht die junge Dame mit Buddy. So heißt der Hund. Manchmal ist sie ʼne ganze Stunde oder länger unterwegs. Meistens im Sportoutfit. Hat eine super Figur, das Mädel. Könnte Model werden. Heutzutage ist das dank Internet und Technik ja sogar in einer Kleinstadt wie Duringen möglich. Was? Ach ja, die Eltern. Tolle Leute, das kann ich Ihnen sagen. Und gebildet. Der Vater ist Bauunternehmer. Leitet seine eigene Firma. Äh … äh … Warten Sie, ich hab’s gleich … C & R GmbH. So heißt die Firma. Was das bedeutet, kann ich mir nicht merken. Irgendwas Englisches. Sehe ab und an einen Lkw mit dem Firmenlogo herumfahren. Meist transportieren sie Schotter, Erde oder Beton. Ja, genau die Wagen meine ich. Grau mit weißer Aufschrift. Sehen ziemlich edel aus. Zu edel für eine Baufirma, wenn Sie mich fragen. Aber die Zeiten ändern sich eben.

Was? Wie alt? Sie wollen Sachen wissen! Ich schätze mal knapp über fünfzig. Schwer zu sagen. Kurt Kramers Bart ist jedenfalls ergraut. Trägt fast täglich Anzug und Krawatte. Unter der Woche sieht man ihn frühmorgens aus dem Haus gehen und spät zurückkommen. Kein … Wie nennt man das noch? Ja, genau. Kein Nine-to-five-Job. Er muss wesentlich mehr Zeit im Büro verbringen als seine Angestellten, weil es oftmals dunkel ist, wenn er nach Hause kommt. Wie seine Frau das aushält, weiß ich nicht. Allerdings habe ich die beiden nie streiten gehört. Sie kennen das bestimmt. Wenn einer stets den Abwasch und die Wäsche macht und der andere nur unterwegs ist, gibt es fast immer Zoff. Bei den Kramers offenbar nicht. Wenn man Maike Kramer auf der Straße oder beim Einkaufen begegnet, ist sie stets gut gelaunt, lächelt, grüßt freundlich. Mit ihren blonden gewellten Haaren und ihrer tadellosen Figur – die müssen alle irgendwie Sport treiben, so gut, wie die aussehen – erinnert sie mich ein bisschen an die Schauspielerin Veronica Ferres. Kennen Sie die? Hat in Der Teufelsgeiger mitgespielt. Was sie beruflich macht? Was das angeht, habe ich keine Ahnung. Vielleicht arbeitet sie von zu Hause aus übers Internet, womöglich ist sie aber auch Hausfrau und Mutter. Ha! Regelrecht konservativ, finden Sie nicht auch? Vater bringt das Geld nach Hause, während Mutter sich um die Hausarbeit kümmert. Wie in früheren Tagen.

Na ja, ich kann Ihnen auf jeden Fall sagen, die Kramers geben das Bild einer perfekten Familie ab. Doch ich sag Ihnen noch was. Kommen Sie noch mal näher. Sie können sich doch noch an die Zeit erinnern, als dieser Peter Hansen mit Frau und drei Kindern hier genau in dieses Haus eingezogen ist. Ja, ich weiß. Düsteres Kapitel. Kann ich gut verstehen, dass Sie darüber nicht sprechen möchten. Die Morde und das alles. Lassen Sie mich eine Sache sagen. Damals, als die Hansens in die Nachbarschaft zogen, bekam ich so ein dumpfes Gefühl in der Magengegend. Ich konnte es mir nicht erklären, denn wenn man den Hansens auf der Straße begegnete, wirkten sie wie eine ganz harmonische Familie, die nichts und niemand unterkriegen kann. Sie grüßten einen freundlich und verhielten sich tadellos. Waren im Fußballverein und im Tennisclub. Man konnte von ihnen wirklich behaupten, sie waren eine Musterfamilie. Und das war ja auch so … Jedenfalls bis zum 16. Mai, als die Morde … Ich hör ja schon auf. Was ich eigentlich sagen will … Dieses dumpfe Gefühl, als würde bald etwas Schreckliches geschehen … Es ist wieder da. Ich weiß nicht, woher es rührt. Aber irgendetwas wird geschehen. Irgendwas Schlimmes. Das weiß ich so sicher, wie ich weiß, dass der Sommer kommt. Ein Sommer mit finsteren Gewittern. Garantiert.

Sehen Sie nur! Da drüben. Das ist David Kramer, der Junge, der den Rasen mäht. Er parkt sein Fahrrad in der Garage. Er schmeißt es nicht etwa auf den Rasen vor dem Haus wie wir früher, nein, er hängt es sogar an den Ständer an der Wand. Vorbildlich. Und seine Kleidung. Das T-Shirt perfekt weiß und gebügelt, die Jeans kein bisschen ausgeblichen, die lockigen dunklen Haare frisch geschnitten. Die Kramers wissen, wie man einen guten Eindruck hinterlässt. Allerdings … Na ja. Mein Vater hat immer gesagt, in jedem noch so glänzenden Apfel kann ein Wurm stecken. Man entdeckt ihn erst, wenn man hineinbeißt. Und irgendwas sagt mir, dass das Schicksal bald die Zähne in das Leben dieses Jungen, ja, vielleicht sogar in das der ganzen Familie schlagen wird. Dieses dumpfe Gefühl im Magen, verstehen Sie? Es hat sich damals bestätigt, als Hansen fast seine ganze Familie ermordet hat, und jetzt … Nun, ich hoffe, dass so etwas Schreckliches niemals wieder geschehen wird. Aber wer weiß … Wer weiß …

Teil I

Ein Tag – Vier Geschehnisse

1

Für die meisten Kids war der anstehende Sommer eine große Sache. Während den Pausen in der Schule unterhielten sich einige bereits darüber, was sie in den Sommerferien unternehmen oder wohin sie in Urlaub fahren würden. David Kramer beschäftigten andere Dinge.

Als er zu Hause das Fahrrad auf die Halterung an der Garagenwand hob und die kühle schattige Luft den Schweiß auf seiner Stirn trocknete, dachte David nur an zwei Dinge: Daran, die Sachen zu erledigen, die seine Mutter ihm gleich auftragen würde – reine Routine nach der Schule –, und daran, sich sofort nach der Erledigung dieser Aufgaben zur Bücherecke aufzumachen, einer kleinen Buchhandlung mitten in der Stadt. Er freute sich schon seit Tagen diebisch auf den neuen Roman von Bennett Hawking, der ab heute im Handel erhältlich sein sollte.

Sein Vater war der Ansicht, solche Bücher seien nichts für einen zwölfjährigen Jungen, dessen Gehirn sich noch im Wachstum befindet. Die Gewalt in diesen Schauergeschichten hätte Auswirkungen auf Davids Denkmuster und auf lange Sicht womöglich sogar auf sein Empathievermögen. Schließlich gäbe es allerlei Berichte, in denen anhand von Studien aufgezeigt wurde, wie schlecht sich das Spielen von Ego-Shootern oder das Ansehen von Horrorfilmen auf die kindliche Psyche auswirke. Und egal ob Buch oder Bildschirm, Gewalt bleibe Gewalt.

David hegte keinerlei Gewaltfantasien und dachte auch nicht im Entferntesten daran, jemanden umzubringen. Er mochte Geschichten, mehr steckte nicht dahinter. Nein, er liebte Geschichten. Vor allem gruselige. Aber das änderte nichts. Er war ein gewöhnlicher Junge, er pflegte sich, wie seine Eltern es ihm beigebracht hatten, brachte gute Schulnoten nach Hause und mochte das gute Wetter. Obwohl er von der Sonne nicht allzu viel abbekommen würde, wenn er erst den Schmöker in Händen halten würde. Er würde sich in sein Zimmer verkriechen, seine Leselampe einschalten und in die Welt der Worte abtauchen, wo er sich heimisch fühlte.

Das Buch musste er seinem Vater natürlich vorenthalten, was bedeutete, dass er eine der großen innerfamiliären Regeln brach. Über die täglichen Erlebnisse zu reden, gehörte in den Augen seines Vaters nämlich zu den wichtigsten Dingen, die eine Familie zusammenhielten. Genau wie das tägliche gemeinsame Abendessen, zu dem solche Unterhaltungen stattfanden. »Die meisten Eltern und Kinder haben nur deshalb Auseinandersetzungen, weil sie sich nicht ordentlich unterhalten«, pflegte sein Vater an solchen Abenden zu sagen. Dabei verhielt er sich wie ein Wanderprediger, der bei einer fremden Familie zu Tisch saß und ihr die Welt da draußen näherbrachte. Er faltete die Hände und blickte ihnen allen aufmerksam und direkt in die Augen. Manchmal tat er das sogar bei Buddy, der ohnehin nie viel zu sagen hatte. »Wir müssen daran festhalten, nie in Schweigen zu verfallen. Eine Familie ist ein fragiles Konstrukt, das nur durch unsere gegenseitige Zuwendung zusammengehalten wird. Sprechen wir nicht über die Dinge, die wir erleben oder die uns gar belasten, so können in unseren Herzen Sorgen, Ängste oder sogar Zorn heranwachsen. All diese Emotionen führen früher oder später zu Konflikten, die es im Hause Kramer zu vermeiden gilt. Und deshalb ist unser oberstes Gebot, um jedem von uns das Leben so angenehm wie möglich zu machen, jeden Abend ohne Handys, laufenden Fernseher oder Radio gemeinsam am Tisch zu sitzen, zu essen und ordentlich über unsere Erlebnisse zu sprechen. Das gilt vor allem für euch beide.«

Damit hatte er David und Sandra gemeint, die mit ihren siebzehn Jahren bereits die meiste Zeit der Gehorsamkeit – David war der Meinung, dass jedes Kind spätestens im Alter von achtzehn Jahren von zu Hause auszog – hinter sich gebracht hatte. Er selbst hatte hingegen noch einige Jahre vor sich, und jetzt, da er an den neuen Gruselroman dachte, den er sich kaufen wollte, graute ihm davor, sich noch am selben Abend mit seinem Vater an einen Tisch zu setzen. Weil er nicht über das sprechen konnte, was ihn am meisten beschäftigte: das Buch, das er sich kaufen wollte.

Er würde von mir bestimmt verlangen, dass ich es zurückbringe, dachte er. Und auch davor graute ihm. Sehr sogar.

Nein, er würde die Regel seines Vaters brechen. Sobald er die Hausarbeiten, die seine Mutter ihm übertragen würde, erledigt hatte, würde er in die Stadt fahren und sich das Buch holen. Und dann bliebe es sein Geheimnis.

Von der Garage aus führte ein direkter Durchgang in den Eingangsbereich des Wohnhauses. David ging hindurch, zog ordnungsgemäß seine Schuhe aus – eine Regel seiner Mutter – und ging in die Küche.

Als David seine Mutter dort stehen sah, überkam ihn ein leichter Schauder.

2

»Mama, stimmt was nicht?«

Sie antwortete nicht. Wie apathisch blickte sie auf den grau gefliesten Fußboden, die Augen starr geradeaus gerichtet. Einzelne blonde Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und klebten ihr an den schweißfeuchten Wangen. Ihre Gesichtsfarbe glich auf fürchterlich eindringliche Weise der eines Grabsteins. Neben ihr knetete unbeachtet und röhrend eine Küchenmaschine einen Teig.

So hatte David sie noch nie gesehen. Nicht so … so … gedankenverloren? Er wusste nicht, ob dieses Wort wirklich beschrieb, was er meinte. Er wusste auch nicht, ob sie wirklich über etwas nachdachte. Der matte Ausdruck auf ihrem Gesicht deutete eher auf das Gegenteil hin.

Als wäre sie gar nicht da, dachte er, und das traf die Wahrheit etwas besser. Denn als er erneut »Mama?« sagte, zuckte sie sichtlich zusammen. Sie blickte um sich, als wüsste sie nicht genau, wo sie sich befand. Dann, als sie ihn entdeckte, strich sie sich die blonden Haarsträhnen hinters Ohr. Und lächelte.

Dieses Lächeln versetzte David eine Gänsehaut. Es wirkte so unecht und fehl am Platz wie ein rosa Grizzly auf dem Mond.

»Oh, hi, mein Schatz. Schon so früh zu Hause?«

»Wieso früh? Es ist halb drei.«

Sie blickte auf die Uhr über dem Durchgang zum Wohnzimmer und wirkte mit einem Mal gehetzt.

»Ach Gott, wie schnell die Zeit vergeht. Und dabei wollte ich noch so vieles machen. Einen Kuchen für Frau Wagner. Sie hat heute Geburtstag. Und du weißt ja, aufgrund ihrer Hüftoperation kann sie nicht mehr so wie früh…«

Hastig griff sie nach der Schüssel der Küchenmaschine und schreckte zurück, als sie beinahe mit den Fingern an die sich stetig drehenden Knethaken geriet.

»Mama!«

Wieder verfiel sie in diese Art Starre. Mit geweiteten Augen betrachtete sie ihre Hände. Sie zitterten. Und mit einem Mal war es geschehen. Tränen strömten aus ihren Augenwinkeln. Ihre Unterlippe vibrierte wie unter Strom.

Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte David, sie würde zusammenbrechen, würde jetzt und hier zu Boden gehen wie ein Boxer bei einem K.-o.-Schlag. Doch sie fing sich wieder, wischte sich die Tränen von den Wangen und betätigte den Ausschalter der Küchenmaschine. Das Rührwerk verringerte brummend die Geschwindigkeit, drehte noch ein, zwei Runden, dann schwieg es. Voll Unbehagen betrachtete David seine Mutter.

»Was ist denn mit dir?«

»Nichts.« Erneut dieses Lächeln. »Ich stehe heute nur etwas neben mir. Habe mir viel zu viel vorgenommen. Das ist alles.«

Ersteres glaubte David sofort. Es war kein Geheimnis, dass seine Mutter dazu neigte, den Tag mit Hausarbeit regelrecht vollzustopfen. Sie stand täglich frühmorgens auf, begann damit, Frühstück für alle zuzubereiten, und während alle anderen aus dem Haus waren, nutzte sie die Zeit, um die Wäsche zu waschen, die Küche aufzuräumen, den Fußboden zu wischen und so weiter und so weiter.

Dass das alles war, bezweifelte David jedoch. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie war eine mittelgroße, schlanke Frau, die stets Wert darauf legte, mit geradem Rücken und erhobenem Kinn durch die Welt zu schreiten. Was David jetzt vor sich sah, war allerdings genau das Gegenteil. Seine Mutter wirkte, als wäre sie innerlich in sich zusammengesunken.

Mit mechanischen Bewegungen entfernte sie den Knethaken aus der Maschine und sagte: »Es ist nichts mit mir. Wirklich. Ich bin heute nur etwas durch den Wind. Das passiert jedem mal.«

Dem konnte David nicht widersprechen. Es gab Tage, an denen er in der Schule saß, aus dem Fenster auf den Schulhof blickte und sich in Träumereien über ferne fantastische Welten verlor, ohne mitzubekommen, was um ihn herum geschah. Auch jetzt verloren sich seine Gedanken. Er musste wieder an seinen Plan und an den neuen Roman von Hawking denken. Und an die Hausarbeit, die seine Mutter ihm stets nach der Schule aufdrückte. Jeder hilft etwas, dann haben wir am Abend alle frei. Das war ihr Motto, wobei sie selbst so gut wie nie freimachte. Und wenn sie sich einmal nicht mit dem Haushalt beschäftigte, dann saß sie in ihrem Arbeitszimmer im Dachgeschoss und schrieb an irgendeinem ihrer Gedichte.

Lyrik. Damit konnte David überhaupt nichts anfangen. Der Gedanke, über Literatur nachdenken zu müssen, graute ihm sogar regelrecht. Was sollte das bringen? Man setzte sich hin, las einen Vier- oder Achtzeiler, ein Sonett oder sonst etwas in dieser Art, um dann stundenlang darüber zu philosophieren, was der Autor wohl damit gemeint haben könnte? Nein, das war nichts für ihn. Er stand auf Literatur, die ihn unterhalten konnte; Geschichten, die ihm einen Schauer über den Rücken laufen ließen.

»Alles okay?« Nun war sie es, die ihn fragte.

»Ja. Äh, was soll ich denn heute erledigen? Mein Zimmer hab ich schon gestern aufgeräumt. Und mein Wäschekorb ist auch leer. Bis auf ein paar Socken und eine Boxershorts oder so.«

Trotz ihrer geröteten Augen und dem merkwürdig abwesenden Ausdruck darin stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Hast du denn was vor?«

Die Frage versetzte David einen kleinen Stich. Er wollte ihr nicht sagen, was er vorhatte. Zwar befürwortete sie, dass ihr Sohn las – viel las –, doch von Horrorliteratur hielt auch sie nicht sonderlich viel. Und nachdem sein Vater ihm vor rund einer Woche sogar verboten hatte, sein Taschengeld weiterhin für solchen Schund, wie er es nannte, auszugeben, befürchtete David, sie könnte ihm verbieten, in die Stadt zu gehen.

»Ich will mich mit Sebastian treffen«, log er freiheraus. Und dann einer Eingebung folgend: »Sein Vater will in der Kessach Forellen fischen und wir wollen dabei zuschauen.«

Seine Mutter rümpfte die Nase. »Fischen? Ach, David, ist das dein Ernst? Du? Fischen? Das kann ich kaum glauben.«

»Ich will ja nicht angeln, nur zusehen.«

»Das ist genauso schlimm. Zuzusehen, wie ein Lebewesen an einem Haken aufgespießt aus dem Wasser gezogen wird … Das ist grausam. «

Erst jetzt begriff David, wie undurchdacht seine Eingebung war. Du sagst deiner Mama, du willst beim Angeln zusehen? Deiner Mama, die Vegetarierin ist? Grandiose Idee, Sherlock! Da hätte er ihr lieber von dem Buch erzählen sollen, das er sich kaufen wollte. Jetzt würde sie ihm ganz bestimmt eine ganze Tirade über das sensible Gleichgewicht von Mutter Natur halten, und darüber, wie herzlos und egoistisch es war, Tiere zu töten, wenn man sich genauso gut und sogar wesentlich gesünder von Fleischersatzprodukten wie Soja, Tofu oder Tempeh ernähren konnte.

Doch das tat sie nicht. Im Gegenteil. Sie schwieg. Und wieder nahm ihr Gesicht diesen leeren Ausdruck an. Seine Mutter war eine hübsche Frau, und wie David wusste, war sie früher sogar über mehrere Laufstege geschritten. Auch heute bekam sie noch gelegentlich Angebote von ihrer Freundin Veronique, die eine Modelagentur in München leitete, worauf seine Mutter allerdings nie einging. Mit diesem toten Blick, so dachte er, würde sie ohnehin niemand engagieren wollen.

»Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtig.

»Was? Oh … ja … Angeln ist grausam. Sagte ich das schon?« Sie sah ihn nicht einmal an.

»Mama?«

Sie sog so tief Luft ein, dass sich ihr Busen hob. Als sie weitersprach, klang sie, als wäre sie unglaublich müde. »David? Wir müssen etwas miteinander ausmachen, uns ein Versprechen geben.«

Als sie ihn ansah, lag in ihrem Blick eine Ernsthaftigkeit, die er so noch nie an ihr gesehen hatte.

»Du darfst deinem Vater nichts davon sagen, wie ich heute auf dich gewirkt habe, und ich verrate ihm nicht, dass du dir den neuen Roman von Bennett Hawking zulegen willst.«

Er starrte sie an. Wie konnte sie das …

»Ich stehe heute wirklich etwas neben mir«, fuhr sie fort. »Aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Ich weiß, dass heute das Veröffentlichungsdatum ist, weil du es mir vor knapp zwei Wochen selbst erzählt hast, bevor … Nun, bevor dein Vater dir verboten hat, weitere solche Bücher zu kaufen. Auch ich mag Horror nicht. Gewalt, ob im Fernsehen oder in Büchern, bleibt Gewalt.«

»Mama …«

Sie hob eine Hand. »Darüber werde ich heute ausnahmsweise hinwegsehen. Wenn du mir versprichst, dass du deinem Vater nichts über jetzt erzählst. Er soll nicht wissen, dass ich so neben mir stehe. Sonst stellt er Fragen über Fragen. Du kennst ihn.«

Das tat er. Und er wusste, dass sie recht hatte. Wenn Kurt Kramer merkte, dass irgendetwas im Busch war, bequatschte er einen so lange, bis er jedes Detail darüber erfuhr. Etwas vor ihm zu verbergen war schier unmöglich.

Dennoch konnte David kaum glauben, was sie da von ihm forderte. Seinem Vater nicht die Wahrheit sagen, was hier vor sich gegangen war? Es als Geheimnis für sich zu behalten? Das war ein absolutes Tabu. Es war beinahe so schlimm wie lügen.

Er sah wieder zu seiner Mutter. In ihren Augen lag eine Traurigkeit, die David nicht zu deuten wusste. Und die ihn schmerzte.

»Versprichst du, deinem Vater nichts über diesen Mittag zu erzählen?«, wiederholte sie. Ihr Tonfall hatte wieder diese Ernsthaftigkeit angenommen, die ihm Unbehagen bereitete.

»Ich denke schon.«

»Das reicht mir nicht. Sag, dass du nichts erzählen wirst. Versprich es.«

»Okay, okay, ich verspreche es.«

»Gut. Dann darfst du jetzt gehen und dir dein Buch kaufen.«

David riss die Augen auf. »Ehrlich? Keine Hausarbeiten? Ich darf direkt los?«

»Ja. Ich möchte dich allerdings um einen kleinen Gefallen bitten.«

»Welchen?« Nachdem David nun wusste, dass er ohne die zusätzliche Arbeit viel mehr Zeit zum Lesen haben würde, würde er ihr jeden Gefallen tun. In seiner Brust pochte es vor Vorfreude. Er konnte es kaum erwarten, sich wieder auf sein Fahrrad zu schwingen und in die Stadt zu düsen.

»Du müsstest bei Ralph Miller vorbeigehen und ihm etwas übergeben.«

Einen Augenblick lang sah er seine Mutter verdutzt an. Er wusste, er hatte den Namen des Mannes schon einmal gehört, wusste jedoch nicht mehr in welchem Zusammenhang. Dann fiel es ihm ein. Und es gefiel ihm gar nicht.

Ralph Miller war in der Kleinstadt kein Unbekannter, wenngleich man über ihn nicht viel wusste. Sicher war lediglich, dass er antike Möbel restaurierte, einen eigenen Laden in der Kaiserallee besaß und in einem Haus im Wald lebte; so abgeschieden, dass niemand wirklich mitbekam, was sich dort abspielte.

David starrte seine Mutter an. »Aber Mama, Herr Miller wohnt in genau der entgegengesetzten Richtung, mitten im Wald. Zur Bücherecke geht es …«

»Ich weiß. Trotzdem. Es ist wichtig.« Ihr eindringlicher Blick machte aus der Bitte eine Forderung.

David seufzte. »Na schön. Und was soll ich ihm bringen?«

»Einen Brief, den ich erst noch schreiben muss. Das dauert nicht länger als eine Minute.«

»Einen Brief?«

»Stell keine Fragen. Von mir aus kannst du auch erst zur Bücherecke und dann … Nein, doch besser andersherum. Sobald du dein Buch hast, konzentrierst du dich auf nichts anderes mehr. Also erst zu Ralph Miller, dann dein Buch. Warte hier.«

Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Küche und ging die Treppe hinauf. David hörte ihre Schritte bis zum Dachstuhl, wo sie ihr Arbeitszimmer hatte. Er betrachtete den Teig, der nach wie vor in der Schüssel der Rührmaschine ruhte, und dachte, dass das alles sonderbar war. Seine Mutter hatte sich nie so aufgeführt. Erst dieser abwesende Gesichtsausdruck und dann diese Übereifrigkeit. Als hinge ihr Leben davon ab. Wovon? Diesem Brief? Was hatte das alles zu bedeuten?

David kam der Gedanke, dass er es ziemlich leicht herausfinden konnte. Er brauchte nur den Brief, den sie ihm geben würde, zu öffnen und …

Nein! Das würde er auf gar keinen Fall tun! Egal was darin stehen mochte, es war die Sache seiner Mutter. Für heute musste er bereits genug für sich behalten.

Keine fünf Minuten später kam sie die Treppe herab. In ihrer Hand hielt sie einen weißen Umschlag. Als er ihn ihr abnehmen wollte, hielt sie ihn noch einen Moment fest. Sie begegnete David mit einem ungewohnt strengen Blick.

»Nicht öffnen.«

»Werde ich nicht.«

Schweigend musterte sie ihn, als prüfte sie, ob sie sich wirklich auf sein Wort verlassen könne. Etwas, was sie sonst nie infrage stellte.

»Wirklich, Mama. Ich lass die Finger davon. Mir ist mein Buch lieber als dein blöder Brief.«

»Gut. Mach dich am besten gleich auf den Weg. Und komm schnell zurück. Nicht dass dein Vater noch mitbekommt, was ich dir erlaubt habe. Du weißt, dass das eine Menge Ärger geben würde.« Sie versuchte sich an einem Lächeln, dann seufzte sie. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so schroff zu dir war.«

»Schon okay. Ist ja nichts passiert. Hauptsache dir geht es wieder besser.«

David konnte es sich nicht erklären, aber dieser Satz hatte eine ungeahnte und eher ins Gegenteil führende Auswirkung auf sie. Ihr Blick verlor sich wieder, sank zu Boden. Und irgendwie überkam ihn das Gefühl, dass sie in dem Augenblick, in dem er die Tür hinter sich schloss, sofort wieder zu weinen anfangen würde. Ohne darüber nachzudenken, nahm er sie in die Arme.

»Was auch immer gerade los ist, es geht bestimmt wieder schnell vorbei«, sagte er.

Sie erwiderte seine Umarmung. Fest. Seine Mutter überragte ihn mit seinen ein Meter sechzig um gute zehn Zentimeter. Jetzt lag ihr Kopf auf seiner Schulter. Und er spürte das Zittern ihres Kiefers. Sie würde weinen, dachte er. Ja, das würde sie. Die Frage war nur warum.

3

Die Abkürzung C & R GmbH stand für Construction and Rebuilding GmbH, Aufbau und Sanierung. Das war der Name der Baufirma, die Kurt Kramer vor rund zwei Monaten übernommen hatte und seither leitete.

Er entstammte einer traditionsreichen Familie des Hoch- und Tiefbaugewerbes. Für Kurts Vater Arno, ein Maurermeister der alten Schule, waren Steine und Mörtel so etwas wie der Heilige Gral des Lebens. Schon früh lernte er seinen Sohn in seine Arbeit ein, und später, als Kurt ebenfalls den Meisterbrief in der Tasche hatte, zeigte er ihm zudem, wie man ein Geschäft führt.

Kurt erwies sich nicht bloß als lernfähig, sondern auch als außerordentlich gerissen. Als der Maurerbetrieb seines Vaters zur Zeit der Wirtschaftskrise plötzlich rote Zahlen schrieb, weil niemand es sich mehr leisten wollte, ein Eigenheim zu bauen, riet Kurt seinem Vater, den Betrieb an die bereits bestehende C & R GmbH zu verkaufen. So wäre die Rente seines Vaters gesichert und der Betrieb würde trotz anderem Namen am Laufen bleiben. Außerdem, so prophezeite es Kurt damals, würde er sich an die Spitze der C & R GmbH hocharbeiten und so über den Grundstein wachen, den sein Vater gelegt hatte.

Herr Kramer senior zweifelte an Kurts Vorhaben, doch der Plan ging auf. Es dauerte ein paar Jahre. Sich hochzuarbeiten und dazu nebenbei ein Wirtschaftsstudium zu absolvieren rentierte sich jedoch. Im Alter von einundfünfzig Jahren ernannte der Vorstand Kurt Kramer zum Geschäftsführer. Er war an der Spitze seiner Karriereleiter angekommen. Alles lief perfekt.

Bis heute.

Kurt saß in einem eigens für Büroarbeiten eingerichteten Container auf einer Baustelle und arbeitete sich gerade durch einen Stapel Baupläne des hiesigen Projekts, einem Komplex mehrerer moderner Familienhäuser am Rande von Stuttgart. Die Gebäude sollten binnen weniger Monate aus dem Boden gestampft werden, und das stellte soweit auch kein Problem dar. Wäre Kurt nicht plötzlich ein Fehler in der Planung aufgefallen.

Er betrachtete das Papier argwöhnisch und zweifelte an seinen Bedenken. Die Pläne waren durch die Hände mehrerer Leute gegangen und zudem von der Bauaufsichtsbehörde abgesegnet worden. Ein Fehler konnte sich also kaum eingeschlichen haben. Dennoch. Er musste so schnell wie möglich mit dem Bauherrn sprechen, musste ihn auf die Auffälligkeit hinweisen. Womöglich, so dachte er – nein, so hoffte er inständig –, täuschte er sich ja.

»Das darf doch nicht wahr sein. Das darf doch alles nicht wahr sein! Victor!«

Der Bauherr hörte ihn natürlich nicht. Wie Kurt nur allzu gut wusste, trieb Victor Brenner sich irgendwo auf der Baustelle herum. Zwar hatte er aus versicherungstechnischen Gründen nicht die Befugnis dazu, an den Baumaßnahmen mitzuwirken, doch Kurt kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass Victor auf manche Konventionen – vor allem die, die ihn selbst betrafen – pfiff. Dies war nicht ihr erstes gemeinsames Bauprojekt. Außerdem war Victor in den vielen Jahren der Zusammenarbeit zu einem sehr guten Bekannten geworden; einem Bekannten, den Kurt unbedingt über ihr neuerliches Problem in Kenntnis setzen musste.

Er durchwühlte das Chaos aus Plänen und Dokumenten nach einem Funkgerät und fand eines. Als er danach grabschte, fiel es ihm aus der Hand und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. Seine Hände waren nass vor Schweiß. Wenn es stimmte, was er vermutete, so wären die Komplikationen verheerend, womöglich sogar tödlich.

Nachdem er das Gerät vom Boden gefischt hatte, versuchte Kurt sein Glück zuerst bei den Arbeitern, die sich in unmittelbarer Nähe der Gasleitung aufhielten; die Gasleitung, die er gerade erst in den Plänen entdeckt und die niemand außer ihm auf dem Schirm hatte.

Wenn die weitergraben, dann …

»Hallo? Hallo? Hören Sie mich?«

Ein Rauschen, sonst nichts.

»Hallo? Hier ist Kurt Kramer. Antworten Sie!«

Nichts.

Kurt atmete tief durch. Er konnte nur hoffen, dass die Arbeiter gerade Mittagspause machten.

Gott steh mir bei. Lass sie einmal faul sein!

Er drehte am Rädchen oberhalb des Funkgeräts, um den Kanal zu ändern. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Ein Tropfen rann ihm den Nasenflügel hinab.

»Victor«, brüllte er beinahe, als er diesmal den Sprechknopf drückte. »Victor!«

»Kurt? Bist du das? Was gibt’s denn?«

»Ja, verdammt! Stell die Arbeit ein und mach, dass du so schnell wie möglich zu mir kommst. In den Plänen gibt es einen Fehler. Einen gravierenden. Komm ins Büro, bevor es zu einer Katastrophe kommen … «

»Ich kann nicht. Stehe gerade auf einer Leiter, um einem deiner Arbeiter gleich was abnehmen zu können.«

»Das muss jemand anders für dich erledigen.«

»Das geht nicht, Kurt. Wir haben halb eins und die meisten machen gerade Mittagspause. Ich will das Fenster aber jetzt noch eingesetzt bekommen, damit wir nachher …«

»Dann komme ich zu dir«, unterbrach Kurt. »Die Pläne habe ich bei mir. Sag mir, wo du bist.«

In den letzten Tagen hatte es keinen Niederschlag gegeben, dennoch war der erdige Boden von den schweren umherfahrenden Baggern und Lastwagen weich wie Butter. Von allen Seiten ertönte das Geheul unterschiedlicher Maschinen. Als Kurt vor den Container trat, sanken seine schwarzen Lederslipper unter seinem Gewicht in den schlickartigen Untergrund ein. Er achtete nicht darauf. Die Unsicherheit, die ihn erfasst hatte, war zu enorm.

Er sah sich um, ob sich womöglich gerade eine Fahrgelegenheit anbot, um die Tiefgarage zu erreichen. Doch außer einer sich entfernenden Planierraupe und einem Kran war da nichts. Scheiße! Er konnte nur hoffen, dass die Männer auf der anderen Seite der Baustelle ebenfalls Mittagspause machten. Der Gedanke an das, was die Pläne ihm prophezeiten, bereitete ihm regelrechte Angst.

Victor befand sich in einem Haus mitten auf der Baustelle. Und er stand tatsächlich auf einer Leiter. Als er Kurt darüber in Kenntnis gesetzt hatte, glaubte der, es handelte sich dabei um eine Bockleiter mit fünf oder sieben Sprossen. Doch tatsächlich musste Kurt den Kopf in den Nacken legen, um seinen Kollegen zu erblicken. Er stand auf der Spitze einer Anlegeleiter, die gegen die Innenseite eines Treppenhauses lehnte. Im Plan waren schmale längliche Fenster knapp unterhalb der Oberdecke, die das Obergeschoss und das Dach voneinander abgrenzte, vorgesehen. Genau solch ein Fenster half Victor in diesem Augenblick in das dafür vorgesehene Loch in der Wand zu manövrieren. Mit einer Hand hielt er sich an der Leiter fest, während er mit der anderen ein Funkgerät vor den Mund hielt.

»Ja, gut so. Weiter zu mir, weiter zu mir. Stopp! Jetzt noch etwa zwanzig Zentimeter nach links … Ja, ja, weiter so …«

Durch das Loch in der Wand konnte Kurt den orangen Kran erblicken, der mit einem langen Stahlseil die Last des überdimensionalen Fensters hielt. Seit jeher fand er es faszinierend, wie genau manche Kranführer ihre Lasten steuern konnten, vor allem, wenn leichter Wind ging wie heute.

Seine Begeisterung hielt sich jedoch in Grenzen, als ihm klar wurde, dass Victors Handeln total überstürzt war. Mal wieder. Ungeachtet jeder Vernunft, versuchte er den Bau schneller voranzutreiben, frei nach dem Motto Zeit ist Geld. Doch jeder, der auf Baustellen arbeitete, wusste, Qualität zählt vor Quantität. Und wenn man übereifrig agierte, konnte es schnell zu ungeahnten Vorkommnissen kommen. Schlecht verarbeitete Materialien, Fehler in der Bausubstanz oder gar Unfälle. Und jetzt, da Kurt den Bauherrn auf einer der oberen Leitersprossen in knapp zweieinhalb Meter Höhe mitten in einem Treppenhaus mit beiden Händen nach dem Fenster greifen sah, das er aufgrund des Gewichts nie und nimmer kontrollieren konnte, befürchtete er Schlimmstes. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Victor abrutschen, wie er den Halt verlieren würde; wie er metertief fallen und sich auf den Stufen der unter ihm liegenden Treppe das Rückgrat brechen würde. In seiner Vorstellung hörte Kurt bereits das Knacken brechender Knochen und erschauerte.

Als er den Gedanken von sich abschüttelte und wieder nach oben zu dem Mann auf der Leiter blickte, erkannte er, dass sämtliche Sorgen umsonst gewesen waren. Wie von Zauberhand gelenkt, saß der Fensterrahmen perfekt in der dafür vorgesehenen Lücke im rohen Mauerwerk. Victor hatte wieder das Funkgerät in der Hand.

»Gut. Passt.« Er steckte es an den Gürtel seiner Hose und sah nach unten zu Kurt. »Du bist irre, weißt du das?«, sagte Kurt.

»Hab ich schon des Öfteren gehört. Inzwischen fasse ich es als Kompliment auf.«

Normalerweise würde Kurt seine Bauherren bei solchen Aktionen sofort stoppen. Doch Victor Brenner, der fünfundfünfzig Jahre alt war, kaum noch Haare auf dem Kopf hatte und die Ausdrucksweise auf Baustellen von klein auf mit jeder Kapillare seiner Lunge eingeatmet hatte, war nicht zuletzt auch der Investor dieses Unternehmens. Mit anderen Worten: Ihm gehörten die entstehenden Gebäude und auch die Tausende von Euro, die später auf Kurts Bankkonto landen würden.

Doch was brachte ihm schon Geld, wenn das geschah, was er befürchtete. Die Panik überfiel ihn wieder.

»Wir müssen uns dringend noch mal die Pläne zusammen ansehen«, rief er zu Victor hinauf. »Wenn ich das richtig gesehen habe, gibt es ein Problem mit den Gaszuleitungen.«

»Was für ein Problem?«

»Die Pläne der Stadt und unsere stimmen nicht überein. Wir müssen das wirklich überprüfen, Victor. Die graben sich da unten immer tiefer in den Grund. Und wenn ich mich nicht täusche – Gott, ich wünsche mir, dass ich es tue –, dann stoßen sie bald auf eine der Leitungen. Du weißt, was das heißt!«

Die blauen Augen hinter der goldgeränderten Bifokalbrille weiteten sich mit einem Mal. »Wie bitte? Du willst mich verscheißern. Hast du ihnen einen Baustopp erteilt?«

»Das wollte ich. Sie waren nicht erreichbar. Ich denke, sie machen auch Mittagspau…«

Hektisch riss Victor das Funkgerät vom Gürtel. Dabei machte es einen Augenblick lang den Anschein, als würde er das Gleichgewicht verlieren, und Kurt fuhr zusammen. Bevor er zum Firmenchef mutiert war, war er selbst oft genug auf hohen Leitern gestanden. Er wusste um die Gefahren hitziger Situationen.

Wenn er stürzt, werde ich mir das nie verzeihen können, dachte er.

Victor schraubte am Funkgerät herum, dann sprach er aufgeregt hinein. »Gerhard? Gerhard! Hörst du mich?« Er ließ den Sprechknopf los.

Keine Antwort.

»Gerhard, wenn du mich hörst, stellt sofort die Arbeit ein! Sofort! Keiner gräbt auch nur einen beschissenen Zentimeter tiefer!«

Eine rauchige Stimme meldete sich. Der Mann brüllte regelrecht ins Funkgerät. Im Hintergrund konnte man das laute Dröhnen schwerer Maschinen hören.

»Was ist?«

»Sag deinen Männern, sie sollen die Arbeit sofort einstellen!«

»Ich versteh dich nicht. Was sollen wir?«

»Stoppen!«, schrie Victor. Sein Kopf war so rot wie die Schale eines gekochten Hummers.

Kurt wurde plötzlich klar, dass der Mann gerade seinen Job erledigte. Normalerweise wäre es an ihm, den Männern den Baustopp zu erteilen. Ohne es zu merken, ballte er die Hände zu Fäusten.

»Hört sofort auf!«, brüllte Victor. »Hört auf, sonst …«

Weiter kam er nicht. Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach ihn; ein Gewitter, das nicht durch die Leitung des Funkgeräts zu ihnen drang, sondern von draußen, vom anderen Ende der Baustelle. Im nächsten Augenblick bebte der Boden. Was dann folgte, würde Kurt Kramer nie vergessen.

4

Davids Schwester würde nicht so schnell zu Hause aufkreuzen, wie ihre Mutter es vermutet hatte.

An dem Gymnasium, auf das Sandra ging, war die Zeit der Praktika angebrochen. Eine Vorbereitung auf das Leben nach dem Abitur, so behaupteten es jedenfalls die Lehrer.

Sandra hatte noch keinen blassen Schimmer, was sie nach dem Schulabschluss arbeiten sollte. Was sie jedoch wusste, war, dass sie gern Menschen half. Vor allem alten Menschen. Schon seit etwas mehr als einem Jahr ging sie wöchentlich Martha Riegger besuchen. Die Dame von zweiundachtzig Sommern wohnte in der Stadt und litt unter Hüft- und Knieproblemen. Geistig war die grauhaarige kleine Frau jedoch voll auf der Höhe, weshalb sie eines Tages eine Anzeige im Regionalblatt geschaltet hatte, in der sie wortwörtlich junge Leute zum Schachduell herausforderte. Sandra hatte die Idee, Schach zu spielen, gefallen, und dass Frau Riegger sie auch noch mit sieben Euro pro Stunde bezahlte, gefiel ihr umso besser. Seither spielten die beiden jeden Samstagnachmittag eine Partie, egal wie lange das Spiel dauerte, und Sandra begann, alte Menschen mit anderen Augen zu sehen. Wer für sie früher nur alt und so runzlig wie eine Rosine gewesen war, war heute reich an Erfahrung und oftmals voll interessanter Anekdoten und Geschichten.

Deshalb hatte Sandra sich für ihr Praktikum im Haus auf der Höhe beworben; einem Seniorenheim auf einem Hügel, von wo aus man bei gutem Wetter ganz Duringen überblicken konnte. Die Leiterin des Altenheims ließ sie wissen, dass junge Leute immer seltener freiwillig in die Pflege gingen und sie Sandras Engagement überaus zu schätzen wisse. Mit anderen Worten: Sie bekam die Praktikumsstelle.

Mit ihrer Freundlichkeit und ihrer Hilfsbereitschaft kam sie bei den Senioren gut an. Mehrere der älteren Damen gaben ihr sogar Komplimente für ihr Aussehen. »Sie sehen aus wie Grace Kelly in jungen Jahren«, rühmte Gerda Fröhlich sie eines Tages. Sandra wusste nicht, wer Grace Kelly war und musste googeln, um sich sicher zu sein, dass es sich dabei tatsächlich um ein Kompliment handelte. Denn trotz ihrer freundlichen Ader war Sandra, was ihren Körper betraf, vor allem eines: unsicher. Sie selbst empfand sich weder als schön noch als besonders hübsch. Ganz im Gegenteil. Wenn sie Sendungen wie Germany’s Next Topmodel im Fernsehen sah, zweifelte sie oftmals an sich, was nicht zuletzt daran lag, dass sie als Kind alles andere als schlank gewesen war. Und daran, dass ihre Mitschüler es sie mit der Sorgfalt, die Kinder gegenüber ihrem liebsten Spielzeug aufbringen, wissen ließen. Vor allem nach dem Sportunterricht, unter der Dusche, wenn sich alle entkleiden mussten. Daran erinnerte Sandra sich besonders; an die auf sie gerichteten Zeigefinger. Und an das Gelächter. Heute hatte sie zwar langes blondes Haar und große Brüste, um die sie ihre beste Freundin Lola beneidete, doch ein Model würde sie nie werden. Sie verfügte weder über die langen Beine noch über die Körpergröße. Auch ihre Selbstsicherheit war nicht gut genug, um es in einer Castingshow über die Vorrunde hinaus zu schaffen. Außerdem: Wer wollte schon über die Laufstege der Welt stolzieren und ein paar Millionen im Jahr verdienen wie ein Victoria-Secret-Model, wenn man etwas Gutes im Leben vollbringen konnte? Was war ein Goldbarren, wenn man ein Stück Schokolade haben konnte?

Das redete sie sich jedenfalls ein. Bis sie Richard Frey das Mittagessen bringen sollte. Denn ab diesem Moment waren ihre zu kurz geratenen Beine ihr geringstes Problem.

»Sei vorsichtig, wenn du in sein Zimmer gehst. Er ist ein richtiger Charmeur«, warnte sie Cornelia Kraus vor, eine voluminöse Pflegerin mit Mondgesicht, die irgendwo in ihren Dreißigern stecken musste. Schon die ganze Woche über war sie Sandra aufgefallen. Mehrmals hatte sie die Praktikantin angesehen, als wäre sie ein Stück Fleisch in einer Metzgertheke. Nicht als würde sie sie vernaschen wollen, sondern vielmehr, als wäre sie ihr zuwider. Jetzt jedoch tat sie freundlich und lächelte.

Auf die Frage hin, ob Richard Frey denn bettlägerig sei und deshalb das Essen aufs Zimmer gebracht bekäme, wiegte die Pflegerin den Kopf hin und her. Dabei verzog sie die Mundwinkel, wie um sich ein Lächeln zu verbeißen.

»Nicht so richtig. Er kann aufstehen, wenn er will, aber er tut es nur sehr selten. Zum Pinkeln oder wenn er Stuhlgang hat. Ansonsten bin ich mir nicht mal sicher, ob er sein Bett verlassen würde, wenn das Haus in Flammen stehen würde. Früher haben wir ihn zum Aufstehen zu überreden versucht. ›Sie müssen hier raus an die frische Luft‹, haben wir ihm vorgepredigt, doch darauf reagierte er mit einem Hungerstreik. Unglaublich, nicht wahr? Na ja, alte Leute haben eben ihre Eigenarten. Wir haben uns jedenfalls dazu entschieden, ihn seinen Lebensabend so verbringen zu lassen, wie es ihm beliebt. Wir bringen ihm seine Mahlzeiten und einmal am Tag kommt jemand, um ihn zu waschen.«

»Er geht nicht einmal freiwillig duschen, obwohl er könnte?«, wollte Sandra wissen. Für sie klang das unglaublich. Sich zu duschen und frisch zu machen war in den Augen der Jugendlichen eines der schönsten Dinge auf Erden.

»Nein. Schön wär’s. Woran das liegt, weiß ich nicht. Vielleicht hat er schlicht gern weibliche Gesellschaft um sich. Du wirst schon sehen. Du wirst ihn mögen. Und er wird dich mögen. Du bist doch auf dem Gymi, nicht wahr?«

»Ja, das bin ich.«

»Perfekt. Frey war Professor an der Uni in Tübingen, ist also quasi ein Gebildeter. Ihr werdet euch sicher gut unterhalten.« Sie lächelte, wodurch ihr Gesicht noch runder aussah. Sandra war sich nicht gewiss, ob es sich dabei um ein freundlich gesinntes Lächeln handelte.

»Ist er denn nett?«

»Oh, er ist sehr nett. Äußerst nett. Vor allem zu kleinen zierlichen Dingern wie dir. Glaub mir, auf etwas rundere Frauen wie mich«, sie machte eine Bewegung mit den Armen, die ihren gesamten Körper einrahmte, »steht er nicht besonders.«

Sandra machte große Augen. »Hat er das denn zu Ihnen gesagt?«

»Das ein oder andere Mal.« Sie winkte ab. »Halb so schlimm. Darüber steh ich. Bildung heißt eben nicht, dass man auch Geschmack hat.« Sie gackerte, als hätte sie den witzigsten Scherz der Welt gemacht.

Obwohl Cornelia ihr ein wenig seltsam vorkam, stieg Sandra in das Lachen mit ein. »Das stimmt.«

»Also. Viel Spaß. Du kannst nachher gern runterkommen und mir erzählen, wie es bei ihm war. Bis de-enn.«

Sandra beobachtete noch einen Augenblick, wie die Pflegerin ihren massigen Körper den Flur entlang in Richtung Gemeinschaftssaal wuchtete und ihr dabei mit den Fingerspitzen wedelnd zuwinkte – was wieder so eine Merkwürdigkeit war –, dann wandte sie sich dem rollbaren Speisewagen zu, den Cornelia ihr zuvor gebracht hatte. Darauf stand unter einer Metallglocke das für Richard Frey angerichtete Essen. Zwei Rinderrouladen, Kartoffelbrei und gedünstetes Gemüse. Menü Nummer zwei des heutigen Tages.

Das Zimmer erreichte sie über den Fahrstuhl. Es lag im ersten Stock im mittleren von drei miteinander verbundenen Gebäuden. Ein kleines Schild an der Tür verkündete die Zimmernummer. 217

Ein ehemaliger Professor an der Universität in Tübingen, dachte Sandra und spürte Erregung in sich aufkeimen. Einem waschechten Professor war sie noch nie begegnet. Sie fragte sich, was der Mann wohl unterrichtet hatte, bevor er in den Ruhestand getreten war. Vielleicht ein spannendes Fach wie Astronomie oder Kernphysik oder so etwas. Sie hatte keinen blassen Schimmer, ob solche Themen an der Uni in Tübingen unterrichtet wurden, doch es war sicherlich interessant, das herauszufinden. Wie sie durch Martha Riegger erfahren hatte, waren alte Menschen nicht bloß faltige Haut und brüchige Knochen. Sie waren auch jede Menge Erfahrung und Erkenntnis. Wer schon so viele Erdumdrehungen mitgemacht hatte, war oft ein schier unerschöpflicher Quell der Weisheit. Nicht jede dieser Weisheiten konnte einem selbst im Leben weiterhelfen, aber man konnte doch etwas aus ihnen lernen. Wenn Sandra etwas von sich behaupten konnte, dann war es, die Fähigkeit zu besitzen, sich selbst motivieren zu können. Und deshalb klopfte sie an diesem Nachmittag nicht nur als Praktikantin an Richard Freys Tür, sondern auch als hoch motivierte Schülerin, die bereits begriffen hatte, dass ein Altenheim die wohl beste Schule des Lebens sein musste.

Sandra legte ein weiches Lächeln auf und schob den Speisewagen in einen Raum, der merkwürdigerweise von keinem einzigen Sonnenstrahl durchschnitten wurde. Das Zimmer des Professors war stockdunkel.

5

Um schnellstmöglich zu Ralph Miller zu gelangen, musste David hinterm Haus einen steilen Hügel hinabsteigen. Ein ausgetretener Pfad führte zwischen Massen an Unkraut und in den Weg ragenden Brombeersträuchern hindurch und endete tiefer unten an einem Bach. Die Kessach strömte von rechts, wo sich die Stadt befand, nach links an einem Waldweg entlang bis zu einer verwitterten Wassermühle, wo sich der Bach zu einem kleinen See staute. Von dort aus musste David über eine eiserne Brücke und noch tiefer in den Wald hinein. Allein die Vorstellung graute ihm.

Ich werde mich beeilen, den Brief abzugeben, und dann so schnell ich kann verschwinden, dachte er. Doch das brachte ihm keine Beruhigung. Hier draußen war außer ihm keine Menschenseele. Nur das Zwitschern der Vögel in den Baumkronen und das seichte Plätschern des Baches durchbrachen die Stille.

Denk einfach an was Schönes, denk an …

Er brauchte nicht lange darüber zu grübeln, was ihm ein wenig Heiterkeit bringen könnte. Das Gesicht des einzigen Mädchens, für das sich David Kramer interessierte, tauchte wie automatisch vor seinem geistigen Auge auf. Lisa Seitz.

Sie ging in seine Klasse, war kleiner als er, hatte langes dunkelbraunes Haar und die schönsten Augen, die er je gesehen hatte. Sie leuchteten wie das Meerwasser in der Karibik. Wenn David an ein Mädchen dachte, dann an sie. Und manchmal, in Momenten, in denen sich ihre Blicke im Unterricht trafen, glaubte er, es könne auch umgekehrt der Fall sein.

Er ging den Hügel zum Bach hinab, schenkte seinen Schritten nur so viel Aufmerksamkeit, wie er benötigte, um nicht zu stolpern, und träumte von Lisa; davon, wie sich die beiden nach der Schule treffen würden, wie er endlich den Mut aufbringen würde, sie auf ein Eis oder ins Kino einzuladen; davon, wie sie einander gegenüberstanden und er vollkommen in der Tiefe ihrer meerblauen Augen versank. Bis ein stechender Schmerz ihn aus seiner Gedankenwelt riss.

»Au! Mist!«

Die Dornen eines Brombeerstrauchs hatten sich in seinem Handrücken verhakt. David schüttelte den Zweig ab und beobachtete, wie kleine Blutstropfen aus einem Riss hervorquollen. Instinktiv saugte er sie mit dem Mund auf und fluchte innerlich. Warum musste dieser Kerl unbedingt mitten im Wald wohnen wie die verfluchte Hexe in Hänsel und Gretel! Was in Gottes Namen konnte nur so toll daran sein?

Darauf fand David keine Antwort, und er dachte auch nicht weiter darüber nach. Stattdessen saugte er abermals an seinem verwundeten Handrücken und knurrte vor Wut in sich hinein.

Er war kein Junge, der schnell Zorn verspürte. Doch wenn er ihn einmal ergriff, ließ er ihn so schnell nicht mehr los. Jedenfalls für gewöhnlich. Als David jetzt jedoch das Haus zu Gesicht bekam, verschwand der Zorn augenblicklich und eine seltsame Beklemmung ergriff ihn.

Das Haus war groß. Viel größer, als David es erwartet hätte. Zwei Stockwerke türmten sich übereinander. Aber das war nicht das, was David eigentlich ins Auge fiel. Es war die Düsterkeit, die vom mit Grünspan übersäten Putz und den finsteren Fenstern ausging. Ja, vor allem von den Fenstern. Sie wirkten auf David wie die Augenhöhlen von Totenschädeln.

Ein eisiger Schauder überkam ihn, als er mit hastigen Blicken den Briefkasten suchte und ihn schließlich fand. Denn es war kein Briefkasten, wie ihn die Leute in amerikanischen Filmen oder wie manche Leute in der Stadt hatten. Er stand nicht am Anfang des Grundstücks, weit genug vom Eingang entfernt, um, falls nötig, davonrennen zu können. Nein, Millers Briefkasten war nicht mehr als ein Schlitz in der Tür.

Ich werde nur den Brief einwerfen. Dann verdufte ich. O ja. Eins, zwei, und schon bin ich wieder weg.

Ihm kam in den Sinn, welch ein Hasenfuß er doch war. Da las er leidenschaftlich gern Horrorromane, und dann machte er sich wegen eines simplen Gebäudes beinahe in die Hosen wie ein Baby.

Nein, nicht allein wegen des Hauses. Auch wegen Ralph Miller selbst. David wurde in diesem Augenblick nur allzu sehr bewusst, wie wenig er über den Mann wusste. Und worauf er sich hier eingelassen hatte.

Lass es einfach, sagte ihm eine innere Stimme. Lass es einfach. Dreh dich rum und geh. Wen kümmert es schon, wenn der Brief nie bei Miller ankommt. Du kannst behaupten, du hättest ihn abgegeben, aber ein Fuchs oder irgendein anderes neugieriges Tier habe ihn dann wohl aus dem Briefschlitz stibitzt. Wen würde es hier draußen wundern?

Nur konnte er das nicht machen. Weil er ein Versprechen abgegeben hatte; ein Versprechen gegenüber seiner Mutter.

David wollte sich nicht vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn ans Tageslicht kommen würde, dass sie sich nicht auf sein Wort verlassen konnte. Also sammelte er all seinen Mut, atmete tief durch und ging langsam auf das Haus zu. Über ihm zwitscherten Vögel im Geäst. Außer ihnen war David allein.

Ganz allein.

6

Den Klumpen Teig aus der Schüssel zu holen, war kein schweres Unterfangen. Doch Maike graute davor. Und wieder brannten ihre Augen vor Tränen.

Sie hatte Pizza zum Abendessen machen wollen. Einfach, schnell, keine großen Umstände. Sie wollte sie so belegen, dass es allen schmeckte. Mit Wurst und Schinken für David und Kurt, mit Thunfisch für Sandra und für sich selbst vegetarisch. Sie hatte die Zutaten extra am Morgen eingekauft. Vor ihrem Termin bei Dr. Welsch; der Termin, der alles verändert hatte.

Uhrzeit und Datum hatten bereits seit einigen Monaten festgestanden, und es hatte außer der regelmäßigen Routineuntersuchung keinen weiteren Grund gegeben, den Gynäkologen aufzusuchen. Sie war von der Sprechstundenhilfe aufgerufen worden, hatte sich ins Untersuchungszimmer begeben, sich frei gemacht und die Prozedur mit größtmöglicher Gleichgültigkeit über sich ergehen lassen. Sie rechnete nicht mit einem Befund. Es ging ihr gut, alles war ganz normal. Keine Beschwerden. Keine Knötchen in den Brüsten. Nichts. Selbst die gelegentlichen Hitzewallungen kamen ihr nicht sonderbar vor. Ebenso die ausbleibende Menstruation. Sie rechnete bereits seit mehreren Jahren mit dem Eintreten der Menopause. Und nun mit siebenundvierzig musste der Zeitpunkt gekommen sein. Sie blutete nicht mehr. Und das seit fast vier Monaten.

Und dann das.

Dr. Welsch, ein Mann mit weißem Schnauzbart und Halbglatze, betrachtete sie durch seine Bifokalbrille, lächelte und sagte: »Herzlichen Glückwunsch.«

Zuerst begriff sie nicht, was er damit meinte. Dann brach plötzlich Entsetzen über sie herein wie Schlagregen über einen sonnigen Apriltag.

Jetzt, da sie den Teigklumpen betrachtete, wurde ihr übel. Sie wusste, würde sie ihn stehen und gären lassen, würde er aufgehen, dicker und runder werden wie der Bauch einer Schwangeren – ihr Bauch.

Fast vier Monate. Und was bedeutete das, Mon Cherie? Hatte Ralph sie nicht immer so genannt? War das wichtig, jetzt, da sein Sperma sie schwanger gemacht hatte, weil Kurt in den Monaten vor der Übernahme der C & R GmbH zu nervös und in den Monaten seither zu beschäftigt gewesen war und sie sich leer und geil gefühlt hatte? Natürlich war der Kosename unwichtig. Viel wichtiger waren die von Doktor Welsch genannten vier Monate. Vier Monate bedeuten sechzehn Wochen, und sechzehn Wochen sind bekanntlich mehr als zwölf. Und zwölf – zwölf Wochen – sind die Grenzstation des Wanderpfades einer Schwangerschaft. Einmal darüber hinaus gibt es kein Zurück mehr.

Kein: Oh, das war ein Versehen.

Kein: Lass uns noch mal von vorn beginnen.

Kein: Neustart.

Die Zeit der Vorsorge war gestern. Heute ist heute. Und jetzt ist jetzt. Und das Herz schlägt. Es schlägt … schlägt!

Ein Kloß breitete sich in Maikes Hals aus. Wimmernd und zitternd blickte sie auf den Teigklumpen in der Schüssel hinab. Er rührte sich nicht. Und doch blähte er sich auf. Langsam. Stetig.

Was ist neun minus vier, Schatz?

Sie sah die Panikattacke nicht kommen. Sie war einfach da.

Maike betrachtete den Teigklumpen und die Schüssel und ein immenser Drang überkam sie, beides zum Fenster hinauszuwerfen, es loszuwerden, weil ein Neustart nicht mehr möglich war.

Fünf, Mama! Neun minus vier ist fünf!

Prima, Schatz! Hundert Punkte! Und jetzt geh und hol Mami ein Messer, damit sie …

… ES AUS SICH HERAUSSCHNEIDEN …

… den Teig für die Pizza teilen kann. Weil wir zu viert sind. Nicht zu fünft. Nein, zu viert. Wie die vier …

… MONATE, DIE DU DARÜBER HINAUS BIST! …

… Jahreszeiten.