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Perfekte Sommerlektüre für Ostsee-und Rügen-Liebhaberinnen von der Erfolgsautorin Lena Johannson. Zwei Jahre sind vergangen, seit Coach Franziska Marold, genannt Ziska, sich auf Rügen eine berufliche Auszeit gegönnt hat. Weg von der Beratung, rein in die handfeste Arbeit auf einer Sanddorn-Plantage. Seitdem sind sie und Niklas, Herr über die kleinen Vitaminbomben, ein Paar. Niklas hat ihr ein altes Haus, das ein bisschen vergessen am Rande der Plantage steht, überlassen. Nachdem es liebevoll renoviert und umgebaut wurde, prangt über der entstandenen Pension ein Schild: Villa Sanddorn. Dort sollen ihre Klienten wohnen, die bei Ziska ein Coaching im Urlaub gebucht haben. Nun hält auf Rügen der Frühling Einzug, kleine gelbe Blüten überziehen die Sanddorn-Plantage von Niklas und Franziska. Doch während die Tage länger und wärmer werden, nimmt auch Niklas' Arbeit zu. Und bei Franziska häufen sich die Anfragen für ihr Coaching. Als Niklas dann auch noch eine bildhübsche neue Mitarbeiterin einstellt und Franziskas beste Freundin von ihrem Mann betrogen wird und sich nach Rügen flüchtet, gerät die Harmonie auf der Insel in arge Schieflage. Können Franziska und Niklas wieder zueinander finden? Lena Johannsons Wohlfühlromane über die zauberhafte Ostsee-Insel Rügen sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Sanddornsommer - Villa Sanddorn - Sanddorninsel - Sanddornzauber
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Seitenzahl: 527
Lena Johannson
Villa Sanddorn
Roman
Knaur e-books
Auf Rügen hält der Frühling Einzug, kleine gelbe Blüten überziehen die Sanddornplantage von Niklas und Franziska. Doch während die Tage länger und wärmer werden, nimmt auch Niklas‹ Arbeit zu. Bei Franziska häufen sich die Anfragen für ihr Coaching, das sie Rügen-Urlaubern in einem liebevoll renovierten kleinen Haus am Rande der Plantage anbietet. Als Niklas dann auch noch eine bildhübsche neue Mitarbeiterin einstellt und Franziskas beste Freundin von ihrem Mann betrogen wird und sich nach Rügen flüchtet, gerät die Harmonie auf der Insel in arge Schieflage. Können Franziska und Niklas wieder zueinander finden?
Für Tante Irmchen, meine Zweit-Mutti,
von der ich mir eine große Scheibe abschneiden kann
Und für M. T.
Danke für sehr inspirierende Musik
»Immer nur trifft man aufgrund einer geistigen Verfassung, die nicht von Dauer sein wird, die wichtigsten Entscheidungen.«
Marcel Proust
Schon wieder Spargel mit Kartoffeln und Schinken? Das wäre das vierte Mal in den letzten zwei Wochen. Oder lieber zur Abwechslung eine Pizza? Nein, bloß nicht. Wenn Franziska noch häufiger zu Fertigfutter griff, sähen Niklas und sie bald aus wie die gläsernen Ballons, in denen der Sanddornlikör reifte. Sie pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Gedankenverloren tänzelte sie zwischen der Tiefkühltruhe und dem Gemüseregal hin und her.
»Entschuldigung«, stammelte sie und ließ eine Kundin passieren, die versucht hatte, links an ihr vorbeizuziehen, abrupt hatte bremsen müssen und dann den gerade frei gewordenen Weg rechts angepeilt hatte. Die Frau verdrehte die Augen und schob ihren Einkaufswagen eilig davon.
Pasta mit Gorgonzolasoße! Das war schnell gemacht und gehörte obendrein zu Niklas’ Lieblingsgerichten. Allerdings auch ganz schön gehaltvoll und außerdem eine wahre Kohlenhydratorgie. Ein tiefer Seufzer stieg in Franziska auf. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie einen gräulichen Käse mit Schimmelflecken vor Augen, der fetttriefend über einem Nudelberg schmolz. Jetzt stieg etwas ganz anderes in ihr auf – fiese würgende Übelkeit. Und zwar so schnell und unerwartet, dass sie erschrocken eine Hand vor den Mund presste und sich mit der anderen an einem Stapel Eierkartons festklammerte. Der nächste Schreck fuhr ihr in die Glieder, als das zu einer Pyramide aufgetürmte Gebilde ins Schwanken geriet.
»Ist Ihnen nicht gut?« Frau Olschewski sah sie prüfend an. In ihrem Blick lag eine interessante Mischung aus echter Besorgnis und einer Todesdrohung. Auch ihre Stimme verriet, dass ihr Mitgefühl in dem Moment endete, in dem Franziska sich auf die beige-grau gesprenkelten Fliesen übergeben oder die Eierberge umreißen würde. Beides würde mitten im Gang zwischen Äpfeln, Möhren, Salat und abgepackten Brotsorten zweifellos zu einer hässlichen Sauerei führen. Die gute Olschewski war diejenige, die die Bescherung beseitigen müsste. Kein Wunder, dass sie, gelinde ausgedrückt, ein wenig beunruhigt war. Das war Franziska selbst auch. Glücklicherweise war sie aber ein echter Profi, wenn es darum ging, anderen Leuten einen guten Rat zu erteilen.
»Wir machen das so«, murmelte sie zwischen den Fingern hervor, die sie noch immer an ihre Lippen presste, als könnten sie dort im Fall einer Katastrophe irgendetwas ausrichten, »Sie passen auf meine Sachen auf, und ich gehe kurz an die frische Luft. Bestimmt geht’s gleich wieder.« Sie hoffte inständig, dass Frau Olschewski mit der klaren Anweisung etwas anfangen konnte und sie augenblicklich umsetzen würde, sonst könnte Franziska für nichts garantieren. Sie reichte der zögernden Supermarktmitarbeiterin den Plastikkorb und brachte gerade noch ein Lächeln zustande, ehe sie auch schon losrannte.
»Und Sie kommen sicher wieder, ja?«, rief Frau Olschewski hinter ihr her.
Franziska nickte, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, ob die Mitarbeiterin es erkennen konnte, riss die Tür auf und hastete ins Freie. Sie musste sich an den grauen Metallstangen eines Fahrradständers festhalten, weil ihr schwindlig wurde. Tief einatmen, langsam durch die Nase ausatmen. Sie wiederholte die Prozedur mehrmals und spürte, wie es ihr von Mal zu Mal besser ging. Die Luft, die von allen Seiten gleichzeitig das salzige Meeresaroma der Ostsee über den kleinen Ort Altenkirchen an der Nordspitze Rügens zu wehen schien, tat ihr gut. Sie musste lächeln. War es wirklich schon anderthalb Jahre her, dass sie sich entschieden hatte, der Großstadt den Rücken zu kehren und ständig auf diesem verträumten Eiland zu leben? Na ja, verträumt war vielleicht das falsche Wort. Immerhin handelte es sich um die größte deutsche Insel. Trotzdem. Noch immer fand Franziska, dass die Uhren hier einfach anders tickten, dass sich das Leben immer ein wenig nach Urlaub anfühlte, gerade im Sommer. Obwohl … von Urlaub konnte nun wirklich keine Rede sein. Apropos Uhr, sie warf einen Blick auf das Zifferblatt an ihrem Handgelenk. Höchste Zeit, dass sie nach Hause kam, sonst wäre ihr Klient noch vor ihr da. Ein letztes Mal atmete sie tief durch, dann ging sie zurück in den Laden, kaufte Spargel, Kartoffeln, Schinken, Pizza und Gorgonzola und beschloss, Niklas die Entscheidung zu überlassen, was am Abend auf den Tisch käme.
»Sehen Sie, Herr Meyer, es ist essenziell, sich für einen Weg zu entscheiden und diesen dann auch zu gehen.« Franziska faltete die Hände und sah ihrem Klienten fest in die Augen. »Das gilt für Ihre Frau genauso wie für Sie.«
»Tja, das sagen Sie. Aber meine Frau hat offenbar gemerkt, dass ich in ihrem Betrieb eben doch eine nicht so ganz unwichtige Position innehatte. Ich bedaure, dass sie mich erst vor die Tür setzen musste, um das zu kapieren, doch ich freue mich, dass sie es überhaupt eingesehen hat.«
»Wissen Sie, lieber Herr Meyer«, Franziska seufzte, »das Problem ist doch, dass Ihre Frau erst mit ziemlicher Verzögerung kapiert hat, was sie an Ihnen hatte, um es mal vorsichtig auszudrücken. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat sie inzwischen drei Buchhalter verschlissen. Verzeihung, eingestellt und wieder entlassen.«
»Das ist richtig.« Da war ein gewisser Stolz in seinen Augen. »Es ist nicht so einfach mit ihr. Ich bin ihr Ehemann, ich weiß sie zu nehmen.«
»Hatten Sie mir nicht erzählt, dass Sie Ihre Arbeit in der Künstleragentur sehr mögen, dass sie Ihnen noch mehr Freude macht als Ihr alter Job bei Ihrer Frau? Apropos«, sprach sie weiter, ehe er antworten konnte, »was für eine Firma hat Ihre Frau noch genau?«
»Sie hat im pädagogischen Bereich zu tun. Im weitesten Sinne.«
»Aha.« Dieser Herr Meyer machte geradezu ein Staatsgeheimnis aus der Branche seiner Frau. Franziska hatte schon mehrfach versucht, ihm auf den Zahn zu fühlen, doch in diesem Punkt blieb er vage.
»Sie haben schon recht«, kam Meyer auf ihre Frage zurück, »die Tätigkeit in der Agentur füllt mich ganz und gar aus.« Er lächelte selig.
»Sie sind zu mir gekommen, um Ihre berufliche Orientierung auszuloten. Sie sagen deutlich, dass Ihre derzeitige Position Sie glücklich macht. Die Antwort liegt auf der Hand, oder nicht?«
Franziska lächelte freundlich. Vor bald zwei Jahren war sie nach Rügen gegangen, um von ihrer Coaching-Tätigkeit Abstand zu gewinnen, um sich selbst neu zu orientieren. Zum Unverständnis einiger ihrer Freunde. Sie war im Karrierehimmel ihrer Branche angekommen gewesen. Alle bedeutenden Managermagazine hatten über sie, ihre Methode und vor allem über ihre hohe Erfolgsrate berichtet. Sie hatte Spitzenhonorare fordern und sich vor Klienten nicht retten können. Und ausgerechnet sie war unzufrieden? Das war für die wenigsten nachvollziehbar gewesen. Doch sie wollte mehr. Sie hatte es sattgehabt, Menschen von ihren Luxusproblemen zu befreien und ihnen zu helfen, noch ein wenig mehr Geld zu verdienen, noch eine Sprosse in der Hierarchie aufwärtszuklettern. Sie wollte etwas Sinnvolles tun. Es war goldrichtig gewesen, sich eine Auszeit zu gönnen. Auf Rügen hatte sie ihre Bestimmung gefunden. Und noch viel mehr …
»Lieber Herr Meyer, unsere Zeit für heute ist um.« Sie warf einen schnellen, aber unübersehbaren Blick auf ihre Armbanduhr. »Sie sagen, dass Ihre Frau Sie als Mitarbeiter nie richtig zu schätzen wusste. Und Sie sagen, dass das in dieser Agentur völlig anders ist, dass man Sie dort beinahe jeden Tag spüren lässt, wie wertvoll Ihre Arbeit ist, wie froh man darüber ist, dass Sie da sind. Sie müssen an sich denken, Herr Meyer. Sie können Ihre Frau als Ehemann unterstützen, aber Sie dürfen Ihre eigenen Bedürfnisse dabei nicht aufgeben.«
»Na ja, aber wenn …«
Franziska unterbrach ihn. »Das besprechen wir morgen. Gehen Sie runter nach Vitt, essen Sie bei Heinrich frischen Fisch, lassen Sie sich die gute Ostseeluft um die Nase wehen. Morgen, wenn Sie eine Nacht geschlafen haben, sehen wir weiter«, schloss sie in einem Ton, der keinen weiteren Widerspruch duldete.
Herr Meyer sprang eilig auf, was der weiße Korbstuhl mit überraschtem Knarzen quittierte. Beinahe unterwürfig verabschiedete er sich und beteuerte, dass er genau das tun werde. Fisch bei Heinrich sei immer eine gute Idee, dort sei er am besten. Und dann Wind um die Nase. So werde er es machen. Franziska folgte ihm durch die Tür ihrer Praxis. Während er in den Gebäudeteil der Villa Sanddorn verschwand, in dem die Gästezimmer und der Frühstücksraum untergebracht waren, trat sie ins Freie.
Herr Meyer war einer ihrer ersten Klienten, die Auszeit mit Einsicht – Coaching im Urlaub gebucht hatten. Schon lange wollte Franziska sich intensiv um die Vermarktung kümmern, doch ihr fehlte schlicht die Zeit dazu. Streng genommen hatte sie den Aufwand unterschätzt, den die Sanierung des alten Hauses bedeutet hatte und noch immer bedeutete. Dabei hätte sie es ahnen können. Welcher andere Grund hätte dafür sorgen sollen, dass Niklas nicht längst die Büroräume von Rügorange in den Bau im Stil der Bäderarchitektur verlegt hatte, der am Rand seiner Sanddornplantage mehr und mehr verfiel? Das Firmengebäude war zu klein geworden, es wäre schon lange ideal gewesen, einige Büros von der Produktion und den Lager- und Kühlräumen zu trennen. Obendrein hätte sich Niklas in der zweistöckigen großzügigen Villa eine tolle Wohnung ausbauen können. Hätte. Hatte er aber nicht. Sowohl die Kosten als auch die riesige Aufgabe hatten ihn davon abgehalten. Er hatte schon genug damit zu tun, die Sträucher zu pflegen, Schädlinge ohne den Einsatz von Chemie fernzuhalten, neue Märkte zu erschließen und ständig neue Produkte zu entwickeln. Die Konkurrenz schlief auch in diesem Segment nicht. Wenn er nicht ab und zu neue Marmeladenkreationen oder Liköre anbieten konnte, wanderten die Kunden ab. Das Geschäft war hart. Umso glücklicher war Franziska, dass es ihr gelungen war, einen Messestand und Werbematerialien für ihn zu gestalten, die ausgesprochen gut ankamen und Niklas’ Firma schon eine Menge Aufmerksamkeit gebracht hatten. Außerdem freute sie sich, dass dank ihrer Investition Gästezimmer in der Villa entstanden waren. Die Ferienvermietung war ein willkommener Nebenverdienst. Man musste immer damit rechnen, dass eine Ernte mal nicht so üppig ausfiel oder dass womöglich Unwetter oder fiese kleine Insekten für einen Totalausfall sorgten. So war das eben, wenn man mit der Natur arbeitete. Dann konnten Feriengäste, die es auf Rügen zu jeder Jahreszeit gab, vielleicht die Rettung vor der Pleite sein. Bei all den Dingen, um die sie sich hatte kümmern, die sie hatte organisieren müssen, war die Werbung für ihr neues Coaching-Konzept einfach auf der Strecke geblieben. Das musste sich ändern.
Franziska wollte gerade wieder hineingehen, als sie Niklas entdeckte. Sie lächelte versonnen. Wenn sie diese Geschichte in einem Roman gelesen oder in einem Film gesehen hätte, wäre sie aus dem Kopfschütteln nicht mehr herausgekommen. Wer glaubte denn bitte, dass so etwas in Wirklichkeit passierte?
Franziska war vor rund zwei Jahren auf die Insel gekommen, um ihren Coaching-Klienten den Rücken zu kehren und auf einer Sanddornplantage völlig neue Erfahrungen zu sammeln. Ganz nebenbei hatte sie die Weichen für ihr weiteres Leben stellen wollen. Immerhin war sie am Ende ihrer Auszeit dreißig geworden. Das war doch wohl ein Einschnitt! Für sie jedenfalls war es der Anlass gewesen, den bisherigen Stand zu überdenken und möglicherweise etwas ganz Neues zu beginnen. Mit solchen Gedanken im Kopf war sie als Praktikantin bei Rügorange aufgetaucht und Chef Niklas gleich am ersten Tag fast in die Arme gestolpert. Diesen Augenblick würde sie nie vergessen. Sie hatte das Gefühl gehabt, ein Schlag hätte ihr Sprachzentrum getroffen. Sie war nur noch in der Lage gewesen, zusammenhangloses Zeug zu stammeln. Bis heute behauptete Niklas steif und fest, sie habe sich auf den ersten Blick in ihn verliebt. Von wegen! Ja, sie hatte sich von der ersten Sekunde an zu ihm hingezogen gefühlt, aber vor allem, weil er ihr auf eine seltsame Art bekannt vorgekommen war. In der Nacht nach dieser Begegnung hatte sie von Jürgen geträumt. Und dann war alles wieder da gewesen: Als kleines Mädchen war sie immer zutiefst davon überzeugt gewesen, einen Bruder zu haben. Der sei irgendwo zu Besuch und müsse ganz sicher sehr bald nach Hause kommen, hatte sie sich eingeredet. Ihre Eltern hatten Mühe, ihr etwas anderes einzubläuen. Es gebe keinen Bruder, hieß es beharrlich. Schließlich hatte ihr Vater sie zur Seite genommen und ihr erklärt, dass es ihre Mama traurig mache, wenn sie immer wieder von einem Bruder anfange. Ihre Mama wünsche sich nämlich sehr ein zweites Kind, verriet er ihr, doch sie bekomme keins. Franziska hatte damals nicht verstanden, warum ihre Eltern nicht einfach ein Geschwisterchen machten, wenn sie eins haben wollten. Sie wusste nämlich schon, dass nicht etwa irgendein komischer Vogel die Babys brachte, sondern dass die Erwachsenen sich selbst darum kümmern mussten. Was sie jedoch sehr gut verstand, war, dass ihre Mutter traurig war, wenn sie von ihrem Bruder sprach. Also tat sie es nicht mehr, auch wenn sie überzeugt davon war, dass es ihn gab. Im Lauf der Jahre hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Selbst seinen Namen hatte sie irgendwann vergessen. Bis sie auf Rügen diesen Traum gehabt hatte – von Jürgen, ihrem Bruder. Kurioserweise hatte der Junge in ihrem Traum ausgesehen wie Niklas, Chef der Sanddornplantage, den sie tags zuvor beinahe über den Haufen gerannt hatte.
Franziska blickte zu der Reihe Sträucher herüber, an der Niklas gerade entlangging. Er wirkte hoch konzentriert wie immer, wenn er mit seinen geliebten Pflanzen zu tun hatte. Jetzt griff er nach einem Zweig und betrachtete ihn eingehend. Vermutlich suchte er nach Anzeichen für Schädlinge oder Erkrankungen. Sie schnappte sich den Schlüssel, ließ die Haustür ins Schloss fallen und lief die Treppe der neu gebauten Veranda hinunter, der noch das Geländer fehlte. Es duftete nach Frühsommer. Auf dem Festland gab es schon die ersten sehr heißen Tage, doch hier auf der Insel wehte meist ein frischer Wind, der selbst im Hochsommer für erträgliche Temperaturen sorgte. Während sie über den von Wildkräutern und Gräsern bewachsenen Weg auf Niklas zuging, schweiften ihre Gedanken wieder zurück zu ihren ersten äußerst turbulenten Wochen auf Rügen.
Sie hatte ihrem Vater damals am Telefon von ihrem sonderbaren Traum erzählt. Und da war geschehen, was sie nie für möglich gehalten hätte: Er hatte ihr gestanden, dass sie sich ihren Bruder nicht eingebildet hatte, sondern dass er wirklich existierte. Aus Fleisch und Blut. Jedenfalls war ihr Vater über die ersten ungefähr vierzehn Lebensjahre auf dem Laufenden gewesen und wusste, dass es ihm bis dahin gut gegangen war. Wäre ihm inzwischen etwas zugestoßen, hätte er das bestimmt auch erfahren, meinte er. So war es also mehr als wahrscheinlich, dass es ihren Bruder noch immer gab. Wenn sie an diese Offenbarung zurückdachte, bekam sie noch heute eine Gänsehaut. Die Erkenntnis, dass sie nicht allein war, dass da jemand, aus demselben Erbmaterial wie sie gemacht, auf der Welt herumlief, löste in ihr ebenso große Freude wie Verunsicherung aus, zumal sie den bösen Verdacht hatte, dass es sich um Niklas handeln könnte. Warum sonst sollte ihre erste Begegnung diese frühkindlichen Erinnerungen derartig aufgefrischt haben? Auch die Tatsache, dass ihr Vater sie unbedingt von der Idee hatte abbringen wollen, ausgerechnet auf Rügen eine längere Zeit zu verbringen, hatte plötzlich einen Sinn gehabt. Da sie auf dem besten Weg gewesen war, sich in Niklas zu verlieben, hatte ihr die Vorstellung, mit ihm verwandt zu sein, nicht gerade behagt, um es vorsichtig auszudrücken. Sie hatte zwar erfahren, dass es sich nicht um dasselbe Erbmaterial handelte – sie und ihr Bruder hatten zwar denselben Vater, aber unterschiedliche Mütter, waren also nur Halbgeschwister –, doch das war ein schwacher Trost. Man hatte schließlich keine Affäre mit seinem Bruder, auch wenn es nur ein halber war. Eine seelische Achterbahnfahrt war nichts gegen das Gefühlschaos, das sie hatte durchmachen müssen, ehe sie die ganze Wahrheit kannte: Jürgen war der Sohn ihres Vaters mit dessen erster Frau Marianne. Die hatte sich von ihm getrennt und Jürgen zunächst bei ihm gelassen. Als sie später einen neuen Partner gefunden und sich bereit für die Mutterrolle gefühlt hatte, war sie aufgetaucht und hatte Jürgen zu sich geholt. Da war ihr Vater bereits mit seiner zweiten Frau Susanne verheiratet gewesen und hatte mit ihr eine Tochter – Franziska. Die beiden hatten versucht, Jürgen zurückzuholen, ohne Erfolg. Irgendwann hatten sie aufgegeben, denn sie wollten dem Jungen das Hin und Her nicht zumuten. Sie dachten, es sei besser für ihn, zur Ruhe zu kommen, bei seiner leiblichen Mutter eine feste Basis zu haben. Außerdem war da ja noch Niklas, Mariannes zweiter Sohn. Sie nahmen an, dass ihm ein kleiner Bruder guttun würde. So jedenfalls hatte ihr Vater es ihr erklärt. Er hatte ja keine Ahnung gehabt. Die beiden Jungs waren nicht gerade wie Hund und Katze gewesen, doch von Geschwisterliebe konnte eindeutig keine Rede sein. Sie taten einander nicht gut, sie taten sich eher weh. Franziska seufzte. Durch ihr Auftauchen auf Rügen, dadurch, dass einige Geschehnisse der Vergangenheit endlich einmal offen angesprochen worden waren, war das Verhältnis der beiden Männer ein bisschen besser geworden. Leider beäugten sie sich aber noch immer misstrauisch. Sie waren wohl einfach zu verschieden.
»Hey, ich habe dich gar nicht kommen sehen.« Niklas trat einen Schritt auf sie zu.
»Siehst du überhaupt irgendetwas, wenn du bei deinem Sanddorn bist?« Sie lächelte ihn an.
»Klar! Blattläuse oder auch Rhagoletis batava …«
»Schon klar.« Sie schnaufte theatralisch. »Ich werde mir einen Rüssel umschnallen und im Fruchtfliegenkostüm um die Ecke schwirren müssen, damit du Notiz von mir nimmst.«
Niklas grinste breit und strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn, die der Wind ihm ins Gesicht gepustet hatte. »Super Plan!« Mit einem Mal wirkte er nachdenklich.
»Du machst gerade nicht den Eindruck, als ob du begeistert wärst.«
»Ich überlege, woher ich Gelbtafeln kriege, die groß genug sind, damit daran ein Fruchtfliegenbrummer von deinem Format haften bleibt.«
»Ich glaube es doch nicht«, ereiferte sie sich entrüstet. »Eigentlich wollte ich dich gerade fragen, was du heute Abend gerne essen würdest. Ich fürchte, das hat sich erledigt.« Niklas sah sie fragend an. »Wenn ich schon so ein fetter Brummer bin, lasse ich das Abendessen lieber ausfallen. Tja, du wirst dir wohl selbst etwas machen müssen.«
»Das Wort fett ist nicht über meine Lippen gekommen.« Er streckte die Hand nach ihr aus und zog sie an sich. »Wäre es auch nie, nicht im Zusammenhang mit dir. Du bist nun wirklich nicht fett.«
Da standen sie und sahen sich tief in die Augen. Ein paar Möwen kreischten, und aus der Ferne wehte ein Hauch von salziger Meeresluft zu ihnen herüber. Franziska konnte sich nicht vorstellen, jemals noch glücklicher zu sein. Dieser Gedanke machte ihr fast ein wenig Angst. Schnell schmiegte sie sich an ihn und gab ihm einen Kuss. Sofort ging Niklas darauf ein, spielte mit ihren Lippen, ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten und über ihre Hüften. Dann kniff er spielerisch in das Fleisch über dem Bund ihrer Leinenhose.
»Nein, fett kann man das nicht nennen«, raunte er. »Du hast ein bisschen zugelegt, aber das steht dir.«
»Bitte?« Mit einem Schritt löste sie sich von ihm. »Ich habe zugelegt?«
Seine blauen Augen blitzten. »Nur ein klitzekleines bisschen.«
Sie wusste, dass er sie auf den Arm nahm. Nach ihrem Unfall an der Steilküste, als abrutschende Kreide- und Schlammmassen sie beinahe unter sich begraben hätten, hatte sie wirklich zwei Kilo an Bauch, Oberschenkeln und Po entdeckt, die dort für ihren Geschmack nicht hingehörten. Sie hatte sich schließlich kaum bewegen können, musste ihre Krücken benutzen, um überhaupt zu Fuß von A nach B zu gelangen. Dummerweise hatte sich ihr Appetit in dieser Zeit nicht verringert, im Gegenteil. Niklas wusste ganz genau, dass es nicht ihre Schuld gewesen und sie beide Kilos längst wieder los war. Und er wusste, dass sie die Einzige war, die ein Problem mit der Gewichtszunahme gehabt hatte. Die einzige Veränderung, die er wahrgenommen hatte, war, wie er ihr einmal erklärt hatte, ihr Gesicht, das nicht mehr ganz so schmal gewesen war wie üblich.
»Damit hast du dein Abendessen endgültig verspielt.« Sie hoffte, ihre Miene verriet nicht, dass sie wirklich ein wenig beleidigt war.
»Ich hatte sowieso nicht damit gerechnet, dass wir zusammen essen. Hast du heute nicht deine Rentner-Beratungsstunde?«
Franziska runzelte die Stirn. »Ich berate nicht nur Rentner, sondern auch …«
»Weiß ich doch.« Er schüttelte den Kopf. »Du bist aber auch leicht auf die Palme zu bringen.«
»Du weißt, wie wichtig mir dieses Projekt ist. Und es ist nun mal eine ernste Sache. Darüber vertrage ich keine Scherze.«
Er ging nicht darauf ein, doch das freche Grinsen verschwand endgültig aus seinem Gesicht. »Wenn es dir so wichtig ist, solltest du dich beeilen. Die Wittower Straße ist um diese Zeit ein Nadelöhr, oder wolltest du die Fähre nehmen?«
»Meine Sprechstunde Älterwerden findet an jedem ersten Donnerstag im Monat statt. Heute ist …« Sie dachte nach. Verdammt, war heute schon der erste Juni? Niklas zog mitleidig die Nase kraus. »Mist!«, schimpfte sie. »Du hast ja recht. Heute ist der erste Donnerstag im Monat.« Sie sah auf die Uhr. Die ganze Woche hatte sie daran gedacht, dass sie Herrn Meyer heute unbedingt überpünktlich aus der Praxis komplimentieren musste, und dann hatte sie es doch vergessen. »Ich versuche, gegen halb sieben wieder zu Hause zu sein. Ist Pizza okay? Morgen koche ich dann vernünftig. Versprochen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, gab sie ihm einen Kuss, drehte sich um und lief über das Feld davon.
Franziska entschied sich für die Route von Putgarten über Juliusruh und weiter über die Landesstraße nach Glowe. Sie mochte diesen schmalen Strich zwischen Ostsee und der nordöstlichen Spitze des Großen Jasmunder Boddens. In Bergen, das Ziel ihrer Fahrt, spürte man nichts davon, auf einer Insel zu leben. Hier auf diesem bewaldeten Streifen war das Wasser an zwei Seiten ganz nah. Obwohl sie sich auch schon manches Mal geärgert hatte, wenn ein Urlauber sein Auto mitten auf der Fahrbahn stehen ließ, um nur ganz schnell ein Foto zu machen, wurde sie doch nicht müde, die Landschaft zu betrachten und sich darüber zu freuen, hier ihr neues Zuhause gefunden zu haben. Während sie von Glowe dem Straßenverlauf nach Sagard folgte, dachte sie an ihre erste Sprechstunde Älterwerden. Ein wenig verdankte sie dieses Projekt Marianne, der Mutter von Halbbruder Jürgen und natürlich von Niklas.
Marianne war speziell, und das war eine freundliche Umschreibung. Sie hatte Jürgen in die Welt gesetzt, sich dann aber nicht in der Lage gefühlt, ihm die nächsten mindestens achtzehn Jahre eine Mutter zu sein. Also war sie gegangen und hatte ihren Sohn bei dessen Vater Max gelassen. Als sie sich einige Jahre später die Mutterrolle doch zutraute oder die Sehnsucht doch zu groß gewesen war, holte sie sich Jürgen zurück. Sie hatte sich nicht für zehn Cent darum geschert, ob das gut für den Jungen war oder nur für ihr Ego. So jedenfalls hatte Franziska die Geschichte empfunden, als sie damals davon erfahren hatte.
Sie hatte Lietzow hinter sich gelassen und war nun auf direktem Weg nach Bergen. Natürlich kannte sie auch den anderen Aspekt, wusste von den unzähligen Enttäuschungen in Mariannes Leben. Wie so viele war Marianne nicht mit dem Eingesperrtsein in der damaligen DDR zurechtgekommen. Sie hatte einen Urlaub auf Hiddensee für eine spektakuläre Flucht genutzt und war über die Ostsee bis nach Dänemark geschwommen. Obwohl sie die Einzige war, der das jemals gelungen war, hatte sie nie eine Medaille bekommen, und es wurde auch in keinem Buch oder Museum darüber berichtet. Marianne war für ihre Freiheit beinahe gestorben, doch kaum jemand hatte Notiz davon genommen. Im sogenannten Goldenen Westen hatte sie nie wirklich ihren Platz gefunden. Vielleicht hatte sie zu viel erwartet, vielleicht hatte die Freiheit sie auch überfordert. Wahrscheinlich hatte sie Panik bekommen, dass ein Kind sie erneut in enge Grenzen verbannen würde. Ihre Ehe mit Max war gescheitert, ebenfalls die mit ihrem zweiten Mann. Die Wende hatte unmittelbar bevorgestanden, doch noch gab es die DDR, als Marianne mit ihren beiden Jungs in ihre Heimat ging, nach Rügen. Statt der Wiedersehensfreude über die Rückkehr der verlorenen Tochter begegneten ihr Ablehnung und Misstrauen, womöglich sogar Hass. Kein Wunder, wenn jemand sich nach solchen Erfahrungen einen Panzer zulegte und verbittert war. Marianne hatte sich einen Panzer zugelegt, und zwar im doppelten Sinn. Sie war körperlich völlig aus der Form geraten. Gleichzeitig steckte ihre Seele in einer Rüstung, die kaum Gefühle herausließ und leider ebenso verhinderte, dass sie Freundlichkeiten oder gar die Liebe ihrer Söhne annehmen konnte.
Franziska dachte daran zurück, wie sie und Marianne in deren düsterem Wohnzimmer gesessen hatten. Franziska hatte versucht, ihr ihren Job zu erklären – Coaching. Sie hatte das erzählt, was sie auch immer sagte, wenn sie sich bei Seminaren oder Kongressen Kollegen vorstellen musste, dass sie sich auf berufliche Themen spezialisiert habe, auf Karriereplanung, Neuorientierung und Umstrukturierung.
Und dann hatte Marianne diese Frage gestellt: »Warum bist du nicht für kleine Leute da, die an einem Scheideweg stehen und Hilfe brauchen?«
Franziska lächelte versonnen, passierte die bunt bemalte Fassade des Begegnungszentrums in Bergen, die fröhliche Menschen jeden Geschlechts, Alters und jeder Couleur zeigte, und fuhr auf den Parkplatz. Obwohl sie Marianne damals überhaupt nicht gemocht hatte, hatte diese Frau ihr punktgenau aus der Seele gesprochen. Entscheidungen im Privatleben seien oft von viel größerer Bedeutung, hatte sie gemeint, als solche im Beruf. Das sei ein Bereich, in dem jeder Mensch mal ein Coaching brauche. Franziska war nach Rügen gekommen, weil sie die Luxusprobleme ihrer Klienten nicht mehr befriedigten, weil sie ihrem Leben Sinn geben wollte. Da war genau der Ansatz gewesen, nach dem sie gesucht hatte. Als dann noch die Sache mit Heinrich III. passiert war, der von heute auf morgen in ein Pflegeheim hatte gesteckt werden müssen, war ihre Sprechstunde Älterwerden geboren. Und die Nachfrage war enorm. Frauen und Männer zwischen Mitte vierzig und Mitte fünfzig mussten Lösungen für ihre Eltern finden, die im Grunde nicht mehr alleine leben konnten, sich jedoch standhaft weigerten, in ein Heim zu gehen. Teilnehmer in deutlich höherem Alter wollten Alternativen kennenlernen, erkundigten sich nach Mehrgenerationenprojekten oder hofften, in der Sprechstunde geeignete Kandidaten für eine Wohngemeinschaft zu finden. Wieder andere waren damit konfrontiert, dass ihr Ehepartner in eine Pflegeeinrichtung gebracht werden musste, dort aber unter keinen Umständen allein leben wollte. Musste man einen Teil seiner Eigenständigkeit aufgeben und mit in ein solches Seniorenheim ziehen, obwohl man in der eigenen Wohnung noch bestens zurechtkam? Hatte man das mit dem Ehegelübde im Grunde schon versprochen? In guten wie in schlechten Zeiten. Oder durfte man doch an sich denken und einen Kompromiss finden? Nur wie könnte der aussehen, gab es überhaupt einen? Dabei zu helfen, auf derartige Fragen Antworten zu finden, kostete eine Menge Kraft, erfüllte Franziska aber auch mit großer Befriedigung. Obendrein fühlte es sich gut an, diese Arbeit ehrenamtlich zu leisten. Sie hatte jahrelang extrem gut verdient und konnte es sich erlauben.
»Ik heff mol över dat sinnert, wat se seggt heff.« Klaas Christensen, ein ehemaliger Kapitän zur See, sah Franziska mit seinen hellblauen wachen Augen an. »Dat is’ allens nix für mi. Betreutes Wohnen un so.« Er betonte die beiden hochdeutschen Wörter mit einer gewissen Abscheu.
Klaas war vor zwei Monaten das erste Mal bei Franziskas Sprechstunde aufgetaucht. Er hatte sich kurz und zackig vorgestellt. Als er den Tod seiner Frau vor anderthalb Jahren erwähnte, räusperte er sich einmal, um den Belag von der Stimme zu entfernen. Das war alles, weitere emotionale Bekundungen erlaubte er sich nicht. Dennoch war jedem in dem knallgelb gestrichenen Raum, den Franziska für ihre Gruppe nutzen durfte, klar gewesen, dass sein Leben durch den Verlust aus den Fugen geraten wäre, wenn er nicht über eine eiserne Disziplin verfügen würde, die ihn jeden Tag weitermachen ließ, ohne auch nur ein einziges Mal zu jammern. Klaas war der Einzige, der Franziska hartnäckig siezte, obwohl sie zu Beginn jeder Sprechstunde erklärte, dass gerade heikle Themen leichter über die Lippen kamen, wenn man einander duzte. »Ik kenn Se nich’, ik segg Se to Se«, hatte er mit seiner tiefen Stimme verkündet.
Daran hatte sich auch heute, bei seinem dritten Besuch, nichts geändert. »Ik heff överleggt, dat ik so ’ne WG will. ’n poor Minschen, Männlein un Weiblein, ’n groot Huus, twee oder dree Plegers. Fardig.«
Die anderen starrten ihn an. Thekla zog kurz die Augenbrauen hoch, dann lächelte sie breit. Franziska freute sich immer, wenn Thekla mit von der Partie war. Sie war ein Prachtweib von achtzig Jahren und stand gut im Futter, wie sie selbst gern sagte. Mit ihrer weiten Hose in leuchtendem Orange, die selbst dem Sanddorn lässig Konkurrenz hätte machen können, ihren riesigen Ohrringen in Form einer strahlenden Sonne, die jeweils ein Ohrläppchen komplett bedeckte, und dem weißen Leinenhemd, das sie über einem weißen Shirt trug, war sie eine unübersehbare Erscheinung. Franziska hatte die alte Dame bei ihrem ersten Aufenthalt auf Rügen kennengelernt. Thekla hatte damals Urlaub gemacht und von ihrer Tochter Rosa erzählt, die eine Schauspielkarriere abgebrochen hatte, ehe diese überhaupt hatte beginnen können, und die sich ein Kind angeschafft hatte, um dann festzustellen, dass sie damit zum einen überfordert war und zum anderen kaum mehr eine Arbeitsstelle finden konnte, mit der sie sich und ihr Kind hätte ernähren können. Franziska hatte aufgehorcht, als Thekla ihr Rosas neues Betätigungsfeld genannt hatte – die Altenpflege. Na, die kam wie gerufen. Fischer Heinrich, der einen kleinen Kiosk mit Räucherei am Strand von Vitt betrieb, konnte sich nämlich nicht ausreichend um seinen Vater, Heinrich III., kümmern. Ins Heim geben aber wollte er ihn nicht.
»Dann is’ Vadder in ’n paar Tagen doot«, hatte er traurig gesagt und vermutlich recht damit gehabt. Heinrich hatte noch mehr interessante Dinge gesagt, zum Beispiel, dass ein Teil seines wunderschönen Elternhauses mehr oder weniger nur noch Abstellraum war. So kam es, dass Rosa mit ihrer Tochter Ronja bei den beiden Heinrichs eingezogen war. Und deshalb war Thekla nun regelmäßiger Gast auf der Insel, um ihre Tochter und Enkelin zu besuchen. Und nicht nur die. Franziska wäre jede Wette eingegangen, dass es da irgendetwas zwischen Thekla und Heinrich gab. Nicht gerade eine heiße Affäre, das wäre irgendwie unpassend. Obwohl … Hörte Sex auf, nur weil man ein bestimmtes Alter überschritten hatte? Franziska konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Lust auf Niklas jemals verschwinden würde. Aber vermutlich würden sie sich mit achtzig nicht mehr so sportlich lieben wie jetzt. In ihrer Vorstellung ging es zwischen einem betagten Paar doch deutlich verhaltener zu. Zärtlichkeit spielte bestimmt eine größere Rolle als rasende Leidenschaft. Doch das war nur ihre Fantasie. Was wusste sie schon von der Liebe im Alter? Das Thema gehörte nicht gerade zu den Favoriten, die in der Öffentlichkeit am liebsten diskutiert wurden. Sie schmunzelte. Heinrich war mehr als fünfundzwanzig Jahre jünger als Thekla. Und Thekla hatte durchaus Feuer, das erkannte man schnell, wenn man mit ihr zu tun hatte. Warum sollten die beiden also nicht leidenschaftlich …?
»Na, so einfach ist das aber nicht«, wandte Andrea Schuster ein und riss Franziska damit aus ihren Gedanken. Frau Schuster arbeitete in der Senioreneinrichtung, in die Heinrich III. vorübergehend gesteckt worden war, als sein Sohn, der Fischer Heinrich, einen leichten Herzinfarkt erlitten hatte. Franziska hatte sie als Fachfrau mit ins Boot geholt, als sie ihre Sprechstunde Älterwerden gegründet hatte.
»Un worüm woll nich’?« Klaas sah die Schuster aufmerksam an. Er wollte nicht provozieren, war weder aggressiv noch eingeschnappt oder ungeduldig. Klaas war sachlich, analytisch. Er hatte einen Plan, einen guten Plan, wie er meinte. Für ihn war es so einfach, und er wollte wissen, ob er tatsächlich etwas übersehen oder falsch eingeschätzt hatte.
»Haben Sie je in einer Wohngemeinschaft gelebt?«, fragte Frau Schuster zurück.
»Ik heff op’m Schipp levt. Dat is’ ok nich’ veel anners.«
Sie ging nicht darauf ein. »Schon junge Leute, Studenten zum Beispiel, kriegen sich in die Haare, wenn sie sich Küche und Bad teilen. Mit zunehmendem Alter wird das nicht einfacher. Im Gegenteil.«
»Hm«, machte Klaas nur und ließ sie nicht aus den Augen.
»Weil man sich im Lauf der Jahre Dinge angewöhnt hat, weil man Marotten angeschafft und kultiviert hat, weil man weiß, was man will und was nicht. Mit anderen Worten, die Kompromissbereitschaft sinkt im gleichen Maß, wie die Forderung steigt, sich anderen zuzumuten, so wie man ist.«
»Is’ doch ’n gode Begünn, wenn een weet, wat he will un wat nich’«, meinte er.
Außer Thekla, Klaas und Frau Schuster war nur noch eine Dame mittleren Alters gekommen, die noch nie zuvor da gewesen war. Franziska nahm an, dass die Sprechstunde zur Hochsaison hin immer schlechter besucht werden würde, da fast jeder auf Rügen irgendwie mit den Touristen beschäftigt war. Wer sich trotzdem die Zeit hätte nehmen können, mied unter Umständen Autofahrten, weil die Straßen mit Urlaubern verstopft waren. Vielleicht wäre es klug, einen oder zwei Monate auszusetzen, überlegte sie.
Da sprach Klaas sie an. »Ik dach’, Fru Ziska, dat Se mi hölpen köönt, de richtige Lüüd to finnen. Wi klamüüstert tosamen Regels ut. Un denn funkschonert dat. Op’m Schipp harr dat ok funkschonert. Wi weern männichmal Weken op See, in lütt Kajüüt. Toeerst harr ik nich’ mol een egen för mi, dat is’ laater kamen, as ik Offzeer weer un denn as Kaptein.« Er meinte, dass Franziska als Profi in der Lage sein müsste, eine Gruppe so vorzubereiten, dass diese gemeinsam ein Haus beziehen und sich vertragen könnte. Ihren Einwand, dass diese Vorbereitung unmöglich in der Sprechstunde stattfinden dürfe, weil die anderen Besucher dann nicht zu ihrem Recht kämen, wischte er beiseite. Das sei ihm schon klar, meinte er, er würde sie als Coach buchen und erst allein mit ihr herausfinden, was für ihn bei dieser Sache wichtig sei, welche Regeln er unbedingt brauche. Dann würden sie geeignete Kandidaten zu den Sitzungen einladen.
»Das können wir sehr gern so machen«, stimmte sie zu. »Und wenn es dann so weit ist, wüsste ich auch schon jemanden, der sich nach einer geeigneten Immobilie umsehen könnte.«
Als Franziska das erste Mal nach Rügen gefahren war, hatte sie im Zug Holger kennengelernt. Holger war Makler und hatte ihr um ein Haar die Wohnung in Putgarten verkauft, in der sie während ihrer beruflichen Auszeit gewohnt hatte. Sie musste schon wieder schmunzeln. Was war in letzter Zeit nur los mit ihr? Ständig dachte sie an die ersten Tage und Wochen auf der Insel und daran, was alles geschehen war. Irgendwie war sie gefühlsduseliger als üblich. Die Wohnung in Putgarten war ein Traum gewesen. Holger hatte schon die Papiere für sie vorbereitet gehabt, doch in letzter Sekunde hatte Niklas ihr die alte Villa am Rande seiner Sanddornplantage gezeigt. Sie war ihr nie aufgefallen, obwohl sie so viel Zeit auf den Feldern verbracht hatte. Aber diese Zeit war nun einmal damit ausgefüllt gewesen, störrische Äste zu schneiden und in Kisten zu verfrachten. Sie hatte keinen Blick für das verlassene Gemäuer gehabt, das ohnehin kaum zu sehen gewesen war, so dicht war es von Grünzeug umrankt und verdeckt gewesen. Franziska hatte sich auf den ersten Blick in die Villa verliebt. Zwei Stufen führten zur Haustür hinauf. Auf dem Trakt links und rechts hockte jeweils ein achteckiges Türmchen. Den Mitteltrakt zierte ein Balkon, zwischen dessen weiße Säulen Glas gesetzt worden war, das bis auf eine geborstene Scheibe sogar noch intakt war. So entstand eine Art Wintergarten, ein luftig heller Raum mit Blick auf die weiten Reihen der Sträucher. Es konnte keinen besseren Raum für Franziskas Sitzungen geben. Sie war von Anfang an Feuer und Flamme für Niklas’ Vorschlag, zunächst zu ihm zu ziehen und ihr Geld lieber in das Haus zu stecken, als sich eine Wohnung in einem Ferienhaus mit mehreren Einheiten zu kaufen, in dem es während der Hochsaison sicher oft laut zuging. Außerdem hätte sie sich einen zusätzlichen Praxisraum mieten müssen. Nein, die Villa Sanddorn war perfekt!
Ein resolutes Klopfen beendete die Sprechstunde, die die Gruppe gnadenlos überzogen hatte. Die Damen einer Fraueninitiative hatten nun Anspruch auf den Mehrzweckraum. Nicht zum ersten Mal musste Franziska sich entschuldigen und ihre Leutchen eilig ins Freie jagen.
»Wäre das nicht etwas für dich?«, wollte sie von Thekla wissen, als die beiden Frauen gemeinsam zum Parkplatz gingen. »Klaas’ Wohngemeinschaft, meine ich. Du wärst dauerhaft auf der Insel in der Nähe von Rosa und Ronja und hättest dabei dein eigenes Reich.«
»Eigenes Reich!« Thekla verdrehte die Augen. »Nee, aus dem WG-Alter bin ich definitiv raus. Wenn ich noch mal umziehe und nicht alleine wohnen will, dann ziehe ich zu Heinrich«, erklärte sie mit vielsagendem Lächeln. »Wobei ich dann vermutlich ständig als Animateurin für Ronja herhalten müsste. Das Mädchen findet einfach keinen Anschluss und kann sich nicht selbst beschäftigen.« Sie seufzte. »Hockt immer nur mit diesem Smart-Dings rum oder Ei-irgendwas. Sie hat schon einen ganz krummen Rücken.«
»Von dir hat sie das nicht. Dass sie nichts mit sich anfangen kann, meine ich. Rosa erzählte mir, du hast dich für einen Yoga-Kurs angemeldet?«
Thekla nickte eifrig, und ihre Ohrringe funkelten. »Ich konnte nicht widerstehen. Hier in Bergen bietet ein flotter junger Mann No-holy-shit-Yoga an.«
Franziska blieb abrupt stehen. »Was bietet der an?«
»Du hast schon richtig gehört.« Thekla lachte. »Weißt du, ich bin es echt leid. Ich habe schon so viele Kurse angefangen, und immer erzählen sie dir was von Karma, innerem Ich und Erleuchtung. Herrje, mein inneres und mein äußeres Ich sind zusammen achtzig Jahre alt geworden und haben das auch ohne irgendwelche Mantras ganz gut hingekriegt. Und ich glaube kaum, dass ich der Erleuchtung auch nur einen Schritt näher komme, wenn ich meinen Arm hinter meinem Oberschenkel verknote und dabei versuche, zum Universum aufzublicken«, erklärte sie und schüttelte den Kopf. »Ich will mich dehnen, beweglich bleiben, einfach Yoga ohne eben diesen ganzen holy shit.« Sie zuckte mit den Schultern. »Nimmst du mich ein Stück mit?«
»Ach! Vielleicht indem wir hoffen,
hat uns das Unheil schon getroffen.«
Friedrich Schiller
Wie war das Vorstellungsgespräch?« Franziska hatte nicht viel Hoffnung, dieses Mal eine andere Antwort zu bekommen als sonst. Niklas’ rechte Hand Mandy hatte gekündigt, und es schien unmöglich, einen Ersatz für sie zu finden. Eine wollte höchstens drei Tage pro Woche arbeiten, die Nächste schloss es kategorisch aus, am Wochenende zum Dienst zu erscheinen, was in der Erntezeit aber nun einmal vorkommen konnte. Einige hatten die Vorstellung, nur im Sommer auf Rügen zu sein. Sie sagten, ihnen sei klar, dass es sich um einen Saisonjob handle, bei dem man ordentlich ranklotzen müsse. Was sie meinten, war: Es wäre toll, den Sommer auf einer Insel zu verbringen, am Strand zu liegen, Eis zu essen und sich das Ganze mit ein bisschen Büroarbeit auf einer hübschen kleinen Plantage zu finanzieren.
»Volltreffer!« Niklas strahlte.
»Im Ernst?« Sie sah ihn fragend an. Er hatte nicht ironisch geklungen, seine Miene wirkte uneingeschränkt zufrieden.
»Absolut. Sie heißt Kimberly und kommt aus Kalifornien. Sie hat da auf einer riesigen Mandelfarm gearbeitet. Ihre Mutter ist Deutsche, die als Au-pair-Mädchen in die Staaten gegangen und dort hängen geblieben ist. Die Liebe.« Er sah ihr in die Augen.
»Soll es geben«, erwiderte sie lächelnd und legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Sie ist perfekt«, schwärmte er weiter.
»Die Liebe?« Franziska legte den Kopf schief und sah ihn an. »Hm, ja, da hast du recht.«
»Quatsch, Kimberly. Sie ist zweisprachig aufgewachsen, fachlich fit und irrsinnig sympathisch.«
Franziska zog die Hand zurück. »Allmählich werde ich nervös. Die Dame klingt zu gut.«
Er ging nicht darauf ein. »Du wirst sie ja bald kennenlernen«, sagte er nur. »Sie fängt am 15. an.«
Der Juni war eine Mischung aus Sonne und Regen – bestes Wachstumswetter. Nicht nur für den Sanddorn, sondern auch für Gräser und Wildkräuter, die sich zwischen den Sträuchern in einer Geschwindigkeit ausbreiteten und größer wurden, dass man meinte, dabei mit bloßem Auge zusehen zu können. Da Niklas’ Früchte Bioqualität hatten, durfte er keine Gifte einsetzen, was für ihn auch niemals infrage gekommen wäre. Es hieß also für die kleine Mannschaft, in mühsamer Handarbeit zu entfernen, was unerwünscht war und zu arg wucherte. Zudem hatte Gesa, die gute Seele und äußerst engagierte Mitarbeiterin von Rügorange, Niklas überzeugt, ein Buch mit Sanddornrezepten und Geschichten rund um die kleine Vitaminbombe herauszubringen.
»Du brauchst ein Alleinstellungsmerkmal«, hatte sie ihm resolut erklärt. »Sanddorn kultivieren und Produkte daraus herstellen machen viele.«
»Na ja, so viele nun auch nicht.« Weiter kam er nicht.
»Es werden immer mehr, und die mischen den Markt ganz schön auf. Du musst dich abheben, Chef. Nicht nur mit unseren Rezepturen. Du brauchst ein Kochbuch.« Sie hatte diese Information zwei Sekunden wirken lassen und dann erläutert: »Rezepte mit unseren Marmeladen, Gelees, Säften.« Er kapierte nicht. »Zum Beispiel eine Torte, deren Boden mit unserem Gelee bestrichen wird. Oder ein Punschrezept mit unserem Nektar. Hast du’s jetzt geschnallt?«
Selbst wenn Niklas nicht besonders viel davon gehalten hätte, wäre Gesa nicht zu stoppen gewesen. Sie übernahm die Federführung für das Projekt, aber dennoch hatte er damit den Jackpot geknackt und einen Haufen Extraaufgaben gewonnen.
Neben der Arbeit auf der Plantage nahm auch die Zahl von Franziskas Klienten zu. Es war noch längst nicht so wie in Hamburg, wo sie sich sprichwörtlich die Klinke in die Hand gegeben hatten, aber es wurden mehr. Dabei musste sie doch dringend Werbeunterlagen für ihr neues Konzept Auszeit mit Einsicht – Coaching im Urlaub gestalten und eine Tourismusmesse vorbereiten, bei der sie dieses Konzept endlich in der Branche bekannt machen und möglicherweise sogar Veranstaltern anbieten wollte, die es für sie vermarkten könnten. Nicht zuletzt ihre ehrenamtliche Aktivität kostete immer mehr Zeit. Es kam immer öfter vor, dass jemand sie um einen Termin bat, nur ein Stündchen. Da war zum Beispiel diese Frau, die wegen ihres verwitweten Vaters in die Sprechstunde Älterwerden gekommen war. Sie wusste nicht mehr weiter. Zehn bis zwölf Stunden war sie täglich für den mittelständischen Handwerksbetrieb ihres Mannes im Einsatz. Und nebenbei schmiss sie den Haushalt und beackerte einen stattlichen Garten. Da sich ihr Vater, der allmählich tüdelig wurde, standhaft weigerte, aus dem Haus zu ziehen, in dem er alleine wohnte, kurvte sie jeden Tag einmal von Garz nach Baabe und zurück. Das waren gut dreißig Kilometer. Pro Strecke! Dass ihr Ehemann nicht einen Finger im Haushalt rührte, da er schließlich einen Betrieb zu leiten hatte, dass ihm jegliches Verständnis dafür fehlte, wenn sie manches Mal vor lauter Erschöpfung nicht so geduldig war, wie er es von ihr kannte, sondern einen gereizten Ton am Leib hatte, machte sie schlicht fertig. Hätte Franziska dieser verzweifelten Person vielleicht die Hilfe verwehren sollen, obwohl sie wusste, dass mit ihrer Methode manchmal nur zwei oder drei Sitzungen nötig waren, um ihr die Augen zu öffnen und sie Lösungen erkennen zu lassen? Kam ja nicht infrage. Und die Frau bezahlte immerhin einen Obolus, den sie sich gerade eben so leisten konnte.
Nicht selten wusste Franziska nicht, wo ihr der Kopf stand. Unglücklicherweise waren die meisten ihrer derzeitigen Klienten Fälle wie diese Frau, also Menschen, die dringend Hilfe brauchten, aber nicht ansatzweise ein übliches Honorar zahlen konnten. Genau darum musste Franziska einfach für nach Tarif zahlende Kunden Platz in ihrem Terminkalender schaffen. Die Sanierung der Villa inklusive der Einrichtung von diversen Gästezimmern hatte einiges verschlungen. Und ein Ende war nicht abzusehen. Zwar hatte sie einige Jahre richtig gut verdient, doch langsam musste sie für Nachschub sorgen. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie könnte schon wieder eine Auszeit gebrauchen. Doch diese Momente verflogen schnell wieder. Sie war glücklich. Es gab nichts, was sie ändern wollte, außer vielleicht den Umstand, dass sie und Niklas immer weniger Zeit füreinander hatten. Es kam nicht selten vor, dass jeder seine Pflichten erfüllte, ohne den anderen mehr als eine Minute zu Gesicht zu bekommen. Abends wurde es oft spät. Mal wurde Franziska auf dem Sofa vom Geräusch der laufenden Dusche wach, wenn Niklas endlich vom Feld nach Hause kam, dann wieder hatte sie Termine, die so lange dauerten, dass Niklas bereits im Bett lag, wenn sie endlich Feierabend machte. Falls es doch mal vorkam, dass ihnen ein Stündchen blieb, besprachen sie meist berufliche Dinge und noch häufiger Handwerkergeschichten. Wann kommt der Sanitärfachmann und tauscht das Waschbecken im Gäste-WC aus? Das installierte war zu groß, und zwar so deutlich zu groß, dass sich die Tür nicht mehr schließen ließ. Die Veranda brauchte endlich ein Geländer. Holz oder doch lieber Stein, um sich den Säulen des Balkons anzupassen? Es war lange her, dass sie beide mit einem Glas Wein den Sonnenuntergang zwischen den Sanddornbüschen beobachtet hatten. Einfach nur die salzige Luft, den herrlich frischen Wind genießen, den Möwen zuhören, die sich allmählich in ihre Nachtruhe verabschiedeten, einander an den Händen halten, einvernehmlich schweigen und vielleicht ganz langsam einen hübschen kleinen Schwips bekommen. Nicht einmal zu einem ganz banalen Fernsehabend hatte es mehr gereicht. Seit Wochen nicht. Die fehlende Zweisamkeit war ein Punkt, der sich dann doch ändern musste.
Franziska hatte vom Italiener, der erst kürzlich in Putgarten sein kleines feines Restaurant eröffnet hatte, gemischte Antipasti geholt. Im Kühlschrank stand Sanddornnektar, der mit Wasser verdünnt ein wunderbar erfrischendes Getränk ergab, Weißwein und Bier. Sie schnitt Kräuterbrot auf, das sofort seinen würzigen Duft verströmte, und füllte die Vorspeisen in Schälchen. Die verschiedenen Aromen, die in ihre Nase stiegen, ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Der Anblick des Öls, das in den Töpfchen schillerte und hier und da an einem Löffel hinablief, verursachte ihr dagegen Übelkeit.
Franziska sah weg und atmete tief durch. Sie würde einen Moment an die frische Luft gehen. Von der Veranda blickte sie über das Land. Der Himmel färbte sich bereits hellrosa, und es war ungewöhnlich windstill. Genau richtig, um draußen zu sitzen. Sie ging wieder hinein und holte eine Tischdecke und eine dicke Kerze. Als die Flamme fröhlich flackerte, holte sie auch den Rest und legte zum Schluss Servietten auf die Teller. Sie betrachtete ihr Werk zufrieden und warf einen Blick auf die Uhr. Niklas wollte um acht Uhr da sein, hatte er gesagt. Jetzt war es fast halb neun. Auch um neun war noch nichts von ihm zu sehen. Sie überlegte, ob sie rüber in die Produktionshalle gehen oder auf den Feldern nach ihm suchen sollte. Sein Handy hatte er meistens nicht bei sich, das brauchte sie erst gar nicht zu probieren. Sie seufzte, setzte sich auf einen der Korbstühle und betrachtete allein den geradezu perfekten Sonnenuntergang. Orange- und rosafarbene Streifen glühten eindrucksvoll am bläulich schwarzen Himmel. Die Sanddornsträucher hoben sich fast unnatürlich davor ab, als würden sie von unten beleuchtet.
Franziska sah erneut auf die Uhr. Niklas war fast anderthalb Stunden über der Zeit. Es hatte keinen Sinn, ihn suchen zu gehen. Was immer er gerade tat, er würde ihr erklären, dass er das noch schnell fertig machen wolle. Wahrscheinlich hatte er vergessen, dass am nächsten Morgen um sieben ein Tischler kommen und ein Aufmaß für das Verandageländer machen würde. Um zehn versuchte sie es doch auf dem Handy. »Hallo, hier ist Niklas. Leider kann ich gerade nicht an mein Telefon gehen, aber …« Sie drückte den kleinen roten Knopf. Na schön, dann musste er eben alleine essen, wenn er je nach Hause kommen sollte. Wenigstens einer von ihnen beiden musste morgen früh fit sein, um den Tischler zu empfangen. Sie füllte sich ein paar Antipasti auf den Teller. Das Kräuterbrot hatte sich in Zwieback verwandelt, die Frischkäsecremes hatten eine Haut bekommen. Nach drei Bissen wurde ihr übel. Schon wieder. Dieses Gefühl in ihren Eingeweiden kam immer häufiger. Sie war nicht blöd, sie wusste, was das bedeuten konnte, und musste sich Klarheit verschaffen. Sie würde sich demnächst darum kümmern, beschloss sie, trug Schalen, Gläser und Brotkorb ins Haus, legte Niklas einen Zettel in die Küche und ging schlecht gelaunt ins Bett.
»Hi, ich bin Kimberly. Ich freue mich so, dass wir uns endlich kennenlernen. Niklas, Verzeihung, Herr Ritter, hat viel von Ihnen erzählt.«
»Niklas ist schon in Ordnung.« Franziska reichte ihr die Hand. »Ich freue mich auch, das können Sie mir glauben. Und wenn es Ihnen recht ist, können wir uns gerne duzen. Das machen alle bei Rügorange. Ich nehme an, Niklas hat Ihnen das schon vorgeschlagen, oder?«
»Ja, hat er. Also dann, Franziska, schön, dass wir uns kennenlernen.«
Niklas hatte an Kimberlys drittem Tag endlich Zeit gefunden, sie Franziska vorzustellen. Nur kurz, dann musste er mit Gesa zu einem Termin. Sein Lieferant für Weingeist in Bioqualität hatte seine Preise drastisch angehoben. Der Tarif je Liter war für Niklas eindeutig zu hoch. Sie mussten reden, sehen, ob noch etwas zu retten war. Nachdem er und Gesa, die an diesem sonnigen Tag ein weißes Tuch mit schwarzen Totenköpfen ins Haar gebunden hatte, gefahren waren, ließen sich Franziska und Kimberly im Schatten eines Marktschirms auf der rustikalen Sitzgruppe vor der Produktionshalle nieder. Es war wirklich allerhöchste Zeit, dass sie sich ein wenig beschnupperten, immerhin sollten sie schon in der nächsten Woche gemeinsam nach Berlin zur Tourismusmesse fahren.
»Dich hat es also aus dem wundervoll warmen Kalifornien ins raue Norddeutschland verschlagen?«, begann Franziska das Gespräch.
»Meine Mutter ist Deutsche. Seit ich ein kleines Mädchen war, wollte ich immer wenigstens für ein paar Jahre in dem Land leben, in dem sie aufgewachsen ist.« Als sie lächelte, leuchteten ihre ebenmäßigen Zähne geradezu in der Sonne. »Außerdem möchte ich mein Deutsch verbessern.«
»Du sprichst perfekt. Man hört höchstens ein ganz kleines bisschen deinen Akzent.« Franziska schüttelte den Kopf. »Aber dein Satzbau und dein Ausdruck sind besser als bei so manchem meiner Landsleute.«
»Oh, danke.« Sie schien sich wirklich zu freuen. Drollig, denn dieses Kompliment konnte sie unmöglich zum ersten Mal gehört haben. Nach einem Augenblick wurde Kimberly ernst. Mit ihren langen hellblonden Haaren, den blauen strahlenden Augen und der hellen sommersprossigen Haut sah sie wie eine Schwedin aus, schoss es Franziska durch den Kopf. »Warst du schon in California?«
»Ertappt.« Franziska verzog das Gesicht. »Nein, ich war noch nicht dort, aber ich habe schon viel gelesen und Reportagen gesehen. Na ja, ich habe so ein Bild im Kopf und stelle es mir einfach schön vor.«
Kimberly nickte. »Und das passt wahrscheinlich auch zum größten Teil. Es ist nur schade, wie sich das Land in den vergangenen Jahren verändert hat, weißt du. Es wird immer trockener und heißer. Ich meine, riesige Gebiete Californias waren schon immer trocken. Da war Wüste, bevor man gigantische Flächen bewässert und Mandeln und viele Gemüsesorten angebaut hat.«
»Tja, das ist nicht unproblematisch, was?«
»Absolut nicht. Solange es im Winter immer genug Schnee auf den Bergen der Sierra Nevada gab, ging es noch. Das war eigentlich einmal eine der schneereichsten Regionen der United States. Das Schmelzwasser hat die Depots wieder aufgefüllt. Aber das wird von Season zu Season weniger. Hast du gewusst, dass nur für die Mandeln mehr Trinkwasser benötigt wird, als die gesamte Stadt Los Angeles in einem Jahr verbraucht?« Sie lachte trocken. »Und das ist eine Menge, das kann ich dir sagen.«
»Meine Güte, hätte ich nicht gedacht. Rechnet sich der Anbau dann überhaupt noch?«
»Logisch. Mandeln aus California sind die besten, die es gibt. Die sind spitze. Die Leute zahlen jeden Preis dafür.«
Franziska dachte nach. »Aber du hattest trotzdem Angst, dass du früher oder später arbeitslos wirst, und hast dir rechtzeitig etwas anderes gesucht?«
Kimberly schüttelte den Kopf. Ein Hauch von Apfelduft schwebte durch die Luft. »Nein. Ich hatte einfach genug von Mandeln.« Sie lachte ihr lautes, fröhliches Lachen. »Wie ich schon sagte, ich wollte immer mal längere Zeit in Deutschland leben. Deshalb habe ich deutsche Landwirtschaftszeitungen gelesen. Als ich die Job-Anzeige von Niklas gesehen habe, war ich sofort total happy. Ich habe schon so viel über Sanddorn gehört.« Ihre Begeisterung konnte vermutlich selbst den Unbeteiligtsten anstecken. »Und dann auch noch eine Insel im Norden. Das ist einfach wundervoll.«
Die beiden plauderten noch eine ganze Weile. Ein sanfter Wind strich über das Gras und ließ den dunkelgrünen Stoff des großen Marktschirms leise flattern. Franziska musste Kimberly haarklein erzählen, wie es dazu gekommen war, dass sie auf Rügen gelandet war. Selbst die ganze Geschichte mit Niklas, dass sie ihn schon für ihren lange aus ihrem Leben verschwundenen Bruder gehalten hatte, erzählte sie bereitwillig.
»Unglaublich!«, sagte Kimberly wieder und wieder und riss die Augen auf. »Das ist eine verrückte Story. So ein Zufall!« Nachdem Franziska ihren Bericht beendet hatte, meinte Kimberly: »Great! Was für ein Glück, dass ihr nicht Geschwister seid. Er ist wirklich nett. Du bist auch nett. Ihr seid bestimmt ein super Paar.«
Franziska wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie lächelte kurz, dann kam sie auf Dienstliches zu sprechen. »Niklas hat dir sicher schon gesagt, dass ich bei Rügorange nur ein wenig mithelfe, eigentlich aber Coach bin. Ich berate Leute …«
»Ich weiß, was ein Coach ist«, unterbrach Kimberly sie.
»Ja, klar, entschuldige. Jedenfalls habe ich ein neues Konzept entwickelt und will in Berlin Kontakt zu potenziellen Vermarktern aufnehmen«, erklärte sie sachlich. »Natürlich werde ich dich auch unterstützen. Es wäre toll, wenn wir Gastronomiebetriebe, Hotels oder auch Bioläden für Niklas’ Produkte begeistern könnten.«
»Seine Waren sind super. So eine hohe Qualität«, schwärmte Kimberly auf der Stelle. »Ich glaube, das wird eine leichte Sache.«
Franziska hatte noch einiges zu tun, und auch Kimberly wollte unbedingt noch Aufgaben erledigen, die Niklas ihr übertragen hatte, wie sie sagte. So gingen sie beide also wieder ihren Pflichten nach. Franziska konnte sich nicht erklären, warum sie nicht rundweg zufrieden war. Diese Kimberly machte den Eindruck, als könnte sie Mandy bestens ersetzen. Mehr als das. Fachlich schien sie die bessere Wahl zu sein. Sie wirkte engagiert und so, als müsste man ihr die Arbeit nicht vor die Füße legen, damit sie sie erkannte. Und trotzdem … Franziska ärgerte sich, dass sie so viel über ihr Privatleben preisgegeben hatte. Immerhin war das auch Niklas’ Privatleben, und der war Kimberlys Chef. Sie nahm sich vor, in Zukunft ein wenig zurückhaltender zu sein.
Sie waren mit dem Zug von Binz nach Berlin gefahren und hatten am Abend in einem hübschen spanischen Lokal am Savignyplatz gegessen. Kimberly war außer sich, dass sie, kaum dass sie ihre Stelle in Deutschland angetreten hatte, schon die Hauptstadt kennenlernen durfte. Berlin sei immer ein Traum von ihr gewesen, erzählte sie und bedankte sich schon wieder, obwohl Franziska ihr bereits mehrfach versichert hatte, dass sie dafür die falsche Adresse sei.
»Du kannst dich mit guten Kontakten oder gar Aufträgen bei Niklas bedanken«, sagte sie fröhlich und hob ihr Glas, in dem ein Rioja dunkel schimmerte.
Am nächsten Morgen waren sie früh auf den Beinen. Im Frühstücksraum des Hotels, in dem Nachrichten über große Bildschirme flimmerten, beobachtete Franziska, wie Kimberly sich ein Glas frisch gepressten Orangensaft nahm, das eine Dame kurz abgestellt hatte, um sich Kaffee aus einem Automaten zu ziehen. Die Karaffe war leer, und an der Station war gerade kein Mitarbeiter zu sehen, der die Orangenpresse hätte bedienen können. Kimberly hätte verzichten oder zumindest warten müssen, doch sie nahm stattdessen einfach jemandem das Glas Saft weg, der es aus den Augen gelassen hatte. Ganz schön dreist.
Auf ihr Verhalten angesprochen, meinte Kimberly schulterzuckend: »Jeder muss sehen, wo er bleibt. Wenn man nicht kämpft und verteidigt, was einem gehört, hat man es nicht verdient.« Damit war für sie die Sache erledigt.
Eine Stunde später war Kimberly auf der Messe in ihr erstes Gespräch vertieft. Franziska beobachtete sie eine Weile unbemerkt. Kimberly lachte viel, war charmant und legte ausgesprochen gute Umgangsformen an den Tag. Ihr Gegenüber, ein Managertyp mit grau meliertem Haar, Jackett zur Jeans und einem lässigen Leinenhemd, sah aus, als würde er ihr aus der Hand fressen. Falls er der Einkäufer einer nur mittelgroßen Hotelkette wäre, brauchte Niklas vermutlich keinen weiteren Abnehmer zu suchen. Leider war er kein Einkäufer, er war überhaupt kein potenzieller Kunde, sondern ein Konkurrent, wie Franziska am Abend im Hotel erfuhr.
»Stell dir vor, er war aus demselben Grund wie ich auf der Messe. Er wollte auch Kunden gewinnen und seine Sanddornprodukte an den Mann bringen. Funny!« Kimberly griff nach ihrem Glas mit dunklem Bier, das sie einfach liebte, wie sie bei der Bestellung erklärt hatte. Franziska hielt sich an diesem Abend lieber an Wasser. Sie hatte absolut keinen Appetit auf Alkohol.
»Ihr habt geplaudert, als würdet ihr gleich einen dicken fetten Auftrag unterschreiben«, wandte Franziska ein.
»Du musst deinen Gegner kennen, und er muss dich mögen, dann hast du ihn in der Tasche.« Kimberlys Augen blitzten, und sie strahlte. Anscheinend war sie in ihrem Element.
Franziska wollte wissen, wer der Mann war, woher er kam. Schrecklich viele Produzenten von Sanddorn gab es nicht. Sie vermutete, er würde Früchte aufkaufen und nur weiterverarbeiten. Das verneinte Kimberly, während sie seine Visitenkarte hervorholte, um Franziska sagen zu können, wo der Firmensitz war.
»Das liegt irgendwo in Sachsen-Anhalt«, murmelte sie und wühlte in ihrer Tasche.
Sie hatte seine Visitenkarte? Es war sicher nicht dumm, gut über die Konkurrenz Bescheid zu wissen, darin stimmte Franziska ihr zu, aber warum wollte sie gleich in Kontakt mit dem Mann bleiben? Franziska mochte nicht länger darüber nachdenken. Wahrscheinlich hatte es sowieso nichts zu bedeuten. Zum einen war sie vollkommen erledigt von den vielen Stunden, die sie auf den Beinen gewesen waren, von der verbrauchten Luft, die die Messehallen erfüllt hatte, und von den zahlreichen Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen. Zum anderen wurde ihr, nachdem sie nur wenige Bissen Geflügel und Gemüse zu sich genommen hatte, schon wieder flau im Magen.
»Ich hoffe, du bist nicht böse«, sagte sie matt, »aber ich will nur noch in mein Bett.«
Kimberly sah sie erschrocken an. »Du bist auch ganz, wie sagt man, weiß.«
»Blass.«
»Genau, blass. Kann ich etwas für dich tun?«
»Nein, lieb von dir, aber ich glaube, ich bin einfach nur platt. Morgen im Zug haben wir Zeit. Dann können wir uns noch über unsere Messeerfolge austauschen.« Sie lachte schwach.
»Okay, natürlich, kein Problem.« Kimberly warf einen Blick auf ihr noch halb volles Glas. »Soll ich dich zu deinem Zimmer bringen?«
»Nein, danke. Trink in Ruhe aus und geh noch an die Bar oder was auch immer. Du musst wirklich keine Rücksicht auf mich nehmen.« Franziska stand auf. »Tut mir leid, dass wir nicht noch ein bisschen das Berliner Nachtleben unsicher machen.«
»Nein, ist okay, ist absolut okay.«
Franziska verabschiedete sich, nahm den Fahrstuhl in den fünften Stock und fiel keine Viertelstunde später in das riesige Bett. Sie hatte nicht einmal mehr daran gedacht, Niklas noch einmal anzurufen.
»Muss ich mir Sorgen machen?« Niklas’ graue Augen blickten sehr ernst drein.
»Warum, was meinst du?« Franziska ließ ihre Reisetasche im Schlafzimmer auf den Boden gleiten.
»Du hast dich gestern Abend nicht gemeldet, hast mir nicht einmal mehr Gute Nacht gesagt. Das kenne ich gar nicht von dir.«
»Tut mir leid, ich war total erschossen«, murmelte sie.
»Kimberly war diejenige, die mir Bericht erstattet hat, weil es dir nicht gut ging, wie sie sagte.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Kimberly hat dich gestern Abend angerufen?«
Er nickte. »Und heute Morgen schon wieder, weil du auf dem Berliner Hauptbahnhof plötzlich kreideweiß geworden bist.«
»Das war wahrscheinlich die Hitze. Außerdem roch es nach Erbrochenem. Das ist bei mir ein zuverlässiger Auslöser, um mich sofort von meinem Mageninhalt zu verabschieden. Darum bin ich sicherheitshalber zur Toilette gegangen.«
»Gelaufen«, korrigierte er. »Kimberly meinte, du seist losgerannt.«
»Ist eben kein weiter Weg vom Magen zum Mund.« Sie grinste schief.
Niklas war kein Lächeln zu entlocken. »Du siehst noch immer ganz schön bleich aus.«
Sie ging zu ihm und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Sollte sie ihm sagen, welchen Verdacht sie bezüglich ihrer ständigen Übelkeit hatte? Nein, sie besorgte sich erst einmal einen Test oder ging besser gleich zum Arzt, ehe sie die Pferde scheu machte. »Ich glaube, ich bin einfach ein bisschen erschöpft. Wir hatten beide in der letzten Zeit viel um die Ohren. Ich hab viel zu wenig geschlafen.« Sie seufzte. »Ich werde mal schnell auspacken und dann gleich Mails an die Leute schreiben, mit denen ich über mein Coachingkonzept gesprochen habe.«
»Glaubst du, es ist jemand dabei, der dein Konzept in sein Angebot aufnimmt?«