Violet - Scott Thomas - E-Book

Violet E-Book

Scott Thomas

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Beschreibung

Dreißig Jahre nach dem Tod ihrer Mutter bricht für Kris Barlow erneut die Welt zusammen: Ihr Mann stirbt bei einem Autounfall. Geschockt beschließt Kris, sich zusammen mit ihrer kleinen Tochter Sadie in das alte Ferienhaus ihrer Familie am Lost Lake, nahe Pacington, zurückzuziehen. Doch der Ort hat sich verändert, die Einwohner sind misstrauisch, denn im Laufe der letzten Jahre verschwanden mehrere Mädchen spurlos. Zunächst schenkt Kris den Warnungen der Leute keine Beachtung, aber dann ereignen sich seltsame Dinge in ihrem Haus. Als auch Sadie beginnt, sich zunehmend merkwürdiger – und unheimlicher – zu verhalten, wird Kris klar, dass sie sich den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss, wenn sie das Leben ihrer Tochter retten will ...

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Das Buch

Dreißig Jahre nach dem Tod ihrer Mutter bricht für die Tierärztin Kris Barlow erneut die Welt zusammen: Ihr Mann stirbt bei einem Autounfall. Geschockt beschließt Kris, sich zusammen mit ihrer kleinen Tochter Sadie in das alte Ferienhaus ihrer Familie am Lost Lake, nahe Pacington, zurückzuziehen. Doch der Ort hat sich verändert, die Einwohner sind Fremden gegenüber misstrauisch geworden, denn im Laufe der letzten Jahre verschwanden mehrere Mädchen spurlos. Zunächst schenkt Kris den Warnungen der Leute keine Beachtung, aber dann ereignen sich seltsame Dinge in ihrem Haus. Als auch Sadie beginnt, sich zunehmend merkwürdiger – und unheimlicher – zu verhalten, wird Kris klar, dass sie sich den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss, wenn sie das Leben ihrer Tochter retten will …

Der Autor

Scott Thomas hat an der University of Kansas Englisch und Film studiert. Er ist Co-Creator und Produzent von Disney Channel’s Best Friends Whenever und Disney XD’s Randy Cunningham: 9th Grade Ninja und hat Fernsehfilme und Teleplays für verschiedene Netzwerke wie MTV und VH1 geschrieben. Scott Thomas lebt mit seiner Familie in Sherman Oaks, Kalifornien. Sein Debütroman Kill Creek ist im Heyne Verlag erschienen.

SCOTT THOMAS

VIOLET

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetztvon Kristof Kurz und Stefanie Adam

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

VIOLET

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 07/2021

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2019 by Scott Thomas

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,unter Verwendung einer Illustration von Lauren Harms

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-24677-8V001

www.heyne.de

Für Kim

Für Aubrey und Cleo

Und für meinen Vater

»Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern.«

– Mengzi

»Sorrow’s child sits by the water

Sorrow’s child your arms enfold her

Sorrow’s child you’re loathe to befriend her

Sorrow’s child but in sorrow surrender

And just when it seems as though

All your tears were at an end

Sorrow’s child lifts up her hand

And she brings it down again«

– Nick Cave & the Bad Seeds,»Sorrow’s Child«

PROLOG

UNTER DEM FLUSS

Sie wusste so gut wie nichts über die Geschichte dieser Stadt.

Sie wusste nicht, dass diese Stadt einst kaum mehr als eine Wunde in den mit Wilder Mohrenhirse, Bisamdisteln und Seidenpflanzen bewachsenen Gypsum Hills gewesen war. Zu jener Zeit wand sich der Verdigris River wie eine schlammige braune Schlange durch das Tal, und seine Ufer waren mit hohem, dichtem Unkraut bewachsen. Die Kiowa nannten die Gegend p’oiye tsape t’on, was »verstecktes Wasser« bedeutet, da sich der Fluss einem Betrachter auf den steilen Hügeln ringsum durch keine Spiegelung des Sonnenlichts auf der Wasseroberfläche verriet. Und es gab auch keinen Grund, in das undurchdringliche Dickicht hinabzusteigen, denn dort lockten weder jagdbares Wild noch essbare Pflanzen.

Die Stadt war plötzlich da, eine Ansammlung einfacher Hütten entlang einer unbefestigten Straße, die man mitten durch die Wildnis geschlagen hatte. An einem Ende des Tals öffneten sich die Gypsum Hills wie steinerne Vorhänge gerade so weit, dass die Straße durch den Spalt passte. Am anderen Ende verlief der Weg entlang des sich um die Felsen windenden Flusslaufs und bog dann abrupt – gerade so, als wolle er die Flucht aus dem seltsamen Tal ergreifen – nach Norden ab, schnurstracks in die Weite der Prärie von Kansas.

Sie wusste nicht, dass der Name der Stadt, Pacington, eine Verfälschung der längst vergessenen Kiowa-Bezeichnung dieser Gegend darstellte. Als die ersten Geschäfte entlang der Center Street eröffneten, waren die amerikanischen Ureinwohner von Southeast Kansas schon lange nach Oklahoma »umgesiedelt« worden. Als immer mehr weiße Siedler in das Flusstal kamen, verschwand die Erinnerung an die Menschen, die vor ihnen hier gelebt hatten. Und schließlich verleibte sich die Stadt Pacington auch das Ufer des Verdigris mit seinem wild wuchernden Dickicht ein.

Sie konnte sich noch vage an die Erzählungen ihres Vaters erinnern: Eines Tages war ein Ingenieurstrupp vom United States Army Corps of Engineers gekommen, um vor den Toren der Stadt einen Stausee anzulegen, der das Ackerland entlang des Flusses vor Überschwemmungen schützen sollte. Am zweiten Tag der Arbeiten brachen die Männer zu einem Hohlraum unterhalb des Flussbetts durch, aus dem Wasser schoss, das vor Äonen dort unter den Erdschichten begraben worden war. Dieses Wasser vermischte sich mit dem trägen Strom des Verdigris und ließ den Fluss über die Ufer treten, sodass er das Land bis tief in die umgebenden Wälder hinein überschwemmte. In nur wenigen Minuten entstand ein See, der sich so schnell füllte, dass den Arbeitern kaum Zeit blieb, sich und ihre Maschinen in Sicherheit zu bringen. Zwei Männer starben. Sie wurden hinunter in den uralten Schlund am Grund des Sees gezogen, der so tief war, dass er auch einen fünfzehn Meter hohen Kran mit Leichtigkeit verschlang. Der Kran konnte geborgen werden, aber die Leichen der Männer blieben verschwunden. Manche glaubten, dass sie dort im dunklen Abgrund unterhalb des Sees immer weiter in die grenzenlosen Tiefen der Erde hinabsanken.

Die unglücklichen Besitzer der Grundstücke entlang der Lower Basin Road bekamen eine angemessene staatliche Entschädigung. Nur noch die Spitze eines einzigen Hausdaches ragte weiterhin aus den Fluten des Sees und erinnerte sie an ihren Verlust. Für den geplanten Stausee fand man weiter südlich, in der Nähe der Stadt Oologah in Oklahoma, einen besseren Platz. Der Ingenieurstrupp zog mitsamt seinem verletzten Stolz ab, der zufällig entstandene See blieb.

An nur einem einzigen Tag war aus einer Stadt am Fluss eine Stadt am See geworden. Und für eine Weile schien dieses fehlgeschlagene Regierungsprojekt Pacington sogar eine Glückssträhne zu bescheren. Das Wasser des bald als »Lost Lake« bekannten Sees neben den roten Gypsum Hills war außergewöhnlich sauber und glasklar. Pacington wurde zu einem beliebten Naherholungsort für alle, die der brütenden Sommerhitze in Southeast Kansas und dem nördlichen Oklahoma entkommen wollten. Pacington war der ideale Ort, um Ruhe und Frieden zu finden.

Das klare Wasser des Sees bildete an seinem Zu- und Ablauf einen beeindruckenden Kontrast zum Braungrün des Verdigris River. Dieses Phänomen ließ sich eigentlich leicht erklären: Der Grund des Sees bestand aus einem Krater aus Granitgestein, das heller war als der Boden des schlammigen Verdigris. Dennoch hielten viele den Lost Lake für ein Naturwunder, einige sogar für etwas Übernatürliches.

Sie hatte die glitzernden Wellen des Sees zum ersten Mal 1982 im Alter von fünf Jahren gesehen. Damals genoss Pacington schon seit über zwei Jahrzehnten einen Ruf als malerischer Erholungsort. In dem Pacington ihrer Erinnerung schlief man morgens aus und ging nachmittags wandern, angeln oder rudern. Abends tauchte der Sonnenuntergang den Himmel über den Hügeln in ein fantastisches Rosa, und ihr Vater grillte Forellenbarsche über einem Haufen glühender Kohlen. Nachts konnte sie den Wald riechen und in einen sich unendlich ausbreitenden Sternenhimmel blicken. In dem Pacington ihrer Erinnerung, wo Seen plötzlich aus dem Untergrund aufstiegen, schien ihr nichts unmöglich. Pacington war ein Ort der Schöpfung.

Doch gab es vieles, was sie nicht wusste. Sie wusste nicht, dass unter der sonnengebräunten Haut ihrer Mutter etwas Dunkles, Böses wuchs. Sie wusste nicht, dass ihre Eltern schon vor einem Jahr davon erfahren hatten und dies der Grund für den Kauf des Sommerhauses an den idyllischen Ufern des Lost Lake gewesen war. Sie wusste nicht, dass ihre Mutter während der folgenden Sommer immer kränker wurde und sie jeder Tag hier dem Ende näher brachte. Sie wusste nicht, dass ihre Eltern sich jeden Abend, nachdem sie sie ins Bett gebracht hatten, weinend in den Armen lagen. Oder dass sie sich eines Nachts aus dem Haus schlichen, um sich am Seeufer zu lieben.

Sie wusste nichts von den unaussprechlichen Dingen, die geschehen waren, nachdem sie Pacington verlassen hatte. Nichts von dem Schatten, der über die Stadt fiel, nichts von dem Schmerz und der Angst, die sich wie stachelige, giftige Ranken durch den kleinen Ort wanden.

Und vielleicht war das auch gut so. Vielleicht war es besser, sein Leben in glücklicher Ahnungslosigkeit zu verbringen.

Doch das bedeutete nicht, dass es jene unaussprechlichen Dinge nicht gab. Sie lauerten im Verborgenen und suchten wie jenes unterirdische Wasser nach einem Weg an die Oberfläche.

ERSTER TEIL

THERE IS A LIGHT THAT NEVER GOES OUT

1

Der graue Streifen der Straße durchschnitt die Schwärze der Nacht. Jenseits der Scheinwerferkegel erhellte nur das spärliche Mondlicht die Landschaft. Sie stellte sich vor, wie die Straße ohne Vorwarnung endete und sie mit dem Auto in eine endlose Leere stürzte, immer tiefer, bis ihre Schreie in der Dunkelheit verhallten.

Eine dumme, kindische Vorstellung, aber das Leben, das sie so krampfhaft zusammenzuhalten versucht hatte, lag nun endgültig in Scherben. Und so fuhr sie weiter, den Blick immer auf den Punkt gerichtet, an dem die Scheinwerferkegel endeten und die Welt nur noch aus Schatten bestand.

Kris Barlow betrachtete sich im Rückspiegel und hatte das Gefühl, von einer Fremden angestarrt zu werden. Das sanfte Licht der Armaturenbeleuchtung ließ ihre leichten Krähenfüße tiefer erscheinen, und ihr eigentlich makelloser weißer Teint war unter den vielen Sommersprossen kaum zu erkennen. Hätte ihre Mutter sie in ihrer Kindheit doch bloß so nachdrücklich dazu angehalten, ihre Haut mit Sonnencreme zu schützen, wie sie es bei ihrer eigenen Tochter tat. Aber das waren andere Zeiten gewesen, heute gängige Begriffe wie »Lichtschutzfaktor« oder »Sonnentyp« hatten damals noch gar nicht existiert. Sie erinnerte sich an die seltsame Genugtuung, die sie beim Abpulen von möglichst großen Fetzen durchsichtiger, toter Haut empfunden hatte. Einmal war es ihr gelungen, ein Stück so groß wie ihre Handfläche unversehrt abzulösen. Sie hatte es vorsichtig an ihre rechte Wange gehalten, sich damit im Badezimmerspiegel betrachtet und sich wie eine Eidechse gefühlt, unter deren abgestoßener alter Haut die neue zum Vorschein kam.

Kris starrte ihr Gesicht im Rückspiegel an. Wann war sie zu dieser Person geworden? Wenn sie nach der Lebensspanne ihres Vaters ging, der mit zweiundachtzig Jahren gestorben war, hatte sie ihre Lebenshälfte erreicht. Wenn sie nach ihrer Mutter ging, war sie demnächst fällig.

Auf dem Rücksitz bewegte sich etwas.

Kris drehte den Rückspiegel so, dass sie Sadies blasse, gegen das Seitenfenster gelehnte Gestalt sehen konnte. Der Sicherheitsgurt hielt sie aufrecht, ihr Kopf hing schlaff herab, und das Kinn war auf ihre Brust gesunken. Rote Locken fielen über ihre geschlossenen Augen. Auf dem Sitz neben ihr lagen ein Laptop und ein iPad, beides hatte sie seit der Abreise nicht angerührt.

Das bin ich – vor ungefähr tausend Jahren. Kris sah ihren Vater vor sich, wie er am Steuer saß, die Hände sorgfältig in der vorschriftsmäßigen Viertel-vor-drei-Stellung am Lenkrad, während ihre Mutter im schwachen Licht einer Taschenlampe las.

Damals waren sie immer erst aufgebrochen, wenn ihr Vater von der Arbeit kam. Die Fahrt dauerte keine zwei Stunden, es machte also nichts, erst gegen sieben oder acht Uhr abends von ihrem Zuhause in Blantonville loszufahren. Wenn sie hörte, wie ihr Vater die Wohnungstür aufschloss, sprang die kleine Krissy von ihrem Sitzsack vor dem Fernseher im Wohnzimmer auf und rannte los, um ihn zu umarmen. Ihr Vater stand dann noch im Anzug vor ihr, die Hosen mit perfekt gebügelten Bundfalten, dazu ein glatter, brauner Ledergürtel, ein gestärktes Hemd und eine breite, gestreifte Krawatte. Als Kind hatte Kris nie so ganz verstanden, womit ihr Vater ihren Lebensunterhalt verdiente.

»Ich verkaufe Versicherungen«, hatte er ihr mehr als einmal erklärt. »Das ist ungefähr so, als wenn man jemandem verspricht, dass man für ihn da ist, wenn etwas schiefgeht.«

Heute kannte sie die Wahrheit: Versicherungen bedeuteten stundenlange Telefonate und stapelweise Papierkram. Sie bedeuteten, dass man sich mit einem Unternehmen auseinandersetzen musste, das immerwährend auf der Suche nach jedem noch so kleinen Schlupfloch war, um nicht zahlen zu müssen, was es einem einmal versprochen hatte. Es bedeutete monate-, manchmal jahrelanges Warten, bevor man sein Geld sah – falls man überhaupt jemals etwas bekam.

Kris kannte Menschen, die für einen da waren, wenn mal etwas schiefging. Menschen, die für Versicherungen arbeiteten, gehörten nicht dazu.

Nicht, dass sie diese Hilfe in Anspruch hatte nehmen wollen. Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Nachbarn mit noch warmen Auflaufformen in den Händen bei ihr klingelten – gerade so, als ob Kartoffelgratin einen geliebten Menschen wieder auferstehen lassen könnte. Sie hatte auch nicht gewollt, dass die Eltern von Sadies Mitschülern kamen, Menschen, die sich heimlich an der Zerstörung des Glücks anderer erfreuten, weil ihnen ihr eigenes mickriges Leben dann weniger elend vorkam. Und auch nicht, dass ihre Verwandten kamen. Jene Verwandten, die ihren Mann auf ein Podest gestellt und ihr eingeredet hatten, dass sie nicht gut genug für ihn sei.

Keiner von ihnen war dabei gewesen, als die Polizei sie mitten in der Nacht angerufen hatte. Keiner hatte die kalte Panik erlebt, die sich breitmacht, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben gerade durch einen einzigen Anruf auf dem Handy in tausend Scherben zerbrochen ist.

Sie hatte all das erleben müssen. Sie war von der unheimlichen Sterilität im Lake County Coroner’s Office in Black Ridge in Colorado empfangen worden. Der Empfangsbereich sah aus wie die Rezeption eines Motels. Eine Plastikpflanze, deren verknitterte Blätter mit Staub bedeckt waren, stand in der Ecke neben einem Holzstuhl, der fehl am Platz wirkte und aus dessen Sitzkissen an den Ecken bereits die weiße Füllung hervorquoll. Auf dem Beistelltisch lag eine Sammlung x-beliebiger Mode- und Outdoormagazine – als ob irgendwer, der hierherkam, um einen Toten zu identifizieren, Lust hatte, eine sechs Monate alte Ausgabe von Guns & Ammo durchzublättern. Die Wände waren im Laufe der Zeit vergilbt, als hätten der medizinische Gestank der Einbalsamierungschemikalien und die Angst, die die Besucher dieser Räumlichkeiten verströmten, ihre Spuren darauf hinterlassen.

Das ist das Wartezimmer, dachte sie. Die Vorhölle.

Niemand hatte sie in Empfang genommen. Nicht der Beamte, der sie um drei Uhr morgens angerufen hatte, als Jonah eigentlich schnarchend neben ihr hätte liegen sollen. Auch nicht der Mitarbeiter, der die Tür zum Leichenschauhaus für sie unverschlossen gelassen hatte. Das einzige Geräusch war das leise Rasseln der Klimaanlage. Aus einem angrenzenden Raum drang der aufdringliche Geruch von Chemikalien und rohem Fleisch.

Kris blinzelte und sah wieder den Highway vor sich.

Sie hörte das eintönige Summen der Reifen auf dem Asphalt, Hunderte Meilen rauer, unebener Straßenoberfläche, die winzige Stückchen Gummi von den Reifen abpellten, wie sonnenverbrannte, tote Haut.

Einen Musiksender zu suchen hatte wenig Sinn. Nachts und mitten in der Prärie würde sie nur die Wahl zwischen weißem Rauschen und den Hasstiraden irgendwelcher Höllenprediger haben.

Sie tastete sich am Ladekabel bis zu ihrem Handy entlang. Ihr Finger ruhte einen Moment auf dem Homebutton, während sie mit dem Gedanken spielte, sich irgendetwas auf Spotify oder Audible anzuhören, um die Stille zu vertreiben.

Hinter ihr wimmerte Sadie leise im Schlaf.

Kris sah kurz über die Schulter zu ihr. Sadie hatte sich bewegt, ihre Augen waren jedoch noch immer geschlossen, der Kopf hing nach unten, und die roten Locken fielen über ihr Gesicht.

Kris ließ das Telefon aus ihrer Hand gleiten.

Weck sie bloß nicht auf. Lass sie schlafen. In ein paar Stunden sind wir da.

In weiter Entfernung sah sie die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs, zwei stecknadelgroße, schwebende Lichter, wie die eines Tieres, das in der Nacht herumschlich.

Ein Waschbär.

Oder ein Fuchs.

Fox.

So hatte er geheißen.

Howard Fox.

Der Name prangte in schwungvoller Schreibschrift in großen Buchstaben mitten auf einem sehr offiziell aussehenden Schriftstück mit Goldprägung und einem dicken, schimmernden blauen Rand:

DIE VEREINIGUNG DER GERICHTSMEDIZINER VON COLORADO BESTÄTIGT HIERMIT, DASS

HOWARD FOX

DIE BEFÄHIGUNG ZUR LEICHENSCHAU ERWORBEN HAT

Die Formulierung ließ sie schaudern. »Leichenschau«.

Als sich plötzlich eine Tür öffnete, fuhr sie erst erschrocken hoch, dann erstarrte sie.

Wie die Körper im Nebenraum. Wie Jonahs Körper.

Ein unauffälliger, leicht dicklicher Mann mit einer runden Drahtgestellbrille stand in der Tür. Vermutlich begrüßte er jeden seiner verzweifelten, völlig neben sich stehenden Besucher gewohnheitsmäßig mit diesem mitfühlenden leichten Lächeln.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Howard Fox. Seine Stimme klang seltsam dünn, als ob er beständig kurz davor stünde, zu niesen. »Ich hatte noch gar nicht mit Ihnen gerechnet. Ich dachte, Sie kämen von weiter weg – sonst hätte ich Sie natürlich in Empfang genommen.«

»Ich wohne …« Kris versagte die Stimme. Sie schluckte und setzte neu an. »Ich wohne hier in der Stadt. Ich kenne dieses Gebäude von außen, aber drinnen war ich noch nie …«

»Dazu hatten Sie ja auch gar keinen Grund«, antwortete Howard und runzelte dabei mechanisch die Augenbrauen in dem Versuch, sie mitleidig anzuschauen. »Bitte, folgen Sie mir, wenn Sie bereit sind.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und verschwand wieder in der geöffneten Tür. Vielleicht wusste er, dass es besser war, Kris keine Wahl zu lassen – sie wäre wie angewurzelt stehen geblieben und nicht imstande gewesen, auch nur einen Fuß in diesen Raum zu setzen.

Sie wäre nicht imstande gewesen, Jonah anzusehen.

Nein, nicht Jonah. Das Ding, das einmal Jonah gewesen war. Die entstellte Hülle, die er zurückgelassen hatte.

Stattdessen ging sie einen Schritt vorwärts, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Und dann noch einen. Und noch einen.

Kalte Luft strömte ihr entgegen, sie zitterte und spürte, wie sich an ihrem ganzen Körper Gänsehaut ausbreitete.

Howard stand zu ihrer Linken und wartete, bis sie ein paar Schritte in den Raum hineingegangen war. Dann schloss er die Tür mit einem dumpfen Geräusch, das leise von den harten, kalten Oberflächen widerhallte. Dies war kein Ort für die Lebenden. Hier wurden Körper seziert, Brustkörbe aufgebrochen und Organe gewogen wie Gemüse im Supermarkt.

Auf Metallregalen waren Plastikbehältnisse mit Instrumenten in neonblauen und -gelben Flüssigkeiten aufgereiht. Entlang der anderen Wände standen Schränke aus glänzendem Edelstahl. Eine riesige LED-Leuchte hing an einem Klapparm von der Decke wie das starre, kalte Auge einer fremdartigen Kreatur und warf einen grellen Lichtkegel auf das schwarze Plastiktuch, unter dem vage eine menschliche Form erkennbar war.

»Ich weiß, das ist nicht leicht.« Howard stellte sich hinter sie.

Kris zuckte zusammen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie nicht alleine war.

»Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen …«

»Ich will ihn sehen«, schnitt ihm Kris das Wort ab.

»Sind Sie sicher?«

»Ich möchte nicht lange darüber nachdenken, sondern es einfach hinter mich bringen.«

Howard nickte. »Natürlich.«

Die Gummisohlen von Howards strahlend weißen Nikes quietschten auf dem blitzsauberen Fliesenboden, als er zum Seziertisch hinüberging. Er griff mit beiden Händen nach dem Plastiktuch. Kris sah, wie sich die Härchen auf seinen Fingerknöcheln wie in einer sanften Brise leicht bewegten. Irgendwo in der Nähe war das Surren eines Abzugs zu hören, der die Luft wieder aus dem Raum hinaus in den vermutlich bereits vom ersten Morgenrot leicht violett gefärbten Himmel blies.

Aber die Welt außerhalb dieses kalten, sterilen Raums lag für Kris gerade in unerreichbarer Ferne.

Howard zog das Plastiktuch weg, trat einen großen Schritt zur Seite und faltete die Hände vor dem Körper.

»Wann immer Sie bereit sind.«

Kris’ Beine hatten sich schon in Bewegung gesetzt, als ihr Verstand begriff und sie aufzuhalten versuchte. Warte …

Sie machte ein paar Schritte, noch bevor ihr Hirn etwas dagegen unternehmen konnte. Dann hatte sie den Seziertisch erreicht und stieß mit der Hüfte dagegen.

Es dauerte einen Moment, bis ihr Verstand die Form, die sie vor sich sah, einordnen konnte. Alle vertrauten Merkmale eines Gesichts fehlten. Dort, wo normalerweise die Wangenknochen waren, klaffte ein tiefer Krater, der sich quer über die Stelle zog, an der sich eigentlich die Nase befinden sollte. Etwas hatte das ganze Gesicht eingedrückt.

Das Lenkrad.

»Der Airbag wurde nicht ausgelöst«, erklärte Howard, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wissen Sie, Sie könnten vermutlich den Autohersteller verklagen, falls Sie …« Er brach ab. Vielleicht war ihm gerade klar geworden, dass dies nicht der richtige Moment war, um mögliche Schadensersatzforderungen zu erörtern.

Jonahs Mund unterhalb der zerschmetterten Nase war geschlossen, trotzdem konnte sie die obere Zahnreihe sehen. Einen Sekundenbruchteil lang war ihr Verstand nicht in der Lage, diese beiden sich gegenseitig ausschließenden Bilder, die sie gleichzeitig wahrnahm, zu einem einzigen brauchbaren zu vereinen.

Dann wurde ihr klar, was sie sah. Durch den Aufprall waren Jonahs Zähne nach oben geknickt und durch die Haut über seiner Oberlippe gedrungen, sodass sie nun in einem senkrechten Winkel vom Gesicht abstanden. Er sah aus, als ob er seinen eigenen Mund aß.

Eine Spur aus dickem, dunklem Blut lief an der Seite des Gesichts bis zum Seziertisch hinunter. Kris’ Blick folgte der Linie wie einem Fluss auf einer Landkarte, vorbei an einem zerfetzten Stück Fleisch, das mit etwas Fantasie als Ohr erkennbar war, bis hin zu seiner Quelle: einem nassen, verfilzten Klumpen aus braunem Haar oberhalb der Schläfe.

Im Neonlicht funkelten Diamanten in seinem seegrasähnlichen Haar.

Keine Diamanten. Glas.

Winzige, runde Scherben des Sicherheitsglases, die in seiner Kopfhaut steckten.

Die gesamte rechte Kopfhälfte war plattgedrückt wie bei einer Zeichentrickfigur, der man mit der Pfanne eins übergebraten hatte. Der ehemals robuste Schädel war nur noch blutiger Matsch. Sie hätte ihre Finger in die rote Pampe hineinbohren und bis zur schwammigen grauen Hirnmasse graben können.

Die ersten Anzeichen des Alterns waren bei Jonah bereits zu sehen gewesen. Sein ehemals durchtrainierter Körper war an einigen Stellen schlaff geworden, sein Gesicht vom Alkohol aufgedunsen, und wenn er sich eine Woche lang nicht rasierte, hatten sich silberne Fäden in seinem braunen Stoppelbart gebildet. Aber sie hatte in ihm immer noch den Mann wiedererkannt, in den sie sich vor so vielen Jahren verliebt hatte.

Verliebt hatte, dachte Kris.

Immer noch liebte, schaltete sich eine andere Stimme ein, die einer zaghaften, naiven und gelegentlich auch hoffnungsvollen Kris gehörte.

Hasste, fiel ihr eine dritte Kris ins Wort, deren Stimme aus den tiefsten, schwärzesten Ecken ihrer Gedanken drang.

Sie betrachtete das entstellte Gesicht ihres toten Ehemannes. Ein Auge war blau und zugeschwollen wie das eines Schwergewichtsboxers in der zwölften Runde, das andere stand offen und starrte nach oben, als ob sich ihm dort ein tieferes Wissen offenbart hatte, das nur die Sterbenden erkennen konnten. War es Liebe, die sie davon abhielt, sich angewidert abzuwenden? Oder hatte ein primitiver Überlebensinstinkt die Kontrolle übernommen? Oder war sie wie ein Gaffer auf dem Highway, der extra langsam fuhr, um sich einen besonders schlimmen Unfall anzusehen und sich dann in perverser Erleichterung zu denken: Nicht ich. Noch nicht.

Mit zusammengepresstem Kiefer beugte sie sich über Jonahs malträtierten Leichnam. Ihre rechte Hand begann zu zittern, schnell griff sie mit der linken nach dem Handgelenk, um sie zu stabilisieren, aber das Zittern breitete sich bereits den Arm hinauf bis zu den Schultern aus. Dann bebte ihr ganzer Körper, sie atmete scharf und stoßweise. Sie zwang ihren Mund ganz nah an das baumelnde, zerfetzte Stück Fleisch, das einmal Jonahs Ohr gewesen war.

»Du Arschloch«, flüsterte sie, während wieder Tränen über ihr Gesicht rannen. »Du dummes, egoistisches Arschloch. Das werde ich dir nie verzeihen. Niemals.«

Ein Geräusch wie von einer Explosion oder von einem Schrotflintenschuss holte Kris abrupt in die Gegenwart zurück.

Der Jeep brach scharf nach links auf die Gegenspur aus.

Sadie wachte auf und verlieh ihrer Verwirrung mit einem Schrei Ausdruck – seit dem Tod ihres Vaters hatte sie kaum gesprochen –, der wie der Laut eines Tieres klang. Die Angst in Sadies Stimme ließ Kris schaudern.

Instinktiv umfasste Kris das Lenkrad mit beiden Händen und bremste scharf.

Der Jeep geriet ins Schleudern.

In Sadies schrillen Schrei mischte sich ein anderes Kreischen, das Kris zunächst nicht zuordnen konnte.

Die Reifen. Das Kreischen wurde von den Reifen verursacht, die keinen richtigen Halt auf dem Asphalt fanden.

Sie riss das Lenkrad herum, und der Jeep bewegte sich zurück auf die richtige Spur, aber im gleichen Augenblick merkte sie, dass sie nun zu weit nach rechts gelenkt hatte. Das Auto brach in einem scharfen Winkel aus. Hinter dem Seitenstreifen sah sie einen Stacheldrahtzaun, der einen Acker begrenzte.

Zwei Dinge wurden ihr in diesem Augenblick klar: Dass sich das blasse Rund des Mondes auf der Windschutzscheibe spiegelte und dass der Jeep im Begriff stand, nach links zu kippen wie ein Tier mit einem lahmen Bein.

»Festhalten!«, hörte sie sich in Richtung ihrer Tochter auf dem Rücksitz schreien. Kris drehte das Lenkrad wieder nach links, gerade so weit, um das Auto daran zu hindern, über den Seitenstreifen hinaus in den flachen Straßengraben zu schießen, der neben dem Zaun verlief. Gleichzeitig nahm sie den Fuß von der Bremse und wartete, bis sie den Jeep wieder unter Kontrolle hatte, bevor sie den Fuß erneut auf das Pedal setzte.

Bremsen. Fuß weg. Bremsen. Fuß weg. Bremsen.

Das Auto wurde langsamer.

Dann hörte sie ein neues Geräusch, das unverwechselbare Flapp-flapp-flapp eines kaputten Reifens auf trockenem Boden.

Kris bremste noch einmal scharf, und der Jeep kam schlingernd zum Stehen. Staub wirbelte um sie herum und trieb im Licht der beiden Scheinwerfer durch die Luft.

Sie sah über die Schulter zu ihrer Tochter. Sadies Augen waren weit vor Schreck, aber sie war still und weinte nicht.

Sie versucht, stark zu sein. Für mich.

»Wir haben nur einen Platten. Alles in Ordnung«, versuchte Kris sie zu beruhigen. »Im Kofferraum liegt ein Notrad. Ich werde den Reifen wechseln. Es ist alles in Ordnung, Sadie. Alles wird gut, versprochen.«

Kris wollte die Autotür öffnen, als etwas hinten an ihrem Oberteil zog.

Sadie hatte sich in ihrem Sitz nach vorne gelehnt und die Hand nach vorne gestreckt, um ihre Mutter zurückzuhalten.

»Alles in Ordnung. Es dauert nicht lange. Ich bin nicht weit weg.«

Sadies Hand erschlaffte gerade genug, damit Kris das T-Shirt aus ihrem Griff winden konnte.

Kris öffnete die Tür und stieg aus.

Kühler Wind wehte über die Prärie und strich über ihren Körper. Kris wischte sich ein paar kastanienbraune Locken aus dem Gesicht und schob sie hinters Ohr. Sie betrachtete den kaputten Vorderreifen, dessen Felge auf dem platten Gummi ruhte. Ein Stück schwarzes Reifenprofil baumelte oben an dem zerstörten Reifen wie Haut von einer offenen Wunde.

Wie Jonahs Ohr.

Ihre Beine zitterten, dann ihre Körpermitte bis hin zu den Schultern. Dann bebte ihr ganzer Körper.

Sie schloss die Augen und sog den Geruch von Kansas tief durch die Nase ein: den intensiven Duft des grünen Weizens und der staubigen Erde des Randstreifens. Auch der scharfe Gestank des verbrannten Gummis lag noch in der Luft.

Es ist nur ein kaputter Reifen.

Ihr Körper beruhigte sich. Sie öffnete die Augen.

Der Mond war hinter einer dicken Wolkenschicht verschwunden, und selbst die Sterne schienen vom schwarzen Nachthimmel verschluckt worden zu sein. Der Boden unter ihren Füßen hatte sich aufgelöst. Sie schwebte über einem Abgrund.

Kris Barlow fixierte die Stelle, an der die Autoscheinwerfer ihren Kampf mit der Finsternis verloren und ihr Licht von der Nacht verschluckt wurde. Sie musste einfach daran glauben, dass es dort in dem Nichts hinter der Scheinwerferkegeln eine Straße gab. Diese Straße war wichtig.

Denn sie konnte nicht einfach umkehren.

Noch nicht.

Noch nicht.

2

Der Wagen hörte sich jetzt anders an. Zum Chor der Autoreifen gesellte sich nun der Sopran des kleinen Notrads, das sich mit seinem schmaleren Profil doppelt anstrengen musste, um mit den anderen mitzuhalten.

Kris sah auf den Tacho. Ein Aufkleber am Notrad hatte davor gewarnt, schneller als achtzig Stundenkilometer damit zu fahren. Sie ging aber trotzdem immer erst dann vom Gas, wenn der Zeiger sich über hundertzehn hinausbewegte.

Ihr Ziel lag dort draußen in der Dunkelheit und zog sie an wie ein Magnet.

Mit einem Mal hatte sie ein flaues Gefühl im Magen, als ob der Jeep plötzlich über eine Felskante geschossen wäre und sie nun in die Tiefe stürzte. Dabei war die Straße – wie schon die letzten hundert Meilen – schnurgerade und ohne jede Steigung.

Zwei Nächte zuvor war sie mit dem gleichen Gefühl schweißgebadet aufgewacht, ein perfektes Bild des Hauses, so deutlich wie eine Fotografie, vor ihrem geistigen Auge. Schließlich verblasste das Bild, ihre Augenlider wurden schwer, und sie schlief wieder ein. Aber noch am Morgen sah sie die Schemen des Hauses vor sich. Sein Bild hatte sich förmlich in ihre Netzhaut eingebrannt.

Das Haus. Es war zu beiden Seiten von Bäumen umgeben, der blaue Himmel spiegelte sich in den Fenstern. Unterhalb des Hangs dahinter schimmerte das Wasser des Sees im Sonnenlicht.

Seit Jonahs Beerdigung war eine Woche vergangen. Sadie hatte seitdem nicht geweint. Sie hatte kein Wort gesagt und höchstens genickt oder mit dem Kopf geschüttelt.

Kris hatte geweint, wenn sie nachts alleine in ihrem Bett lag. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen, um dabei möglichst keinen Ton von sich zu geben, und gehofft, dass Sadie sie nicht hörte. Zunächst hatte sie vor Trauer geweint, dann vor Wut und schließlich vor Einsamkeit, als ihr bewusst geworden war, dass so nun der Rest ihres Lebens aussehen würde.

In ihren Träumen starrte sie in die Dunkelheit eines tiefen, schwarzen Loches in der Erde und wartete. Sie wusste, dass dort unten etwas war und dass es herauskommen würde. Sie wollte nicht in der Nähe sein, wenn dieses Etwas brüllend aus der Finsternis sprang – und doch konnte sie sich nicht abwenden. Sie starrte in die undurchdringlichen Tiefen und war sich dabei die ganze Zeit bewusst, dass das Ding dort unten in den Schatten mit großen Augen und gefletschten Zähnen zurückstarrte. Dann hatte sie wieder das Haus vor sich gesehen und aufgehört, zu weinen oder sich vor dem Ding in der Erde zu fürchten.

Am nächsten Morgen holte sie die große, schwarze Mülltonne aus der Garage ins Haus und nahm sämtliche Reste von Jonahs Trauerfeier aus dem Kühlschrank – Platten mit hart gewordenem Käse und vertrocknetem Aufschnitt, Aluschalen mit Pasta in geronnener Soße, Tupperdosen mit welkem Salat, Karotten und Gurken.

Sie sah noch die Gesichter der Freunde und Familienangehörigen vor sich, die gekommen waren, um ihr Beileid auszusprechen. Das Mitleid störte sie nicht, das hatte sie erwartet, genau wie die krankhafte Neugier derjenigen, die nur kamen, um zu sehen, wie eine Frau in den mittleren Jahren mit dem Tod ihres Mannes zurechtkam. Was sie nicht erwartet hatte, waren die vorwurfsvollen Blicke. Sie hatte nicht damit gerechnet, angefeindet zu werden, aber einige wenige Trauergäste – dennoch genug, damit sie sicher sein konnte, sich nicht zu irren – lächelten sie mit zusammengekniffenen Augen an, so als wollten sie sagen: Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Anscheinend hielten sie es für ihre Aufgabe, eine Trauernde zu verurteilen und mit Häme zu bedenken.

Aber über all das musste Kris sich nun keine Gedanken mehr machen. Das Haus wartete auf sie, dort würde sie ihre Trauer bewältigen und neue Hoffnung schöpfen.

Sadie hatte die letzten Tage ihres zweiten Schuljahres verpasst, und nun waren Ferien. Auf Kris’ Ankündigung, dass sie für ein paar Monate wegfahren würden, hatte ihre kleine Tochter nur schweigend mit den Schultern gezuckt, war zurück in ihr Zimmer gegangen und hatte ihr Gesicht in ihrem Kopfkissen vergraben – in der Hoffnung, dass sie ihr bisheriges glückliches Leben zurückhatte, wenn sie die Augen wieder öffnete.

Das ist eine gute Idee, hatte sich Kris eingeredet. Das Haus ist genau das, was wir jetzt brauchen.

Dann wartete sie auf den Einspruch ihrer zweiten inneren Stimme, der unweigerlich vor allem immer dann kam, wenn sie von etwas wirklich überzeugt war. Diese zweite Stimme in ihrem Kopf – sie sprach in einem unsicheren Tonfall, der Kris verärgerte – schien es als ihre höchst ureigene Aufgabe anzusehen, Zweifel zu säen. Und wirklich dauerte es nicht lange, bis sich die zaghafte Kris wie erwartet bemerkbar machte und mit ihrem Lieblingswort den Frieden störte: Aber.

Aber … Sadies Zuhause ist hier. Vielleicht geht es ihr hier bei ihren Freunden besser.

Die werden sie nur beständig daran erinnern, was passiert ist. So kann sie niemals damit abschließen, erwiderte Kris.

Tief in der hintersten, dunkelsten Ecke ihres Verstandes quietschte es, als sich eine winzige Tür einen Spalt breit öffnete. Gerade weit genug, damit sie ihre dritte innere Stimme – die höhnische – vernahm. Ist es nicht völlig egal, wo ihr hinfahrt? Ihr Vater ist tot. Und was, wenn dir – gottbewahre! – etwas zustoßen sollte? Was dann? Dann ist Sadie allein. Ganz allein …, schnurrte die Schattenstimme.

Kris kniff die Augen zusammen, als sie sich vorstellte, wie sie die winzige Tür mit aller Macht zudrückte. Und auch dann konnte sie noch das leise Kratzen von Fingernägeln auf der anderen Seite hören, ebenso wie die nun gedämpft geflüsterten Wahrheiten, die sie lieber für Lügen halten wollte.

Wir fahren, hatte Kris für sich noch einmal bekräftigt. Wir müssen dorthin.

Und im selben Moment hatte sie Angst bekommen. Was, wenn das Haus gerade belegt war?

Kurz nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater das Haus vermietet. Sie waren nur noch zu zweit gewesen, und ein Urlaub dort kam sowieso nicht mehr infrage. Ihr Vater verbrachte damals immer mehr Zeit in seiner Schreinerei hinter der Garage und Kris mit ihren Freunden. Sie fuhren mit ihren Rädern am Sycamore Creek entlang oder hingen auf den Tribünen des Footballstadions ihrer Schule herum, wenn gerade kein Spiel stattfand. Kam sie dann abends nach Hause und stellte ihr Rad in die Garage, roch es dort nach Holzspänen und Whiskey.

Ein Makler in Pacington kümmerte sich um alle Belange rund um die Vermietung – Verträge, Schlüsselübergabe, Reinigung. Und so wurde das bescheidene zweistöckige Häuschen auf dem steinigen Hang oberhalb des kristallklaren Lost Lake sich selbst überlassen, während immer neue Mieter kamen und gingen.

Als ihr Vater dann vor einem Jahr an Leberzirrhose gestorben war, hatte Kris eigentlich vorgehabt, den Makler anzurufen – wenn auch nur, um sich zu vergewissern, dass er die Miete nicht in die eigene Tasche steckte –, es dann aber doch versäumt.

Wenn sie wirklich den Sommer in dem Haus am See verbringen wollten, musste sie das nun nachholen.

Laut Google gab es in Pacington nur einen einzigen Immobilienmakler: Mid-Nation Realty. Sie klickte auf den Link und landete auf der Homepage des Maklers, wo die Optionen »Kaufen« und »Mieten« zur Auswahl standen. Sie wählte »Mieten« und drückte die Daumen.

Von der Adresse tauchte nur noch vage der Straßenname »River Road« aus dem Nebel ihrer Erinnerung auf, der ihr damals schon merkwürdig unpassend vorgekommen war. Immerhin hatte der See den Fluss, dem diese Straße einst gefolgt war, schon vor ein paar Jahrzehnten verschlungen.

Sie tippte den Straßennamen in das Suchfenster, drückte Enter und wartete gespannt, während die neue Seite geladen wurde. Dabei schnürte sich ihre Kehle zusammen, und sie sog schnell kühle Luft durch die leicht geöffneten Lippen.

Das Bild war nur briefmarkengroß, aber sie erkannte das Haus sofort wieder – schließlich sah sie es beständig in Gedanken vor sich. Sie ließ den Finger über das Touchpad gleiten und klickte.

Das Angebot wurde in dicken Lettern als »Hübsches Sommerhaus an den Ufern des atemberaubenden Lost Lake« angepriesen. Kris scrollte durch die fast zwanzig Bilder des Hauses und hatte dabei das Gefühl, einen Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen, denn es waren keine Digitalfotos, sondern weichgezeichnete, vergilbte Bilder, eingescannte alte Fotografien, was das jeweils in den Ecken in Orange aufgestempelte Datum bestätigte: 23. 4. 98.

Kris atmete nervös ein und zwang sich, auf den mit »Verfügbarkeit« beschrifteten Button am unteren Ende des Bildschirms zu klicken.

Das Haus war von Juni bis September verfügbar. Sofern die Angaben auf der Homepage richtig waren, konnte sie das Haus an der River Road sogar bis Dezember mieten.

Kris lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm ihres in ein viel zu kleines Regal im Flur eingezwängten iMac. Sie lächelte.

Gut. Es könnte klappen. Es könnte wirklich klappen.

Dann klickte sie auf den »Kontakt«-Link, und eine leere E-Mail wurde geöffnet. Auf keinen Fall würde sie 105 Dollar pro Tag für ein Haus bezahlen, das ihrer Familie gehörte, seit sie sechs Jahre alt war. Ihre Finger flogen über die Tastatur, bis sie schließlich so schnell tippte, dass ihre Augen kaum noch den Worten folgen konnten, die auf dem Bildschirm erschienen. Dann verschickte sie die E-Mail, ohne sie noch einmal zu lesen. Und wartete.

Darryl Hargrove, der einzige Mitarbeiter von Mid-Nation, antwortete eine halbe Stunde später. Seine E-Mail begann mit den üblichen Höflichkeitsfloskeln. Er schrieb, dass er Kris’ Vater gut gekannt habe und untröstlich sei, von seinem Dahinscheiden zu erfahren. Dass ihr Vater ein »guter Mensch« gewesen sei, »immer freundlich« und »stolz auf seine Familie«. Woher zum Teufel wollte Darryl Hargrove eigentlich wissen, ob ihr Vater »stolz auf seine Familie« gewesen war? Der übrige Text der Mail war auch nicht besonders hilfreich. Ja, gab Hargrove zu, das Haus am See war frei, aber es war seit einiger Zeit nicht mehr vermietet worden und musste wohl wieder ein bisschen »in Schuss« gebracht werden. Er könne Kris verschiedene andere Sommerhäuschen am Lost Lake anbieten, oder, noch besser, ein Haus mitten in der Stadt, nahe der Center Street, nur »einen Häuserblock von Pacingtons besten Geschäften und Restaurants entfernt«. Natürlich alles kostenlos.

Ein Haus nahe der Center Street spukt mir aber nicht die ganze Zeit in meinen verdammten Gedanken herum wie eine Melodie, die man nicht mehr aus dem Kopf kriegt, dachte Kris. Die E-Mail, die sie als Antwort verfasste, war höflicher: Ein bisschen Staub störe sie nicht. Sie wolle bitte in ihr Haus, danke.

»Das wird super«, hatte sie leise zu sich selbst gesagt und dann auf den Protest der anderen Stimmen in ihrem Kopf gewartet. Die aber hüllten sich überraschenderweise in verdächtiges Schweigen.

Kris brauchte nur einen Nachmittag, um ihre Sachen zu packen. Ein paar Kartons mit Dingen, die Sadie andernfalls ganz bestimmt vermissen würde: Stofftiere, Decken, Kinderbücher und natürlich ihre Malsachen. Das Mädchen verbrauchte massenhaft Zeichenblöcke und Skizzenbücher. Vor dem Unfall, als Sadie noch ein Leuchten in den Augen gehabt hatte, war sie stundenlang damit beschäftigt gewesen, Seite um Seite mit ihren Zeichnungen zu füllen: Landschaften mit farbenfrohen Insekten und exotischen Tieren oder komplexe, fantasievolle Muster.

Aber seit Jonahs Tod hatte sie kein Skizzenbuch und keinen Malstift mehr in die Hand genommen. Kris packte die Malsachen ein. Sie wollte dieses Leuchten in den Augen ihrer Tochter wiedersehen. Sie konnte nicht glauben, dass es für immer verloschen war.

Zwei Tage nachdem sie mit dem unglaublich realen Bild des Hauses am See vor ihrem inneren Auge erwacht war, waren Kris und Sadie mit dem Auto unterwegs zum Lost Lake. Sie verließen Black Ridge, als die Sonne über dem Mount Ash aufging und den Schatten des zerklüfteten Berges wie einen kaputten Zahn erscheinen ließ. Im Rückspiegel sah sie, wie die Berge von Colorado in der Ferne verschwanden, während sich vor ihr die Great Plains wie ein wasserloses Meer ausbreiteten.

Am Horizont brannte der Sonnenaufgang wie goldenes Feuer, das langsam die Nacht wegschmolz. Bald würde das Dunkelblau der Nacht verblassen wie ein Bluterguss und der Himmel in einem hellen Türkis erstrahlen, hier und da mit weißen Wölkchen aufgelockert.

Sie fuhren direkt auf das Haus zu. Auch wenn es noch über achtzig Meilen entfernt war, konnte Kris es jenseits des Horizonts spüren. Sie befanden sich im Landeanflug, wie eine Rakete, die von der Schwerkraft zurück zur Erde gezogen wurde. Und ihre Laufbahn entlang des Highways würde sie direkt vor der Tür des Hauses landen lassen.

Es wartete auf sie.

Leer.

Es sehnte sich nach ihrer Ankunft.

Sadie rutschte unruhig auf dem Rücksitz herum. Sie sagte nichts, aber Kris wusste, was das zu bedeuten hatte. Es war der Refrain aller Kinder, toter Vater hin oder her: Sind wir bald da?

»Es ist nicht mehr weit«, sagte Kris.

Sie stellte sich vor, wie Sadie Erzähl mir von dem Haus fragte. Sadie hatte in letzter Zeit kaum noch gesprochen. Und wenn sie etwas sagte, klang ihre Stimme matt und unbeteiligt. Die Worte sprudelten nicht mehr wie früher fröhlich aus ihrem Kindermund, sondern klangen viel zu vorsichtig und skeptisch für eine Achtjährige.

»Das Haus …«, begann Kris und sah es sofort wieder vor sich. Das Bild war so deutlich, dass sie sich zwingen musste, durch es hindurchzusehen, um auf die Straße achten zu können.

»Zuerst sieht man den See nur durch die Bäume.«

Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen vom Rücksitz des Kombis aus dem Seitenfenster danach Ausschau gehalten hatte, wie aufgeregt sie gewesen war, wenn sie dann das glitzernde Sonnenlicht auf dem Wasser sah. Damals war es ihr so vorgekommen, als ob die Zweige gerade so weit beiseitewichen, um ihr – und nur ihr – einen ersten, kurzen Blick auf diesen magischen Ort zu gewähren.

Aber das Haus … Das Haus war die eigentliche Attraktion. Jedes Mal, wenn sie langsam durch das offene Tor und dann die Auffahrt zum Haus hinunterfuhren, hatte sie denselben Gedanken: Der Wald hat uns dieses Haus geschenkt. Vor tausend Jahren hat sich hier der Wald geöffnet, und das Haus war da gewesen, gebaut aus dem Holz des Waldes und mit den Steinen der Erde.

Dann hatte die kleine Krissy sich abgeschnallt und war in ihrem Kindersitz nach vorne gerutscht, um über die Schulter ihrer Mutter durch die Windschutzscheibe nach draußen in die sich dort entfaltende Märchenwelt zu spähen.

Ein einfacher, mit Backsteinen gepflasterter Weg führte durch Büsche und Wildblumen zum Haus. Honigbienen hingen an den Blüten, die Beine dick vor Pollen. An der einen Seite stand ein Keramikvogelbad mit den Figuren zweier Hüttensänger, um das orange Seidenpflanzen blühten. Vögel in allen möglichen Größen und Farben – Kardinale, Blauhäher, Finken und Spatzen – suchten das von der Sonne aufgewärmte Wasser des Vogelbads auf, so wie Leute aus den Nachbarorten zum Lost Lake strömten. Im Vorgarten surrten Insekten, und Vögel sangen.

Am Ende des Weges führten drei Stufen zur Veranda hinauf. Vier etwa ein Meter hohe Säulen aus Flusssteinen, die mit grauem Mörtel zusammengehalten wurden, erhoben sich über dem Holzboden. Aus ihren Spitzen wuchsen Kiefernstämme, sodass es beinahe so aussah, als ob die Bäume sich einen Weg durch den Stein gebahnt hätten, um Teil des Hauses zu werden.

Das Haus war weiß gestrichen, und im Sonnenlicht strahlte es wie mit Feenstaub überzogen. Jedes Fenster hatte einen kirschroten Rahmen, der sich so markant von den weißen Schindeln abhob wie Lippenstift von einem weißen Kragen.

Dass sich die kleine Krissy wie eine Prinzessin in einem geheimen Versteck mitten in den Wäldern fühlte, lag vor allem an zwei Dingen. Zum Ersten an dem Dach aus Red-Cedar-Holz, das derart grau und verwittert war, dass es beinahe versteinert wirkte. Die feuchten Sommer hatten die Schindeln zu einzigartigen Formen verbogen, in den Spalten dazwischen hatten sich trockene Blätter vergangener Herbsttage gesammelt. Das Dach war mit Flecken aus grünem Moos übersät – so musste das Dach eines Prinzessinnenverstecks aussehen, das Feenhaus, in das man Dornröschen als Säugling gebracht hatte, damit ihre zarten Finger niemals den Stich einer verfluchten Nadel erdulden mussten.

Der andere Grund war das ovale Fenster auf der rechten Seite im ersten Stock. Es hatte wie die anderen einen leuchtend roten Rahmen, aber wenn das Sonnenlicht auf seine Ornamentglasscheibe fiel, strahlte es wie eine Münze am Grund eines Brunnens. Und wenn die Jalousie halb nach unten gezogen war, sah es aus, als ob einem das Haus zuzwinkerte.

»Es hat dir zugezwinkert?«, flüsterte Sadie ungläubig.

Als sie Sadies Stimme hörte, zuckte Kris zusammen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. Sie setzte sich gerade hin, um Sadie besser im Rückspiegel beobachten zu können. Ihre Tochter sah mit starrem Blick und leerer, unbeteiligter Miene aus dem Fenster, vor dem die Landschaft vorbeizog.

»Ja, das stimmt, mein Schatz.«

Kris setzte den Blinker und nahm die nächste Ausfahrt, um auf den Highway 75 zu wechseln. Nur noch zehn Meilen, dann würden sie vom Highway abfahren und der schmalen zweispurigen Straße durch eine felsige Hügellandschaft folgen, die viel rauer war als die satten, grünen Hügel der Flint Hills, die sie gerade durchquert hatten.

»Ich weiß noch genau, wie es dort immer gerochen hat«, erzählte Kris ihrer Tochter. »Wenn man das Haus betritt, hat man das Gefühl, dass das Holz lebt. Und an der Rückseite gibt es ganz viele Fenster. Über die ganze Wand, gerade so, als würden sie bis in den Himmel reichen. Man kann direkt auf den See hinter dem Haus schauen. Und dahinter liegen die roten Gypsum Hills. Die sind viel röter als die Fenster am Haus, und man fragt sich, ob das alles nur …«

Sie verstummte, weil sie es nicht laut aussprechen konnte.

Stattdessen beendete sie den Satz unwillkürlich in Gedanken: … Lug und Trug ist.

Der Highway führte, so schnurgerade wie alle anderen Straßen, seit sie Colorado verlassen hatten, ohne Vorwarnung steil bergab in das Talbecken von Southeast Kansas und dann unter einer rostigen, von Pflanzen überwucherten Eisenbahnbrücke hindurch. Die Ranken hingen wie schlackernde Arme nach unten, ihre Blätterhände schienen nach dem Auto zu greifen.

Der Jeep schoss unbeirrt durch den Schatten der Brücke hindurch. Die Ranken schwangen hinter ihnen im Fahrtwind wie Henkersschlingen. Kris verdrängte diese düsteren Assoziationen und dachte lieber an das Haus. Ihr Haus. Der Grund, aus dem sie die ganze Nacht durchgefahren waren.

Für Sadie. Denn das Haus würde dafür sorgen, dass alles besser wurde. So, wie es das damals auch für Kris getan hatte.

»Hinter dem Haus gibt es einen kleinen Steg. Dort liegt ein Ruderboot, mit dem wir auf den See hinausfahren können. Wie würde dir das gefallen?« Sie ließ keine Pause für eine Antwort, die sie sowieso nicht bekommen würde. »Das wird toll. Du bekommst dein eigenes Zimmer. Und im ersten Stock gibt es auch ein Spielzimmer …«

»Was steht da?«, fragte Sadie. Ihre leise Stimme klang zerbrechlich, hauchzart wie eine Pusteblume, die vom leichtesten Windhauch auseinandergerissen wurde.

Kris betrachtete ihre Tochter im Spiegel.

»Was steht wo?«

Sadie drehte den Kopf, als wollte sie noch schnell einen Blick auf etwas hinter ihnen erhaschen.

»An der Brücke?« Kris nickte. »Du meinst das Graffiti?«

Sadie kniff die Augen zusammen. Offensichtlich kannte sie das Wort nicht.

»Das heißt, Leute sprühen mit Farbe zum Beispiel ihre Namen auf eine Wand oder so«, erklärte Kris.

Sadies Gesicht entspannte sich. Sie nickte. »Das waren Namen«, wiederholte sie mehr zu sich selbst.

Kris beobachtete ihre Tochter eine Zeit lang im Rückspiegel. Die dunkelroten Locken hüpften wie Tentakel um das Porzellanpuppengesicht mit dem weißen Teint und den leicht rosigen Wangen. Die smaragdgrünen Augen sahen unter langen, gebogenen Wimpern hervor.

Mein Gott, sie ist vollkommen, dachte Kris und wusste doch, dass das nicht stimmte. Bei ihrer Geburt war Sadie perfekt gewesen, so wie jedes Kind, bevor es zum ersten Mal die Augen öffnete und ihm dämmerte, dass es nicht länger allein war. Bevor es von dieser Welt allmählich zerstört wurde, bevor seine Seele mehr und mehr Kratzer bekam und es schließlich die Erinnerung daran verlor, wie es gewesen war, in absoluter, wundervoller Stille dahinzutreiben.

Als Sadie das erste Mal die Augen aufschlug, hatte sie in das verschwitzte, strahlende Gesicht ihrer Mutter geblickt, die von der zwölf Stunden dauernden Geburt völlig erschöpft war – und gleichzeitig voller Freude, endlich das neue Leben, das in ihr gewachsen war, in Empfang zu nehmen. Diesen einen Moment lang war alles vollkommen gewesen. Und sicher. Aber dann huschte ein halbes, seltsam eingefrorenes Lächeln über Jonahs Gesicht, als ob ihn etwas in seinem Inneren, seine eigene Schattenstimme, davon abhielt, sich von ganzem Herzen zu freuen, und ihm zuflüsterte: Bist du dir sicher?

Kris hatte sich eingeredet, dass ein Neugeborenes einen derart subtilen Gesichtsausdruck nicht deuten konnte. Aber Kris war er nicht entgangen. Er hatte sich wie ein Eissplitter in ihr Herz gebohrt. Hatte er dieselbe Wirkung auf Sadie gehabt? War es möglich, dass ihr makelloses Kind gespürt hatte, wie Kris’ Herz einen Schlag aussetzte, auch wenn sie nicht länger körperlich miteinander verbunden waren? Kris sah immer noch die dunklen Augen ihrer kleinen Tochter vor sich, die sich langsam auf den neben ihr stehenden Mann richteten, hörte eine zarte, zaghafte Stimme – die ihrer mittlerweile achtjährigen Tochter –, die sie fragte: Darf ich ihn denn liebhaben? Und Kris antwortete ihr mit ruhiger, fester Stimme: Ja, Sadie. Das ist dein Daddy. Er wird dir nichts tun.

Du hast sie angelogen, dachte Kris und schloss die Hände fester um das Lenkrad, sodass ihr das alte, gebrochene Leder in die Fingerspitzen schnitt. Es war deine Aufgabe, sie zu beschützen, und du hast sie angelogen.

Die Hügelkämme über ihnen waren mit wilder, grüner Vegetation bedeckt. Die Straße verlief nun tief in einem schmalen Canyon in den schroffen, steilen Hängen aus rotem Gips, hellem Kalkstein und dunkelbrauner Tonerde. Sie leuchteten wie die Backsteineinfassung eines Kamins in der Nachmittagssonne. Je tiefer sie kamen, desto felsiger wurden die Hügel. Die Straße führte immer steiler nach unten, sodass Kris fast fürchtete, dass sich gleich der Boden öffnen und sie mitsamt Auto verschlingen würde.

Kris hörte ihre Tochter leise keuchen und wusste, was sie dachte. Wir werden zerschmettert, und alles, was von uns übrig bleibt, sind Knochen, Blut und Metall. Der Weg durch den Fels wurde immer schmaler, sie würden es nicht hindurch schaffen.

Als kleines Kind auf dem Rücksitz hinter ihren Eltern hatte Kris das gleiche unbehagliche Gefühl verspürt – nur von der Gewissheit gemildert, dass ihre Eltern sie nie absichtlich in Gefahr bringen würden.

Doch dieses Unbehagen machte nur einen Teil der Fahrt aus, und sie freute sich auf das, was danach kam.

Kris gab vorsichtig mehr Gas, wie es früher ihr Vater getan hatte, und der Zeiger auf dem Tacho schnellte nach oben, während der Jeep auf die beängstigend schmale Engstelle zuschoss. Dann rauschten sie an einem rostigen, von Einschusslöchern übersäten Metallschild auf einem gesplitterten Holzpfosten vorbei …

Willkommen in Pacington, willkommen daheim!

1007 Einwohner

… und urplötzlich öffnete sich der Canyon zu einem weiten Tal, und sie fuhren nicht länger über rissigen Asphalt. Die Straße hier war vor nicht mehr als einem Jahr neu geteert worden.

Sadie atmete erleichtert auf, als sie die Angst einflößende Stelle passiert hatten und sich die Welt vor ihnen wie ein Buch öffnete.

Die Straße teilte sich. Ein blitzblankes Schild wies den Weg: Geradeaus ging es zur Center Street, zur Rechten auf die unbefestigte River Road.

Es war alles genauso wie in ihrer Erinnerung. Die vertraute leichte Kurve führte sie dorthin zurück, wo sie hingehörte. Etwas schien in ihrem Inneren zu erwachen. Zuerst kribbelte es in ihren Schultern, dann breitete sich das Gefühl den Nacken hinauf aus. Das Geräusch der Reifen veränderte sich, als sie vom glatten Asphalt auf den unebenen Feldweg wechselten. Es klang wie ein alter Country-Song, der wie für sie gemacht schien, obwohl er lange vor ihrer Geburt geschrieben worden war.

Schatten spielten auf dem matten Lack des Jeeps, als sie durch ein mit Platanen, Weißpappeln und Silberahorn bestandenes Wäldchen fuhr. Die Reifen folgten einer gut ausgefahrenen Spur und wirbelten dabei kleine Staubwölkchen auf. Kris betrachtete ihre Tochter im Rückspiegel. Sadie hatte die verschränkten Arme auf den Fensterrahmen gelegt und stützte ihr Kinn darauf. Licht und Schatten spielten auf ihrem Gesicht, und Kris schien es, als hätten sich Sadies Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns verzogen.

Sie fühlt es auch, dachte Kris, und das Kribbeln wurde stärker. Sehr gut, das ist genau das, was wir jetzt brauchen.

Kris betrachtete die vorbeiziehenden Bäume, und dann sah sie es hier und da hinter dem dichten Blattwerk glitzern: Sonnenlicht, das von Wasser reflektiert wurde.

Kris stockte der Atem.

»Siehst du das?«, fragte sie Sadie über die Schulter hinweg. »Das ist der See. Der Lost Lake. Wir sind am Ziel.«

Sadie flüsterte etwas, so leise, dass Kris sie nicht verstehen konnte.

»Was meinst du, Schätzchen?«

Das kleine Mädchen tippte mit dem Zeigefinger gegen das Fenster: »Schnee.«

Kris sah fluffige, weiße Flocken, die zwischen den Baumstämmen im Sonnenlicht schwebten, um den Jeep stoben und dann vom Fahrtwind verwirbelt wurden.

»Nein, das ist kein Schnee«, erklärte sie. »Das kommt von den Pappeln. Sie blühen im Sommer, und der Wind bläst die Samen davon.«

Vor ihr rüttelte eine Windböe an einem Ast und verteilte eine ganze Wolke kleiner weißer Flocken über der Straße. Kris ging vom Gas und ließ den Jeep langsam durch den Vorhang aus schwebenden weißen Samenständen rollen.

Dann lenkte sie den Wagen leicht nach rechts, wo der Seitenstreifen in eine Böschung aus trockenem Lehm und Steinen überging. Gleichzeitig hielt sie nach dem Holztor Ausschau, hinter dem sich die Einfahrt zum Haus befand. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater dort immer angehalten hatte, um auszusteigen und das Tor zu öffnen, während der Motor im Leerlauf brummte. Als Kind hatte der Sommer für sie nicht am letzten Schultag begonnen, sondern dann, wenn der Kombi durch den schmalen Durchlass in der Böschung fuhr.

Und dann verschwand mit einem Schlag das sehnsüchtige Lächeln von ihren Lippen, und ihre Miene wurde wie versteinert. Etwas stimmte nicht.

Das Tor lag einige Meter entfernt von den Metallpfosten, an dem es einst befestigt gewesen war, am Boden. Um das verwitterte Holz wanden sich Ranken, als ob die Natur deutlich machen wollte, dass sie es sich zurückgeholt hatte. Kris fuhr vorsichtig um das Tor herum, um es nicht mit den Reifen zu beschädigen. Der Durchlass war so schmal, dass der Jeep gerade so eben hindurchpasste. Der Weg dahinter war mit Rutenhirse und buschigen Goldrauten überwuchert und kaum noch zu erkennen.

Sie lauschte vergeblich nach dem Summen von Reifen auf Beton, hörte aber nur das Kratzen der dicken Stängel des widerspenstigen Unkrauts am Kufenblech des Jeeps. Dann knirschten große Steine unter dem Gewicht des Autos. Es dauerte einen Augenblick, bevor ihr klar wurde, dass sie sich tatsächlich auf der Auffahrt zum Haus befand – oder auf dem, was davon noch übrig war. Der einst glatte Beton war an unzähligen Stellen gebrochen und zerbröckelt, und in den so entstandenen Spalten spross Süßgras.

Sie ließ den Jeep noch ein paar Meter weiterrollen, bevor sie ihn mit einem schwachen Quietschen der Bremsen zum Stillstand brachte.

Dort, auf einer Anhöhe oberhalb des Sees, stand das Haus.

Kris starrte es schweigend an. Dann hörte sie ein Klicken hinter sich, als Sadie sich abschnallte. Sie konnte förmlich spüren, wie ihre Tochter ihr über die Schulter sah und ebenfalls durch die Windschutzscheibe das Haus anstarrte.

Eine ganze Weile lang waren beide still.

Dann brach Sadie das Schweigen. Eigentlich hätte sich Kris darüber freuen sollen. Sadies Stimme klang zögerlich, leicht krächzend, wie eine Tür, die vorsichtig geöffnet wurde.

»Mommy, ist das … ist das, wo wir wohnen?«

Vor ihnen stand ein Leichnam aus Holz und Stein. Was Kris über Hunderte Meilen hinweg gehört hatte, musste der Todesschrei des Hauses gewesen sein.

3

Kris öffnete die Wagentür und stieg aus.

Es war warm und roch nach Erde. Die Luft selbst schien davon erfüllt zu sein, sodass sich Kris unwillkürlich schmutzig vorkam. Sie rieb sich mit der Hand über den Nacken und spürte, wie sich dort winzige Dreckpartikel mit ihrem Schweiß vermengten.

Das ist nicht unser Haus, wehrte ihr Verstand ab.

Aber daran war kein Zweifel möglich. Es sah nicht mehr aus wie in ihren verklärten Kindheitserinnerungen, aber es war das Haus am See, das ihr Vater gekauft hatte, als Kris noch ein blasses, grünäugiges Kind und ihre Mutter gesund und glücklich gewesen war. Nostalgie und Zuneigung hatten das Haus nur in ihrer Erinnerung konserviert, in der wirklichen Welt hatte ihm die Zeit das Fleisch von den Knochen gerissen wie ein Geier einem stinkenden Kadaver irgendwo auf einer vergessenen Landstraße.

Der einst sorgsam gepflegte Vorgarten war nur noch ein wirrer Haufen unzähliger Pflanzen, der an das verfilzte, ungewaschene Haar eines Kindes erinnerte. Im Vogelbad lag eine dicke Schicht aus Dreck und toten Blättern. Die steinernen Hüttensänger, welche die kleine Krissy und ihre Eltern jeden Juni begrüßt hatten, waren nicht mehr die fröhlichen Sommerboten von einst. Der größere der beiden sah mit seinem geöffneten Schnabel nicht länger so aus, als ob er fröhlich vor sich hin zwitscherte. Vielmehr wirkte es so, als ob er in Todesangst schrie, während die Ranken des Unkrauts gierig nach seinem kleinen, runden Körper griffen. Dem zweiten Vogel fehlte bereits der Kopf.

Auch der gepflasterte Weg zum Haus war von Unkrautranken überwuchert. Die Pflanzen hatten die Pflastersteine aus ihrem Bett gehoben und machten so aus dem einst bequemen Weg zur Veranda einen Hindernisparcours. An einigen Stellen waren die Büsche derart verwildert, dass man kaum noch zwischen ihnen hindurchgehen konnte.

Am Haussockel war der Zement aus den Fugen gebröckelt und hatte sich in Staub verwandelt. Einige der Feldsteine waren so locker, dass man sie einfach hätte herausziehen können. An anderen Stellen klebte noch etwas weiße Farbe an den Hauswänden, aber das meiste war nach Jahrzehnten der heißen Sommer und eisigen Winter abgeblättert. Die Schindeln der Hausverkleidung hatten eine kränklich graubraune Farbe angenommen, ihr Holz war rau und splittrig geworden. Auch von den Fensterrahmen war die Farbe abgeblättert, das verbliebene Rot sah aus wie verschmiertes und getrocknetes Blut.

Das ganze Haus wirkte wie ein vergessener Grabstein.

Hinter Kris quietschte eine Tür.

Sadie war aus ihrem Kindersitz geklettert und stand in der geöffneten Autotür. Mit großen Augen starrte sie das Haus an.

»Keine Sorge«, antwortete Kris, obwohl ihre Tochter gar nicht gefragt hatte. Kris sah noch einmal zum Haus hinüber und suchte nach einer brauchbaren Erklärung. »Anscheinend ist das Haus nicht oft vermietet gewesen. Sonst hätte sich jemand …« Sie brach ab, weil ihr die logische Schlussfolgerung daraus plötzlich Angst einjagte: Sonst hätte sich jemand um das Haus gekümmert. Aber niemand kommt mehr her. Dieser Ort ist der Vergessenheit anheimgefallen.

Sie drehte sich wieder zu Sadie um und hatte einen Moment lang das Gefühl, sich selbst als Kind zu sehen: Das kleine Mädchen mit den hellen, feuerroten Locken, die um ihre sommersprossigen Wangen spielten, und den grünen Augen, die sich rund um die tiefschwarzen Pupillen sonnengelb färbten.

Kris hielt ihrer Tochter die Hand hin.

»Komm«, sagte sie. »Schauen wir mal, wie es drinnen aussieht.«

Sadie zögerte, dann griff sie mit ihrer kleinen Hand nach der ihrer Mutter und stieg aus dem Auto.

Kris ging mit ihrer Tochter durch den zugewucherten Vorgarten. Um sie herum stoben Grashüpfer mit Flügeln wie alter Papyrus auf. Mit ihrer freien Hand schob Kris ein Büschel hüfthohes Unkraut beiseite, aus dem stecknadelgroße Zwergzikaden in alle Richtungen flohen. Plötzlich wackelte der Boden unter ihren Füßen, und es dauerte einen Moment, bis Kris klar wurde, dass sich die Pflastersteine auf dem Weg zur Veranda gelockert hatten. Auch hier hatte sich die Natur in Abwesenheit der Menschen wieder breitgemacht.

»Pass auf, wo du hintrittst«, ermahnte Kris ihre Tochter.

Vorsichtig bahnte sie sich mit Sadie hinter ihr einen Weg zur Veranda. Über den Weg ragten die dornigen Zweige eines wild wuchernden Busches. Kris spürte, wie die Zweige und Unkrautranken an ihrer Kleidung zerrten. Dann teilte sich das Gestrüpp, und sie stiegen die morschen Stufen zum Eingang des Hauses hinauf.

Die Veranda war wie alles andere über die Jahre von den Elementen in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Stämme auf den steinernen Säulchen waren von Zickzackkanälen durchzogen, wo sich die Termiten durch das Holz gefressen hatten. Oben im Gebälk war alles voller stellenweise verklumpter Spinnennetze, in denen tote Blätter und vertrocknete tote Insekten hingen.

Sadies Hand schloss sich fester um die ihrer Mutter. Kris blickte ihre Tochter an und erkannte Furcht auf ihrem Gesicht. Sadie sah sich langsam um, als ob sie damit rechnete, dass jeden Moment etwas aus den Schatten springen könnte.

Kris zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, sie zu beruhigen. »Wir kaufen später in der Stadt ein Insektenspray. Die Spinnen sind ganz bestimmt harmlos, nur zur Sicherheit.«

Sadie schien nicht zuzuhören. Ihre Augen fixierten weiterhin die dunkelsten Stellen der Veranda und die Dinge, die in ihrer Vorstellung dort herumkrochen und sie mit weit aufgerissenen schwarzen Augen anstarrten.

Die Eingangstür war aus einem einzigen massiven Stück Holz gearbeitet. Kris ließ die Hand an ihrer glatten Oberfläche entlanggleiten, erleichtert, dass der Lack sie konserviert hatte, während der Rest des Hauses zerfiel.

Sie griff nach dem angelaufenen Messingtürgriff. Der Knauf hatte die Form eines Gesichts mit einem amüsiert-überraschten Ausdruck, umrahmt von geschwungenen Rillen, die Sonnenstrahlen darstellen sollten. Sie versuchte, ihn zu drehen, aber er ließ sich nur ein paar Zentimeter bewegen. Die Tür war verschlossen.

»Mister Hargrove wollte den Schlüssel unter einem Blumentopf deponieren …«

Auf der Veranda standen mehrere Keramiktöpfe in verschiedenen Größen. In jedem steckte eine verwelkte, braune Pflanze in staubtrockener Erde. Unter den ersten beiden Töpfen fand sie nichts außer ein paar Käfern, die eilig davonhuschten – Ohrkneifer, Tausendfüßler und die langsamen, tollpatschigen Asseln.