Viper – Black Dagger Prison Camp - J. R. Ward - E-Book
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Viper – Black Dagger Prison Camp E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Zu Unrecht wegen Mordes an seiner Frau verurteilt, fristet der Vampir Kane seit Langem ein elendes Dasein im berühmt-berüchtigten Prison Camp. Als er während eines Gefangenenaufstandes versucht, zwei seiner Mithäftlinge zu retten, wird er schwer verletzt. Seither liegt er – mehr tot als lebendig – auf der Krankenstation, wo sich die einfühlsame Krankenschwester Nadya aufopferungsvoll um ihn kümmert. Doch auf Kane wartet ein düsteres Schicksal, und am Ende ist es einzig die Liebe zu Nadya, die ihn möglicherweise vor dem Schlimmsten bewahren kann ...

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Seitenzahl: 531

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Das Buch

Zu Unrecht wegen Mordes verurteilt, fristet der Vampir Kane seit Langem ein elendes Dasein im berühmt-berüchtigten Prison Camp. Als er während eines Gefangenenaufstands versucht, zwei seiner Mithäftlinge zu retten, fällt er einer Explosion zum Opfer. Nun liegt er mit schlimmsten Verbrennungen und mehr tot als lebendig auf der Krankenstation des Gefängnisses, wo sich die einfühlsame Krankenschwester Nadya aufopferungsvoll um ihren Patienten kümmert. Dann bekommt Kane unerwartet die Chance auf Heilung. Doch mit seiner Genesung geht ein düsteres Schicksal einher, das Kane für immer verändern wird. Am Ende ist es einzig seine neu entdeckte Liebe zu Nadya, die ihn vor dem Schlimmsten bewahren kann. Doch auch Nadya verbirgt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit, und schon bald müssen die beiden Liebenden um ihre Zukunft kämpfen ...

Die Autorin

J. R. WARD begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die internationalen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf: www.jrward.com

Ein ausführliches Werkverzeichnis der im Heyne Verlag von J. R. Ward erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE VIPER – BLACK DAGGER PRISON CAMP

Deutsche Übersetzung von Franziska Brück

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Anneliese Schmidt

Copyright © 2022 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Dirk Schulz, Bielefeld

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30481-2V001 

www.heyne.de

Für einen Vampir von Wert, der immer die Schönheit unter der Oberfläche gesehen hat, und die Vampirin, die ihm ihr Herz geöffnet hat.

Danksagung

Mit riesigem Dank an alle, die die Bücher über die Bruderschaft der Black Dagger lesen! Es war eine lange, wundervolle und aufregende Reise, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was als Nächstes in dieser Welt passiert, die wir alle lieben. Ich möchte außerdem Meg Ruley, Rebecca Scherer und allen bei JRA danken, außerdem Hannah Braaten, Andrew Nguyen, Jennifer Bergstrom, Jennifer Long und der ganzen Familie bei Gallery Books und Simon & Schuster.

An Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles mit Liebe zu und Bewunderung für sowohl meine Ursprungsfamilie als auch meine Adoptivfamilie.

Oh, und ich danke Naamah, meinem WriterAssistant Nummer zwei, der genauso hart an meinen Büchern arbeitet wie ich – und Archieball!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge sorgfältiger Auswahl der Fortpflanzungspartner besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder dem Abhandenkommen eines Fahrzeugs führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von immenser Größe und sexueller Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Schuldigen entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies der Vampire, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

 Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.

 Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber vollkommen ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

Prolog

1824 (Menschliche Zeitrechnung)Caldwell, New York

Kanemille, Sohn von Ulyss dem Älteren, ritt auf einem edlen Pferd durch den mondbeschienenen Wald, die beschlagenen Hufe seines Lieblingshengstes gedämpft durch die Schichten aus Tannennadeln und herabgefallenen Blättern. Der Novemberfrost hatte sich über das Land gelegt und versprach die eisige Umarmung des Winters. Und auch wenn die niedrigen Temperaturen das Leben und den Alltag erschwerten, genoss er den Wechsel der Jahreszeiten insgeheim.

Für ihn gab es nichts Schöneres als einen warmen Kamin in einer kalten Nacht.

Als er sich von der Waldgrenze entfernte, folgte sein Pferd ohne Anweisung dem ausgetretenen Pfad, der die Wiese einfasste und zu den Gärten von Kanes Herrenhaus führte. Vor einem Jahr erst hatte er den Ozean überquert, um sich hier in der Neuen Welt niederzulassen. Tatsächlich hätte er sich damals nicht vorstellen können, wie viel aus seiner alten Heimat er hier wiederfinden würde. Und doch fühlte er sich mit seinem Zuhause im georgianischen Stil, all seinen Ländereien und Stallungen und der Landschaft seines Anwesens rundum wohl.

Allerdings konnte das auch daran liegen, dass er frisch vereinigt war, dass er sich aus tiefster Seele behaglich fühlte und allem und jedem gegenüber so optimistisch und gütig gesinnt war.

Seine geliebte Lielan, Cordelhia, war eine Vampirin von Wert, und er war überglücklich. Er wollte gar nicht daran denken, dass die Vereinigung beinahe nicht zustande gekommen wäre.

Wie unter Familien der Glymera üblich, war ihr Zusammenschluss arrangiert worden. Ihre Familie hier und der Teil seiner Familie, der noch in der alten Heimat geblieben war, hatten sie beide als Paar bestimmt. Seine betagte Tante hatte als seine Stellvertreterin fungiert, und der Handel war recht und billig gewesen und war mit Cordelhias Mahmen geschlossen worden, da ihr Vater im Jahr zuvor in den Schleier eingegangen war. Im Tausch gegen Kanes Versprechen, über den Ozean in die Neue Welt zu kommen und persönlich an der Verbindungszeremonie teilzunehmen, hatte er dieses herrschaftliche Anwesen mit all seinem Personal und dem Mobiliar zusammen mit sechs edlen Kutschpferden, vier Trabern und einer Herde Milchkühe erhalten. Zusätzlich war auch eine beachtliche Geldsumme zu seinen Gunsten geflossen, die seiner neuen Shellan und ihrem Haushalt einigen Luxus ermöglichen sollte.

Als seine Tante ihm von den Früchten ihrer Verhandlungen berichtet hatte, hatte seine Zurückweisung die betagte Vampirin in einen Anfall von Verzweiflung gestürzt. Teils lag seine unnachgiebige Haltung daran, dass er kaum etwas über ihre Pläne für ihn wusste. Teils war es aber auch die Zurückhaltung demgegenüber, sich an eine lieblose Vereinigung zu ketten. Dennoch hatten ihm die Appelle seiner Tante aus ihrem, wie sich herausstellte, Sterbebett heraus das Herz zerrissen. Als die Letzte ihrer Generation, hatte sie befürchtet, den Schwur, den sie ihrer Schwester gegenüber geleistet hatte, Kanemille in ein abgesichertes Erwachsenenleben zu begleiten, nicht einhalten zu können. Sie hatte ihm erklärt, dass ihr aufgrund ihrer schwindenden Gesundheit und ihres weit fortgeschrittenen Alters die Zeit davonlaufe.

Wie hätte er da Nein sagen können?

Und dann war sie verschieden, in den Schleier eingegangen.

Nach ihrem Tod hatten ihn schlimme Schuldgefühle geplagt, da die Notlage, in die er sie gebracht hatte, sicherlich dazu beigetragen hatte, ihr Dahinscheiden zu beschleunigen. Nach der Trauerphase hatte er ihren Bediensteten neue Stellen verschafft, ihre Wertgegenstände, die nun seine gewesen waren, verkauft und war in die Neue Welt gereist, um ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen.

Wo ihm dann derart zahlreiche Wohltaten zuteilwurden, allesamt vollkommen unerwartet.

In dem Moment, in dem der Schleier vor Cordelhias Gesicht angehoben worden war, war er ihr verfallen. Sie war so liebreizend wie eine Rose, doch es waren ihre Anmut und ihre sittsame Bescheidenheit, die ihn vollkommen in ihren Bann zogen.

Er war in der Erwartung gekommen, seiner Tante ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Stattdessen ertappte er sich immer wieder dabei, wie er in der Hoffnung betete, sie würde aus dem Schleier zu ihm herabblicken und sehen, wie glücklich ihn ihre Bestrebungen gemacht hatten und wie aufrichtig dankbar er war, für das, was er schon immer als den richtigen und angemessenen Lebensweg für sich selbst hätte erkennen müssen.

Sie näherten sich den Stallungen. Als sein Pferd zu wiehern begann, antworteten ihm seine Gefährten von der Koppel her. Sie waren dem Anwesen nun so nah, dass sie in den Schein zahlloser Öllampen gehüllt waren, die auf den Fensterbrettern jedes Stockwerks aufgestellt worden waren und die den frostigen Boden in düsteren Sonnenschein tauchten.

Sein Puls beschleunigte sich, sein Herz machte einen Satz, seine Seele lächelte.

Seine dominante Hand glitt von den Zügeln und er überprüfte seine Satteltasche doppelt darauf, dass sie ihren Inhalt gut verwahrt hatte.

Er war zu einem Botengang für seine Shellan aufgebrochen, um ihr einen besonderen Wunsch zu erfüllen. Sie hatten Probleme mit dem Einschlafen geplagt, und ihr war vom örtlichen Heiler ein Säckchen mit Lavendel und anderen Kräutern empfohlen worden, damit sie leichter zur Ruhe kam.

Es war ihm eine Freude,seinerShellan zu Diensten zu sein.

Er passierte die steinerne Gartenmauer und ritt weiter auf die Stallungen zu. Die Pferde waren im Windschatten des Anwesens untergebracht. Der Architekt hatte dabei sowohl die vorherrschende Windrichtung als auch die natürlichen Puffer aufgrund des unebenen Geländes berücksichtigt.

Weiteres Wiehern erfüllte die Nacht, und sein Pferd begann unter ihm zu tänzeln.

Da freute sich wohl noch jemand über ihre Rückkehr.

Die Stallanlage war zu beiden Seiten hin offen, und die Öllampen sorgten im Mittelgang zwischen den einzelnen Boxen für weitere warme und einladende Beleuchtung.

Er zog die Zügel an und stieg ab, während sein Hengst auf der Stelle trat und den Kopf zurückwarf. Mit den Stiefeln auf festem Boden, zog er das Pferd Richtung …

Kein Stallbursche weit und breit.

»Tomy?«, rief er.

Als eine Antwort ausblieb, verklangen selbst die wenigen Geräusche, das Schnaufen und Klackern der Hufe, die ihm so vertraut waren.

»Tomy.« Kane wickelte die Zügel um einen der Anbinderinge. Dann hob er die Stimme. »Wo bist du …?«

Er blieb stehen. Sah über die Schulter. Schnupperte in der Luft.

Eine schreckliche Vorahnung ergriff Besitz von ihm und er taumelte den Gang entlang.

Die Sattelkammer befand sich im vorderen Teil des Stalls, und neben dem Beherbergen der Sättel, des Zaumzeugs und anderen Zubehörs dienten die engen Räumlichkeiten auch als Eingang zu Tomys unterirdisch gelegenen Privaträumen.

Die Tür, hinter der sich die Treppe nach unten befand, war geschlossen. War der Hüter der Pferde vielleicht krank oder verletzt?

Kane klopfte gegen das Holz, doch dann riss er die Tür einfach auf. »Tomy?«

Aus der Dunkelheit unter ihm kam keine Antwort. Auch war kein Geruch der Anwesenheit wahrzunehmen.

Während er davonschritt, zwang Kane sich ruhig zu bleiben. Das alles war ihm so vertraut, und dennoch fühlte er sich mit einem Schlag vollkommen verloren.

Am Ende der Stallungen blickte er auf das Herrenhaus und fand ein wenig Trost darin, wie ungetrübt ihm dort alles erschien. Es gab schließlich unzählige Gründe, warum ein viel beschäftigter Stallbursche nicht an seinem gewohnten Platz sein könnte. Die Reparatur eines Zauns. Eine Heulieferung. Ein Kojote nahe den Stallungen, den es zu erledigen galt.

Warum sollte er überhaupt besorgt sein?

Doch die Antwort darauf kannte er nur zu gut. Er hatte seit seiner Ankunft in Caldwell so viel Glück gehabt. Zu viel. Sicherlich würde das wieder ausgeglichen werden.

Wenn der restliche Haushalt bereits zu Bett gegangen war und schlief, brachte ihn diese Sorge um seinen Schlaf – und nun das. Kein Tomy. Was äußerst ungewöhnlich war.

Er streckte den Rücken durch und zwang sich, nicht ins Haus zu rennen und stattdessen den Weg entlangzuschreiten, als wäre sein Geist nicht – vielleicht paranoiderweise – erfüllt von Gedanken an Elend und Tod. Während er sich näherte, betrachtete er eingehend jedes einzelne Fenster seines gigantischen Heims und erfasste mit dem Blick die Ausmaße der Außenfassade vom Sockel bis zur Dachkante und vom Eckpfeiler zum gegenüberliegenden Ende. In seinem Inneren reihte sich ein Zimmer an das nächste. Zwei Flügel säumten den dreistöckigen Hauptteil des Gebäudes. Hinter den silbernen Vorhängen, die alle aufgezogen worden waren, um die Schönheit der mondbeschienenen Nacht einzulassen, suchte Kane nach Anzeichen irgendeiner Störung.

Als er jedoch keinerlei Schemen sah, die sich im Innern des Hauses bewegten, griff er an seinen Rücken. Zu seinem persönlichen Schutz trug er immer einen kunstvoll verzierten und mit Juwelen besetzten Dolch bei sich, auch wenn er als Aristokrat nicht besonders geübt im Umgang damit war.

Doch Cordelhia befand sich dort drin.

Er musste sie beschützen.

Er lief um eine Ecke des Gebäudes zum Haupteingang, dessen robuste Türen er weit geöffnet vorfand. Er wusste sofort, dass auch auf der anderen Seite die Türen offenstanden, da er einen leichten Windhauch am Rücken spürte und er keinerlei Gerüche wahrnahm.

Gütige Jungfrau der Schrift, sie waren ausgeraubt worden.

Er schloss seine zitternde Hand noch fester um den Griff seines Dolchs, und verfluchte seine edle Herkunft und die Jahre guter Erziehung und gesellschaftlicher Mußestunden. Er hätte stattdessen ein Trainingscamp besuchen und sich abhärten sollen …

Er legte seine freie Hand auf das edle Holz der Tür und drückte sie noch ein Stück weiter auf.

»Cordelhia?«, rief er. »Balen?«

Das Ausbleiben einer Antwort des Butlers war alarmierender als die Tatsache, dass seineShellan ihm nicht antwortete.

Balen war stets in der Nähe der Tür.

»Balen!«

Noch während Kanes Stimme widerhallte, blickte er bereits ins Speisezimmer, wo er einen perfekt gedeckten Tisch für zwei vorfand. Doch das hatte bereits vor Stunden vorbereitet worden sein können, wie es beim Letzten Mahl meist der Fall war.

Er war sich des Perserteppichs unter seinen Stiefeln nur allzu bewusst, während er zum Fuß der Treppe lief und voller Furcht, was er demnächst vorfinden würde, seine freie Hand auf deren Balustrade legte. Als die Brise, die durch das Haus ging, erneut seinen Rücken streifte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf …

»Überraschung!«

»Die allerherzlichsten Glückwünsche, Herr!«

»Nur das Beste für Sie!«

Kane schrie auf und sprang ein Stück zurück, als wohlbekannte und lieb gewonnene Gestalten aus der Bibliothek im hinteren Teil des Hauses auf ihn zuströmten.

Das gesamte Personal des Anwesens, all diejenigen, die er für ihre individuellen Verdienste derart schätzte … und am Ende des Stroms seine Lielan, seine Cordelhia in einem zartrosa Kleid, das das gesponnene Gold ihrer Haare, ihre erdbeerroten Wangen und ihre wie Saphire glitzernden Augen erst richtig zur Geltung brachte.

Ihren Blick hielt sie wie stets gesenkt, denn Bescheidenheit war eine Kardinaltugend innerhalb der Glymera, dennoch spürte er ihre Begeisterung über die geglückte Überraschung – die ganz sicher von ihr geplant worden war.

Sie kannte ihn so gut. Er mochte keine großen Feierlichkeiten, wie sie bei Aristokraten üblich waren, also war dies die perfekte Art und Weise, den Jahrestag seiner Geburt zu begehen. Und auch wenn sie eine hoheitsvolle Stellung einnahm, nicht nur in diesem Haushalt, sondern innerhalb der Glymera als Ganzes, wartete sie, bis das gesamte Personal seinem Herrn seinen Respekt bekundet hatte, bevor sie vortrat.

»Gesegnet sei die Nacht deiner Geburt, lieber Kanemille.«

Seine Frau war viel zu keusch, um ihm ihre Hand oder gar ihren Mund darzubieten. Doch er konnte sich nicht zügeln, er musste die Venen an ihrem Hals küssen, erst die linke, dann die rechte, direkt über dem Kragen ihres Kleides. In der Art, wie sich ihre Schultern verspannten, erkannte er ihr Unbehagen. Doch sein Verhalten war statthaft, da sie beide ausschließlich von Bediensteten umgeben waren, die zu Verschwiegenheit und Diskretion verpflichtet waren.

Es war nur wenig anzüglich, wenn man bedachte, dass sie rechtmäßig vereinigt waren.

Als er sich von ihr zurückzog, betrachtete er seine liebreizende Gefährtin und wurde sich bewusst, dass er der glücklichste Mann der gesamten Neuen Welt – oder wohl eher der gesamten Welt – war.

Innerhalb weniger Tage würde sich sein Blick auf sein Schicksal gewandelt haben.

Und eine lange Phase des Leidens würde über ihn hereinbrechen.

Hätte er gewusst, was ihn erwartete, hätte das seine zuvor verspürte Furcht in ein anderes Licht gerückt. Wie sich herausstellen würde, hatte es sich dabei keineswegs um Paranoia gehandelt.

Sondern um eine Vorahnung.

HeuteWillow Hills Sanatorium (verlassen)Connelly, New York

»Hol den verdammten Wagen. Sofort … Warte! Hast du die Halsbänder deaktiviert?«

»Das werden wir gleich herausfinden. Wenn unsere Köpfe explodieren, ist das wohl ein Nein.«

Nach diesem ganzen Hin und Her zwischen körperlosen Männerstimmen, waren Schritte zu hören, die sich entfernten … und ein kurzes und leises elektronisches Piepsen. Dann kehrte Stille ein.

Nein … da waren Atemgeräusche.

Kane hatte die Augen fest geschlossen und konnte nicht einmal erkennen, ob es seine eigene rasselnde Atmung war oder die eines anderen, und das würde sich auch so schnell nicht ändern. Ihm fehlte allein die Kraft, die Lider anzuheben, und abgesehen davon, hatte er noch ganz andere Probleme. Sein verwundeter Körper, der bedeckt war mit Verbrennungen dritten Grades, war ein Anker, der seine kognitiven Fähigkeiten weit, weit unterhalb des heißen Schmerzes hielt. Er schaffte es gerade so, bei Bewusstsein zu bleiben, alles andere erforderte Kräfte, die er gerade nicht aufbringen konnte.

Obwohl, wenn er das doch gerade dachte, dann mussten doch einige der Atemgeräusche sicherlich von ihm stammen.

Tja … verdammt. Er musste sich übergeben.

Vor etwa zehn Minuten, oder vielleicht waren es auch schon zehn Stunden – oder zehn Tage? – hatten sie ihm etwas gegen seine Schmerzen in die Vene in seiner Armbeuge gespritzt. Fast augenblicklich hatte er sich in einer Art Schwebezustand befunden, der alles gedämpft und die schweren Lider verursacht hatte, die er jetzt nicht mehr heben konnte. Und nun begann sein Magen zu rumoren, die Übelkeit war beinahe so schlimm wie …

Er hörte ein Geräusch von Metall auf Metall.

Eine Pistole, die auf Munition überprüft wurde.

Das Schieben und Klicken reichte aus, um ihn aus seinen wenigen Gedanken zu reißen und ihn an Orte aus seinem alten Leben zurückzubringen, die er nie wieder hatte besuchen wollen. Die Welle an Erinnerungen überwand die Barriere, die er zu errichten versucht hatte. Bilder von Granaten, die tiefe Krater schlugen, füllten seinen Geist …

»Kane.«

Erleichtert über die Ablenkung drehte er den Kopf blind in Richtung des Mannes, den er so gut kannte. Er öffnete die Augen, und sah nichts. Er hatte doch seine Augen geöffnet, richtig? Erst kürzlich war er von einem der Wärter des Gefängnisses zusammengeschlagen worden und durch die Schwellung fühlte sein Kopf sich an wie ein Sack Kartoffeln.

»Apex«, sagte er heiser.

»Ich hol dich sofort.«

Kane schüttelte den Kopf und versuchte, noch etwas zu sagen. Bewegung wäre in diesem Fall schlecht. Sehr schlecht sogar …

»Das ist unsere einzige Chance. Wir müssen sie ergreifen.«

Als sich Arme unter ihn schoben, fühlte es sich an, als würde ihm jemand Stangen in sein Fleisch bohren, und er stöhnte auf. Dann geriet er in Panik.

»Halt, warte«, würgte er hervor.

Auf seinen Befehl hin erstarrte Apex, und Kane kam der Gedanke, dass niemand sonst so einen Einfluss auf seinen Mithäftling hatte. Apex war eine Naturgewalt ohne jede Moral. Egal ob hier in den neuen Räumlichkeiten oder in den alten, die sich unter der Erde befunden hatten. Und doch kam er zu Kanes Rettung geeilt, aus für ihn bisher unerfindlichen Gründen.

»Wir können nicht gehen.« Kane hustete schwach, wodurch ihm noch schlechter wurde. »Was ist … mit Lucan. Der Schakal …«

»Sie sind weg.«

Kane hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. »Wohin sind sie gegangen …«

»Wir haben jetzt keine Zeit dafür. Der Boss der Wärter ist im Arbeitsraum und gerade ist Schichtwechsel. Wir müssen dich aus ihrem Privatquartier schaffen, solange wir noch können.«

»Was ist mit dem Executioner?«

»Wie ich dir bereits gesagt habe … um ihn wurde sich bereits gekümmert.«

»Was ist mit Lucan, was ist mit dem Schakal …?«

»Das habe ich dir bereits beantwortet. Wir gehen jetzt.«

»Was ist mit Nadya?«

Er bekam keine Antwort mehr. Und während er gewaltsam hochgehoben und weggetragen wurde, verlor er die Fähigkeit zu sprechen. So als hätte man ihm eine Sprengladung unter die Haut gesetzt und ihn von innen heraus in die Luft gejagt, schien sein Körper sämtliche Stabilität zu verlieren und aus nichts weiter zu bestehen als aus Nervenimpulsen, die sein Gehirn, trotz all der Drogen, vollkommen überwältigten. Es war seine einzige Chance, um am Leben zu bleiben … und dann musste er sich übergeben und Galle brannte sich ihren Weg seinen Hals hoch und in seinen Mund. Als er zu würgen begann, wurde er in Apex’ Armen ruckartig zur Seite gedreht, damit sein Mund sich entleeren konnte.

Weiteres Piepsen.

Treppen, doch in seinem Delirium konnte er nicht sagen, ob sie nach oben oder nach unten führten. Das Nächste, das er bewusst wahrnahm, war frische Luft. Kalte, frische Luft. Seine Lungen entfalteten sich, sein Magen beruhigte sich ein wenig und er verlor sich gedanklich in den Düften, die ihm in die Nase stiegen. Pinie. Nasse Erde. Schwache Abgase eines Fahrzeugs …

Schüsse. Hinter ihnen.

»Fuck«, murmelte Apex.

Weitere Schüsse. Dieses Mal näher. Und ein Schrei, so als wäre jemand getroffen worden. Gefolgt von einem weiteren Schrei.

»Hier drüben«, rief Mayhem.

Schnelle Bewegungen, knapp an ihnen vorbei zischende, schrille Geschosse.

Ruckartig blieben sie stehen, etwas wurde geöffnet und dann sagte Apex: »Nein, ich bleibe bei ihm auf dem Rücksitz … los! Los!«

Ohne jede Vorwarnung wurde er aus Apex’ Armen in einen beengten Raum geschleudert, wodurch ihm auf brutale Weise Arme und Brust zusammengepresst wurden. Der Geruch nach Leder stieg ihm in die Nase, die gerade in etwas Weiches hineingedrückt wurde.

Apex’ laute Stimme: »Los! Fahr, verdammt noch mal, los!«

Ein dumpfer Schlag gefolgt von vielen Pings, vermutlich Kugeln, die auf die Karosserie des Wagens trafen. Ein aufheulender Motor. Quietschende Reifen auf Asphalt. Starkes Ruckeln, bei dem sein Gesicht gegen irgendetwas anderes gedrückt und sein Körper schließlich nach hinten geschleudert wurde.

Dann schien der Wagen zu beschleunigen …

Explosionsartiger Lärm, Schrapnelle fielen auf ihn, prasselnder Regen. Dann Wind, dröhnender Wind, ein Rauschen in seinen Ohren, ein Luftstrom, der ihm über die offenen Wunden lief.

»Bist du getroffen?«, war Mayhems Stimme über den Lärm hinweg zu hören.

Apex: »Fahr einfach weiter, ist mir scheißegal!«

»Sie kommen immer näher!«

Weitere Schüsse, und jetzt roch Kane frisches Blut gemischt mit Schwarzpulver. Dann eine Explosion …

»Wir fahren offroad weiter!«

Er war sich nicht sicher, wer das gesagt hatte, weil ein plötzliches Schlingern den Wagen ergriff, gefolgt von einem kurzen Augenblick absoluter Ruhe, als würden sie durch die Luft fliegen. Zu blöd nur, dass ein Auto nicht fliegen kann. Holpernd schlugen sie wieder auf dem Boden auf, und durch die Turbulenzen wurde er wieder auf die andere Seite gerissen.

»Baum!«

Der dumpfe Aufprall war so ohrenbetäubend, dass seine Ohren zu klingeln begannen, und so heftig, dass der Schmerz selbst durch den Dunstschleier der Droge zu ihm durchdrang und ihn zurück zu dem Moment brachte, in dem er die Entscheidung getroffen hatte, der wahren Liebe eines anderen zu einer echten Chance zu verhelfen.

Und in voller Absicht sein eigenes Halsband zum Explodieren gebracht hatte.

Endlich, dachte er, als seine Kräfte schwanden. Jetzt würde er mit seiner Cordelhia im Schleier wiedervereint werden.

Es lag bloß an seinen Qualen, versuchte er sich selbst zu beruhigen, dass er bei diesem Gedanken keinerlei Erleichterung und auch keine Freude empfand.

Es hatte nichts mit der Krankenschwester zu tun, die sie zurückgelassen hatten, die sich mit einer solchen Zärtlichkeit und Besorgnis um ihn gekümmert hatte, die in Apex’ Abwesenheit an seiner Seite gewesen war, so als wäre sein Schicksal auch das ihre.

Die, in deren Augen er nie geblickt und deren Gesicht er nie gesehen hatte, deren zögerliches Verhalten eine Geschichte erzählte, die sie nie in Worte gefasst hatte – für die er jedoch gar keine Worte gebraucht hatte, um sie zu verstehen.

Nein, dieses Gefühl von Taubheit hatte nichts mit Nadya zu tun.

Rein gar nicht.

Eine Handgranate.

Apex hatte doch tatsächlich eine Handgranate in dem SUV gefunden, den sie gerade gestohlen hatten.

Was ein unverschämtes Glück.

Als sie sich in einem ungeheuren Tempo immer weiter von dem neuen Standort des Gefängnisses entfernten und Kugeln sowohl das Heck als auch die Seitenscheiben durchlöcherten, war er schutzsuchend in den Fußraum des Rücksitzes abgetaucht, während die Splitter des Sicherheitsglases ihn wie Schnee berieselt hatten. Als ein zweiter Kugelhagel auf den Wagen niedergegangen war, musste er an all das Benzin darin denken, und obwohl er instinktiv die Augen geschlossen hatte, riss er sie jetzt blitzschnell wieder auf.

Der kleine, faustgroße Metallgegenstand war ihm direkt ins Gesicht gerollt, und der kleine Scheißer hatte perfekt in seine linke Augenhöhle gepasst.

Im nächsten Augenblick schnappte er sich das Teil, mit dem er gerade sechs Richtige in der Waffenlotterie gehabt hatte.

Perfektes Timing. Wer auch immer versucht hatte, den SUV mit Kugeln vollzupumpen, war gerade dabei nachzuladen, weswegen das Sperrfeuer eine Pause eingelegt hatte.

Apex hievte sich aus dem Fußraum und zog dabei den Stift der Granate heraus. Das laute Getöse an der Stelle, an der sich einmal die Seitenscheibe befunden hatte, lenkte seine Bewegung besser, als seine Augen es hätten tun können, und er drehte sich instinktiv in die richtige Richtung. Er schob seinen Oberkörper aus der von Kugeln geschaffenen Öffnung und wurde von hinten von einem heftigen Windstoß erfasst, während er sich darauf konzentrierte, das kastenförmige Fahrzeug etwa zehn Meter hinter ihnen ins Visier zu nehmen.

Dank der Innenbeleuchtung des Wagens erkannte er darin zwei Wärter, einer hinter dem Steuer, der ihn über die Motorhaube hinweg anstarrte, und ein anderer auf dem Beifahrersitz, der sich gerade auf etwas in seinem Schoß konzentrierte.

Apex hatte keine Zeit, in seinen Kopf einzudringen, um etwas über ihre Absicht in Erfahrung zu bringen. Außerdem hatte er die Granate in der falschen Hand, sein Wurf würde also ziemlich miserabel ausfallen.

Er verlagerte sein Gewicht und rutschte dabei noch ein Stückchen weiter aus dem Fenster hinaus. Seine Dolchhand klammerte sich am Haltegriff des Wagens fest, um sich in dieser unbequemen Position zu halten. Das Gute an der Situation war, dass die Granate nicht viel wog und der Wind ihm in die Karten spielte. Sie flog durch die Luft, doch der Winkel stimmte nicht. Statt die Frontscheibe zu treffen, traf sie den Kühlergrill.

Nope, der Wurf war doch in Ordnung gewesen. Statt einfach unter das Fahrzeug zu fallen, sorgte die Geschwindigkeit des Aufpralls dafür, dass die Granate hoch auf die Kühlerhaube und von dort gegen die Windschutzscheibe sprang.

Jetzt, verflucht noch mal, jetzt …

Nope, der Wurf war doch scheiße gewesen. Die Granate rutschte die Windschutzscheibe hoch, sprang über das Wagendach und verschwand im Kielwasser ihrer Verfolger. Wo sie gleich mitten im Nichts hochgehen würde.

»Fuck!« Apex ließ sich zurück ins Auto sinken. »Schneller, wir müssen schne …«

Die Explosion war laut genug, um den dröhnenden Wind und das Röhren des Motors zu übertönen, und der Lichtblitz war so hell wie die Sonne, an die sich Apex noch von vor seiner Transition erinnern konnte.

Als er sich ruckartig nach hinten drehte, sah er, wie sich das strahlend gelbe Licht im Inneren des Wagens ausbreitete, an allen Seiten nach außen drang und sich für einen kurzen Augenblick an den Silhouetten der Wärter abzeichnete.

Bevor diese zu Obstsalat verarbeitet wurden.

»Wir gehen offroad!«, brüllte Mayhem.

Ihr eigener Wagen geriet ins Schlingern, verfing sich irgendwo, und dank seiner konstant hohen Geschwindigkeit, genossen sie nun alle einen kurzen Moment des Fliegens. Beim Aufprall wurde Apex mit dem Kopf voraus nach oben und gegen das Dach des SUVs geschleudert, während Kane wie ein loses Gepäckstück hin und her geschleudert wurde. Sie kamen auf drei Rädern wieder auf der Erde auf, gerieten beinahe aus dem Gleichgewicht, schafften es dann aber doch irgendwie weiterzufahren.

Apex warf sich schützend über Kane und legte ihm schnell den Sicherheitsgurt um.

»Baum!«, schrie Mayhem.

Apex riss den Kopf herum. Genau vor dem SUV, hell erleuchtet von dessen Scheinwerfern, stand der größte Ahorn, den er je gesehen hatte.

Als ihr Fahrer auf die Bremse stieg, geriet der SUV wieder ins Schlingern und war kurz davor, auf die Seite zu kippen.

Ein Schlag …

… eine kurze Drehung …

… gefolgt von einem Aufprall, der so heftig war, dass Apex in den vorderen Bereich des Wagens geschleudert wurde. Als er wieder zurück nach hinten geworfen wurde, war er kurzzeitig außer Gefecht gesetzt, vor seinen Augen flackerte alles, in seinen Ohren dröhnte es und das Rasen seines Herzens war das Einzige, was er in diesem Moment noch wahrnahm.

Als sie sich nach einer Weile noch immer nicht weiterbewegten und einzig das Zischen eines kaputten Motors die Stille durchbrach, hörte Apex plötzlich etwas in der Ferne.

Ein weiteres Fahrzeug, das sich sehr schnell auf sie zubewegte.

Noch mehr Wärter, dachte er, während er in seinem Mund den Geschmack seines eigenen Blutes wahrnahm.

Fuck … aber wenigstens waren sie dann bei dem Versuch zu entkommen gestorben.

Trotz seines eingeschränkten Sehvermögens drehte er den Kopf, um nach Kane zu sehen. Dieser lag in einem unnatürlichen Winkel halb auf, halb unter dem Sitz und sah mit seinen blutverschmierten Bandagen aus wie eine Mumie. Er schien nicht bei Bewusstsein zu sein und auch nicht zu atmen.

»Es tut mir so leid«, sagte Apex heiser, und verlor selbst das Bewusstsein.

Sein letzter Gedanke als er starb, war der, dass er ihm nie gesagt hatte, dass er ihn liebte.

Wahrscheinlich war das auch besser so.

Das Audienzhaus des KönigsCaldwell, New York

»Nein, zuerst Annabelle …«

»Auf keinen Fall …«

»Doch.«

»Nein.«

Während das hochintellektuelle Streitgespräch vom Köcheln ins Kochen geriet, betrachtete Vishous, Sohn des Bloodletter, den ehemaligen Speisesaal, der heute vom König als Audienzsaal genutzt wurde – nur um seinen Mitbewohner Butch dabei zu ertappen, wie er Rhage ansah, als hätte der Bruder gerade die Mutter von einem der Anwesenden aufs Schärfste beleidigt.

»Annabelle 2«, sagte der ehemalige Mordermittler. »Den sieht man sich zuerst an. Das weiß jeder.«

Hollywood deutete mit seinem Sterlingsilberlöffel auf ihn. »Die Ursprungsgeschichte versteht man doch viel besser, wenn man mehr Kontext hat.«

»Warum sollte man mittendrin anfangen?«

»Weil das von den Filmemachern so vorgesehen war. Was auch schon ihre Berufsbezeichnung über sie aussagt. Sie machen Filme.«

»Vielen Dank, Einstein. Willst du mir vielleicht etwas malen …«

»… ein Porträt? Mit oder ohne gesunden Menschenverstand? Ich meine, bei Letzterem wärst du eher nicht darauf zu sehen.«

»Ich dachte auch an eine Zeichnung davon, was in deinem Kopf vor sich geht, wenn du wie jetzt einen Streit auf ganzer Linie verlierst. Kann ich es mir wie eine Art hoffnungslose Leere vorstellen?«

»Das trifft eher auf meinen Magen zu.«

»Okay, da stimme ich dir zu.«

Während das Pingpong an Beleidigungen und Streitfragen zur Reihenfolge von Kinofilmen weitergeführt wurde, entschied V, sich selbst auch etwas zuzuführen. Er löste sich von dem Sideboard, gegen das er sich gelehnt hatte und lief über den handgeknüpften Perserteppich, der gut hundertfünfzig Jahre alt war. Er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, in der auf diesem bowlingbahnlangen Stück Stoff in Edelsteinfarben noch ein Esstisch gestanden hatte, an dem vierundzwanzig Leute Platz gefunden hatten. Heute diente er nur noch dazu, den polierten Parkettboden abzudecken. Einzig zwei Armsessel standen noch auf den lebhaften Schnörkelmustern, am anderen Ende, vor dem Kamin.

Daneben gab es bloß noch einen weiteren Sitzbereich. Auf der gegenüberliegenden Seite des eleganten Raums saß Saxton, der Rechtsanwalt des Königs, an seinem Schreibtisch, als wäre er ein sehr böser Advokat gewesen und wäre auf die stille Treppe verbannt worden. Der Mann war mit seinem maßgeschneiderten Anzug und seiner Tweedweste so adrett gekleidet wie immer, und sein dickes blondes Haar fiel ihm in sein hübsches Gesicht wie bei Cary Elwes in der Blüte seiner Jahre.

Und wie gewöhnlich steckte er mit der Nase tief in einem Buch über Alte Gesetze, zog die Augenbrauen fest zusammen und trommelte mit den Fingern auf dem Rand des Pergaments herum.

So, als würde ihm ganz und gar nicht gefallen, was er da las.

»Macht es dir etwas aus, wenn ich mir einen Stuhl ranziehe und etwas mit meinem Tabak hantiere?«

Der Anwalt sah verwirrt auf, als hätte sein Gehirn Probleme damit, das gesprochene und das geschriebene Wort gleichzeitig zu verarbeiten.

»Oh, nein«, sagte Saxton. »Natürlich nicht. Setz dich.«

Er deutete mit einer perfekt manikürten Hand auf einen der freien Armsessel.

V zog den Arschpalast aus Mahagoni an den Schreibtisch heran. »Danke.«

»Absolut nichts zu danken. Ich liebe den Geruch.«

V setzte sich und holte seinen Beutel mit türkischem Tabak und eine Packung extragroßes Zigarettenpapier heraus. »Und wie sieht es mit dem Urteil über das Verbot des Gefängnisses aus?«

»Ich bin noch mit der Recherche beschäftigt.«

»Wie schon gesagt … wozu all die Mühe?« Er drehte sich eine perfekte Zigarette und fuhr mit der Zunge über den Streifen Gummi arabicum. »Wrath hat die Blutsklaven und die Bannung von Vampirinnen abgeschafft. Er kann tun, was immer er verflucht noch mal tun will.«

»Ja.« Saxton klopfte auf das Buch der Alten Gesetze. »Aber das Gefängnis unterliegt nicht seiner Verantwortung. Es ist ein Konstrukt des Rates. Die Einrichtung wurde von den Princeps gegründet, ausgestattet und betrieben.«

»Die Einrichtung? So wird dieses Drecksloch also offiziell genannt? Als wir da drin waren, kam es mir eher vor wie der schlimmste Albtraum.«

»Ich nehme an, der vorherige Standort war äußerst düster.«

»Wir waren so kurz davor, es rechtzeitig zu finden. Wir haben es bloß um einen oder höchstens zwei Tage verpasst. Das ist so frustrierend.«

Bei diesen Worten warf V einen Blick ans andere Ende des Raumes. Rhage und Butch waren immer noch dabei, sich wegen der Conjuring-Filme und anderer persönlicher Fehler und Unzulänglichkeiten gegenseitig fertigzumachen.

»Ach komm schon, der Rat wurde doch aufgelöst.« V zuckte die Schultern. »Die meisten Aristokraten sind tot. Wer zur Hölle soll sich schon beschweren? Und P. S., scheiß auf die Glymera.«

Saxton lächelte, streckte die Arme über den Kopf und ließ seinen Kopf von rechts nach links rollen. Dass seine Haare sich dabei keinen Millimeter bewegten, war nicht das Ergebnis von zu viel Haarspray. Es lag einfach daran, dass er mit jeder Faser seines Körpers derart kultiviert und wohlerzogen war.

Wahrscheinlich bis auf seinen Schlüpfer, der wohl eher nicht aus Tweed war.

»Zwar weiß ich deine Meinung zu schätzen«, wand der Anwalt sich, »nichtsdestotrotz müssen wir sorgfältig vorgehen. Dem König steht es selbstverständlich frei, zu tun, was er möchte, doch es ist meine Aufgabe sicherzustellen, ihm jede Auswirkung seiner Handlungen zur Überprüfung vorzulegen.«

Obwohl Saxton als Aristokrat geboren und erzogen worden war, hatte er für seine Klasse nicht viel übrig. Andererseits war er auch aus seiner eigenen Blutlinie verstoßen worden, weil er sich zu männlichen Vampiren hingezogen fühlte. Zu seinem Glück hatte er in der Bruderschaft eine neue Wahlfamilie gefunden und sich mit einem wahren Teufelskerl vereinigt. Ruhn war einfach fantastisch!

Also ja, scheiß auf die Glymera.

»Was könnten sie uns schon anhaben?« V drehte sich eine weitere Zigarette. »Sie haben keinerlei Macht, und Wrath wurde demokratisch gewählt. Sie kommen nicht an ihn ran.«

Der Anwalt sah nach unten und betrachtete die mit Tinte gemalten Symbole auf dem offen vor ihm liegenden Blatt Pergament. »Wenn wir jedoch präzise vorgehen, kann es zu keinerlei berechtigter Klage kommen.«

»Wir stürmen das Gefängnis und brennen es nieder. Wer von den paar wenigen Aristokraten, die noch übrig sind, wird sich schon die Mühe machen, es wiederaufzubauen.«

Vorausgesetzt, sie fanden den neuen Standort. Jahrelang hatten sie immer wieder die Spur der privaten Verwahrungsstätte für Vampire, die der Glymera ans Bein gepinkelt hatten, verloren, bis der Schakal sich schließlich befreit hatte und zur Bruderschaft gekommen war. Bis sie alle zusammen bei dem unterirdisch gelegenen Gefängnis angekommen waren, war die »Einrichtung« allerdings bereits verlassen gewesen: Wer auch immer sie leitete, hatte es irgendwie geschafft, fünf- oder sechshundert Insassen, ein komplettes Drogenlabor und sämtliche Angestellten und Wärter verschwinden zu lassen. Alles hatte sich einfach in Luft aufgelöst.

Doch wohin war all das verschwunden? Alles in allem konnten sie nicht weit gekommen sein.

»Ich würde sagen, wir schockfrosten es.« V leckte an einem weiteren Streifen. »Legen es mit einem Beschluss still und kümmern uns hinterher um den Papierkram.«

»Habt ihr den neuen Standort gefunden …?«

»Nein, aber das werden wir. Selbst, wenn wir dabei draufgehen.« Er nahm sich ein weiteres Zigarettenpapier und brüllte dann quer durch den Raum: »Himmel, lest es doch einfach im Internet nach!«

Butch und Rhage drehten sich um und sahen ihn an, als hätte er vorgeschlagen, ein »Zu verkaufen«-Schild vor dem Anwesen aufzustellen. Und als wäre er bereit, Fritz, seines Zeichens Butler extraordinaire, zusammen mit dem Grundstück zu veräußern.

V ließ eine Hand in seine Gesäßtasche gleiten, holte sein Samsung heraus und wedelte damit in der Luft herum. »Ich bin nicht sicher, ob es euch bewusst ist, aber euch steht die ganze Welt zur Verfügung. Tipp-tipp.«

Butch zupfte am Ärmel seiner Tom-Ford-Jacke, steif wie der gute Katholik, der er noch immer war. »Darum geht es nicht.«

»Und du solltest nicht alles glauben, was du im Internet liest.«

Hollywood wedelte mit dem badewannengroßen Löffel umher. »Außerdem ist es uns ziemlich egal, was andere Leute glauben.«

»Das ist also eine rein private Auseinandersetzung«, murmelte V.

»Ganz genau.«

»Über eine Horrorfilm-Reihe von großer Bedeutung«, betonte Butch.

Aus irgendeinem Grund musste V beim Anblick der beiden am Fenster stehenden Kerle – der riesige blonde wunderschöne Rhage, der sich gerade einen ganzen Becher Ben & Jerry’s einverleibte und Butch, der so aussah, als würde ihm die GQ gleich den Preis für den am besten gekleideten Vampir des Jahres verleihen, – an die Anfangszeit ihres Trios denken, als sie alle drei noch Single gewesen waren und gemeinsam in der Höhle abhingen.

Er wollte nicht dahin zurück, selbst dann nicht, wenn man ihn dafür mit einem lebenslangen Vorrat an Selbstgedrehten versorgt hätte.

Aber es waren schöne Erinnerungen. Genauso wie diese beiden Hohlköpfe verdammt gute Kerle, verdammt gute Brüder waren.

Verdammt gute Kämpfer.

V überprüfte die Uhrzeit auf seinem Handy. Sie waren zu früh dran gewesen für die heutigen Audienzen, irgendeine innere Unruhe hatte es ihnen dreien unmöglich gemacht, während des gesamten Ersten Mahls im Herrenhaus rumzuhängen. Wrath würde bald hier sein, und nicht lange danach würden auch die Bürger für ihre Termine mit ihrem König eintreffen.

V hasste diese Seite seines Jobs, ruhig sitzen zu bleiben und privaten Gesprächen über Vereinigungen, Geburten, Todesfälle und Eigentumsstreitigkeiten zu lauschen. Doch die Bruderschaft der Black Dagger hatte schon immer sowohl als Beschützer der Spezies als auch als Leibgarde des Königs fungiert.

Also war stets einer von ihnen an Wraths Seite.

Und vielleicht brauchte er sie ja eines nachts tatsächlich einmal, wer wusste das schon.

In der Zwischenzeit musste er weitere sechs Stunden damit zubringen, mit den Absätzen seiner klobigen Stiefel nervös auf dem Boden herumzutrommeln. Stunden, in denen er genauso gut nach diesem verfluchten Gefängnis suchen könnte.

Je länger sie brauchten, um es zu finden, desto entschlossener wurde er, Jagd darauf zu machen. Es war nicht so, als würde er irgendjemanden kennen, der gerade dort einsaß, und er hatte eigentlich auch kein besonders ausgeprägtes Helfersyndrom.

Er hasste die Glymera mit jeder Faser seines Körpers, und selbst wenn das Gefängnis von irgendeiner Splittergruppe vereinnahmt wurde und nicht mehr in den Händen von diesem Haufen selbstgefälliger Snobs war, würde es ihm eine gewisse Genugtuung verschaffen, ihnen ihr kleines Spielzeug wegzunehmen.

Und ja, okay … vielleicht mochte er auch die Vorstellung nicht besonders, dass dort Leute einsaßen, die überhaupt nichts verbrochen hatten. Laut dem Schakal befanden sich wohl auch einige Mörder hinter Schloss und Riegel, aber auch viele, die nichts weiter getan hatten, als gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen, die sowieso der letzte Bullshit waren. Zum Beispiel Vampirinnen, die aus der Bannung geflohen waren oder ihre gewalttätigen Gefährten verlassen hatten. Vampire, die eine politische, soziale oder romantische Konkurrenz darstellten.

Leute, die sich zu ihrem eigenen Geschlecht hingezogen fühlten.

Verfluchte Scheiße, sein eigenes Sexleben war auch nicht besonders konventionell, es hätte also genauso gut auch ihn selbst treffen können. Oder Saxton. Ruhn. Blay oder Qhuinn.

Also, scheiß auf die Glymera, dachte er, während er eine weitere Prise Tabak aus seinem Beutel nahm.

»Wir werden es finden«, schwor er dem Anwalt des Königs. »Wir lassen es hochgehen und ich werde jede einzelne Sekunde davon genießen.«

Im neuen Standort des Gefängnisses, drei Stockwerke unterhalb der verlassenen Tuberkuloseklinik und ihrer verfallenen Patientenstationen, Behandlungsbereiche und Verwaltungsbüros, zwei Stockwerke unter dem Bereich, in dem die Insassen das Drogenlabor betrieben und das Privatquartier von Command eingerichtet worden war, und vier Treppenläufe aus bröckelndem Beton unterhalb des Schlafbereichs mit den miserablen Schlafzellen der Insassen, wechselte eine einsame, von Kopf bis Fuß in eine schmuddelig braune Robe gekleidete Krankenschwester gerade die Bettlaken einer dünnen, fleckigen Matratze mit einer Sorgfalt, die für gewöhnlich dem Hauptschlafzimmer eines der vornehmsten Adelshäuser vorbehalten war.

Während Nadya an dem rostigen Metallrahmen zog, um die rauen Laken zwischen den quietschenden Federn und der vierzig Jahre alten gepolsterten Pritsche festzustecken, bewegte sich der Stoff, unter dem sie sich verbarg, locker über ihr vernarbtes Gesicht und ihren verstümmelten Körper. Ihre Steifheit, ihre Zuckungen und ihr Hinken bildeten einen seltsamen Kontrast zu den fließenden Tüchern, und nicht zum ersten Mal dachte sie darüber nach, dass sie wohl zum Teil trug, was sie trug, weil ihr dadurch etwas vergönnt war, was sie zuvor verloren hatte.

Leichtigkeit, fließende Bewegungen, Anmut.

Doch sie hatte noch andere Gründe, warum sie sich auf diese Weise verhüllte.

Sie warf das saubere Laken nach vorne, wartete, bis es sich über die Matratze gelegt hatte, und strich die Falten glatt. Sie verzog das Gesicht, als sie sich vorbeugte und das dünne, harte Kissen vom Betonboden hob. Nachdem sie es auf dem Bett platziert hatte, betrachtete sie es.

Bis sie schließlich wegsehen musste.

Was sie um sich herum sah, hob ihre sowieso schon angespannte Stimmung nicht gerade. Ihre behelfsmäßige Einrichtung für die Kranken, Verletzten oder Gebrechlichen unter den Insassen befand sich in einem verlassenen Lagerraum, hinter eine Ansammlung von Regalen gequetscht, die sich noch immer unter dem Gewicht von Vorräten bogen, die bereits vor zwanzig Jahren abgelaufen oder längst veraltet waren. Als das Gefängnis hierher in dieses alte Menschenkrankenhaus verlegt worden war, hatte sie viele Nächte und Tage benötigt, die Reihe mit den Behandlungsbetten herzurichten, und so oft sie auch die Böden schrubbte, die Laken wusch oder die Wände putzte, an den Staub auf den Regalen verschwendete sie keinen Gedanken.

Ihrer Energie waren Grenzen gesetzt und sie überschritt diese auf eigenes Risiko.

Bisher hatte sie zwei Patienten gehabt. Es war nicht einmal eine Nacht her, dass sie das Bett am anderen Ende des Raums gesäubert und neu bezogen hatte, in dem die Menschenfrau gelegen hatte, über die Lucan gewacht hatte.

Wo der Wolven sich in seine für ihn vorherbestimmte Gefährtin verliebt hatte.

Von ihrem Posten in den Schatten hatte Nadya beobachtet, wie die Zuneigung zwischen den beiden gewachsen war, und sie hatte sie als das erkannt, was sie war: ein vom Schicksal beschiedener Segen. Eine Linderung des Leids, eine Quelle der Hoffnung in Zeiten der Unruhe, Orientierung, wenn alles verloren schien.

Ein Ziel für den, der kein Zuhause hatte.

Nachdem die Frau gegangen war, hatte Nadya sich mit der gleichen Sorgfalt wie immer um das Waschen der Laken und Tücher gekümmert. Sie hatte gewusst, dass Rio nicht zurückkommen würde, vorausgesetzt, sie schaffte es, lebend zu ihren Leuten zurückzukehren – und daher hatte sie gewusst, dass auch Lucan nicht zurückkehren würde. Wo auch immer die Frau hingehen würde, er würde ihr folgen. Also hatte sie den beiden zu Ehren die Bettwäsche mit höchster Präzision ab- und wieder neu bezogen, so als hätten ihre Bemühungen einen Einfluss auf die Zukunft der beiden.

Als könnte sie mit ihren Händen Magie wirken und als könnte sie sie auf ihrer Reise unterstützen.

Sie sah wieder nach unten und starrte auf das Bett vor sich. Dann fuhr sie noch einmal mit den Handflächen über die Laken. Als sie die raue Struktur des Stoffes unter ihren Fingern spürte, stellte sie sich vor, wie der Patient, der darin gelegen hatte, zu ihr in die Klinik zurückkam, so als könnte sie ihn mit bloßer Willenskraft heraufbeschwören. Sie malte sich aus, wie er auf die gleiche Weise zu ihr zurückkehrte, wie er beim ersten Mal zu ihr gekommen war, mit Apex und Mayhem, die ihn an den Armen gepackt hatten und ihn mit hängendem Kopf und grauenerregenden Verletzungen hereingetragen hatten, ohne dass seine Füße den Boden berührten.

Doch sein Blick hatte auf ihrem Gesicht geruht, als wäre es nicht hinter ihrer Kapuze verborgen gewesen.

Sie stellte sich Kane in allen Details vor, mit seinen offenen Brandwunden, seinen kahlen Stellen am Kopf, dem schmerzverzerrten Mund. Seinen verdorrten Gliedmaßen. Seinen klauenartigen Händen mit den fehlenden Fingern.

Sie hatte für ihn getan, was sie konnte, doch ihre Bemühungen hatten kaum etwas bewirkt. Er hatte sich weiterhin an der Schwelle des Todes befunden, bis zum Vorabend, als die Wärter ihn gewaltsam und ohne Rücksicht auf seinen schlechten Zustand weggeholt hatten.

Sie hatte versucht, sie aufzuhalten. Doch einer der Männer hatte ihr eine Pistole an den Kopf gehalten. Sie würde den Blick aus seinen kalten, blassen Augen niemals vergessen.

Nachdem sie Kane auf brutale Weise davongeschleift hatten, hatte Nadya das Bett nicht angerührt, als wäre es ein Leuchtfeuer, das von Kanes Schicksal nur erkannt wurde, wenn sie die Laken nicht wechselte. Was vollkommen töricht war.

Er würde nicht zurückkommen. Und sein Ende war grauenvoll gewesen.

Sie sagte sich immer wieder, dass er nun endlich seinen Frieden gefunden hatte. Oben im Schleier. Wiedervereint mit seiner geliebten Gefährtin, über die er in seinem Delirium gesprochen hatte.

Als sie sich setzte, quietschten die rostigen Bettfedern unter ihrem Gewicht, und sie hatte nie zuvor ein einsameres Geräusch gehört. Sie legte eine Hand auf die frisch bezogene Matratze und stellte sich Kanes weiches Haar, das wenige, das ihm geblieben war, so plastisch wie möglich vor, als könnte sie ihn zurückbringen, wenn ihre Erinnerungen nur deutlich genug waren.

Doch so funktionierte eine Wiederbelebung leider nicht. Oder eine Wiederauferstehung …

»Wird jemand vermisst?«

Nadya sprang auf und sammelte sich so gut sie konnte. Eine Frau stand in der offenen Tür und dem durch zwei Regalreihen gebildeten Gang vor ihr. Sie war fast zwei Meter groß und in voller Kampfmontur, ihr vor Kraft strotzender Körper war mit Waffen behangen, auf ihrem schlanken, intelligenten Gesicht lag ein durchtriebener Ausdruck. In einem Gefängnis, in dem Verdorbenheit und Selbsterhaltungstrieb die vorherrschenden Kräfte bildeten, hatte sie das Sagen über die Wärter, und sie befehligte die männlichen Staffeln mit eiserner Faust.

Nadyas Herz setzte einige Schläge aus und obwohl ihre Kapuze bereits richtig saß, zog sie sie noch etwas tiefer nach unten.

Der Boss der Wärter kam auf sie zu. Es war ungewöhnlich, dass sie allein war.

Dass sie trotz des fehlenden Schutzes völlig gleichgültig zu sein schien, war es hingegen nicht.

Sie war nach der Tötung des Executioners an die Macht gekommen und es gab niemanden, der es mit ihr aufnehmen konnte.

»Du sprichst erst, wenn du aufgefordert wirst«, befahl sie mit ihrer tiefen Stimme.

Nadya verbeugte sich leicht und behielt die Wahrheit für sich. Sie schwieg nicht etwa aus Respekt, und auch nicht aus Furcht. Alles, an was sie gerade denken konnte, war der Wärter, der Kane am Arm aus dem Bett gezogen und der auch keinerlei Rücksicht gezeigt hatte, als Kane vor Schmerzen aufgeschrien hatte. Statt etwas Respekt vor seinem Leid zu zeigen, war es grausames Vergnügen gewesen, das sie in seinen Augen erkannt hatte. Und dieser abscheuliche Mann war von genau einer Person hier heruntergeschickt worden.

Hass war der Grund, aus dem sie schwieg.

»Ich habe verletzte Wärter«, erklärte ihre Anführerin. »Ich bringe sie her. Sag mir, was dir alles für ihre Versorgung fehlt, und ich besorge es dir.«

Nadya räusperte sich. »Welche Art von Verletzungen?«

»Spielt das eine Rolle? Du wirst sie so oder so retten müssen.«

»Wenn ich Ihnen sagen soll, was ich brauche, müssen Sie mir sagen, was ich behandeln muss.«

Als sich daraufhin eine dunkle Augenbraue hob, wurde Nadya bewusst, dass die Frau vor ihr nie von irgendjemandem mit Namen angesprochen wurde. Jeder bezeichnete sie aus Respekt vor ihrem Rang stets als Boss der Wärter oder Mahm, aus der Alten Sprache.

Es war seltsam, dass jemand wie sie einen Titel erhielt, der eigentlich den Aristokraten vorbehalten war.

»Schussverletzungen. Quetschungen. Gehirnerschütterungen.«

»Wie viele Patienten?«

»Ein Dutzend.«

»Ich benötige Antibiotika, Bandagen und Schmerzmittel«, schoss Nadya zurück. »Cephalosporin, soviel Sie davon kriegen. Außerdem Sulfonamide. Ich will Wasserstoffperoxid und Polysporin oder Neosporin als Salbe. Ich nehme jedes Schmerzmittel, egal ob als Pillen oder in flüssiger Form, selbst das freiverkäufliche Zeug. Außerdem mehrere Nähsets und sterile Bandagen mit medizinischem Klebeband. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wo Sie das alles herbekommen wollen …«

»Das wird kein Problem sein.«

Nadya war nicht überrascht von ihrer Arroganz.

»Ich schreibe alles auf.«

Sie ging so schnell es ihr möglich war zu einem abgenutzten Schreibtisch, der in der Ecke stand, und holte vergilbtes Briefpapier hervor, auf dessen Kopfzeile noch immer Name und Adresse des Krankenhauses zu erkennen waren. Ihre Schrift war unsauber, doch ihr Kopf war völlig klar.

Die Lehren ihres Mentors hatte sie stark verinnerlicht, die Brücke zwischen der Welt der Vampire und der Welt der Menschen war noch immer intakt, rettete noch immer Leben – auch wenn sie jeden einzelnen dieser Wärter am liebsten verbluten sehen würde.

Nadya ging zurück und hielt der Frau das Stück Briefpapier entgegen.

»Nur, damit wir uns richtig verstehen, ich kann niemanden operieren. Alles abgesehen von einfachen Nähten liegt außerhalb meiner Fähigkeiten. Ich tue, was ich kann, aber ich …«

»Nein«, blaffte sie, während sie die Liste entgegennahm. »Du wirst dafür sorgen, dass sie alle vollständig genesen und ihren Dienst wieder antreten können. Und bevor du fragst, ob sie sich nähren müssen, ich werde Vampirinnen bringen lassen.«

»Mir sind Grenzen gesetzt …«

Der Boss der Wärter holte eine Klinge hervor, deren Stahl im gleichen alten Licht aufblitzte wie ihre Augen. »Du sorgst besser dafür, dass sie überleben. Jeder Einzelne von ihnen. Ihr Leben ist dein Leben. Ihre Gräber dein eigenes. In jedes Loch, das ich für einen meiner Männer graben muss, lege ich auch ein Stück von dir hinein.«

Nadya blickte durch das Netz ihrer Kapuze … und entschied, dass sie langsam genug davon hatte, dass ständig jemand eine Waffe auf sie richtete.

»Wohin wurde der Patient mit den Verbrennungen gebracht?«, verlangte sie zu wissen, und deutete auf das leere Bett. »Was ist mit ihm geschehen?«

Im Gefängnis musste man seine Schwächen gut verbergen, und auch wenn ihre körperlichen Gebrechen offenkundig waren, tat sie alles, um ihre mentalen zu tarnen: Dieser Killerin gegenüber einzugestehen, dass sie eine gewisse Verbindung zu Kane eingegangen war, war also nicht besonders clever.

Doch sie musste Gewissheit haben.

»Er ist tot.« Der Boss der Wärter drehte sich um und trat zwischen die Regale. »Deine Patienten werden in Kürze eintreffen. Ich besorge dir alles, was du brauchst.«

Nadya lauschte den leiser werdenden Schritten. Und wusste, dass sie der Frau gefolgt wäre, hätte sie nur in einem anderen Körper gesteckt. Vor ihrem geistigen Auge spielte sich ein Nahkampf Frau gegen Frau ab, doch das würde aus so vielen Gründen nie geschehen.

Kane war ein Fremder gewesen. Doch in seinem Leid war er ein Teil von ihr geworden.

Es war, als wäre auch sie gestorben.

Und bei dem Gedanken, ohne ihn weiterleben zu müssen, wurde ihre ohnehin schon graue Welt in eine Trauer gestürzt, die bis an ihre Seele reichte.

Das Geräusch von Reifen, die sich über losen Schotter bewegten, fuhr wie Glasscherben in Apex’ Ohren, wobei die geringe Lautstärke in krassem Kontrast zu dem Schmerz stand, den sie in seinem Schädel verursachten. Gleichzeitig war seine Nase mit dem Geruch nach Blut, Benzin, verbranntem Gummi und frischem Gras völlig überfordert. Stöhnend stemmte er sich dem entgegen, was schwer gegen sein Gesicht drückte …

Er befand sich wieder im Fußraum des SUVs. Doch dieses Mal senkrecht statt waagerecht.

Scheiße, der Wagen war auf die Seite gekippt. Und gerade bogen noch mehr Wärter auf den Seitenstreifen der Straße ein.

Das Quietschen von Bremsen war zu hören und er zwang sich dazu, sich in Bewegung zu setzen. Er tastete nach seiner Waffe und merkte, dass er sie nicht mehr bei sich hatte, während sich zu seiner Linken die Tür eines Wagens öffnete – nein, es waren zwei Türen. Und das schrie geradezu nach sicherem Tod, wenn er nicht rechtzeitig irgendetwas fand, womit er schießen oder zustechen konnte.

Schritte raschelten über den Boden, während sich mindestens zwei Paar Füße näherten.