Virtuelle Realität und Transzendenz -  - E-Book

Virtuelle Realität und Transzendenz E-Book

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Beschreibung

Was einmal jenseits der Realität schien, ist mehr und mehr Teil der Alltagserfahrung geworden: online und offline sind nicht mehr trennend zu denken, virtuelle Realität (VR) findet Einsatz in verschiedensten Bereichen (Wirtschaft, Wissenschaft, Militär, Bildung). Auch für den Religionsunterricht sowie in (theologischen) Studiengängen lassen sich entsprechende Szenarien entwickeln. Der Band vermisst erstmalig den Status quo theologischer und pädagogischer Forschung zur VR im Dialog mit weiteren angrenzenden Disziplinen und diskutiert ihn anhand mediendidaktischer Einblicke aus Schulen und Hochschule.

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Seitenzahl: 349

Veröffentlichungsjahr: 2024

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © tolgart / GettyImages

Satz: Barbara Herrmann, Freiburg im Breisgau

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-39266-5

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83366-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82759-4

Inhalt

Virtuelle Realität zwischen Transzendenz und Transzendierungen – zur Einleitung

I Realität erweitern

Braucht religiöser Glaube Realität?

Knut Wenzel

‚Every Body Electric‘Mediendidaktische Orientierungen zu Körper und Erfahrung im virtuellen Raum

Viera Pirker

Reframed RealityHorizonterweiterung als Perspektivenwechsel

Annette Langner-Pitschmann

Fiktionalität und KritikChristliche Anthropologie im Angesicht virtueller Welten

Joachim Valentin

II Digitalität erschließen

Spiel ohne Regeln?Das emanzipatorische Potential virtueller Welten

Christian Preidel

Virtuelle MenschenreproduktionWer oder was ist Replika?

Lukas Brand

Mit mixed realities (eine) andere Perspektive(n) wahrnehmen

Jens Palkowitsch-Kühl

Gestaltungsprinzipien für immersive Lernszenarien mit und über Virtual Reality

Miriam Mulders, Josef Buchner, Michael Kerres

III Virtualität konkretisieren

Vom Avatar zur ImmersionVirtual Reality im (Hoch-)Schulunterricht

Klara Pišonić

Immersive Visualisierungen durch Virtual Reality im Religionsunterricht: Eine Potenzialanalyse

Andreas Dengel, Verena Wetzel

Virtual Reality in der Christlichen ArchäologieZur Konzeptionierung virtueller Exkursionen und ihrem Einsatz in der universitären Lehre

Ute Verstegen, Lara Mührenberg, Falk Nicol, Jenny Abura

Vom Text zur (virtuellen) RealitätGrundsätzliche Überlegungen und Praxiserfahrungen nach dem Blick durch die VR-Brille in die Bibel

Martin Nitsche

Avatarbasiertes Lehren und Lernen in VR-Umgebungen in der Religionsdidaktik

Anne-Elisabeth Roßa

Virtual Reality zwischen digitalem Abenteuer und verantwortetem EinsatzEin Praxisbericht

Frank Wenzel, Holger Höhl

Autor*innenverzeichnis

Virtuelle Realität zwischen Transzendenz und Transzendierungen – zur Einleitung

Virtual Reality, der alte Traum der Digitalpioniere von einer ganz neuen, ganz anderen Welt, besteht in der Darstellung und Wahrnehmung einer in Echtzeit computergenerierten interaktiven Umwelt, in der sich ein Mensch mit entsprechender technischer Ausstattung scheinbar frei bewegen kann. In ersten Ideen bereits in den 1950er Jahren entwickelt und zunehmend als Cyberspace begehbar gemacht, wird sie vielfach verbunden mit den Entwicklungen und Visionen des Internet-Pioniers Jaron Lanier in den 1980er Jahren1, der heute als einer der explizitesten Kritikern der gegenwärtigen Entwicklungen gilt.2 Mit den wachsenden technologischen Möglichkeiten ist Virtual Reality inzwischen in vielen Bereichen in überaus greifbare Nähe gerückt.

Ein alles verbindendes Metaversum, das Metaverse als wesentlich digital durchprägter Raum, ist heute keine Utopie mehr: Dieser Raum entsteht im Zusammenwirken verschiedener Handlungsräume und Handlungsebenen der virtuellen, augmentierten und physischen Realität. Er wird erzeugt in vielfältigen Interaktionen von Menschen, Dingen und Daten, mit dem Ziel, in immer engerer Verknüpfung eine vernetzte Welt, die mit möglichst allen Sinnen und auf möglichst vielen Ebenen erfahren werden kann, zu erreichen. Auftrieb gibt hier aktuell die 2021 erfolgte Neuausrichtung und damit einhergehende Umbenennung des Facebook-Konzerns in „Meta“, der Entwicklungen im Bereich der XR – Extended Reality – intensiv unterstützt und mit einem immensen Investitionsaufwand vorantreibt.3

Virtual Reality als ein Aspekt dieser Verknüpfungen setzt auf die Immersion in eine als virtuell konstruierte Umwelt, die durch die Plausibilität dieser Umgebung und gelingend gestaltete Interaktivität von Schnittstellen im virtuellen Raum für die Nutzenden wesentlich an Überzeugungskraft gewinnt. Verknüpfungen zwischen Realität und Virtualität entstehen auch beim Erzeugen und Betreten von virtuellen Räumen, bei der körperlichen Erfahrbarkeit digital konstruierter Welten und im Prozess der ‚Dataisierung‘ der Welt und der Vernetzung dieser Daten zu eigenständigen, neu aufeinander wirkenden Realitäten. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Diese alte Frage stellt sich heute mit veränderten Vorzeichen. Systematische Theologie und Religionspädagogik, Pädagogik und Didaktik begegnen hier einer nicht mehr neuen ‚Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt‘ (Peter Handke), die zunehmend begehbar und gestaltbar wird. Die Veränderungen und Entwicklungen wirken auf Bildungszusammenhänge, auf anthropologische Grunderfahrungen, auf politische und globale Rahmenbedingungen. In einem langsamen Shift werden diese zumindest für Teile der Gesellschaften an Relevanz gewinnen und die Stratifizierung gesellschaftlicher Gruppen weiter vorantreiben. Dass hier körpernahe Daten entstehen, erzeugt, gemessen und verknüpft werden können in einem bislang kaum gekannten Ausmaß, stellt nur einen Teilaspekt dar, der kritische Begleitung erfordert. Welten und Technologien zu gestalten, mit Daten von Individuen zu vernetzen und diese Systeme stetig weiterzuentwickeln, wirkt längst als zentrales Instrument strategischer und politischer Macht. Das Metaverse hat das Potenzial, das Leben vieler Menschen auf grundlegender Ebene zu verändern, daher wiegt umso schwerer, dass viele Fragen auf technischer, sozioökonomischer, ethischer und rechtlicher Ebene offen sind und bislang der Entwicklung der großen Plattformen überlassen werden.4

Die gerne mit Science Fiction verbundenen technologischen Utopien sind in der Gegenwart angekommen. Die physisch wahrnehmbare Welt hat sich technologiegebunden inzwischen deutlich erweitert Schnittstellen der Interaktion von Mensch und Technologie werden immer differenzierter gestaltet: Die Augmentierung der Realität (AR) durch ein virtual layer ist im Alltag angekommen, ebenso wie die digitale Virtualisierung von bestehenden oder erfundenen Environments zugänglich wird. Was einmal jenseits der Realität schien, wird mehr und mehr Teil der menschlichen Alltagserfahrung. In einer postdigitalen Welt können online und offline kaum mehr auseinandergehalten werden. Die Virtuelle Realität (VR) als computergenerierte, interaktiv gestaltete Umgebung wird längst angewendet in verschiedensten Bereichen der realen Wirtschaft, des realen Militärs, der realen Wissenschaft und Forschung und zunehmend auch in der Bildung. Architekt*innen, Medizinstudierende, Verkaufsplattformen für Mode und Inneneinrichtung arbeiten längst mit VR und AR, um Modelle zu erproben, Handgriffe zu üben, Neues auszuprobieren, weit Entferntes zu aktualisieren. Im Unterhaltungssegment, im Bereich der Computer- und Videospiele, inzwischen aber auch in Kunst und Theater begegnet vermehrt der Einsatz von VR-Brillen. Der Umgang mit Augmentierungen in ganz verschiedenen Techniken, die in ihrer einfachsten Form in QR-Codes und Selftracking-Geräten genutzt werden, sowie in Filtern, automatischen Bildveränderungen und Bildgenerierungen hat Einzug gehalten in die Alltagspraxis der Menschen. Dadurch verändern sich körperbezogene und (bild-)kommunikative Praktiken.

In formalen und nonformalen Bildungszusammenhängen ist in den vergangenen Jahren ein deutlicher Impuls zu beobachten, AR und VR in Lernumgebungen zu integrieren. Der Vorteil liegt auf der Hand: Trainingssituationen können ohne Begrenzung wiederholt, erweitert und vielfach eingesetzt werden. Die nutzende Person erfährt sich in einer solchen Umgebung selbst als Handelnde in der Subjektposition. Für die Schulung an Maschinen, für den Umgang mit unübersichtlichen Situationen in der Sozialarbeit oder im Schulberuf, aber auch für Handgriffe, die trainiert werden müssen, entstehen zunehmend Anwendungen, Erprobungsprojekte und Konkretionen. Die fantasiereichen Kunstwelten des Cyberspace sind hier einfachen, schematisierenden Darstellungen gewichen, in denen bestimmte Aspekte des Handelns herausgehoben werden. Anderes tritt vollkommen in den Hintergrund. Komplexe und hyperrealistische interaktive Situationen mit ausgeprägter Immersion sind keineswegs unmöglich, aber in der Entwicklung derzeit noch aufwändig und teuer. Gemeinsam ist VR und AR, dass hier auf dem Weg der Medienintegration scheinbare Grenzen überschritten werden. Zugleich muss immer klar sein, dass die Bilder einer VR die Realität niemals ersetzen können – sie bleiben bei aller Überzeugungskraft gestaltete und darin begrenzte Umgebungen.

Auch für religiöse Bildungszusammenhänge und religionsbezogene Erfahrungsräume lassen sich Entwicklungen beobachten. Beispielsweise wurde im Mai 2022 auf der Re:Publica ein in VR zugänglicher Trauerraum5 vorgestellt. In theologischer Perspektive stellen sich derzeit grundlegendere Fragen des Zueinanders verschiedener Welten, in denen auch eine spezifisch theologische Expertise anzusiedeln ist: Die dynamische Verwobenheit von Raum und Nicht-Raum, Körper und Verkörperung, Realität und Fiktionalität ebenso wie die Verortungen in den Zusammenhängen der Virtualität berühren originär theologische Fragen. Wie verändern sich Theologie und religiöses Denken, wie verändern sich Menschen und ihre Beziehungen im Kontext von Augmentierungen und Virtualisierungen? Welche Wege beschreitet die Religionspädagogik, wie werden Fragen der Didaktik und der religiösen Bildung tangiert? Ist der Umgang mit Virtualität als Situation des Ins-Verhältnis-Setzens mit nicht greifbaren Realitäten vielleicht sogar eine Urform theologischen Denkens?

Es ist die Frage, ob sich überhaupt Grenzen ziehen lassen zwischen künstlerisch und künstlich, zwischen real oder virtuell, oder ob es nicht vielmehr auch von Interesse ist, diese zu überschreiten, zu trans-cendieren, immer im Bemühen um eine kritische Analyse gegenwärtiger Bewegungen und zukünftiger Entwicklungen.

„Transzendierungen – Überschreitungen“ war folgerichtig der Titel einer im September 2021 veranstalteten Tagung der Professur für Religionspädagogik und Mediendidaktik am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie hatte zum Ziel, theologische Positionierungen und interdisziplinäre Erkundungen zu AR/VR mit Fokus auf Bildungszusammenhänge zu unternehmen. Dies reagierte auf die Tatsache, dass die Zukunftsprognosen für die Verwendung von VR- und AR-Technologien in der Bildung nach oben weisen. Immer mehr Personen vor allem der jüngeren Generationen verfügen bereits über Erfahrungen mit VR und AR.6 Angesichts einer zunehmend digitalisierten Lebenswelt warnen jedoch Stimmen, auch in der Bildung, davor, technikgetrieben den jeweils aktuellen Hard- und Softwarelösungen hinterherzulaufen. „Im Zentrum der Debatte sollte die Frage stehen, wie Lehrkräfte digitale Medien im Unterricht einsetzen können, damit diese einen pädagogischen und didaktischen ‚Mehrwert‘ erbringen.“7

Der Begriff des didaktischen Mehrwerts gilt zugleich als „unklar, irreführend, bewahrpädagogisch und deshalb letztlich überflüssig“.8 Axel Krommer begründet dies damit, dass Aussagen über den Mehrwert immer Vergleiche implizieren. „Wann immer innovative Ideen formuliert werden, scheint der Mehrwert das ultimative Kriterium zu sein, das über die didaktische Güte eines Konzepts entscheidet. […] Da ein didaktischer Wert [aber] nicht absolut gesetzt ist, sondern in hohem Maße vom konkreten Kontext abhängt, besteht immer die Gefahr, dass schiefe Vergleiche angestellt werden.“9

Wir wollen nicht in die Unkenrufe nach dem ‚didaktischen Mehrwert‘ der VR einstimmen, sondern vielmehr ihren Eigenwert für Lernmomente in religionsbezogenen Zusammenhängen erkunden und erschließen.

Inzwischen bewegt sich die Mediendidaktik vom Erproben der Technologien hin zum partizipativen Gestalten und Erkunden von immersiven Environments. Angesichts solcher gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen stellen sich neue Forschungsaufgaben für den mediendidaktischen Einsatz der handhabbar gewordenen digitalen Utopien im Unterricht an Schulen und in der Hochschullehre. Auch für den Religionsunterricht sowie in (theologischen) Studiengängen lassen sich entsprechende Szenarien entwickeln. Welche Perspektiven in Forschung und Lehre leiten sich aus den digitalen Entwicklungen ab, welche Grenzen gilt es zu beachten?

Erstmalig wurde mit dem Frankfurter Fachgespräch ein Status quo theologischer und religionspädagogischer Forschung im Dialog mit weiteren angrenzenden Disziplinen vermessen und anhand mediendidaktischer Einblicke aus Schule und Hochschule diskutiert. In verschiedenen Zugängen werden diese Konsequenzen reflektiert und die Vielzahl und Vielfalt der Möglichkeiten aus ihrer jeweiligen Perspektive erkundet. Im Zielgebiet steht dabei die theologische Reflexion zu AR und VR, denn die Theologie samt ihren verschiedenen Fachdisziplinen ist angesichts neuer Technologien, medialer Möglichkeiten und gesellschaftlicher Veränderungen kontinuierlich herausgefordert, die gegenwärtigen Entwicklungen kritisch und zugleich dialog- und lernbereit zu begleiten.

Um die Diskussion weiter voranzubringen und auch mit dem Ziel, mediendidaktische Perspektiven in der Religionspädagogik zu stärken, versammelt der jetzt vorliegende Band „Virtuelle Realität und Transzendenz – Theologische und didaktische Erkundungen“ Diskussionen der Tagung und ergänzt darüber hinaus weitere Beiträge aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen und Praxisprojekten, in denen (nicht nur) religionsbezogenes Lernen in VR-Umgebungen erprobt wird. Hier treten jüngere und arrivierte Forscher*innen und Praktiker*innen in einen anregenden Dialog, um Positionen und Perspektiven auszuloten.

Der Band gliedert sich in drei Bereiche: Realität erweitern – Digitalität erschließen – Virtualität konkretisieren.

Im ersten Teil, „Realität erweitern“, sind theologische und philosophische Grundsatzbeiträge versammelt.

Knut Wenzel stellt die angesichts eines sich erweiternden Realitätsverständnisses der digitalbezogenen Entwicklung keineswegs triviale fundamentaltheologische Grundfrage nach der Realitäts-(un)gebundenheit des Glaubens: „Braucht religiöser Glaube Realität?“ und diskutiert dies entlang der sakramentalen Dynamik von An- und Abwesenheit. Er warnt vor einer vorschnellen Gleichsetzung von Virtualität und Geheimnischarakter des Glaubens, dessen Unverfügbarkeit als entscheidendes Merkmal seiner Realität zu verstehen ist. Viera Pirker nimmt in ihrem Beitrag grundlegende mediendidaktische Orientierungen zu Körper und Erfahrung im virtuellen Raum vor. Die Erschaffung künstlicher Umgebungen, die rezeptiv genutzt werden können, stellen Erweiterungsversuche des Individuums dar, in denen Spiele mit Grenzen und Überschreitungen von Körper und Erfahrung festzustellen sind. Auf Horizonterweiterungen spielt Annette Langner-Pitschmann an, indem sie die Spuren virtueller Realität im Hinblick auf die Strukturen theologischen Verstehens und Erkennens religionsphilosophisch und erkenntnistheoretisch verfolgt. Anhand des Phänomens der Gewohnheitsbildung zeigt sie, wie sich die Erweiterung der Realität um die Dimension der Virtualität auf die Struktur menschlichen Handelns und Urteilens auswirkt. Joachim Valentin zeigt in seinem Beitrag über den Zusammenhang von Fiktionalität und Kritik anhand einiger Beispiele aus der bildenden Kunst und gegenwärtiger Medienproduktion, in welche historische Tradition die Darstellung religiöser Inhalte mit virtuellen Räumen, Figuren und Narrativen eingeordnet werden kann, und diskutiert als entscheidende Antwort auf die Herausforderung virtueller Realität ein Modell theologischfiktionaler Anthropologie mit und nach Wolfgang Iser.

Der zweite Teil des Bandes, „Digitalität erschließen“, nimmt Konkretionen und Grundlegungen der Theologie, der Pädagogik und Didaktik durch die Beschäftigung mit Virtueller Realität vor.

Die kritische Frage, wie sich vor dem Hintergrund von virtuellen Welten Zukunft denken lässt, wirft Christian Preidel auf. Dabei geht es ihm vor allem darum, dass VR das Versprechen von Offenheit und Emanzipation nicht nur simuliert, sondern auch einlöst. Lukas Brand zeigt am Beispiel der App Replika gegenwärtige Möglichkeiten und Grenzen der Reproduktion menschlicher Eigenschaften und Funktionen im technischen Medium der virtuellen Realität. Dazu weist er zunächst die technische Reproduktion des Menschen als Projekt der Reichweitenvergrößerung aus und wendet abschließend die entwickelte These auf Replika an. Für den Bereich religiöser Bildung führt Jens Palkowitsch-Kühl in seinem Artikel die Aspekte Perspektivenwechsel und Positionalität als besonders anschlussreiche religionsdidaktische Schwerpunkte in der Arbeit mit VR bzw. XR aus. An diese Thematik anknüpfend formulieren Miriam Mulders, Michael Kerres und Josef Buchner Gelingensbedingungen für den (hochschul)didaktischen Einsatz von VR. Ihre Empfehlungen für die Gestaltung von VR-Lernszenarien beziehen sich dabei auf die Konkretisierung von Lernmöglichkeiten in und über VR.

Im dritten Teil des Bandes, „Virtualität konkretisieren“, erfolgen verschiedene spezifische Konkretionen in hochschuldidaktischen und schulischen Bildungszusammenhängen.

Im (hoch)schulischen Bereich bewegt sich Klara Pišonić, die einen didaktischen Blick auf den VR-Einsatz in der Vermittlung von Theologie wirft. Neben einem kurzen Aufriss über die verschiedenen Arten von VR erfolgt ein Überblick über mögliche religionspädagogische Einsatzorte. In eine ähnliche Richtung, doch mit anderer Grundlegung, nehmen Andreas Dengel und Verena Wetzel eine Potenzialanalyse immersiver Medien für den schulischen Religionsunterricht in den Bereichen der abbildungsgetreuen Substitution und konkretisierenden oder metaphorischen Redefinition vor, indem sie eine Einordnung nach den mit den Inhalten verbundenen Visualisierungen und deren Aufgabenstrukturen aus dem hessischen Lehrplan für Evangelische und Katholische Religion in eine eigens entwickelte Potenzialmatrix vornehmen. Einen tiefen Einblick in die Implementierung von Virtual Reality in der Hochschullehre ermöglicht der Beitrag von Ute Verstegen, Lara Mührenberg, Falk Nicol und Jenny Abura. Sie stellen vielfältige Erfahrungen zur Entwicklung virtueller Exkursionen in der Hochschuldidaktik vor, zeigen Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von VR-Technologie für die universitäre Lehre der Christlichen Archäologie auf und stellen Materialien zur Diskussion, die als Open Educational Ressources auch durch andere genutzt werden können. Ebenfalls in einem fächerspezifischen Kontext blickt Martin Nitsche durch die VR-Brille auf neue Möglichkeiten des biblischen Lernens. Er stellt die besonderen Herausforderungen der Textrezeption eines Buches, auch in den Grenzen von Schrift und Digitalität, dar und spricht sich im Hinblick auf die Entwicklung von VR für spielerische Neukonstruktionen des (Bibel-)Textes aus. Durch die zunehmend erschlossenen Einsatzmöglichkeiten virtueller Realitäten im Religionsunterricht fordert Anne-Elisabeth Roßa mehr Lehr- und Lernszenarien in VR-Umgebungen in der Religionslehrer*innenbildung. Die Autorin reflektiert den an der Universität Hildesheim bereits erprobten Einsatz avatarbasierter virtueller Lernumgebungen bei dieser Zielgruppe. Über die Erprobung von VR-Lernumgebungen zum Thema Kirchraumbegegnung in der Jahrgangsstufe 6 eines Gymnasiums in Offenbach berichten und reflektieren schließlich die Religionslehrer Holger Höhl und Frank Wenzel in ihrem Beitrag, der VR zwischen digitalem Abenteuer und verantwortetem Einsatz diskutiert.

Wir danken allen Beitragenden zu diesem Band für ihre Bereitschaft, ihre Gedanken in innovativen Impulsen für das multidisziplinäre Gespräch zu öffnen. Besonders freuen wir uns, dass wir im Nachgang zur Tagung weitere Autor*innen mit wegweisenden Projekten und Perspektiven hinzugewinnen konnten. So ist ein Buch entstanden, das die Möglichkeiten der Virtual Reality in theologischen und religionsbezogenen Bildungszusammenhängen auf dem jetzigen Stand umfangreich abbildet. Anfragen und Kritik finden sich darin ebenso wie didaktische Möglichkeiten und theologische Experimentierfreude.

Bei der Vorbereitung und Durchführung der Online-Tagung und der Aufbereitung des Streams für die langfristige Abrufbarkeit haben Maximilian Barthel und Jan Schäfer wesentlich unterstützt. Das Manuskript des Buches wäre ohne die akribische Begleitung durch Lia Alessandro, Leo Bormann und Beate Müller nicht fertig geworden. Bezüglich der Abbildungen im Buch haben sich die Herausgebenden umfangreich bemüht, alle Rechte zu klären und daraus entstehende Ansprüche abzugelten. In einem Fall steht die Antwort zum Zeitpunkt Drucklegung noch aus. Verbunden wissen wir uns dem Medienzentrum Frankfurt und dem Bistum Limburg, die den VR-Projekten der Professur für Religionspädagogik und Mediendidaktik unterstützend und auch mit technischer Infrastruktur zur Seite stehen.

Besonderer Dank gebührt dem GRADE-Center Religion und Theologie an der Goethe-Universität, das die Early Career Researcher vielfältig unterstützt und sowohl die Durchführung der Tagung als auch das Entstehen der Publikation maßgeblich finanziell und ideell ermöglicht hat.

Frankfurt am Main im September 2022

Viera Pirker und Klara Pišonić

1 A. Heilbrun, B. Stacks, Was heißt „virtuelle Realität“? Ein Interview mit Jaron Lanier, in: M. Waffender (Hg.), Cyberspace. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, Reinbek bei Hamburg 1991, 67–87.

2 Vgl. J. Lanier, Anbruch einer neuen Zeit. Wie Virtual Reality unser Leben und unsere Gesellschaft verändert, Hamburg 2018.

3 Meta, IntroducingMeta: A Social Technology Company, in: https://about.fb.com/news/2021/10/facebook-company-is-now-meta/ (Download: 30.8.2022).

4 Vgl. H. Boche, F. Fitzek, Am Lagerfeuer der Zukunft, in: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/metaverse-unternehmen-tuefteln-an-virtuellen-welten-18051009.html (Download: 23.5.2022).

5 Vgl. W. Beck, Trauernden Menschen einen neuen Raum geben, in: https://www.feinschwarz.net/trauernden-menschen-einen-neuen-raum-geben/#more-35931 (Download: 7.7.2022).

6 Bitkom e. V., Fact Sheet: Augmented Reality (AR) & Virtual Reality (VR) 2021/22, 2021, in: https://www.bitkom.org/sites/default/files/2021-10/211005_ct_fact-sheet_ar-vr.pdf (Download: 29.10.2021).

7 Gesellschaft für Erziehung und Wissenschaft, Augmented und Virtual Reality in der Bildung, in: https://www.gew.de/bildung-digital/augmented-und-virtualreality (Download: 30.9.2022).

8 A. Krommer, Wider den Mehrwert! Argumente gegen einen überflüssigen Begriff, in: ders., P. Wampfler u. a. (Hg.), Routenplaner #digitaleBildung. Auf dem Weg zu zeitgemäßem Lernen. Eine Orientierungshilfe im digitalen Wandel, Hamburg 2019, 115–123, hier: 115f.

9 Ebd.

IRealität erweitern

Braucht religiöser Glaube Realität?

Knut Wenzel

Einleitung

Die mir zur Bearbeitung vorgelegte Frage scheint auf einen truism hinauszulaufen – wenn von der Auffassung dieser Frage abgesehen wird, dass mit der „Realität“, die der Glaube brauche (oder nicht), seine substantielle Wahrheitsfähigkeit gemeint ist. Nicht mehr trivial ist es, die Frage nach der Angewiesenheit religiösen Glaubens auf Realität zu bejahen, wenn diese Frage auf dem Hintergrund der Weltbildtransformationen gestellt wird, wie sie im Gefolge der Digitalisierung aller Lebens-, Wissens-, Arbeitsbereiche möglich und vorangetrieben werden: Wenn Wirklichkeit diese nicht mehr ist, sondern reality 1.0, wodurch sie selbst auf ein Digital-Paradigma aufgesetzt worden und nun in ihren Virtualitätsableitungen durchzählbar ist – 2.0, 3.0, ad infinitum; wenn Virtualität als Erweiterung, Ergänzung, am Ende Ersetzung von Wirklichkeit erscheinen soll, mit cyborgism, Posthumanismus, Transhumanismus als anthropologische Seite derselben Medaille –, dann versteht sich die Bejahung der Realitätsangewiesenheit religiösen Glaubens keineswegs mehr von selbst.

Im Folgenden sollen Gründe und Konsequenzen dieser Statuierung eines realistischen, wenn nicht materialistischen Glaubens zunächst auf einer konkretions-, sodann auf einer begriffsbezogenen Linie angesprochen werden.

1 Realität konkret: Leib

Die lebensweltlich sowohl konkreteste als auch undistanzierbar unmittelbare Weise, mit Realität konfrontiert zu sein, besteht in der Körperlichkeit, der Eigenleiblichkeit individuellen Lebens.

Die biblische Anthropologie ist körperdimensioniert; wesentliche Bestimmungen des Menschseins sind von Körperorganen und vom Körper insgesamt her konzipiert und bleiben der Körpersemantik verhaftet.

So bezeichnet jener Begriff, in dem die Septuaginta durchgängig die Bedeutung „Seele“ erkennt und mit psychē übersetzt, hebräisch zunächst die Kehle: nefesch. Was Seele ist, wird so auf dem Bedeutungsfeld des Körpers bestimmt. Ist Seele das Lebendigkeitszentrum des Menschen, so im Sinn der Kehle: jenes Organs, das verletzlich und ungeschützt ist, durch das der Mensch aufnimmt, was ihn lebendig sein und fortleben lässt, Nahrung und Luft, durch das er im Puls des Ein- und Ausatmens sich unmittelbar körperlich mit der Welt im Austausch befindet. Die enorme Verschlingungsenergie, die sich mit dem Bedeutungsgrund „Kehle“ verbindet, und die in Hinsicht auf die Seele als Lebendigkeits-Bedürftigkeit charakterisiert werden kann, wird biblisch am anderen Ende dieses Bedeutungsfelds manifest artikuliert: Es ist der Tod, dessen nefesch so unersättlich ist, dass sie alles Leben zu verschlingen droht.1

Einigermaßen universal dürfte die Praxis sein, dem Herzen eine anthropologische Bestimmungskraft zuzutrauen. Beim hebräischen leb kommt es aber nicht zur kompletten Abkoppelung ins nur Metaphorische. Wie bei nefesch bleibt auch bei leb die Rückbindung ans Organ erhalten. Als dieses zentrale Organ körperlicher Lebendigkeit ist leb Urteils- und Handlungszentrum des Menschen, Sitz des Willens und der praktischen Vernunft: Wir orientieren uns und handeln in der Welt leibhaftig.

Schließlich wird ein lebendiges Wesen in seiner handlungsfähigen Individualität basar genannt: Fleisch. Das Individuum wird dem Leib abgelesen; das Selbst ist leiblich. Es gibt kein abstraktes Gattungskollektiv: kol-basar – alles Fleisch – ist nicht die Menschheit, sondern die Totalität der leibhaftigen Selbste. Bei kol-basar können zudem die Gattungsgrenzen fluid werden: Die Totalität der leibhaftigen Selbste kann auch die Tiere mit einbegreifen: kol-basar – alles Lebendige. In Gen 6,12 sind die Tiere mit in die Schuldverantwortung einbezogen. Dieses Körper-Denken ist jedenfalls nicht inkarnatorisch, kein Geistiges dringt hier von außen ins Leibliche ein, sondern leibhaftig.

Mit basar ist der lebendige Mensch wesentlich in seiner Hinfälligkeit bestimmt. Eigentlich wird der Mensch in seiner Lebendigkeit selbst als hinfällig aufgefasst. Lebendig ist, was krank werden, was sterben kann. Ein lebendiges Selbst – handlungsfähig, verantwortlich, selbst-bewusst – ist, wer fehlgehen kann, wer schuldig werden, wer in Sünde geraten kann. Diese zweifache, physische und moralische, Hinfälligkeit wird von basar mit Lebendigkeit kurzgeschlossen.

Diese basar-Existenz ist es, in die hinein der das Johannesevangelium eröffnende Hymnus den Logos, den er zuvor als Gestalt des principium creationis, der Gottesnähe, ja der Gottesidentität statuiert, eingehen lässt. Der Logos, der kommende Gott, hat einen Ankunftsort, das ist der fleischerne Leib: die Materialisation hinfälliger, in Anfechtung befindlicher Lebendigkeit. Radikaler noch spiegelt sich das im Hymnus, den Paulus in den Philipperbrief aufgenommen hat: Hier entäußert sich der Sohn in die Menschengestalt hinein, indem an seiner Göttlichkeit nicht festhält – als wäre diese, festgehalten, ein Raub, ein Vorenthalt. Ein tritt er in die Menschlichkeit auf ihrem niedersten ontologischen level, als Sklave, als dem Tod gehörig. Durch den Tod als Mensch hindurch entleert Gott sich: kenotische Inkarnation – ultimative Würdigung leibgebundener – basar, sarx, carnis – Menschlichkeit in ihrer Todesschwäche. Inkarnation heißt: Korporealisation des Logos, Körpervergegenwärtigung, -verwirklichung Gottes. Im Zentralgedanken des Christentums gibt es keine Leibfeindlichkeit, keine Somatophobie, vielmehr einen Realismus des Leibs. Jesus, der ohne Sünde ist, geht in den Tod und durch ihn hindurch: Die Sünde, so real sie ist und uns bedrängt, gehört, auch wenn wir sie zu verantworten haben, nicht zu unserer Natur; der Tod hingegen schon. Wenn Jesus Erlösung durch seinen Tod erwirkt, dann im Durchleben der menschlichen Natur.

Auch das um die Auferstehung zentrierte Syntagma der Geschehnisse stellt, wie Evangelien und Apostelgeschichte es berichten, keine Rücknahme der Inkarnation – des fleischernen Anteils an ihr – dar. Das berechtigte und nicht zu diffamierende Anliegen des Thomas zielt auf den körperlichen – durch das Sehen und Berühren des Körpers, also ästhetisch hergestellten – Erweis der Identität dessen, der sich als der Auferstandene präsentiert, mit dem Gekreuzigten. Und sowohl die Verklärung als auch die Himmelfahrt Christi werden als ästhetische Ereignisse erzählt, als sich den Sinnen vermittelnde Präsentation Christi in seiner Leiblichkeit. So haben es auch die Maler verstanden, die diese beiden Heilsmysterien ikonotypisch durch die Geschichte der christlichen Kunst hindurch ausgestaltet haben. Wenn Verklärung Transfiguration bedeutet, dann in die vollkommene Schönheit des Körpers hinein; wenn Himmelfahrt die Wegnahme des Gegenwärtigen in seine (himmlische) Abwesenheit bedeutet, dann unter der Gestalt des Inkarnierten: Diese wird in der oder als Himmelfahrt noch einmal nachdrücklich gesetzt – gesetzt nämlich, das lassen die Himmelfahrtsdarstellungen anschaulich nachvollziehbar werden, als Zeichen der anwesenden Abwesenheit: Leib Christi.

In diesem Zeichen wird nun eine, vielleicht die einzig legitime Abstrahierung der Inkarnation zu sehen sein: ihre Signifikation. Diese aber mündet ins – oder geschieht als – Sakrament. Diese sakramentale Dynamik stellt gerade keine Dekorporation Christi dar, sondern eine Versinnlichung der Gnade: „Nehmt, das ist mein Leib.“2 Die Abwesenheit Christi ermöglicht eine neue Gegenwart: gebunden nun ans Zeichen, real präsent stets und überall, wenn und wo das Sakrament gefeiert wird. So bedeutet dieses Zeichen als sakramentales keinen Widerruf der Korporealität der Inkarnation, ist doch die Feier sein ästhetischer – mit allen Sinnen zu erfahrender – Leib.

Damit die neue, transgeschichtliche und globale Präsenz Christi unterm Sakrament möglich wird, setzt dies die Abwesenheit des geschichtlichen Jesus Christus voraus. Dass dies keine inane Absenz sei, wird durch ihre Charakterisierung als „himmlisch“ zu verstehen gegeben. Die sakramentale Dialektik von Abwesenheit und Anwesenheit ist dieselbe, die der johanneische Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern in der dritten Abschiedsrede über den Parakleten darzulegen sucht: Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch nützlich, dass ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7).

In Theologie und Glaubensleben findet das Verhältnis zwischen Christus und Heiligem Geist durchaus spannungsvolle Resonanz. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird eine Geistvergessenheit in Theologie und (katholischer) Kirche beklagt; gegen eine Christozentrik wird eine Pneumatozentrik durchzusetzen versucht. In der pluralistischen Religionstheologie wird gegen eine nur partikulare, exklusiv das Christentum meinende Christusvermitteltheit eine universale, wohl weil unspezifische, Geistvermittlung göttlichen Heils ausgespielt. Charismatische und Pfingstbewegungen priorisieren die Geisterfahrung und platzieren sie gegen eine eucharistische oder ekklesial mediatisierte, jedenfalls christusbezogene religiöse Erfahrung. – Das in diesen Entwicklungen virulente pneumatische Prinzip scheint nun aufgrund der Körperlosigkeit, A-Materialität und eben Geistigkeit des Pneumas eine theologische und religiöse Blaupause für eine vom Schwergewicht der Korpo-Realität entkoppelte Feier des Virtuellen zu bieten. Paulus hat sich schon mit dem Elitebewusstsein pneumatischer Enthusiasten auseinandergesetzt, die ihre körperlich-weltlich-reale Existenz als Schein disqualifizierten, und ihnen deren unveräußerlichen Wert vorgehalten. Die Erfahrung des Geists enthebt nicht von der eigenen Körper-Realität, sondern heiligt sie: „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geists in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“ (1 Kor 6,19) Das sagt Paulus, dem die Ambivalenz von basar als todes- und sündenhinfällige, materiale Lebendigkeit in der Spannung von sōma und sarx vollauf präsent ist. Dass das reale Leben uns nicht unversehrt lässt, hindert nicht, es doch zu leben. Das mag eine Grenze haben an einer schieren Unerträglichkeit des Lebens, doch gewiss nicht an einem Dünkel gegenüber stofflichkörperlicher Lebendigkeit. Unkörperlich gibt es vielleicht die technische Funktionabilität einer Apparatur, nicht aber Lebendigkeit.

Unvereinbar ist jede christo-pneumatische Konkurrenz mit dem mysterium trinitatis. Für die ökumenische Trinität gilt: „Keine Person wirkt etwas ganz allein.“3 Und für das spezifische Verhältnis Christi und des Geists: „Der ‚lebendigmachende Geist‘ von 1 Kor 15,45 ist der gleiche wie das fleischgewordene Wort von Joh 1,14, wie der, den Maria vom Heiligen Geist empfing“ (Lk 1,35).4 Das bedeutet für das Verhältnis des Heilswirkens von Christus und Geist: Der „Geist ist der Geist Jesu Christi. Er tut kein anderes Werk als das Werk Jesu Christi. Es gibt kein Zeitalter des Parakleten, das nicht die Zeit Jesu Christi wäre, wie Joachim von Fiore es sich vorstellte“.5

Dem Heilsrealismus der Inkarnation, der pneumatisch nicht auf einen Virtualismus hin durchbrochen, sondern als solcher bestätigt wird, entspricht eine ebenso körperrealistische Heilshoffnung, wie sie in den Bekenntnistexten kodifiziert worden ist. So hat der in der traditio apostolica vom Anfang des 3. Jahrhunderts überlieferte Text, der eine der Quellen des so genannten Apostolischen Glaubensbekenntnisses darstellt, die in der Taufliturgie vorgehaltene Frage – credis … carnis resurrectionem?, worauf der Taufbewerber antwortet: credo.6 Und das bis zur Liturgiereform neben Apostolicum und Nizäno-Konstantinopolitanum gleichwertig in der Liturgie verwendete Quicumque (spätes 5. Jahrhundert) kennt an identischer Stelle die bedeutungsgleiche Formulierung: Ad cuius adventus omnes homines resurgere habent cum [in] corporibus suis.7

Dass der Gott den Menschen in dessen Fleisch aufsucht, dass für den Menschen Rettung im Fleisch, korporeal, erhofft wird, dass also, mit dem einschlägigen Kardinalsatz gesagt, caro cardo salutis (est), das Fleisch die Angel ist, um die herum die Tür des Heils sich öffnet8 – dies muss als bemerkenswert gelten. Karl Rahner gelangt in einer Analyse des Geheimnisbegriffs in der katholischen Theologie zu dem Ergebnis, dass es nur drei mysteria stricte dictu im christlichen Glauben gibt: die Inkarnation; die deswegen nötige trinitätstheologische Differenzierung des Gottesbegriffs; dass der Mensch überhaupt gerettet werden kann – nämlich leiblich.9 Die Alternative, entweder zum Tod die Haltung des ‚So, das war’s‘ einzunehmen oder einen Rettungsweg darüber hinaus unter Zurücklassung des Körper-Ballasts zu denken, ist doch intuitiv plausibler, als sich das Schwergewicht des Fleischs aufzubürden für den Weg ins Heil. Schon kognitiv ist die Last groß, denn wie soll eine Auferstehung im Fleisch sich vorgestellt und gedacht werden? Und um wie viel mehr gilt das, ins Existentielle gewendet:

Was die genannte Alternative, die basar-Wirklichkeit in einer Art Endlichkeitsimmanentismus mit dem Tod auf sich beruhen zu lassen oder aber sich in der Flucht eines gnostisch emphatisierten Platonismus von ihr abzuwenden, so plausibel erscheinen lässt, ist die hochgradige Leidensproduktivität dieser in biblischer Tradition, Paulus inklusive, festgehaltenen Ambivalenz jener basar-Wirklichkeit, die in ihrer Krankheits-, Todes- und Sündenhinfälligkeit nicht nur jeweils akute Depravationen bereithält, sondern die Fundamentalerfahrung einer Ausgeliefertheit. Vor dem Hintergrund dieser Alternative in Anthropologie, Theologie, Soteriologie und Eschatologie – also in systematischer Durchbestimmung der gesamten Doktrin des Christentums – an der Vollendungshoffnung für die Realität des Fleischs und im Durchgang durch sie festzuhalten, ist, um das Mindeste zu sagen, anspruchsvoll. Der Anspruch besteht darin, das Leben in seiner Unbewältigbarkeit ins Zentrum der Heilsperspektive zu stellen.

2 Realität im Begriff: Unverfügbarkeit als Bestimmung von Wirklichkeit

Damit ist der Wechselschritt hinüber auf die zweite Argumentationslinie schon vollzogen, die nur noch angedeutet werden soll. Das Leben in seiner Unbewältigbarkeit: der Gedanke schöpft bereits aus dem Begriff von Realität, wie er hier vertreten wird. Dessen Kern bildet eine schlichte Objektivitätsbestimmung: Als objektiv soll gelten, was unabhängig von meiner Wahrnehmung existiert.

Je weiter im Radius und je tiefer in der Qualität das Moment der Unabhängigkeit bestimmt wird, desto mehr verliert das, ‚was unabhängig von meiner Wahrnehmung existiert‘, jeden Objektcharakter und desto deutlicher wird dieses als unverfügbar erkennbar. Das Objektive ist nicht wesentlich durch seinen Objektcharakter bestimmt, sondern durch seine Unverfügbarkeit. In der Emphase des Unbewältigbaren berührt sich das unverfügbar Objektive mit dem Realen im Verständnis Jacques Lacans: Das Reale ist jene Dimension an der Wirklichkeit, an der unsere Techniken und Strategien, sie für uns lebbar zu machen, zerschellen. Wenn das Ergebnis des ersten Gangs dieser Überlegungen triftig ist – dass Gnade bedeutet, das Leben in seiner Unbewältigbarkeit ins Zentrum einer Perspektive des Heils zu rücken –, ergibt sich daraus als Aufgabe einer Theologie nach (post et secundum) Lacan, das Reale als Fels des Zerschellens unserer Lebensversuche in seiner Gnadenfähigkeit zu denken, ohne es um die Wucht seiner Negativität zu erleichtern.

Ein prononcierter Modus der Wahrnehmung von Wahrnehmungsunabhängigkeit liegt in der ästhetischen Erfahrung vor. Die ästhetische Erfahrung realisiert das Wahrgenommene in seiner Unverfügbarkeit – und zieht Genuss daraus. Die Quelle ästhetischen Genusses liegt nicht in der Unverfügbarkeit des Wahrgenommenen an sich, sondern in der reflexiven Selbst-Wahrnehmung, die in die ästhetische Erfahrung hinein gefaltet ist. Für die ästhetische Erfahrung des Naturschönen lässt sich dann sagen, „dass die Natur sich für den Menschen als etwas Unverfügbares erweist, das ihm nicht einfach gegenübersteht, sondern dessen Teil er ist […]. In der Natur machen wir die Erfahrung der Selbsttranszendenz: Das heißt wir machen die Erfahrung, dass wir nicht alles kontrollieren können. Indem wir die Unverfügbarkeit der Natur erleben, erfahren wir auch unsere eigene Unverfügbarkeit“.10

Unter Ausschöpfung des Schillernden, das dem (philosophischen) Naturbegriff eignet, sei ohne weitere Vermittlung in Erinnerung gerufen, dass in der Metaphysik natura das Wesen, die auszeichnende Eigentümlichkeit eines Seienden bezeichnet. Nun hat, aus platonischen Quellen geschöpft und neuplatonisch an die christliche Theologie vermittelt, der Gedanke des Übernatürlichen, der Übernatur sich ausgebildet, scholastisch durchkonzipiert, vom Gnadenstreit (um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert) bis in die Neuscholastik des 19. Jahrhunderts verfestigt zur dubiosen Zwei-Stockwerks-Lehre von ordo naturalis und ordo supernaturalis, in welchem Stockwerkdenken Gnade – qua Übernatur – als eine Art upgrading der Natur erscheinen kann. Könnte das Schema nicht wiederum wie eine religiös-theologische blueprint für Phantasien einer augmented reality erscheinen, für virtual reality als die bessere Wirklichkeit, wiederum ausgestattet mit der anthropologischen Agenda einer Durchsetzung des – technisch – verbesserten Menschen im Spektrum von cyborgism, Post- und Transhumanismus?

Das Übernatürliche wird nicht als Ableitung, und sei es in verbesserter Fassung, der Natur gedacht. Filiativ ist die Übernatur von der Natur aus nicht erreichbar. Natur und Übernatur stellen theologisch die Schöpfungs- und die Gnadenperspektive dar. Als Gnade gedacht, ist die Übernatur Maurice Blondel zufolge dem Menschen (in seiner geschöpflichen Natur) sowohl absolut unmöglich zu erreichen als auch absolut notwendig.11 Gnade kann demnach nicht in Kategorien der Optimierung, des enhancement gedacht werden. Die Vollendungsdynamik der Gnade folgt vielmehr einer Dialektik des unverdienten Entgegenkommens. Mehr noch, die Dialektik der Gnade steht unter Gottesvorbehalt: „Das Ü.[bernatürliche] ist nicht primär ungeschuldete Gabe, sondern Gott selbst, der den Menschen an seinem Leben teilhaben läßt.“12 Das Übernatürliche ist wohl ungeschuldete Gabe, jedoch als Weise, wie Gott im Verhältnis zum Menschen und zur Welt qua Schöpfung insgesamt ist, als Seinsweise des sich gebenden Gottes. Wird hinzugenommen, dass Gott metaphysisch als ens realissimum, als wirklichstes Seiendes gedacht werden kann, ist dem Versuch, vom Begriff des Übernatürlichen her der Virtualität eine theologische Legitimation herzuleiten, jeder Weg verbaut. Die hier manifeste Weltbildalternative wird von Slavoj Žižek deutlich markiert, indem er den gnostischen Charakter des Cyber-Versprechens benennt: Spuren des Gnostizismus sind selbst in der heutigen Cyberspace-Ideologie klar erkennbar: Ist nicht der technophile Traum von einem reinen virtuellen Selbst, losgelöst von seinem natürlichen Körper, in der Lage, von einem Kontingent und einer temporären Verkörperlichung zur anderen zu floaten, die letzte wissenschaftlich-technologische Verwirklichung des gnostischen Ideals der von Verfall und Trägheit materieller Realität befreiten Seele?13

Religiöser Glaube als Glaube an diesen Gott hat es mit der wirklichsten Wirklichkeit zu tun. Kann Gott unbeschadet der inzwischen gängig gewordenen Vorbehalte gegenüber einem metaphysischen, „onto-theologischen“ Verständnis Gottes als Inbegriff der Realität gedacht werden, hat die Unverfügbarkeit, wie sie hier als das entscheidende Merkmal von Realität konzipiert worden ist, in Gott ihren absoluten Grund.

Schlussüberlegungen

Virtualität reicht auch im Verständnis von augmented reality nicht ins Übernatürliche hinein. Dieses als Gnade verstanden, als Gott, der sich gibt, ist ‚wirklichste Wirklichkeit‘, die unverfügbar ist, nicht in einem Modus des Sich-Entziehens, sondern als entgegen kommende – konterkarierende, widerständige, durchkreuzende… – Selbst-Gabe Gottes. Augmented reality ist Natur, technisch einfach abgeleitet. Virtual reality mag im Konsum noch so immersiv sich auswirken, da ist nichts Divines an ihr. Sie vermag deswegen auch das Heilige um keinen Deut substantieller zu vergegenwärtigen als vordigitale Techniken. Keine Technik whatsoever hat genuinen Zugang zum Heiligen. Jeder Technik ist zuzutrauen, Simulakren des Heiligen zu produzieren, der digital erzeugten Technik vielleicht, dies nach gegenwärtigem Stand am perfektesten hinzukriegen, im Maß technischer Produzierbarkeit.

Eine Philosophie der Virtualität14 hätte eine Agenda: den ontologischen Status des Virtuellen – seinen Realitätsmodus – zu bestimmen, unter Einschluss der Möglichkeit, das Virtuelle als Kritik des Realen aufzufassen und nicht immer nur in euphorischer Affirmation des technisch Möglichen zu befeiern; das Verhältnis der Virtualität zur Einbildungskraft, zur Imagination als genuines Vermögen des Subjekts zu klären: Ist jene die technische-verdinglichende Manifestation von dieser oder etwas anderes und eigenes? Ist virtual reality die technische Mimikry der intellektuellen Anschauung?…

Die Welt der Virtualität und des cyber ist, auch, Pop-Kultur, bis hin zur Figur des Techno-Nerds. Deswegen sei zum Schluss eine popkulturelle Referenz erlaubt. Whatever gets you through the night, ’salright, ’salright: John Lennons Expertise folgend,15 ist Virtualität willkommen als tool, um mit der basar-Verhaftetheit unserer Existenz zurechtzukommen. Aber Heilung vom Verhängnisvollen dieser Haftung bietet Virtualität nicht. Davon wird sich überzeugen müssen, wer nach Abnahme der VR-Brille sich unverändert in der eigenen Körper-Existenz wiederfindet. Nicht einmal die in dieselbe eingebaute Endlichkeit bietet an und für sich eine Befreiungsperspektive, nur, wenn es eine Endlichkeit nicht ins Nichts, sondern in die Fülle ist. Das aber ist Theologie. Sie hat es mit der ‚wirklichsten Wirklichkeit‘ zu tun. Die Verhältnisbestimmung zu dieser heißt: Glaube, nicht Virtualität.

1 Vgl. Hab 2,5; Spr 27,20.

2 Mk 14,22; vgl. Mt 26,26; Lk 22,19; 1 Kor 11,24.

3 Y. Congar, Der Heilige Geist, Freiburg i. Br. 1982, 233.

4 Ebd., 192.

5 Ebd., 190.

6 Vgl. DH 10.

7 Vgl. DH 76.

8 Tertullian, resurr. 8.

9 Vgl. K. Rahner, Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie (1959), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 12, Freiburg i. Br. 2005, 101–135.

10 M. Schloßberger, Möglichkeiten der Begründung bzw. Plausibilisierung von Glücksargumenten für den Naturschutz, in: ders. (Hg.), Die Natur und das gute Leben. Dokumentation zur gleichnamigen Tagung im März 2014 an der Universität Potsdam (Bundesamt für Naturschutz – Skript 403), Bonn-Bad Godesberg 2015, 23–26, hier: 24.

11 Vgl. M. Blondel, L’Action. Essai d’une critique de la vie et d’une science de la pratique, Paris 1893, 388.

12 M. Figura, Übernatürlich, in: LThK3 10 (2001) 336–338, hier: 337.

13 S. Žižek, Einleitung: Für eine theologisch-politische Aufhebung des Ethischen, in: Ders., B. Gunjević, God in Pain. Inversionen der Apokalypse, Hamburg 2015, 2538, hier: 32.

14 Vgl. hierzu bereits: K. Müller, Die Virtualisierung der Wirklichkeit, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 34 (2005) 497–505; ders., Technospiritualität. Philosophisch-Theologisches in der Selbstbeschreibung der Cyberszene, in: T. Sternberg, M. Dabrowski (Hg.), Internet: Realität und Virtualität. Die gesellschaftsverändernde Kraft eines Alltagsmediums, Münster 2007, 136–160.

15 Die Single war John Lennons einziger US-Nr. 1-Hit (1974).

‚Every Body Electric‘

Mediendidaktische Orientierungen zu Körper und Erfahrung im virtuellen Raum

Viera Pirker

Welchen Bedingungen sind Menschenbei der Begehung von VR-Umgebungen ausgesetzt, und welche Konsequenzen für den mediendidaktischen Einsatz in Bildungszusammenhängen lassen sich daraus ableiten? Im Zentrum der hier unternommenen Orientierungen stehen zwei Grundbegriffe, die in der Befassung mit Virtual Reality (VR) immer wieder verhandelt werden und denen aus religionspädagogischer Perspektive eine eigene Bedeutung zugemessen wird: Körper und Erfahrung. Sie sind miteinander verzahnt, sind miteinander ins Verhältnis zu setzen und verändern sich zugleich unter den Bedingungen virtueller Umgebungen. Beide Begriffe und ein vorgeformter Begriff davon, was mit diesen Begriffen einhergeht, verändern sich in den Erlebniswelten, wie sie mit Augmented und Virtual Reality einhergehen. Sie werden schärfer, vielleicht aber auch ungenauer. Grenzen verschwimmen, werden beweglicher und flexibler.

1 Körper und Erfahrung

1.1 Erfahrung

Ich beginne mit dem zweiten Begriff – Erfahrung.1 Bei aller „Unaufgeklärtheit“ (Hans-Georg Gadamer) und vielfältiger Ausprägung gilt der Erfahrungsbegriff als eine „Schlüsselkategorie der Religionspädagogik“2. Die Erfahrung hat die Eigenart, dass sie von einem Anderen her ins Ich kommt – sie umschreibt den Prozess der Begegnung mit dieser anderen Wirklichkeit – und sie summiert diesen Prozess. Die Erfahrung ist dabei mehr als „Erleben“ – sie verdichtet das Erleben, verschiedene Erlebnisse zu einer reflektierten, gewonnenen „Erfahrung“ im Zusammenhang von Fühlen, Denken, und Handeln – Emotion, Kognition, Praxis.

Ganz grundlegend ist Erfahrung immer ein relationaler, vielleicht auch ein korrelativer Begriff – der zwischen Innen- und Außenwelt, aber auch zwischen Innen- und Innenwelt des Individuums reflexiv vermittelt. Immer ist die Fremdheit des Begegnenden wahr- und ernst zu nehmen – Manfred Riegger spricht von einem alienitätsorientierten, relationalen Erfahrungsverständnis, das sich in einem jeweils neuen Raum, einer Begegnungszone, einem virtuellen Raum eröffnet.3

Kann Erfahrung hergestellt oder hergeleitet werden, auf welchen Wegen und Reflexionsimpulsen wird Erleben zu Erfahrung, kann Weltbegegnung zu Welterfahrung werden: Das wären pädagogische Zugänge zum Erfahrungsbegriff, und in der Medienbegegnung, wie wir sie in den Virtual Realities reflektieren, spezifiziert sich dies noch einmal auf ästhetische Zusammenhänge – Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung, der Immersion und Identifikation sowie Möglichkeiten der reflexiven Distanz.

Die Religionspädagogik verbindet mit der Frage der Erfahrung auch die grundlegende Frage der Möglichkeit religiöser Erfahrung, ihrer Herstellbarkeit und Vermitteltheit, die nur mehr sehr zurückhaltend beantwortet werden kann und seit den 1990ern intensiv im Verhältnis zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung reflektiert wird.4 Die Möglichkeit der Begegnung mit dem Ganz-Anderen, mit dem Transzendenten – manche mögen hier die Chiffre Gott verwenden – wird eher in der Dimensionierung von Spiritualität5 verstanden und verstehbar gemacht, da neuzeitlich Gott nicht als Gegenstand einer Sinneswahrnehmung und damit auch nicht der Erfahrung verstanden werden kann.6

Und doch kann Religiöse Bildung im Grunde nicht gedacht werden, ohne von der Möglichkeit des Transzendierens, also des Überschreitens auf religiöse Erfahrung(en) hin, auszugehen. Von welcher Seite her dieses Überschreiten geschieht und geschehen kann, ist eher eine fundamentaltheologische denn eine pädagogische Frage – über die wechselseitige Bedeutung wäre auch religionspädagogisch viel zu sagen.7

Wir gehen also aus von einer anzunehmenden Grenze zwischen einem Erfahrenden und dem zu Erfahrenen (einem Erlebenden und einem Zu-Erlebenden), die in verschiedene Richtungen durchdrungen und überschritten werden kann. Wie ist diese Grenze gestaltet und ausgestaltet, kann sie verändert und definiert werden, ist es möglich, sie individuell zu empfinden und zu verarbeiten? Das sind Fragen, die sich daran anschließen.

Für religiöse Bildungsprozesse grundsätzlich zu fragen ist, ob und in welcher Weise medial gestaltete Orte erfahrungsorientierte Lernorte anbieten und wie die dort möglichen Erfahrungen dann zu verstehen sind. Manfred Riegger unterscheidet eine Multimodalität der Erfahrung8:

– Alltag → Alltägliche Erfahrungen

– Naturwissenschaften → Experimentelle Erfahrungen

– Kunst, Musik, Literatur → Ästhetische Erfahrungen

– Weltanschauung →Weltanschauliche, philosophische Erfahrungen

– Religion → Religiöse Erfahrung

Eine medial immersiv gestaltete VR-Umgebung ist für die meisten Nutzer*innen eine außeralltägliche Erfahrung. Sie setzt zunächst bei einer umfassenden ästhetischen Erfahrung an, die auf die Wahrnehmung mit eingegrenzten Sinnen ausgerichtet ist. Experimentelle Erfahrungen können in einem virtuellen Raum nur im Rahmen der programmierten Möglichkeiten vollzogen werden. Ein Experiment kann sich nur an die Reflexion der ästhetischen Erfahrungen anschließen. Auch weltanschaulich-philosophische Erfahrungen lassen sich nur reflexiv aus ästhetischen Erfahrungen ableiten. Dass Letztere auch religiöse Erfahrungen induzieren können, ist nur schwer anzunehmen.

1.2 Körper

„Immer noch spielt der Körperdiskurs in der Religionsdidaktik eine marginale Rolle, die seiner eigentlichen Bedeutung für das Unterrichtsgeschehen widerspricht“9, konstatierte kürzlich Elisabeth Naurath – und dies ungeachtet des dominanten Körperdiskurses, der sich gesellschaftlich in vielfältigen Einflüssen der Selbstoptimierung und des Body Enhancements belegt. Heranwachsende in vielen Ländern leben heute einerseits in zunehmend virtuellen bzw. körperlosen Welten, in denen Bildrepräsentanzen für ihren Körper eintreten, während zugleich die „Selfie Generation“10 den Druck sowohl der Selbstinszenierung als auch den Druck der Schematisierung von idealen beziehungsweise idealisierten Körperbildern durchlebt. Äußere Normierungen stellen somit zusätzliche Hürden auf für die ohnehin herausfordernde entwicklungspsychologische Aufgabe im Jugendalter, „den Körper bewohnen zu lernen“11.

Theologisch wird der Körper als Leib – der beseelte Körper – gefasst. Leib-Sein ist anders, tiefer, weiter, umfänglicher als „Körper-Haben“12. Knut Wenzel hat die Körpergebundenheit der Wahrnehmung und den in der biblischen Sprachwelt gegründeten Begriff der Leiblichkeit ausführlich elaboriert.13 Die Leiblichkeit kann päda