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Darf eine Gesellschaft über Leben und Tod eines Menschen richten? Der neue Roman der Autorin von »VOX« Sie wollte das System revolutionieren, doch nun steht ihr Leben auf dem Spiel. Die erfolgreiche Anwältin Justine Callaghan hat einst als Anführerin der VITA-Bewegung die Todesstrafe revolutioniert. Ein einziges Mal hat sie das Urteil dennoch verhängt und damit ihr eigenes Leben verpfändet: Sollte sich herausstellen, dass der Verurteilte unschuldig war, muss Justine auf den elektrischen Stuhl. Als nun ein neuer Beweis auftaucht, sieht sich die alleinerziehende Mutter mit den tödlichen Konsequenzen ihrer einstigen Überzeugungen konfrontiert. Justine begibt sich auf Spurensuche, erst um ihr eigenes Leben zu retten und schließlich, um wahres Recht durchzusetzen.
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Seitenzahl: 401
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelThe Sentence bei HQ HarperCollins Publishers, London.
© 2023 Christina Dalcher
Deutsche Erstausgabe
© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe
HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Dominic Wilhelm
Coverabbildung von fran_kie / Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749905980
www.harpercollins.de
Dies ist für die fälschlich Angeklagten, die ungerechtfertigt Eingesperrten, die zu Unrecht Getöteten. Ihr wisst, wer gemeint ist.
Der Tod ist ein Sonderfall … Der Tod ist endgültig. Der Tod ist unwiderruflich. Der Tod ist unergründlich. – Anthony G. Amsterdam
Ich werde die Abschaffung der Todesstrafe fordern, bis mir bewiesen wird, dass das menschliche Urteilsvermögen unfehlbar ist. – Marquis de Lafayette
Sollte ich nicht sterben, würde die Geschichte hier enden. Es gäbe keinen Anfang, es gäbe kein Ende, es gäbe nichts Interessantes, über das man reden könnte, nur ein weiteres, selbst verlegtes Gefängnistagebuch, das sich viel schlechter verkaufen würde als Lord Jeffrey Archers Erinnerungen an seine Zeit in Haft. Mein Name würde nicht in aller Munde sein, sondern vergessen. Ich wäre eine Nummer, eine Reihe von Ziffern auf einem orangefarbenen Overall, ein Mann, an dessen Gesicht und Name sich kein Mensch erinnern würde.
Bis auf Emily. Emily würde sich an mich erinnern. Und Jake junior.
Bei einem ihrer letzten Besuche, nachdem sie fast eine Stunde für die Sicherheitsschleuse gebraucht hatten, nachdem Emily ihren Bügel-BH ausziehen und ihre besten Schuhe (die mit den hübschen Schnallen, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte) gegen zu große Schlappen ohne Verzierungen aus Metall tauschen musste, redeten wir kaum. Jake junior, verdrossen, weil er seine geliebten Legos in einer Plastikkiste bei einem der Sicherheitsbeamten lassen musste, gab mir nur einen kurzen Kuss und sagte nichts. Ich hasste sie, weil sie ihm sein Spielzeug weggenommen hatten. Als würde ich aus einem Haufen Plastikklötze eine Fluchttreppe bauen. Herrgott noch mal!
Damals waren Berührungen noch erlaubt, und Emily umarmte mich gerade lange genug, dass mich ein gutes Gefühl überkam, dass mein alter Motor unter dem orangefarbenen Polyester wieder ansprang, aber doch kurz genug, um die Wachposten in jeder Ecke des Raums nicht zu alarmieren. Dann setzte sie sich und blickte mich unter ihren fedrigen Wimpern an. Keine Mascara an diesem Morgen: wahrscheinlich aus Angst, sie würde verlaufen, falls unser Gespräch eine falsche Richtung einschlagen sollte – oder auch so.
Jake betrachtete meinen Overall und meinte, er sähe aus wie der Anzug eines Mechanikers, nur dass er die falsche Farbe hätte.
»Die von Mechanikern sind immer blau«, sagte er.
Ich streckte die Hand über den Tisch und fuhr ihm durchs Haar, das frisch geschnitten war und ein bisschen vom Kopf abstand, so als hätte er sich im Schlaf verlegen. »Stimmt. Damit man die Ölflecken und so weiter nicht sieht«, sagte ich.
Und dann sagten wir ziemlich lange gar nichts mehr.
Zum Beispiel sagten wir nicht: »Wann kommst du nach Hause?«, oder »Die Jungs von der Arbeit schmeißen eine Bierparty, wenn du rauskommst.« oder »Ich freue mich darauf, wenn du wieder in unserem Bett schläfst.« Solche Gespräche sind was für die Männer aus Block C und ihre Familien. Aber nichts für mich. Nichts für Emily und Jake.
Als wir schließlich doch anfingen zu reden, sagten wir andere Sachen.
»Die Dokumente fürs Haus müssen bis Mittwoch unterschrieben sein.«
»Mom und Dad haben für Jake junior und mich das Gästezimmer frei gemacht.«
»Marty Kray aus unserer Straße hat deinen Ford gekauft. Für weniger, als du wolltest. Aber besser als nichts.«
Es ging nur um Vorbereitungen. Vorbereitungen auf das Ende, das viel zu schnell kommen sollte.
Ich gab mir Mühe, nicht nachzurechnen, wie oft sie mich noch besuchen kämen. Noch ein, zwei oder drei normale Besuche, wenn man es denn normal nennen konnte, sich unter der Beobachtung dreier bewaffneter Wachmänner an einem breiten Metalltisch gegenüberzusitzen und sich kaum berühren zu dürfen. Und dann der eine Besuch. Der letzte. Ich gab mir Mühe, nicht darüber nachzudenken, worüber wir bei unserer letzten Begegnung reden würden – und worüber nicht.
Das sparte ich mir für die Nächte auf, wenn ich allein war. Wenn Emily meine Tränen nicht sehen konnte.
Eines Tages werde ich sie wieder treffen: meine liebste Emily, die einem mit ihren großen Augen direkt in die Seele blicken und Wahrheit und Lüge erkennen kann. Und meinen kleinen Jake – obwohl er dann kein kleiner Junge von sechs Jahren mehr sein wird, sondern ein erwachsener Mann. Vielleicht hat er einen College-Abschluss, vielleicht ist er verheiratet, vielleicht ein Rockstar oder ein Schriftsteller. Wer weiß, wohin sein Leben ihn führen wird? Niemand weiß, wohin das Leben einen führt. Aber ich will verdammt noch mal hoffen, dass er besser endet als sein alter Herr.
Auch sie werde ich wieder treffen, die Frau, die das Ende meiner eigenen Geschichte schrieb. Vielleicht werde ich die Hand ausstrecken, um sie wegzuschieben. Vielleicht aber auch, um ihr zu verzeihen. Obwohl Ersteres wahrscheinlicher ist. Sicher weiß ich es dann, wenn die ganze Geschichte erzählt wurde. Doch wenn sie mich zum ersten Mal wieder trifft, werde ich für sie nur Worte auf Papier sein.
Letzthin hatte ich viel Zeit, Worte zu Papier zu bringen. Aber nun wird die Zeit knapp.
Als ich an diesem Nachmittag im Zimmer von Richterin Petrus sitze, schwirren mir zwei Wörter durch den Kopf: Das eine ist ›Mord‹, das andere ›Gewissheit‹. Die Juristin in mir mag keines von ihnen. Und in Kombination sind sie noch schlimmer.
»Nun?« Petrus wirft einen Blick auf ihre Uhr. Carmela Petrus ist eine echte Vogelscheuche. Zu viele Faceliftings haben ihr Gesicht in ein Gemälde von Picasso verwandelt, das nur aus Ecken und Kanten besteht. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass man einen Richter nicht nach seinem Äußeren beurteilen darf. Denn unter ihrer harten Schale ist Petrus gerecht und mitfühlend. Sie weiß, was ich sagen werde und warum.
Sie ist nicht die Einzige, die wartet. Draußen trudelten die Reporter schon vor einer Stunde ein, und die Familie ist noch länger da – genauer gesagt die Familien: Die eine wird jubeln, und die andere wird protestieren, wenn ich meine Entscheidung verkünde. Der Rest der Öffentlichkeit schart sich vor der Treppe des Gerichtsgebäudes, säuberlich getrennt, mit selbst fabrizierten Plakaten. Die eine Hälfte will die Angeklagte ins Gefängnis werfen, in eine Zelle ganz unten im Keller, aus der man nie wieder rauskommt. Die andere Hälfte trägt Schilder mit Aufschriften wie Nieder mit der Justiz, nicht mit Menschen! Die Todesstrafe ist legalisierter Mord! und Wieso morden wir Menschen, die Menschen morden, um zu zeigen, dass Morden falsch ist?.
Ich denke, wenn ich je einen Fall mit erdrückenden Beweisen gesehen habe, dann diesen hier. Dieser Fall wird schon fünf Minuten, nachdem die Jury sich zurückgezogen hat, mit einem einstimmigen Schuldspruch enden. Die Angeklagte hat ja sogar gestanden!
Aber.
Es gibt immer ein Aber. So muss es auch sein. Es muss jenen verbleibenden letzten Zweifel des Staatsanwalts geben, jene nicht zu beantwortende Frage. Und hier noch mehr denn je.
Was ist, wenn ich mich irre?
Petrus wiederholt ihre Frage, ungeduldig, aber nicht unfreundlich. Sie weiß, was auf dem Spiel steht. »Nun?«
Ich höre, wie das Formular leicht flatternd im Luftzug vom Deckenventilator über den Tisch rutscht und damit zur düsteren Atmosphäre des Richterzimmers beiträgt. Ich muss nicht mal einen Blick auf das Dokument werfen, die prägnanten Formulierungen im Juristenjargon lesen und die unterstrichenen Freiräume sehen, die auf Datum und Unterschrift warten. Denn all das füllte die Titelseiten jeder Zeitung im Land, nachdem der State Remedies Act verabschiedet worden war.
Zukünftige Schlagzeilen, noch nicht geschrieben, aber möglich, blitzen vor meinem inneren Auge auf.
DNA-TESTENTHÜLLTTÖDLICHENIRRTUM
BERUFUNGSGERICHTWIDERRUFTURTEIL
POSTHUMEBEGNADIGUNGDERANGEKLAGTEN
TODESSTRAFEFÜRSTAATSANWÄLTINAUSVIRGINIA
»Sie warten, Justine«, mahnt Petrus. Ich höre, wie der lackierte Nagel ihres Zeigefingers auf das Holz des Tischs und das Formular tippt. »Sie müssen sich entscheiden.«
Sie alle warten: die Öffentlichkeit, die Presse, die Familie des siebzehnjährigen Vorzeigeschülers, um dessen Tod es im bevorstehenden Prozess geht, und die Familie der Frau, die ihn tötete. Die Hunderte von Schülern und Lehrern, die sich einen Tag von der täglichen Routine in der angesehensten öffentlichen Bildungseinrichtung von Virginia freigenommen haben, nur um meine Entscheidung zu erwarten.
Sie werden mich hassen – das heißt, die Hälfte von ihnen wird mich hassen. Aber das kann man überleben. Hass bringt einen nicht um. Hass ist kein tödliches Gift, das einem durch die Adern läuft, und auch kein Stromstoß von zweitausend Volt, der den Herzschlag zum Erliegen bringt. Hass ist auch nicht der lebenslange Schatten der Schuld, der vielleicht noch schlimmer ist.
Ich nehme das Formular von Petrus entgegen und lese es.
Ich, Justine Callaghan, leitende Staatsanwältin im Fall Das Volk gegen Charlotte Thorne, gelobe, dass ich, sollte die Angeklagte in der Zukunft jemals entlastet werden, die Todesstrafe empfangen werde wie sie, als vollständige und angemessene Wiedergutmachung des Justizirrtums, wie es im State Remedies Act von2016festgelegt wurde.
Noch immer schwirren mir zwei Wörter im Kopf herum: Schuld und Gewissheit.
Charlotte Thorne ist des Mordes schuldig. Dessen bin ich mir gewiss.
Bis auf zwei Ausnahmen – und an eine dieser Ausnahmen will ich gar nicht denken – hat seit sieben Jahren kein Staatsanwalt im Commonwealth von Virginia die Todesstrafe verlangt. Das ist ein gewaltiger Rückgang zu den über siebzig Menschen, die in den 1990ern hingerichtet wurden. Nachdem der Remedies Act verabschiedet worden war, hatten alle in meiner Branche Todesangst. Genauso wie in ein paar anderen politisch gespaltenen Staaten wie Florida, North Carolina und Nevada.
Mein Mann wäre stolz auf mich, wäre er noch da.
Petrus räuspert sich. »Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken«, sagt sie. »Sie werden Sie bei lebendigem Leib fressen, Justine.« Sie reibt sich die Augen, hält inne und beginnt, ihre Schläfen mit kleinen, exakten Kreisen zu massieren. Dadurch wirkt sie nicht mehr wie eine Richterin, sondern eher wie eine Kneipenhockerin nach einem versoffenen Wochenende. »Dieser verdammte Remedies Act! Wieso konnte man nicht alles so lassen, wie es war?«
Sie spricht über das staatliche Verbot der Todesstrafe. Und die Ausnahme zu diesem Verbot, die als Remedies Act bekannt ist.
Seit mittlerweile mehreren Jahrzehnten ist Virginia kein geeinter, funktionierender Staat mehr. Wenn man sich die Wahlergebnisse ansieht, erkennt man deutlich die Trennlinien: in den nördlichen Vorstädten von Washington, D.C., in den Collegestädten Charlottesville und Williamsburg, in Richmond und im Südosten die Anhänger des Fortschritts; in den meisten anderen Teilen des Landes eingefleischte, gottesfürchtige Konservative. Zwischen den Blauen und den Roten steht es fast fifty-fifty, sodass ständig die Gefahr einer gewaltsamen Umwälzung droht. Ein nahezu perfektes Sinnbild für die gesamten USA. Momentan gibt es in siebenundzwanzig Bundesstaaten die Todesstrafe, in den anderen dreiundzwanzig nicht. Sechzig Prozent der Wähler wünschen sich Alternativen zur Todesstrafe – etwa lebenslänglich ohne Bewährung –, doch ein gutes Drittel ist mit dem Status quo zufrieden.
Dieses Drittel habe ich nie verstanden. Vermutlich ist es hauptsächlich auf die Unkenntnis oder Missachtung harter Fakten zurückzuführen, dass sie so stur an ihren Überzeugungen kleben. Sie wissen einfach nicht, wie oft Justizirrtümer vorkommen: Im Schnitt werden jedes Jahr vier Insassen des Todestraktes entlastet. Sie wissen nicht, dass Hinrichtungen nicht für sinkende Mordraten sorgen. Zwar beschweren sie sich lautstark darüber, wie teuer es ist, einen Mörder lebenslang ins Gefängnis zu schicken, doch haben sie keine Ahnung, dass ein Fall mit geforderter Todesstrafe den Staat Texas etwa zwei Millionen Dollar kostet – dreimal so viel, wie es kosten würde, jemanden vierzig Jahre in Einzelhaft zu stecken. Also wollen sie einen Menschen auf dem elektrischen Stuhl sehen. Oder auf der Totenbahre. Oder in der Gaskammer.
Es geht nur ums Gefühl.
Eine Frage wollte ich diesen dreiunddreißig Prozent, diesen strammen Befürwortern der Todesstrafe, immer stellen: Welches Gefühl hättet ihr, wenn sich der Mensch auf dem elektrischen Stuhl, auf der Bahre oder in der Gaskammer als unschuldig erweisen würde? Dabei kenne ich die Antwort. Das verhüten die Verfahrensweisen. Sie hatten doch die Gelegenheit, Berufung einzulegen. Das Gesetz lässt keinen Justizirrtum zu.
»Ich meine«, sagt Petrus und reißt mich damit aus meinem statistischen Albtraum, »ich hasse dieses gottverdammte ›Eigentlich ist es verboten, aber …‹ Wenn man keine Hinrichtungen will, gut! Großartig. Einverstanden. Schaffen wir sie ab! Das würde meinen Job sehr viel leichter machen. Aber dann sollte man nicht ein paar Jahre später ein Hintertürchen öffnen, bloß weil eine Kreuzung aus Hannibal Lector und Charles Manson auftaucht. Zur Hölle noch mal! Was hat man sich nur dabei gedacht?«
»Man dachte sich, dass man seinen Job in der Gesetzgebung behalten wollte«, erkläre ich. »Und dann kam der richtige Fall zur richtigen Zeit. Mit dem Remedies Act wollte man alle zufriedenstellen: Ein Drittel der Bevölkerung, das nach Gerechtigkeit schrie, bekam, was es wollte, nämlich die wieder eingeführte Todesstrafe. Und wir anderen bekamen auch, was wir wollten: die Garantie, dass kein Staatsanwalt sie je fordern würde. Sie wollen das doch nicht wirklich noch mal durchkauen, oder?«
Wieder nähern sich ihre Finger ihren Augen, entweder um den Schmerz wegzumassieren oder um zu verhindern, dass die Beweisfotos vor ihrem inneren Auge auftauchen. Ich setze auf Letzteres und schließe unwillkürlich selbst die Augen vor den Bildern mit den kleinen Leichen, die sich mir aufdrängen wollen. Petrus macht eine Handbewegung, als wollte sie ein Insekt verscheuchen. »Nein, von dem Prozess habe ich immer noch Albträume. Wie auch immer«, fügt sie hinzu und weist nickend zum Fenster, vor dem die Menge wartet, »vielleicht sind sie ja gnädig, weil Thorne eine Frau ist. Sie wissen ja, wie sehr es den Leuten widerstrebt, eine Frau hinzurichten.«
»Allerdings. Ritterlichkeit scheint doch noch nicht ausgestorben zu sein.«
In der Tat ist die ritterliche Behandlung von Mörderinnen immer noch gang und gäbe. Das System zeigt eine gewisse Hemmung, Frauen zum Tode zu verurteilen – außer natürlich, ihr Verbrechen wurde als ›unweiblich‹ angesehen. Von den etwa fünfzig Frauen, die in letzter Zeit in der Todeszelle saßen, waren die meisten sogenannte ›böse Mädchen‹, die wegen Lustmord, Kindsmord oder dem Mord an einer anderen Frau einsaßen. Mit anderen Worten: Man musste schon eine Femme fatale im wahrsten Sinne des Wortes sein.
Das war bei Männern anders. Als es bei uns noch die Todesstrafe gab, wurde jeder Mann, der gemordet hatte, dazu verurteilt. Bei der Entscheidung berücksichtigten weder die Jury noch der Staatsanwalt je die männlichen Tugenden eines Angeklagten. Vielleicht kamen im Todestrakt deshalb auf jede Frau fünfzig Männer, obwohl das Verhältnis von männlichen und weiblichen Mördern nur 7:1 stand.
Wie ich schon sagte: Die Ritterlichkeit ist noch nicht ausgestorben. Außer wenn es um ›böse Mädchen‹ geht. Und Charlotte Thorne ist ein böses Mädchen par excellence.
»Ich glaube, in diesem Fall werden sie nicht besonders zurückhaltend sein, Carmela«, entgegne ich also. »Niemand, der sich Thorne ansieht, sieht eine Frau. Sie sehen alle nur eine kaltblütige Killerin, ein Monster wie diese Fernfahrernutte in Florida vor fünfundzwanzig Jahren.«
Petrus gibt ein Geräusch reinsten Abscheus von sich und sagt dann: »Monster. Ganz genau.« Sie starrt auf das Formular in meiner Hand, dieses Papier, das im Fall Charlotte Thorne lebenslange Haft in ein Todesurteil verwandeln kann. »Wenn Sie die Todesstrafe verlangen, Justine, kriegen wir das hin. Da bin ich ganz sicher.«
Das bin ich auch.
Aber.
Ich lasse das Formular zurück auf den Schreibtisch gleiten. Ohne Unterschrift.
Petrus’ dünne Lippen werden noch dünner. »Verstehe«, sagt sie. Und dann: »Ich weiß, was in jenem anderen Fall passiert ist. Dass Sie damals nicht Sie selbst waren. Ich weiß, Sie sind vorsichtig, ich weiß, Sie sind konservativ, und vor allem weiß ich, dass Sie eine seltene Integrität besitzen. Aber eins möchte ich erfahren, nur unter uns.« Sie nimmt die Brille ab und legt sie neben das Formular. »Wenn der Remedies Act mit der Ausnahme nach jenem Fall – Sie wissen schon – nicht durchgekommen wäre und alles noch so wäre wie vorher: Was würden Sie dann jetzt tun?«
Das ist eine komplizierte Frage, aber meine Antwort ist ganz einfach. »Trotz der Art des Verbrechens, des Zustands der Leiche und der fehlenden Reue von Thorne würde ich nicht die Todesstrafe verlangen.«
»Okay, dann eine persönliche Frage, Justine. Wieso nicht, wenn alle Beweise eindeutig sind?«
»Sie kennen doch den Grund. Weil ich das Urteil nicht zurücknehmen kann, wenn ich mich irre.«
Als sie nickt, malen sich auf ihrer Miene Verständnis und gleichzeitig Enttäuschung ab. »Nun, wenn Sie rausgehen und Ihre Entscheidung verkünden, sind Sie wohl abgesichert. Sie wissen ja, wie es läuft, Justine. Der Remedies Act sichert in gewisser Hinsicht Ihren Arsch, nicht wahr?«
»Jepp.« Ich weiß genau, was der Remedies Act tut. Schließlich habe ich ihn mitentwickelt.
Es Petrus zu sagen, ist eine Sache; aber eine ganz andere ist es, meine Entscheidung der wartenden Menge zu verkünden. Doch das Gesetz ist meine Versicherung. Man kann mich nicht anschreien, anspucken oder bedrohen. Das Gesetz tut, wozu es gedacht ist. Es schützt mich.
Glaube ich jedenfalls.
Ich nehme meine Sachen – Handtasche, Aktenkoffer und den leichten Mantel, den ich brauchte, weil der Aprilmorgen noch kühl war – und gehe durch den langen Flur zur Eingangshalle des Gerichts. Dort herrscht die übliche Betriebsamkeit. Hin und wieder ertönt ein Piepton von der Sicherheitsschranke, wenn der Alarm durch einen vergessenen Schlüssel oder ein paar Münzen in der Hosentasche ausgelöst wird. Auf Unfallmandate erpichte Anwälte eilen ins entsprechende Büro, um Klage einzureichen. Männer und Frauen drängen sich vor den Anschlagtafeln, um zu sehen, wann sie wohin müssen.
Auf dem Weg zum Haupteingang überdenke ich noch einmal die Beweise gegen Charlotte Thorne. Sie sind so solide, dass man fast meint, sie mit Händen greifen zu können. Die Eckpunkte sind scharf umrissen, das Ganze gewichtig wie Blei. Charlotte hat – und das weiß ich, weil ich die Unterlagen des Falls bereits über ein Jahr prüfen konnte – einen ihrer Schüler an einem Nachmittag zu sich beordert. Das ist nichts Ungewöhnliches. Viele Highschool-Lehrer setzen sich nachmittags mit ihren Schülern zusammen, um über Noten, Benehmen und Fehlstunden zu sprechen. Manchmal quatschen sie auch wie alte Freunde und nicht wie Lehrer und Schüler.
Aber Charlotte Thornes Termin mit Robbie Forrester unterschied sich in drei Punkten von solchen Treffen. Erstens fand es in Thornes Haus statt. Zweitens ging es nicht um Shakespeare, sondern um Sex. Und drittens quatschte Charlotte nicht lange herum, sondern schoss Forrester mit einer 45er in die Eier. Zweimal, ein Schuss für jedes Ei. Dann wartete sie eine Stunde und jagte Forrester eine letzte Kugel in den Kopf. Zuletzt rief sie bei der Polizei an und erklärte, was sie getan hatte. Wahrscheinlich, weil sie auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren wollte, was am Ende aber nicht klappte.
Als ich ins Freie trete, lasse ich meinen Augen kurz Zeit, um sich an das Sonnenlicht zu gewöhnen. Sobald ich wieder klar sehen kann, erkenne ich, dass die Menge mich anstarrt. Die Blicke aller scheinen sich gleichzeitig auf meiner Haut niederzulassen, wie dreiste Fliegen. Meine nächsten Worte werden bei den Versammelten entweder Erleichterung oder Wut hervorrufen, je nachdem, auf welcher Seite der ideologischen Kluft sie sitzen, welche moralischen Prinzipien sie hochhalten.
Auf dem Podium wartet das Mikrofon auf mich. Ich gehe dorthin und justiere die Höhe.
Jetzt fühlt es sich an, als würden die Fliegen über meine Haut krabbeln und mich beißen. Sie sind nicht mehr nur lästig, sondern bösartig. Ich muss mich selbst ermahnen, dass es keine Fliegen sind, sondern nur Blicke. Nur Blicke, die urteilen, aber nicht wirklich wehtun können.
»Im Fall Das Volk gegen Charlotte Thorne wird die Stadt nicht auf Todesstrafe plädieren.«
Da steigern sich Blicke zu Worten, und die Worte stechen zu wie ein Schwarm Wespen, die ich in einem Moment der Achtlosigkeit aus ihrem Nest aufgestört habe. Geschrei, Gejubel und Gebrüll ertönen, als stünden am Fuß der Treppe nur geübte Zwischenrufer von den hinteren Bänken. Mindestens ein Dutzend Menschen bilden einen Kreis, fassen sich an den Händen und singen Verse aus der Bibel. Exodus vielleicht. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Wunde um Wunde. Leben um Leben. Eine leuchtend blaue Linie trennt die eine Hälfte der Menge von der anderen: Polizisten, mit der Hand an den Schlagstöcken, bereit einzugreifen, sollten links und rechts entscheiden, die Kluft zu schließen und aufeinander loszugehen. Es wäre nicht das erste Mal.
Da fliegt ein Objekt von irgendwoher auf mich zu, eine weiße Kugel, die vor dem blauen Horizont einen Bogen beschreibt. Ein Golfball?, frage ich mich. Etwas Schlimmeres als ein Golfball? Doch dann erkennt mein überlastetes Gehirn, dass der Gegenstand nicht rund ist, sondern oval. Ein Ei, das mir mitten auf die Stirn knallt, zerbricht, seinen klebrigen Inhalt in meine Augen tropfen lässt und Splitter der Schale auf meinem Leinenblazer verteilt, wo sie haften bleiben wie winzige Mosaiksteine.
Gelächter fährt durch die Menge.
»Hätte ’ne verfickte Granate sein sollen!«, gellt es aus der Masse.
»Geschieht der Scheißkuh recht! Er war noch ein Kind«, kreischt eine Frau, »nur ein Kind!«
»Vielleicht ist ihr Kind als Nächstes dran«, ruft eine andere Stimme. Darauf ertönt solcher Jubel, dass ich unwillkürlich an meinen Sohn Jonathan denken muss und das uralte Argument: Du bist also gegen die Todesstrafe? Und wenn es dein Sohn wäre, der ermordet wurde? Oder deine Tochter? Dein Mann? Dann würdest du doch anders denken, oder?
Ich verschließe meine Ohren vor alldem, doch die Worte stechen immer noch wie Wespen.
Plötzlich spüre ich links von mir einen Zug, eine Kraft zieht mich zu sich. Ich blinzle, um besser sehen zu können, und erkenne die Kraftquelle.
Daniel. Gott sei Dank! Er hat meinen Arm umfasst, mir eine Hand auf den Rücken gelegt und manövriert mich so die Treppe hinauf, in den Schutz und die relative Sicherheit des Gerichtsgebäudes.
Er setzt mich auf einen der harten Stühle an der Sicherheitsschranke, und ich beruhige mich, als ich seine klare britische Sprechweise höre, die durch ein paar Jahre in den Staaten leicht verschliffen wurde. »Bleib hier. Rühr dich nicht vom Fleck. Und rede um Himmels willen mit niemandem! Ich hole meinen Wagen und bin in spätestens zehn Minuten zurück. Wenn sie irgendwas versuchen, rezitiere nur den Remedies Act, okay? Der schützt dich.«
Ich schweige.
»Okay?«, wiederholt er. »Zehn Minuten. Höchstens.« Dann beugt er sich zu mir und wischt mir mit dem Ärmel sanft übers Gesicht. »Die verdammten Bastarde. Das wird schon wieder.«
Ich sehe ihm nach, wie er durch die Eingangshalle zu den Aufzügen geht, die täglich Hunderte von Personen hinauf und hinunter transportieren. Hoch zu den Gerichtssälen, um entweder ein Urteil zu fällen oder zu empfangen; runter zur Tiefgarage. Gerade als Daniel in einem der Aufzüge verschwindet, wird Charlotte Thorne in Handschellen von sechs Uniformierten zum hintersten Lift gebracht. Sie bilden einen menschlichen Schutzschild um die Frau.
Die Mörderin, denke ich.
Eigentlich dürfte das nicht passieren. Eigentlich müssten Sicherheitsbeamte dafür sorgen, dass die Angeklagte niemanden aus dem Büro der Staatsanwaltschaft zu Gesicht bekommt, weder vor noch nach einer Entscheidung. Dafür gibt es separate Eingänge, separate Aufzüge und separate Parkebenen. Doch Anfang des Monats – mein übliches Pech – versagte der Dienstaufzug, die Ersatzteile wurden drei Wochen später als angekündigt geliefert, die Gewerkschaft rief zum Streik auf, und da sind wir nun, die Antagonisten in engem Kontakt. Für meinen Geschmack viel zu eng.
Charlotte Thorne blickt quer durch die Halle zu mir, lächelt und sagt nur zwei Worte: »Danke, Schätzchen.« Gott, sie wirkt auch noch fröhlich dabei! Nein, fröhlich ist nicht das richtige Wort. Triumphierend.
»Was ist los, Frau Staatsanwältin? Die Nerven verloren?«, schiebt sie nach. Der Wachmann, der ihr am Nächsten steht, rührt sich und raunt ihr etwas zu, vielleicht eine Warnung. Wenn es eine Warnung ist, ignoriert Thorne sie. Die Frau weiß, was sie tut, sie weiß, dass man sie nur einmal ins Gefängnis schicken kann und dass eine mögliche Todesstrafe vom Tisch war, kaum dass ich mit der wartenden Menge gesprochen habe. Sie ist unangreifbar, und sie weiß es. »Waren sich doch nicht so sicher, was? Sie verdammter Feigling!«, zischt sie, und ihre Worte schießen wie Pfeile quer durch die Halle auf mich zu.
Sie provoziert mich, was ich zuerst nicht begreife. Schließlich geht es Menschen vor allem ums Überleben. Aber dann fällt mir ein, dass Charlotte Thorne etwas von ihrer Menschlichkeit verloren hat. Denn sie ist ja eine Psychopathin.
Feigling.
Daniel hatte gut reden, als er mir befahl, still sitzen zu bleiben und nichts zu sagen. Für ihn ist es leicht: Er kommt aus einem Land, in dem es seit 1964 keine Hinrichtungen mehr gab – und die letzte Frau, Ruth Ellis, wurde Mitte der Fünfziger wegen Mordes gehenkt. Außerdem übernimmt er nie harte Fälle. Daniel arbeitet für eine piekfeine Privatkanzlei, die sich nicht um Mord kümmert, sondern um internationalen Bankbetrug – und wer schert sich schon darum? Niemand. Seine Fälle bleiben weitestgehend unbemerkt, weil sie nicht von der Presse zur Sensation aufgebauscht werden. Auf die Männer und Frauen, denen Daniel hilft, wartet niemals der elektrische Stuhl, sondern höchstens ein Edelknast mit spärlichen Sicherheitsvorkehrungen und noch spärlicherer Berichterstattung.
»FEIGLING!«, ruft Charlotte laut.
Dieses eine Wort jagt mich von meinem Stuhl.
Feigling.
Dasselbe Wort mögen auch die Menschen draußen im Kopf haben, die Bibelgläubigen, die aus voller Kehle die Rechtsauffassung aus dem Alten Testament singen, sodass ich hier drinnen noch jedes einzelne Wort höre. Ich frage mich, wer von ihnen anders entschieden hätte, wenn sie in meiner Lage wären.
Also gehe ich erneut zum Haupteingang und trete ins grelle Sonnenlicht, ohne mir auch nur die Mühe zu machen, die Reste des Eis von Gesicht und Jacke zu wischen.
Sofort tauchen ein Dutzend Mikrofone vor mir auf, große, gefährlich aussehende Dinger, die anklagend auf mich zu zeigen scheinen. Ganz kurz bin ich wieder in der Nordwestecke vom Harvard Yard – fünfundzwanzig, umringt von Mikrofonen – und äußere dieselben Worte, die ich auch jetzt sage.
»Hören Sie mir zu«, sage ich.
»Wieso denn?« und »Halt’s Maul!« schallt es zurück, doch dann wird es still.
»An diesem Nachmittag musste ich eine Entscheidung treffen. Und zwar die Entscheidung, ob einem Menschen das Leben genommen wird.«
»Und es war die falsche Entscheidung!«, brüllt jemand.
Darauf gehe ich nicht ein, sondern blicke direkt zu der stämmigen Frau in zu engem Anzug und straff um den Hals gewickeltem Seidenschal, die diese Worte gerufen hat. »Okay, dann möchte ich Sie Folgendes fragen.« Ich fixiere die Frau noch durchdringender. »Sind Sie sicher genug, um Ihr eigenes Leben zu riskieren?«
»Sie hat’s getan«, sagt die Frau »Und das wissen Sie auch.«
Ich fahre fort: »Sie fordern ein Leben für ein Leben. Schön und gut. Aber Sie alle wissen, was heutzutage auf dem Spiel steht. Ich hab ein Kind zu Hause. Einen kleinen Jungen. Das kann ich nicht riskieren.« Die Wahrscheinlichkeit, dass Thorne jemals entlastet wird, geht gegen null. Trotzdem. Es wäre Wahnsinn, mein Leben für Abschaum wie Charlotte Thorne aufs Spiel zu setzen.
Darauf erwidert die Frau mit dem Schal nichts. Ihre anfangs überzeugte steinerne Miene wird weicher.
»Wenn man einen Menschen in den Tod schickt«, sage ich, ermutigt durch ihre Reaktion, »muss man ganz sicher sein. Todsicher. Denn in diesem Spiel gibt es keine Wiederholung. Es gibt kein Zurück, kein Tut mir leid, ich habe einen Fehler gemacht, kein Reset, keinen Neustart. Nicht mehr.«
Jetzt habe ich sie, denke ich. Jetzt hören sie mir zu. Doch dann reißt mich einer der Exodus-Sänger aus meiner kurzen Illusion. »Aber Sie sind sicher genug, um sie ins Gefängnis zu werfen! Also sollten Sie auch sicher genug sein, um sie auf den elektrischen Stuhl zu schicken! Sie hat ein Kind umgebracht, Ms Callaghan. Ein Kind! Dafür muss jemand bezahlen!«
»Das ist wahre Nächstenliebe!«, ertönt es von der Seite links des Polizeikordons, worauf es von rechts sofort »Fick dich doch, du linker Schwachkopf!« schallt – als ob eine Zufallsauswahl der USA in ihrer Geteiltheit in Rot und Blau vor diesem Gerichtsgebäude aufgetaucht wäre, um die hässliche Wahrheit über unser Land aufzuzeigen. Vor nicht allzu langer Zeit kamen Jubel und Wutgebrüll von den entgegengesetzten Seiten: Die Konservativen gratulierten mir, und die Liberalen buhten mich aus. So ist das wohl im Leben. Man kann es allen nur manchmal recht machen und nur wenigen immer, doch niemals allen immer.
Zu meinem Entsetzen hebt auf einmal jemand einen Baseballschläger. Das reicht schon. Die Seiten drängen aufeinander zu, doch die blaue Postenkette schafft es, einen prekären Frieden zu wahren. Allerdings schafft sie es nicht so schnell, fünf Männer davon abzuhalten, die Treppe hinauf zu sprinten. Zu mir. Zwar treiben ein paar Sicherheitsbeamte sie zurück, doch dadurch entsteht eine große, ungeschützte Fläche, ein Niemandsland, welches einem deutlich vor Augen führt, dass jeder auf der einen oder anderen Seite steht.
Eine Frau, die viel jünger ist als die mit dem Seidenschal, drängt sich nach vorne durch. Ich schätze sie auf höchstens Mitte zwanzig, doch sie ist so dünn, dass sie eher wie ein Teenager wirkt. Sie hat ein Kind bei sich, einen kleinen Jungen mit einem Schmutzfleck auf der Wange und einem winzigen Spielzeugauto in der Hand. Vor dem gelben Absperrband, das gerade nicht bewacht ist, bleibt sie stehen und blickt mich mit tränenerfüllten Augen an.
»Sie sagen, es gibt kein Zurück. Sie stehen hier und erklären, es gäbe keinen Neustart.« Ihr bricht die Stimme, sodass ich ihren weichen Akzent aus West- oder Südvirginia nicht mehr hören kann. Dann fasst sie sich und fährt fort: »Ich wünschte, das hätte jemand vor sieben Jahren gesagt, Ms Callaghan. Und mein Junge wünscht sich das auch.«
Sie könnte zu mir hochrennen und mir vielleicht nahe genug kommen, um mich zu schlagen oder wenigstens anzuspucken, aber das tut sie nicht. Sie steht nur da und umklammert mit der einen Hand die ihres Sohnes und mit der anderen die Riemen ihrer schäbigen braunen Handtasche.
Ich weiß, wer sie ist.
Sie heißt Emily Milford, und bei unserer letzten Begegnung vor sieben Jahren verurteilte Carmela Petrus ihren Mann zum Tode.
Jetzt strömen die Reporter die Treppe hinunter, weg von mir und hin zu der Frau mit der Tasche. Fünfundzwanzig Haie riechen gleichzeitig Blut.
»Mrs. Milford, haben Sie …«
»Was denken Sie über den Remedies Act, Mrs. Milford?«
»Finden Sie, Ihr Mann hat die Todesstrafe verdient?«
»Was würden Sie tun, wenn neue entlastende Beweise auftauchten?« Der Reporter, der diese Frage stellt, blickt nicht zu Emily Milford, sondern zu mir.
Und dann drängt sich eine andere Frau durch das Rudel Kamera und Mikrofon schwenkender Raubtiere. Sie trägt ein schickes Kostüm und einen Hut in Rot, wie alle Vita-Aktivisten, genau wie ich früher, obwohl diese hier zu gut gekleidet ist, um zur ursprünglichen Truppe zu gehören. Sie neigt sich zu Emily Milford und flüstert ihr etwas ins Ohr.
Emily reißt die Augen auf.
»Ich sagte, dass du warten, und nicht, dass du einen Krieg anfangen sollst.« Daniel ist wieder neben mir aufgetaucht, und dieses Mal zerrt er mich praktisch zurück ins Gebäude.
Ich werfe einen letzten Blick über meine Schulter. Zwei kräftige Cops haben den Anführer der fünf Männer zu Boden geworfen und halten ihn fest – keine leichte Aufgabe, da er ein Trumm von Mann ist. Protestschreie erheben sich aus der Menge – manche gelten der Polizeigewalt, manche mir.
Aber Emily Milford, ihr Sohn und die Frau in dem blutroten Kostüm sind verschwunden.
»Ich fasse es nicht, dass du sie vom Haken gelassen hast!«
Den Spruch kenne ich. Wie kann es anders sein, da ich ihn im letzten Jahrzehnt mindestens zweimal im Jahr aus Susan Stewarts Mund gehört habe. Die einzige Variable ist das Pronomen. Normalerweise höre ich ›ihn‹ statt ›sie‹. Der Rest ist immer das gleiche Lied, ein lästiger Ohrwurm, den man einfach nicht loswird.
Als ich die Tür weiter öffne, grüßen die Jungen mich kurz mit ›Hi, Mommy‹ und ›Hi, Tante Justine‹ und rennen an mir vorbei ins Hinterzimmer, wo der Fernseher und die PlayStation warten. Noch bevor ich meine Taschen auf dem Flurtisch abstellen kann, ertönen schon die ersten Töne der Titelmusik von Star Wars, und die Cousins gehen eifrig mit Laserschwertern gegen Lego-Darth Vader, Lego-Han Solo und Lego-Sowieso vor. Ich rede mir ein, dass die Gewalt nur gespielt und daher vollkommen unbedenklich für Sechsjährige ist, die einen halben Tag Schule hinter sich haben. Einer virtuellen Legofigur kann man nicht wehtun.
Ein Teil von mir glaubt das sogar. Ein ganz kleiner Teil.
»Ehrlich, Jussie, was zum Teufel soll das? Sie hat den Jungen umgebracht. Sie hat ihn gevögelt und dann gekillt – ganz pervers gekillt –, und dann hat sie praktisch alles vor Gott und der Welt gestanden. Also komm mir nicht mit hochfliegendem moralischem Scheiß.« Susan zieht so rabiat einen Hocker von der Kücheninsel, dass die Beine über den Boden schrammen. »Hast du Wein?«
Daraufhin nehme ich nur ein Glas vom Regal über uns und öffne den Kühlschrank. »Aber nicht, wenn du mich anblaffst.«
»Komm schon, Schwägerin. Die Kinder haben Spaß. Sie mögen sich, und Tommy hat zu Hause kein Lego-Star-Wars. Also können sie sich eine Weile vergnügen, und ich werde ganz lieb sein, versprochen.« Susan zeigt mir ihr liebstes Lächeln.
»Nein, wirst du nicht.« Trotzdem hole ich ein zweites Glas vom Regal und öffne eine Flasche Syrah. »Ach, das hätte ich fast vergessen.« Über mein Handy transferiere ich fünfhundert Dollar auf Susans Konto. »Für diese Woche, okay?«
»Das ist zu viel.«
»Nein, ist es nicht. Jonathan verbringt seine Nachmittage viel lieber bei euch als in einer miesen Betreuung von der Schule, und du brauchst das Geld. Außerdem verstehen Tommy und er sich gut. Das hast du selbst gesagt.«
Darauf hat Susan keine Einwände mehr. Wir beide wissen, dass sie jeden Penny gebrauchen kann, auch wenn wir normalerweise nie über ihren abwesenden Mann reden, sondern uns stattdessen auf meinen konzentrieren. »Ich meine ja nur, dass diese Thorne der letzte Dreck ist. Niemand will dafür zahlen, dass sie die nächsten fünfzig Jahre Kabelfernsehen guckt und auf dem Ergometer trainiert.«
»Niemand ist ziemlich hoch gegriffen. Außerdem hast du versprochen, lieb zu sein«, entgegne ich und schenke den Wein ein: ein halbes Glas für Susan und kaum einen Finger breit für mich.
»Stimmt«, nickt Susan und nippt an ihrem Glas. »Aber ich habe nicht versprochen, den Mund zu halten.«
»Ich konnte nicht unterschreiben.«
»Du meinst, du wolltest nicht.« Susan nippt nicht mehr an ihrem Glas, sondern trinkt große Schlucke. Gleich wird sie den Wein herunterkippen. Ich kenne die sieben Schritte in der Trauerroutine meiner Schwägerin.
Am Anfang kommt immer die Wut mit vorwurfsvollen Fragen. Wie konntest du nur? Wie konntest du sie nur so leicht vom Haken lassen? Danach ein kurzer Umweg über Versöhnliches, gefolgt von einem voreiligen Versprechen, sich zivilisiert zu verhalten (den Jungs zuliebe). In ein paar Minuten wird Susan anfangen, für zwei zu trinken, und dann fließen die Tränen. Am Ende kommt unweigerlich die Sprache auf Ian.
An diesem Nachmittag landen wir schneller dort.
Viel schneller.
Tommy und Jonathan platzen in die Küche, haben bei Star Wars auf Pause gedrückt. »Dürfen wir Popcorn, Tante Justine?«, fragt Tommy.
Jonathan zeigt sein Lächeln, das er von seinem Vater hat, nicht von mir. »Bitte, Mommy!«
Die beiden ähneln sich sehr: graue Augen, geschwungene, ständig lächelnde Lippen, gleiche Stimme. Selbst ihre Schrift sieht nahezu identisch aus. Ich wende mich zum Kühlschrank, an dem mit Magnetbuchstaben zwei Bilder mit der Überschrift ›Was ich in den Ferien gemacht habe‹ befestigt sind. »Mein Gott, die Schrift sieht genau gleich aus«, sage ich zu Susan. »Glaubst du, das liegt daran, dass sie beide Erstklässler sind?« Aber eigentlich glaube ich das nicht. Vielleicht erbt man die Schrift genauso, wie man die Augenfarbe, die Locken und die Lippen erbt. Vielleicht haben sie das alles von Ian.
Obwohl ich eigentlich nicht behaupten kann, dass Susan Ian ähnelt. Wenn ich sie betrachte, erkenne ich, dass sie viel kleiner ist, dass ihre Nase ganz anders aussieht und dass sie nicht den schrägen Humor ihres einzigen Bruders hat, mit dem er mich immer so unkontrolliert zum Lachen bringt, bis mir der Bauch wehtut.
Korrektur: brachte.
»Mom?«, sagt Jonathan. »Erde an Mom?«
»Klar. Popcorn.« Ich lege die Tüte in die Mikrowelle und scheuche die beiden aus der Küche. »Geht wieder spielen, Jungs. Ich bring’s euch, wenn es fertig ist.«
»Zwei Schüsseln?«, fragt Jonathan. »Weil Tommy sich immer eine ganze Handvoll auf einmal nimmt.«
»Zwei Schüsseln. Aber jetzt schiebt ab!«
Sie verschwinden gerade noch rechtzeitig. Denn Susan hat die Schleusen geöffnet, und als die Musik von Star Wars wieder ertönt, ist sie bereits mitten im sechsten Stadium endloser Trauer.
Ich wappne mich. Denn jetzt reden wir über meinen Schlaf.
»Wie kannst du noch ruhig schlafen?«, fragt Susan. »Wie kannst du in dem Wissen schlafen, dass die Arschlöcher, die Menschen getötet haben, seit Jahren gemütlich zu Abend essen und danach einen Film gucken? Dass sie draußen an der gottverdammten frischen Luft mit einer Meute anderer Mörder Basketball spielen oder Gewichte stemmen? Zur Hölle noch mal, manche machen sogar einen Abschluss! Das ist jetzt das Neueste! Also, erklär’s mir! Wie kannst du noch schlafen?«
»Sie sind immer noch eingesperrt, Susan. Ihrer Bürgerrechte beraubt, Herrgott! Trotz ihrer drei Mahlzeiten pro Tag und trotz ihres Freiluftgyms.« Und was ihre Frage betrifft, wie ich schlafe, so ist die Antwort ganz einfach: gar nicht.
Susan leert ihr Glas und schenkt sich nach. Bis zum Rand. »Die Beweise waren immer ausreichend, Just. Ich war bei jedem einzelnen Fall dabei. Fingerabdrücke, Haare, Schmauchspuren. Ein umfassendes Geständnis.« Schon ist das Glas halb leer, Susans Stimme wird immer schriller, die ersten Takte der gottverdammten Star-Wars-Titelmelodie scheinen in Endlosschleife zu laufen, und aus der Mikrowelle über dem Herd dringt toxischer Gestank. Es geht doch nichts über den Geruch von versengten Maiskörnern und angekokeltem Fett.
Mist.
»Ian hätte es auch nicht gewollt, Sue«, sage ich. »Das weißt du genau.«
»Das sagst du immer.«
»Weil es wahr ist.«
Auf Letzteres gehen wir nicht näher ein; das tun wir niemals. Susan trinkt noch einen Schluck, und ich wappne mich vor dem Güterzug mit einer Ladung Schuld, den sie in meine Richtung rollen lassen wird.
»Und wenn Charlotte Thornes Schüler Jonathan gewesen wäre?«
»War er aber nicht«, erwidere ich.
»Aber was, wenn doch?«
Es gibt keine Antwort, mit der ich Susan zufriedenstellen würde. Sollte ich sagen, dass ich dann immer noch nicht die Todesstrafe für Thorne wollte, würde sie mit dem üblichen Spruch kommen: »Das kannst du nicht wissen. So was weiß man erst, wenn es einen wirklich selbst betrifft.« Würde ich das Gegenteil sagen, würde sie mir vorwerfen, ich sei eine Heuchlerin, die mit zweierlei Maß messe. Da ich hier nicht gewinnen kann, halte ich den Mund, nippe an meinem Wein und blinzle gegen meine Tränen an.
Da verblasst ihr bitteres Lächeln, und sie legt mir die Hand auf den Arm. »Tut mir leid«, murmelt sie. »Das mit Jonathan hätte ich nicht sagen sollen. Ich weiß, er ist alles, was dir geblieben ist.« Statt mich anzuschauen, fährt sie mit dem Finger über den Rand ihres Glases. »Wenn ich was trinke, gehen immer meine Gefühle mit mir durch. Alles gut zwischen uns?«
»Klar, Schwägerin. Alles gut.«
»Ich vermisse Ian auch, weißt du?« Jetzt zieht sie mich in ihre Arme. »Ich schätze, jedes Mal, wenn ich was von einem Mord höre, reißt die Wunde wieder auf. Verstehst du?«
Natürlich verstehe ich das. »Hör jetzt auf. Ich will nicht weinen, wenn die Jungs da sind.«
»Okay. Okay. Aber ich wünschte, es gäbe diesen Remedies Act nicht. Mir ist klar, dass du Probleme mit der Unwiderruflichkeit hast. Trotzdem wünschte ich, es gäbe ihn nicht.«
Ich löse mich von Susan, ganz vorsichtig, und blicke ihr direkt in die Augen. »Aber er war notwendig. Sie wollten die Todesstrafe wieder einführen nach dem … nach dem anderen Fall. Den mit den Kindern. Also versuchten wir, die Hinrichtungen auf ein Minimum zu beschränken.«
»Du hast mir immer noch nicht alles von diesem Fall erzählt.«
»Dem Toby-Barrett-Fall? Nein, Susan, habe ich nicht. Und das werde ich auch nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil der tausend Mal schlimmer war als der von dieser Woche.«
Toby Barrett kam zur richtigen Zeit. Zehn Kinder insgesamt, alle über einen Zeitraum von Monaten verhungert, nur am Leben gehalten durch Wasser und Salz, bis er ihrer überdrüssig geworden war. Der Bastard zeigte so viel Reue wie eine Klapperschlange.
Barrett war nicht mein Fall, aber ich verfolgte den Prozess und nahm ein paar Tage Urlaub, um die Abschlussplädoyers, das Urteil und die Verkündung des Strafmaßes mitzubekommen. Als Petrus ihn zu zehnmal lebenslänglich in Folge verurteilte (viel zu wenig, meiner Meinung nach), stand Barrett da und fletschte seine schiefen, tabakfleckigen Zähne. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, wie jemand, der so klein war – er wog höchstens 65 Kilo –, so viel Bosheit in sich tragen konnte. Selbst sein Pflichtverteidiger schien so viel Distanz zu ihm wahren zu wollen, wie die Möblierung des Gerichtssaals es zuließ. Vielleicht fürchtete er, sich durch zu nahen Kontakt anzustecken und eines Morgens mit dem unstillbaren Drang aufzuwachen, seinem Klienten nachzueifern. Petrus’ Albträume waren berechtigt. Sind es noch.
Das Verbrechen war so widerwärtig, so abscheulich gewesen, dass ich fand, der Merriam-Webster sollte es unter dem Eintrag für ›böse‹ auflisten. Der Mann war so bösartig wie eine tollwütige Ratte. Doch die Worte, die er von sich gab, nachdem Petrus ihr Urteil gesprochen hatte, änderten unseren Teil der Welt.
Barrett stand einen Moment ganz still da, lang genug, dass der Schlag, den er allen im Gerichtssaal versetzte, umso wirkungsvoller war. Dann lachte er. Warf den Kopf in den Nacken und gackerte, ohne Petrus’ Ordnungsrufe und Donnern mit dem Richterhammer zu beachten. Sein Gelächter schlug eine tiefe Wunde in die Seele der Anwesenden.
Vorne im Saal saßen die Familien der Opfer: Mütter lehnten sich an Väter, oder Eltern stützten sich gegenseitig, Väter hatten den Arm um die Schultern anderer Väter gelegt. Ich zählte sieben Paare, zwei alleinerziehende Mütter und einen einzelnen Mann mit hellbraunen Haaren. Zu Beginn des Prozesses hatte es acht Paare gegeben. Die Frau des Manns mit den hellbraunen Haaren war anfangs noch mitgekommen. Dann nicht mehr. Auch wenn Toby Barrett hinter Gittern saß, konnte er immer noch das Leben anderer zerstören.
Mir sank das Herz, als ich ihn lachen hörte. Eine der Mütter vorne brach mit der Anmut eines Felsens zusammen, der einen steilen Abhang hinunterkracht. Der Mann mit den hellbraunen Haaren machte einen Satz zum Angeklagten, doch die anderen Väter hielten ihn gewaltsam zurück. Es war eine sehr unschöne Szene. Und es sollte noch schlimmer werden.
Viel schlimmer.
Obwohl Petrus weiterhin zur Ordnung aufrief, wurde sie von Barrett übertönt. Er sprach mit einem tiefen Bariton, der volle Aufmerksamkeit gebot. Man konnte ihn einfach nicht ignorieren. Man konnte nicht verhindern, dass seine Worte einem in die Ohren drangen wie kleine, giftige Würmer.
»Herzlichen Dank, Euer Ehren«, sagte er. Die letzten zwei Silben zog er so in die Länge, dass das Wort ›Ehren‹ fast in zwei Stücke riss. Barrett wandte sich zu den Geschworenen. »Und danke auch Ihnen, meinen braven Mitbürgern, die Sie meinesgleichen sind.« So wie er es sagte, wurde auch aus meinesgleichen etwas spürbar Böses. »Danke, Ladys und Gentlemen.« Er nickte zu den Eltern der Opfer und zwinkerte dem Mann mit den hellbraunen Haaren zu, der sich immer noch im Griff von drei anderen Vätern wand. »Und danke auch an den Gouverneur, der diesen schönen Bundesstaat 2016 von der Todesstrafe befreit hat.
Und der Grund, warum ich euch lieben Hurensöhnen allen danken möchte«, fuhr Barrett fort, »ist, dass ihr mir den Rest meines Lebens kostenlos drei Quadratmeter, Bett und Kabelfernsehen zur Verfügung stellt.« Er verneigte sich. Dieser Mann besaß die Frechheit, sich zu verneigen! »Ihr könnt mir nichts mehr, oder? Ich kenne meine Rechte. Ich weiß genau, dass jeder Einzelne von euch politisch korrekten Heulsusen mich mit Freuden auf dem elektrischen Stuhl oder der Totenbahre sehen würdet. Aber ihr könnt mir nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, wie euch das zusetzen muss!«
Da knallte Petrus so heftig ihren Hammer auf den Tisch, dass er hinunterhüpfte und mit einem dumpfen Aufprall direkt vor dem Tisch der Verteidigung landete. Hunderte Augenpaare hefteten sich darauf. Auch meine. Ich weiß, welcher Gedanke alle beherrschte. Schlag das Hirn dieses Dreckschweins zu Brei!
Die Zuschauer starrten ihn an, während er weitersprach. Petrus rief vom Richtertisch nach dem Gerichtsdiener. Leider war der jedoch noch leichter als Barrett. Der schüttelte den Ordnungsbeamten ab wie ein lästiges Kind.
»Ihr schwachbrüstigen, liberalen Heulsusen! Musstet die Todesstrafe wegen der Wähler abschaffen, oder? Um verständnisvoll, sanft und tolerant zu wirken. Wie gute Christen. Tja, jetzt habt ihr, was ihr wolltet, und ich sag noch mal danke. Danke, Euer Ehren; danke, ihr Geschworenen, und danke an alle dämlichen Steuerzahler, die die nächsten vierzig Jahre für mich aufkommen. Ab morgen Abend werde ich mit den Jungs rauchen und witzeln und Football auf einem Großbildschirm ansehen, den ihr alle bezahlt.« Wieder zwinkerte er den Zuschauern zu. »Vielleicht sogar ein paar Kinderpornos. Ist zwar nicht erlaubt, aber jeder im Knast weiß doch, wie man sich alles besorgen kann, was man will.«
Da trat eine Frau vorne im Saal auf das Podest, um sich größer zu machen. »Bringt ihn zum Schweigen!«, rief sie, an niemand Besonderen gerichtet. »Bringt ihn zum Schweigen!«
Verstärkung kam, vier kräftige Männer. Innerhalb weniger Sekunden, die dennoch wie eine Ewigkeit wirkten, nahm jeder von ihnen eine von Barretts Extremitäten, sodass der Mörder auf einer unsichtbaren Streckbank lag, während er fortgeschafft wurde. Er sah aus wie Jesus in den Händen der Römer.
Aus der Gruppe der Eltern ertönte ein Heulen, ein lang gezogener Laut des Schmerzes, der direkt aus einem der inneren Kreise von Dantes Hölle kam. Ich hörte ihn. Und ich höre ihn noch, während ich jetzt mit Susan in der Küche sitze.
Psychopath, denke ich. Ähnlich wie Charlotte Thorne heute.
Aber es sind nicht alle so. Ich habe Prozesse miterlebt, wo der Angeklagte ganz ruhig dasitzt, wo es keine Ausbrüche gibt. Wenn ich es bedenke, war Jake Milford so einer. Als das Urteil verkündet wurde, starrte er nur auf seine Hände.
Ich habe gelernt, dass es zwei Arten von Menschen gibt, die in Gefängnissen arbeiten. Die meisten sind ganz normale Leute, die es wegen des Geldes tun. Sie verrichten ihre Arbeiten mechanisch, schließen Türen auf und zu, bringen Tabletts mit Essen und nehmen sie wieder mit. Ich glaube nicht, dass sie ihre Arbeit besonders mögen, doch wie ich schon sagte, müssen manche ihren Lebensunterhalt verdienen.
Und dann gibt es die anderen. Die Sadisten.
Mr. Lively und Mr. Coombs gehören dazu.
»Da gibt’s was, das die Leute falsch verstanden haben«, sagte Mr. Lively, als er mich am Nachmittag meines letzten Tages in meine Zelle zurückbrachte. »Das Zucken zum Beispiel. Dein Körper zuckt nicht, Milford. Er erstarrt, frisst sich fest wie ein Motor ohne Öl. Nur dass ein Motor keinen Schmerz spürt.«
Coombs widersprach. »Ich hab mich über den elektrischen Stuhl informiert. Manche behaupten, der Tod tritt sofort ein, aber wenn das stimmt, ist das eine verdammte Schande. Für Kinder mordenden Abschaum wie dich sollte er nicht sofort eintreten, sondern sich qualvoll lang hinziehen. Die gute Nachricht ist, dass manche sagen, so schnell würde er gar nicht eintreten. Daran solltest du denken, Milford. Denk dran, wenn du den letzten Gang antrittst!«
Ich hielt meinen Mund. Auch wenn ich nicht besonders schlau sein mag, reicht es doch, um zu wissen, dass Coombs und Lively immer noch die Macht hatten, mir die letzten Stunden zur Hölle zu machen. Sie mussten nur dem Aufseher sagen, dass ich ausgerutscht und hingefallen wäre. Pech.
»Verstehst du«, fuhr Lively fort, »die Leute, die sich hinter die Glasscheibe setzen und zugucken, glauben, sie wüssten, was sie erwartet. Sie glauben nur, was sie sehen, und sie glauben, wenn sie wirklich da sind, haben sie alle Fakten. Und an diese Fakten glauben sie. Das Ding ist aber, dass diese Leute nur einen Teil der Geschichte sehen. Sie sehen dich nicht von Nahem, sehen nicht deine Angst. Sie riechen es nicht, wenn du dir vor Angst in die Hose scheißt, und sie hören auch nicht, wenn du winselst wie ein kleines Mädchen. Glaub mir, Milford, du wirst eine Scheißangst haben.«