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Anna Giró, die Gefährtin des Komponisten Antonio Vivaldi, beichtet ihre Lebensgeschichte. Das Buch basiert auf langjährigen Forschungen, auch mit Hilfe bekannter Musiker und Musikwissenschaftler. Nun war es möglich, das Leben beider Künstler anhand der Musik nachzuzeichnen. Es entstand ein Werk von hohem Fachwissen und großer Sensibilität. Nichts ist einfach erfunden, von allen Begebenheiten fanden sich Belege oder zumindest Hinweise. Der Leser erfährt nicht nur von Vivaldis Kunst, sondern auch wie er als Mensch war, im Kreise seiner Zeitgenossen. Interessant für alle, die seine Musik lieben und nicht nur für die.
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Seitenzahl: 849
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Prolog
Der Fund
Wie es begann
Antonio
Annina
Amor, hai vinto
Le quattro stagioni
Die Gefahr
Mantua und mehr
Die Enttäuschung
Eroberungen
Trennung
Das Quartett
Verwirklichungen
Große Opernstagione
Triest und der Kaiser
Die Atenaide
Wien – Stadt der Träume
Auf der Suche
Neue Erfolge
Dresden
Auf und Ab
Bajazet und Adelaide
Die Griselda
Die Ginevra
Kleinigkeiten und ein großer Verlust
Gut und Böse
Ruffos Exempel
Doch die Oper Siroe
Schwere Zeiten
Graz
Neues Land, neue Ufer
Schicksalsstadt Wien
Gratwanderung
Letztes Glück
Aufbegehren
Was blieb
Heimkehr
Finale
Jeder hat sich sicher schon gefragt, woher wir kommen, wohin wir gehen. Was ist der Sinn unseres Daseins? Stets lehrte man, Religionen geben darauf eine Antwort und die sei die einzig Wahre. Irgendwann begannen Menschen daran zu zweifeln, sahen das Leben nur als eine rein körperliche Zufallsexistenz, die mit dem Tod im Nichts verschwindet. - Ansichtssache – doch machen es sich Beide nicht ein wenig zu einfach?
Nunmehr befasst sich auch die Wissenschaft mit diesem Thema, und das mit zum Teil überraschenden Ergebnissen. Die Reinkarnation z.B., dieser uralte Glaube, wird nun nicht mehr nur Religionen zugerechnet, sondern es wird nach ihrer Bedeutung geforscht, denn man kann nicht mehr daran zweifeln, dass sie Sinn macht. Alles um uns herum, Tiere, Pflanzen usw. ist mehr oder weniger vom Geist erfüllt. Physiker bewiesen, ein Weiterleben des Geistes nach dem Erlöschen aller Körperfunktionen ist schon rein physikalisch mehr als wahrscheinlich, weil es sich dabei um ein energetisches Gebilde handelt. Das Gesetz der Energieerhaltung besagt, Energie ist unzerstörbar, kann weder erzeugt, noch vernichtet, sondern nur von einem Zustand in einen anderen umgewandelt werden. Demzufolge muss sie bereits vor unserem Leben da gewesen sein und ist auch nach dem Tod noch da.
Und nicht nur das ist mehr als ein Indiz für die Reinkarnation, das mehrfache Erscheinen auf unserem blauen Planeten. Was erleben Menschen nicht alles, die Rückführungen in ihre vergangenen Leben unternehmen. Sie beschreiben Orte, an denen sie niemals waren, wissen Historisches, das sie nicht wissen konnten, sprechen Sprachen, die gar nicht mehr gesprochen werden, kennen Musikstücke, von deren Existenz sie nichts wussten und so weiter. .. Außerdem gibt es spontane Erinnerungen an frühere Verkörperungen, auch Träume haben oft solche Inhalte, sind aber schwer zu erkennen. Daher werden sie meist schnell vergessen. Die Dunkelziffer dürfte hoch liegen... Dieses Buch aber soll nicht von Reinkarnation im allgemeinen handeln, sondern eher im besonderen.
Auf einer meiner Reisen begegnete ich einer Frau, die mir ihre Geschichte erzählte...
Es begann mit einem Traum, von dem sie sofort wusste, das war ein Blick in ihr Vorleben, nichts anderes. Niemals zuvor hatte sie sich mit Reinkarnation beschäftigt, wollte auch nicht so einfach daran glauben und war sich dennoch sicher. Trotzdem verglich sie ihn mit Inhalten von Büchern, Filmen, ihrem eigenen Leben, nichts passte. Nie vergaß sie den Traum, erst nach Jahren trat er in den Hintergrund, ohne wirklich ins Vergessen zu sinken. Eine Erklärung schien unmöglich bis zu dem Zeitpunkt, als plötzlich doch noch dieses Wunder regelrecht über sie hereinbrach. Ein langer Lernprozess auf verschiedenen Gebieten folgte, eine wahre Odyssee, sie machte es sich nicht leicht. Immer wieder zweifelte sie, suchte und fand in der Literatur und in sich selbst Erklärungen. Jahre später gelang es ihr zu beweisen, nicht nur für mich völlig logisch, sondern auch für Menschen, die sich schon lange mit dem Thema beschäftigen, wer sie in einem früheren Leben war und wie dieses verlief, was ihr warum nachging.
Sie fand sich als eine Sängerin im 18. Jahrhundert, Anna Tessieri, genannt Giro mit Namen, die lange Zeit an der Seite des großen Barock-Komponisten Antonio Vivaldi lebte. Jedoch nur das Wiederentdecken seiner Musik jetzt in unserer Zeit ermöglichte das Wiederfinden dieses längst vergangenen Daseins. Nun versuchen wir gemeinsam, das Leben beider Künstler, diese faszinierende Geschichte mit feiner Feder nachzuzeichnen...
In meiner Jugend spielte ich Gitarre und Violine, galt als hochbegabt, begann ein Studium der Musik an einer Hochschule. Ich spielte auch Stücke von Vivaldi, als meinen Lieblings-Komponisten allerdings mochte ich ihn nicht bezeichnen, trotzdem war er mir näher als andere, fast möchte ich sagen, menschlich, jedoch damit befasste ich mich nicht näher. Leider zwang mich eine Krankheit, dieses Studium abzubrechen, einen anderen Beruf zu erlernen. Bald gründete ich eine Familie und lebte für Mann und Kinder, lange Jahre.
Die Musik aber vergaß ich nie, erinnerte mich oft, wenn ich besonders zu Herzen gehendes hörte: Das klingt wie Vivaldi, obwohl er damals noch als relativ unbekannt galt und ich diese Stücke nie gehört haben konnte. Auch im Traum hörte ich mein Leben lang Musik, wunderschöne Musik, oft nur einige Takte, die mich tagelang nicht losließen, ich konnte sie aber niemandem zuordnen, wie auch. Und stets fragte ich mich, irgendwo ist „meine“ Musik, ob ich sie wohl jemals finde? Ich war mir sicher, irgendwann einmal in meinem Leben bekomme ich die Musik zurück, die ich in meiner Jugend aufgab, wie immer das auch geschehen soll.
Das Leben hatte andere Aufgaben für mich, mit der Zeit trat Vivaldi in den Hintergrund, jetzt hörte ich alles mögliche. Trotzdem behielt Vivaldi in meinem Unbewussten stets eine Sonderstellung.
Dann aber träumte ich diesen seltsamen Traum, von dem ich sofort wusste, das war kein normaler Traum, sondern ein Blick in ein Vorleben. Alles erschien seltsam echt, so besonders.
Es war zur Postkutschenzeit, in einer Großstadt, der Stadt Wien, wie sich herausstellte, in einem großen, mehrstöckigen Eckhaus. Gegenüber auch eine Häuserzeile. Die Örtlichkeit habe ich heute noch vor Augen. Hier lebte ich mit einem Geschwister, Bruder oder Schwester, da wurde mir nicht gezeigt. Wir gehörten nicht hier her, hier war nicht unsere Heimat.
Jemand war gestorben und das quälte mich, doch ich verspürte den Zwang, ihn verstecken zu müssen, damit uns keiner auf die Schliche käme hier in der Fremde, denn Irgendetwas war Unrecht, ich rannte durch eine Art Keller, sah in alle Ecken, auch in solche, in die er gar nicht gepasst hätte, ich wusste es genau, aber ich fand ihn nicht mehr. Wo war er, der, den ich so fieberhaft suchte?
Ich schrie: das wollte ich doch nicht, lieber Gott, mach ihn wieder lebendig. Ich fühlte mich unendlich schuldig, warum nur. Tat ich etwas Schlimmes, was denn... Dann fand ich mich wieder in einem dunklen Zimmer, wusste neben mir mein Geschwister, fühlte mich beschützt. Draußen bog um die Ecke ein Fiaker... Seltsam, wie kam ich auf diesen nur in Österreich gebräuchlichen Begriff für eine Pferdekutsche?
Sofort berichtete ich es den Meinen, auch von der absoluten Sicherheit, in ein Vorleben geblickt zu haben. Oft sprachen wir darüber, vergaßen es niemals. Die Bücher, die ich schließlich über Reinkarnation las, halfen nicht bei der Klärung der Frage, gibt es das oder...
Vor allem aber konnte ich das, was in dieser Erscheinung geschah, mit nichts in Verbindung bringen, keinem Erlebnis, keinem Buch, keinem Film oder ähnlichem. Außerdem würde es in einem solchen keinerlei Sinn ergeben. Und – man spielt keine Filmhandlungen einfach so nach, identifiziert sich mit so etwas Schrecklichem.
Erst mit der Zeit lernte ich aus Büchern, dass solche Blicke in Vorleben meist unbewältigte Probleme verschlüsseln. Was aber war mein Problem? Wo war er, dieser Schlüssel?
Eines Tages spielte jemand in einer Fernsehsendung mehrere Sätze aus Vivaldi-Konzerten. Sofort fand ich diese Musik unwiderstehlich. Hier versteckte sich etwas Besonderes, ich erkannte, das war sie, die Musik, die ich mein Leben lang suchte. Doch da war noch mehr, es war, als möchte mir diese Musik etwas erzählen. Was nur?
Nie gekannte Unruhe packte mich und allmählich begriff ich, mein Interesse galt auch dem Komponisten. Es war, als sei er mir bekannt seit Ewigkeiten. Bereits in meiner Jugend empfand ich das, erinnerte ich mich. Antonio Vivaldi, ein Gefühl der Rührung für ihn brachte mich fast um. Ich kaufte mir viele, viele CDs, studierte diese Musik, fand darin immer wieder mir bekannte Sequenzen unterschiedlicher Länge, konnte so manche Arie einfach mitsingen, ohne sie jemals vorher gehört zu haben, weil sie bisher unbekannt war. Wenn mich allerdings einer gefragt hätte, was ich suche, ich hätte es nicht beantworten können.
Ich las eine Biographie, doch als sie entstand, war über den Komponisten noch nicht viel bekannt. Nein, diese würde mir nichts nützen. Jetzt aber stellte ich mir diese Frage, von der ich nicht wusste, woher sie eigentlich kam: War ich hier jemand?... verwarf diesen Gedanken sofort wieder, nein, das ist absurd. Doch irgendetwas war stärker, irgendwo schien eine Verbindung zu sein, eine sehr enge, das war nicht zu leugnen, obwohl ich dieses Gefühl keineswegs als eine Art der Verliebtheit bezeichnen mochte, sondern eher als eine tiefe seelische Nähe auf musikalischer Basis.
Ich versuchte es wegzuschieben, doch mein Unterbewusstsein arbeitete fieberhaft an einer Klärung und noch bevor ich mir weitere Literatur anschaffte, kam diese Eingebung, die ich nicht wahrhaben wollte oder konnte: Jetzt weiß ich, was ich suche, nämlich mich!
Das soll einer verstehen, wie nur komme ich auf so was? Das gibt es doch nicht. Wer soll ich gewesen sein, wie soll das gehen und wie kann ich mir das jemals beweisen, denn nur der Beweis würde mich überzeugen können, sonst wären all diese Gedanken sinnlos.
Ich blätterte in einem weiteren Buch, fand die Wiener Ereignisse, als der Komponist starb, las, er wurde mit Sicherheit von seiner Freundin begleitet.
Und erst da fiel mir mein Blick ins Vorleben von vor Jahren ein. Was träumte ich, na klar, ich fühlte mich in Wien, schrie wegen eines Verstorbenen, an meiner Seite mein Geschwister. Sollte ich... nein, nein...
Auf dieser Buchseite stand nichts von einem Bruder oder einer Schwester der Freundin Vivaldis. Jetzt las ich das Buch richtig und wirklich, ich fand an anderer Stelle in Originaldokumenten, Vivaldis Freundin Anna Giró wurde auf allen ihren Reisen von ihrer Schwester Paolina begleitet. Städte sind genannt, in denen sie auftrat, auch Wien ist zu lesen.
Ich sah mir die Fotografie des Hauses an, in dem Vivaldi in Wien wohnte, in dem er starb. Diese Aufnahme entstand ca. ein Jahrhundert später. Ja, stellte ich fest, so sah es aus in meinem Rückblick, die Gasse, das Haus, die gegenüber liegende Häuserfront. Oh Gott, mir wurde heiß und kalt... jetzt müsste ich nur noch wissen, ob ich tatsächlich Anna war... Eine unlösbare Aufgabe, schien mir. Da war dieses Gefühl Vivaldi nahe gestanden zu haben, aber warum das Schuldgefühl, was hat Anna getan? …
Unmöglich, dachte ich, Reinkarnation erschien mir immer noch als fragwürdig und dazu noch ein Leben an der Seite eines heute noch berühmten Künstlers. Das sind doch alles Spinner, die so was behaupten. Erst heute weiß ich, ich hätte niemals denken können, hier jemand gewesen zu sein ohne wirklichen Grund. Kein vernünftiger Mensch sieht sich als eine bestimmte Person der Vergangenheit, weil ihm dazu jegliche Beziehung fehlt, das ist absurd, vorher ist die Grenze, eben die Vernunft.
Nun beschäftigte ich mich intensiv mit dem Leben des Komponisten, trug alles über ihn zusammen, was Musikwissenschaftler fanden, fand selbst einiges bisher Unbekanntes.
In Venedig lebten der katholische Priester Antonio Vivaldi und Anna Giro stets in getrennten Wohnungen, offiziell. Er mit seinen Eltern und zwei ledigen Schwestern, sie mit ihrer Schwester Paolina und ihrer Mutter. Heimlich aber lebten sie zusammen. Dafür gibt es zahlreiche Belege.
Stets wurde getuschelt über diese ungewöhnliche Beziehung, sie war seine Schülerin, Helferin, später Interpretin. Sie begleitete ihn auf Reisen, war seine Assistentin und Sekretärin, wurde zu seiner bevorzugten Primadonna, sorgte für ihn, jahrzehntelang. Es hätte ewig so weitergehen können... doch schließlich prangerte ein Kardinal die Lebensweise beider Künstler an. Man hatte ihm einen Wink gegeben. Der wahre Grund war ein ganz anderer, nämlich künstlerischer Neid. Dazu später.
Die katholische Kirche propagierte damals und heute vielleicht auch noch, dass das Zusammenleben mit einem Geistlichen ein „unsühnbares Verbrechen“ sei, welches Gott mit Fegefeuer und dergleichen bestraft. Auf Erden strafte einstweilen die Inquisition.
Das Verstecken solch einer Beziehung lag auf der Hand. Man stelle sich die Angst vor, ertappt zu werden. Ich begriff, daher rührten meine Schuldgefühle.
Verschlüsselt aber habe ich den Blick in mein Vorleben selbst, ich sah praktisch durch die eigene Brille, sah die Ereignisse nicht realistisch, sondern so, wie sie mir folgten, mit Angst, schlechtem Gewissen und meinem Schmerz. Nur Anna konnte so gefühlt haben wie ich in meinem Traum. Für Paolina oder andere Personen ergibt das keinerlei Sinn. Hier waren sie, meine ungeklärten Probleme, meine Schuld, mein Herausreden-Wollen, die sich in mein jetziges Leben schlichen. Damals ein Tabu und deshalb spreche ich jetzt darüber. Solche Vergleiche, damals – heute, fand ich noch mehr. Ich erkannte mein „Ich“ in vielem, was Anna tat. Das und natürlich sämtliche Literatur, die es nunmehr gibt, beantworteten meine Fragen, halfen mir, nicht mehr zu zweifeln. Leicht war es nicht und es dauerte lange, bis ich mich mit mir selbst identifizieren konnte. Immer tiefer fand ich mich in mein damaliges Leben hinein, ohne jedoch mein jetziges zu vernachlässigen und nun diktiere ich meine Erlebnisse einer Schriftstellerin.
Kurz zur Geschichte des Wiederfindens der Musik Vivaldis, fast ein Krimi: Der Musikwissenschaftler Gentili erhielt im Jahre 1926 den Auftrag, eine Sammlung alter Musikalien aus einem Kloster auf ihren Wert zu prüfen. Er fand darin eine Menge Musik von Vivaldi, in verschiedene Werksgattungen sortiert und durchnummeriert. Bei manchen fehlten die geraden, bei anderen die ungeraden Zahlen, also musste die Sammlung ursprünglich doppelt so groß gewesen sein. Eine fieberhafte Suche nach dem zweiten Teil schloss sich an, bei der sogar Italiens Staatspolizei helfen musste. Man fand diesen bei einem schrulligen Marchese, der sich nicht davon trennen wollte. Nach langen Verhandlungen erst ließ er sich dazu überreden. Sponsoren wurden gefunden, die die Sammlungen kauften und der Turiner Nationalbibliothek zum Geschenk machten, heute Foa- bzw. Giordano-Sammlung genannt. Später konnte auch die Überlieferung fast gänzlich nachvollzogen werden.
Vivaldis Sammlung eigener Werke befand sich bereits 1745 im Besitz des venezianischen Sammlers Jacobo Soranzo, weil dieser nachweislich in diesem Jahr einen Katalog seiner Besitztümer anfertigen ließ. Er starb um 1750. 1764 kaufte Marchese Giacomo Durazzo die Sammlung aus Soranzos Nachlass. Sie blieb durch die Jahrhunderte im Besitz dieser Familie, wurde erst nach Generationen einmal geteilt, weil einer der Erblasser zwei Söhne hatte.
Kurz zur Musik Vivaldis, denn kaum jemand kennt ihren wahren Umfang.
Er schrieb nicht nur Konzerte und Sonaten für Soloinstrumente, sondern auch Kirchenmusik, Vokalstücke, Singspiele und Opern, deren Zahl er selbst kurz vor seinem Tod mit 94 angab. Heute steht fest, es waren noch mehr, denn er fertigte auch Umarbeitungen eigener und fremder Werke an. Die Zahl seiner Lieder beträgt mehr als 1300. Seine Kompositionen zeugen von hoher musikalischer Kompetenz, bestechen durch Temperament, Schönheit und Ehrlichkeit und dieser besonderen Innigkeit, Zärtlichkeit, die man auch als herzzerreißende Hingabe an eine reine Gefühlsreligion bezeichnen kann. Es gelang ihm, menschliche Emotionen festzuhalten, so dass Musikliebhaber damals wie heute darüber staunen.
Manches sehe ich anders als andere Autoren, z.B. mein Geburtsjahr. Ich war früher als angenommen geboren, denn Vivaldi spricht davon, er hätte mich und Paolina mit an den Hof zu Mantua genommen im Jahre 1717/18 und nicht erst dort kennengelernt, und der Landgraf betrachtete uns stets mit Wohlwollen. Also konnte ich da kein Kind mehr gewesen sein, auch hätte der Landgraf sicher das Dienstpersonal seines Kapellmeisters nicht beachtet, erst recht nicht mit Wohlwollen. Es gibt noch mehr Beispiele...
Nun aber will ich berichten über dieses längst vergangene Leben als
L´ Annina del´ Prete rosso
Wir schreiben das Jahr 1712, als ich Antonio Vivaldi zum ersten Mal sah, als wir uns kennen lernten. Da zählte ich, Anna Madalena Tessieri, 11 Jahre.
Es war in Mantua, der Stadt, in der ich geboren wurde. Ich lebte mit Mutter und Schwester in einer kleinen Wohnung am Stadtrand in der Nähe der Seen, die der Fluss Mincio, Abfluss des Gardasees, bildete. Viele Menschen hielten sich, um existieren zu können, Nutztiere und bauten außerhalb der Stadtmauer ihr eigenes Getreide und Gemüse an. In diesem scheinbar ländlichen Idyll führte ich ein glückliches Kinderdasein. Wichtig schien mir schon damals, lesen und schreiben lernen zu dürfen beim Herrn Kantor in der Kirche und es erfüllte mich mit Stolz, denn ich war das einzige Mädchen beim Unterricht. In die Schule zu gehen, war zu der Zeit für Kinder armer Leute nicht selbstverständlich, für Mädchen erst recht nicht. Wir lernten auch die Lieder, die während des Gottesdienstes gesungen wurden. In der Kirche meiner Kindheit stand ein Cembalo, das aber leider nur der Kantor spielen durfte. Sehnsuchtsvoll sah ich zu und sang mit Inbrunst die alten Kirchenlieder, meist einfache Melodien, die sich mir sofort einprägten. So durfte ich auch mal während des Gottesdienstes ein Lied singen. Und das schon mit 10 Jahren.
Der Kantor meinte zu meiner Mutter: „Die kleine Annina muss dereinst eine Sängerin werden, sie hat Talent und Stimme. Ich stelle mir vor, sie singt in einer großen Kirche, vielleicht in San Marco in Venedig. Da war ich mal vor Jahren.“
Mutter fühlte sich veralbert, erwiderte: „Dieser Beruf ist wohl sehr unpassend für die Tochter eines Barbiers.“
Der Kantor jedoch träumte weiter: „… oder vielleicht singt sie mal in einer Oper, da gibt es großartige Musik…“
Jetzt war Mutter empört, in der Oper singen und so was sagte ein Kantor. Sie brachte Opern mit Unmoral in Verbindung, drehte dem Mann den Rücken zu und murmelte: „Mit einer armen Witwe kann jeder…“
Ich aber freute mich über solche Worte und auch meine Schwester sah es so.
Eines Tages fand ich den Herrn Kantor in der Sakristei. Er malte ein Plakat.
„Sieh mal“, sagte er, „dem Herrn Pastor ist es gelungen, den Prete rosso für ein Konzert zu gewinnen, hier bei uns in der Kirche. Er ist auf der Durchreise, kommt von Milano.“
Ich sah mir das Plakat an, las diesen Namen – Don Antonio Vivaldi - So ein schöner Name, ich nahm im Geiste die Anfangsbuchstaben AV und setzte das A meines Vornamens hintenan, AVA, eine Welle, dachte ich, die uns durch das Leben treibt… die Violine spielt er, zusammen mit dem Orchester unserer Stadt soll er auftreten...
Ich sah zu, wie der Kantor das Plakat an die Kirchentür schlug. Im Nu war er von Leuten umringt. Schnell wurde es in der ganzen Stadt bekannt... habt ihr schon gehört, der Prete rosso spielt in der Kirche...
Leider durfte ich noch nicht zu solchen Veranstaltungen, blieb also nur Paolina. Ich musste versuchen, sie zu überreden, mich zu begleiten und das schnell, denn das Konzert sollte schon morgen sein.
„Na ja, dann gehe ich halt mit, wenn es dir so wichtig ist.“ Endlich gab sie sich geschlagen.
Paolina und ich standen schon eine Weile nahe der Empore, die für den Solisten aufgestellt war. Schnell füllte sich die Kirche, draußen prügelten sich einige wegen des Einlasses. Viele Menschen wollten diesen legendären Prete rosso spielen hören. Pastor sei er in Venedig und Musiklehrer an einem Institut, erzählten sich die Leute. Ich zitterte, als ahnte ich, was nun auf mich zukam. Es war wohl mein Schicksal.
Ein Raunen ging durch die Menge, als er, Don Antonio Vivaldi, die Empore betrat. Er klemmte die Geige unters Kinn. Ich sah zu ihm auf, er war groß und schmal, trug das schwarze Gewand der Kleriker, ein Käppchen auf dem Kopf.
Die Farbe seiner Haare erschien mir rotblond, der Schein der brennenden Kerzen ließ sie kupfern aufleuchten, umrahmten sein blasses Gesicht, das für einen Mann zart wirkte, irgendwie verletzlich. Er hatte schöne Augen, eine leicht gebogene Nase, der Mund lächelte, ohne dass er es wirklich tat. An ihm war etwas diabolisches, doch mir erschien er wie ein personifizierter Engel. Im ersten Moment sah ich in ihm einen Engel und es hätte mich nicht gewundert, wenn Flügel an seinem Rücken gewachsen wären. Ein Engel, dachte ich, ein richtiger Engel.
Dann begann er zu spielen, verzauberte sofort nicht nur mich. Diese Musik hätte er auch selbst komponiert, flüsterten die Leute. Fasziniert hörte ich zu.
Alles um mich herum hörte auf zu existieren. Ich sah nur noch ihn, diesen außergewöhnlichen Mann, hörte seine Musik. Danke, lieber Gott, flüsterte ich leise und sah bewundernd zu ihm auf. War er ein Hexenmeister, die Frauen neben uns flüsterten so etwas. Dann spielte er ein Stück von unglaublicher Zärtlichkeit, mir stiegen Tränen in die Augen. Er aber blickte über die Köpfe aller hinweg ins Nichts, schwelgte in seiner eigenen Kunst.
Einmal trat ein Mann dazu, spielte zusammen mit meinem Engel. Jetzt betrachtete ich ihn als mein persönliches Eigentum. Er gehörte mir, mir allein.
Die ganze Zeit sah ich ihn hingerissen an auf besondere Weise, schenkte ihm meine kindliche Liebe, ihm und seiner Musik. Natürlich spürte auch er meinen ständig auf ihn gerichteten Blick, denn nur wenige Schritte trennten uns und er sah mich an, mich, das kleine Mädchen. Dann lächelte er wirklich, lächelte mich lieb an und spielte dazu ein romantisches Stück. Der liebe Gott beschenkte mich heute reich.
Jedoch die Zeit verging viel zu schnell, das Konzert war zu Ende. Er verbeugte sich, bedankte sich für den Applaus, die Bravo-Rufe. Und ich? Mit Schrecken wurde mir bewusst, nun war alles aus, er musste gehen und ich würde ihn nie wieder sehen. Ich konnte nicht applaudieren. Was jetzt geschah, begriff ich erst viel später. Er sprang von der Empore, übergab seine Geige dem Konzertmeister, kam auf mich zu, hob mich hoch, drückte mich einen Augenblick an sich und küsste mich auf beide Wangen. Dann stellte er mich wieder auf die Füße, flüsterte:
„Nicht traurig sein, vielleicht sehen wir uns mal wieder“, noch ein Kuss auf die Stirn, dann ging er tatsächlich in die Garderobe. Das war zu viel für mich, ich schlug die Hände vors Gesicht, weinte. Meine Schwester versuchte zu trösten.
„Er ist aufmerksam geworden auf dich. Das ist doch was, du kleine Sängerin.
Sieh mal, so ein Konzert kann nicht ewig dauern.“
Neben uns flüsterte jemand: „Hast du gesehen, die Kleine hier hat er geküsst, er, als Priester.“
„Eben“, erwiderte eine andere Stimme, „sie ist doch noch ein Kind…“
Paolina wischte mir die Tränen ab, die unaufhörlich flossen und putzte mir die Nase. Jedoch ich war nicht zu trösten. Sollte ich ihn tatsächlich nie wieder sehen, nie mehr seine Musik hören? Ein Weltuntergang für eine Elfjährige, die eben noch im „Siebten Himmel“ schwebte. Die Menschen verließen die Kirche, alle waren glücklich, außer mir. Da kam mir das Schicksal zu Hilfe.
Aus der Sakristei, die als Garderobe diente, kam aufgeregt der Messdiener gerannt. Er schaute sich um, sah meine Schwester und rief schon von weitem, sie möge warten. Bei uns angekommen, berichtete er außer Atem, dem Geiger, der eben noch so schön spielte, ginge es nicht gut. Ob sie mal mitkommen könnte, um ihm zu helfen. Meine Schwester galt als gute Krankenpflegerin.
„Aber natürlich, gehen wir, schnell“, Paolina zog mich mit sich. Der Messdiener öffnete die Tür der Garderobe. Ich sah den Mann, in den ich mich soeben über alles verliebt hatte, sah ihn vor einem Stuhl knien mit geöffneter Soutane und aufgerissenem Hemd. Darüber erschrak ich und gleich noch einmal, denn er röchelte, als bekäme er keine Luft. Der Mann, der vorhin mit ihm musizierte, stand daneben, sah sehr besorgt aus.
„Oh, Atembeklemmung“, meinte Paolina, „wie bei Onkel Giuseppe.“
Sie ging hinein, schloss die Tür. Oh Gott, Onkel Giuseppe starb letztes Jahr, dachte ich. Eine ganze Weile hörte ich die Atemprobleme meines Engels, hörte, wie Paolina beruhigend auf ihn einredete und wie sie sich mit dem Mann unterhielt. Dann war alles still… Ich zitterte vor Angst, betete in meiner Verzweiflung: Lieber Gott, hilf ihm doch, lass ihn nicht sterben. Ich bin schuldig, weil ich mich verliebt habe, nicht er. Du musst mich bestrafen…
Mit eingezogenem Kopf erwartete ich die Strafe Gottes… Nichts geschah, eine Ewigkeit, wie mir schien. Endlich, endlich öffnete sich die Tür, Paolina sagte:
„Du kannst dich beruhigen. Sein Vater sagte, diese Krankheit hatte er schon als Kind. Jetzt geht es ihm besser. Ich weiß doch, was man machen muss bei solchen Beschwerden, Onkel Giuseppe konnte ich oft helfen.“
„Ja“, entfuhr es mir, „trotzdem ist er gestorben.“
„Ach Annina, er war schon sehr alt.“
Paolina wirkte erfreut, berichtete mir, die Männer hätten sie als Krankenpflegerin und Haushälterin engagiert für die Zeit ihres Aufenthaltes in Mantua, weil sie so viel Geschick bewies.
„Sie geben mir mehr Geld als Remigio, der Barbier. Ich habe von dir erzählt, wie schön du singst, habe ihn gefragt, ob er es mal hören will. Er hat ja gesagt, gerne. Also, komm…“
Sie überfiel mich mit ihrer Überraschung, so gut sie es auch meinte. Doch auf welchen Musiker sollte ich noch warten? Es half nichts, Paolina zerrte mich in die Sakristei. Mein Geigenengel saß am Tisch und sah sehr erschöpft aus. Ich genierte mich, denn sein Hemd stand immer noch offen. Der Vater sagte, wir könnten hereinkommen und er, mein Engel, lächelte mich an, band endlich das Hemd zu und sagte mit leiser Stimme:
„Ich heiße Don Antonio und wie heißt du, du hübsche Kleine?“
Mein Hals jedoch war wie zugeschnürt, ich konnte ihm nicht antworten, sah zu Boden. Meine Schwester antwortete statt meiner:
„Sie heißt Anna Madalena, aber wir sagen Annina zu ihr, weil sie die Kleine ist bei uns zu Hause. Und sie kann wunderschön singen, ist sehr musikalisch.
Außerdem kann sie lesen und schreiben, schon jetzt, mit ihren 11 Jahren. Aber wie ich es einschätze, wird es heute nichts mit dem Vorsingen, das alles war zu viel für die Kleine. Verschieben wir es, edle Herren?“
Immer sagt sie Kleine zu mir, dachte ich ärgerlich, wo ich fast schon 12 Jahre alt war, fast eine junge Dame.
„Das macht nichts“, antwortete Antonio, „morgen ist noch Zeit dafür, vor dem Konzert beim Landgrafen. Also, bis morgen, Annina, Gott schütze dich.“
Er strich mir übers Haar, segnete mich. Ich sah Güte in seinen Augen, er lächelte und da lächelte ich ihn auch an. Die Scheu, die ich eben noch empfand, war verschwunden. Was stürmte da auf mich ein? Plötzlich fühlte ich mich wirklich wie ein kleines Mädchen. Deshalb nahm ich auf dem Heimweg die Hand meiner Schwester. Für so was kam ich mir sonst viel zu groß vor. Doch schnell wurde mir bewusst, ich würde ihn wiedersehen, schon morgen. Ha... da ließ ich die Hand meiner Schwester wieder los.
Zu Hause erzählte Paolina unserer Mutter von ihrem Glück, eine Anstellung gefunden zu haben bei den beiden Musikanten aus Venedig und zum Schluss ihrer Rede alberte sie: „… und Annina hat sich verliebt. Da kannst du mal sehen, Mama, wie schnell sie ist. Und der Kerl ist Priester, wenigstens trug er ein solches Gewand.“
Sie lachten beide, nahmen es wohl nicht so ernst. Ich jedoch verzieh ihnen großzügig ihren Spaß. An einem Tag wie heute machte mir das nichts aus, ich ging zu Bett und sehnte den morgigen Tag herbei, malte mir aus, wie es sein würde, mit Antonio zu musizieren. Langsam kehrte mein Gleichgewicht zurück, ich wurde ruhig, schlief ein und träumte…
Am nächsten Morgen begaben wir uns schon früh zu dem Haus, in dem die beiden Musiker wohnten. Bis jetzt besaßen sie kein eigenes Personal. Paolina sollte nun ihre Stellung antreten, die Zimmer in Ordnung bringen und das Essen zubereiten. Am Nachmittag bereits würden beide zum Empfang eines hohen Kirchenmannes beim Landgrafen musizieren, wussten wir.
Musik empfing uns schon im Treppenhaus, Vater und Sohn spielten auf ihren Violinen, improvisierten wohl nur. Als Antonio uns sah, spielte er auf der Geige ein Willkommen, ich verstand es, es war auch meine Sprache, brauchte keiner Worte. Gestern noch hatte ich mir das so gewünscht, jetzt war es Wirklichkeit. Beide begrüßten uns, zeigten sich erfreut über unser Kommen.
Sie gaben Paolina etwas Geld für den Einkauf. Sie ging auch gleich, damit noch genügend Zeit zum Kochen bliebe und zum Aufräumen.
Antonio sah mich lächelnd an, sagte: „Hast du gehört Annina, das habe ich jetzt nur für dich gespielt, weil ich gestern beim Konzert sah, dir gefällt die Musik. Willst du mir heute etwas vorsingen? Ich bin nämlich Musiklehrer, habe zu Hause viele Schülerinnen.“
„Ja“, antwortete ich, „ich habe es schon verstanden, dass du diese Musik für mich gespielt hast.“
Zu spät merkte ich, ich hatte einen vertrauten Ton angeschlagen, oh Gott, zu ihm, einem Priester. Darüber erschrak ich nachträglich. Er aber nahm dieses Vergehen gar nicht zur Kenntnis.
„Also hast du Gespür für Musik, jetzt bin ich neugierig, was du singst.“
„Ich kenne ein schönes Lied. Aber ich weiß nicht, ob es Euch gefallen wird…“
„Nenne mich ruhig bei meinem Vornamen und betrachte mich als deinen Freund, Annina. Sing dein Lied und bedenke, auch ich musste alles erst lernen.“
Also sang ich ihm mein Lied vor, ein Kinderlied. Und genau dieses flocht er später in ein Doppelviolinkonzert ein. Er sagte: „Wunderbar... weißt du noch, was ich gestern spielte?“, nahm die Geige und intonierte ein besonders schönes Stück, nur ein paar Töne, „erinnerst du dich…?“
Das tat ich, sang ohne Mühe die Melodie zu Ende mit meiner Kinderstimme, traf jeden Ton exakt und er staunte. Ich sang ihm vor, noch mehrere Lieder, ohne Scheu, so, als sei er schon immer mein Lehrer gewesen. Dazu begleitete er mich leise auf der Violine. Genauso hatte ich es mir erträumt. Zu seinem Vater sagte er später, ich müsste eine Ausbildung erhalten bei ihm in Venedig am Ospedale de la Pieta. Sofort begann er damit, zeigte mir die Notenschrift, erklärte mir die Anfänge der Musiktheorie. Ich war Feuer und Flamme. Viel zu schnell vergingen diese Stunden.
Ab jetzt besuchte ich ihn fast jeden Tag und er nahm sich Zeit für mich. Wir hatten viel Spaß miteinander. Ich veränderte mich, so fröhlich war ich früher nicht, das bewirkte nur er und seine Musik. Oft lobte er mich und das spornte an. Er erzählte mir, dass man in Venedig nach Vollendung des 12.
Lebensjahres ein Instrument erlernen, ein Gesangsstudium absolvieren durfte.
So wollte es die Sitte. So ein Glück, dachte ich, bald bin ich 12 Jahre alt.
Zunächst aber musste Mutter von meiner Ausbildung überzeugt werden. Kurz und gut, es gelang Antonio und seinem Vater, Mutter gab ihre Zustimmung.
Ich wusste bereits, Cembalo möchte ich spielen lernen bei Antonio und natürlich singen.
Schließlich verließen er und sein Vater die Stadt, versprachen, sich bald zu melden. Sie wollten für uns eine Wohnung in Venedig suchen und einen Ausbildungsplatz für mich am Pio Ospedale de la Pieta sichern, als Antonios Privatschülerin. Dort gab er Geigen- und Cellounterricht, kümmerte sich um das Orchester und um Privatschüler, Adlige, die ihn reich entlohnten. Wir würden ihm nichts zahlen können, Mutter besaß nicht viel. Sicher war ihm das auch klar und trotzdem bestand er darauf, mich auszubilden. Warum? Solche Gedanken bereiteten mir oft Sorgen.
Endlich traf ein Brief ein, er war versiegelt. Mutter öffnete ihn, Paolina riss ihn ihr aus der Hand und las vor. Die Vivaldis hatten eine Wohnung für uns gefunden, in einem Haus, aus dem sie selbst erst kürzlich ausgezogen waren, teilweise möbliert. Paolina wird im Haushalt der Familie helfen können und Signora Tessieri bei einem Pastor. Der Ausbildungsplatz sei ebenfalls gesichert.
Die Vorbereitungen begannen, Paolina verkaufte den Hausrat. Plötzlich war Geld da, auch Erspartes.
Am Tag vor unserer Abreise ging ich zum Herrn Kantor, um mich zu verabschieden.
„Da wollt ihr also in die Stadt Venedig ziehen“, meinte er. „Das ist wunderbar.
Ich bin davon überzeugt, du wirst eine gute Sängerin. Vielleicht erlebe ich es noch, dass du in einer Oper auftrittst oder in einer Kirche. Ich wünsche dir, dass sich deine Sehnsucht erfüllt, kleine Musikantin. Geh zum Prete rosso, er ist ein Genie. Aber du bist es auch, Annina…“
Er hatte Tränen in den Augen, der liebe alte Mann. Ich sah mich noch einmal um in der Kirche meiner Kindheit, auch meine Augen wurden feucht. Hierher komme ich wohl niemals mehr zurück, dachte ich…
Venedig – die Stadt meiner Träume, eine Gondel nahm uns auf. Die Kutsche mit unseren Sachen kam einige Stunden vor uns an, wurde abgeladen und mit einer Fähre auf die Insel gebracht. Ich genoss die Fahrt in diesem seltsamen Schiffchen auf dem ruhigen Wasser. Schon von weitem erkannte ich die großen Gebäude Venedigs, den Campanile und den Dogenpalast, die Kirchen.
Das versetzte mich in eine feierliche Stimmung. Hier sollte ab jetzt meine Heimat sein. Vom Boot aus erhaschte ich einen kurzen Blick in einen der prächtigen Gärten hinter den Palazzi. Rosen in weiß-rosa und Sternjasmin verströmten sicherlich einen betörenden Duft. Exotische Pflanzen gab es hier schon seit Jahrhunderten zur Genüge, viele Schiffe aus fernen Ländern legten in Venedig an, brachten Setzlinge mit, die in der Stadt eine Weile gepflegt wurden, um dann verkauft zu werden. Oft hatten sie sich dann schon vervielfacht. Die Händler wurden reich. Allerdings war die Bewässerung manchmal schwierig, denn in der Stadt im Wasser gab es kein Süßwasser. Es wurde in Zisternen gesammelt. In trockenen Sommern holte man es aus der Brenta und verkaufte es teuer.
Mutter und Paolina sorgten sich um unsere Habe und wirklich fanden wir das Gepäck vor der Tür unseres künftigen Zuhauses, das wir schnell fanden. Gott sei Dank hatte sich keiner daran vergriffen und es herrschte schönes Wetter.
Wir meldeten unsere Ankunft dem Hausbesitzer, einem reichen Händler. In großartiger Perücke nahm er umständlich unsere Personalien auf, bemerkte von oben herab, wir hätten uns beim zuständigen Pfarramt anzumelden. Dann verschwand er schnell, um nicht mithelfen zu müssen.
Im Erdgeschoss befand sich eine geräumige Küche, im Geschoss darüber weitere drei Räume. Wir mühten uns ab, schleppten wie die Gepäckträger, die beiden Schränke aber waren zu schwer. Nur gut, dass doch noch zwei Nachbarn auf uns aufmerksam wurden und halfen. Endlich war alles ins Haus gebracht.
„Wir brauchen Holz, um Feuer zu machen, wo war das noch mal?“
„Na, im Hinterhof, sagte der Mann“, entgegnete ich.
Paolina fand Holz, heizte ein, setzte Wasser auf, Mutter schrubbte Geschirr und kochte eine Suppe, dann räumten beide den Hausrat in die Schränke, überlegten, was noch angeschafft werden muss, um den Hausstand zu vervollständigen. Ich langweilte mich, sah zum Fenster hinaus, als plötzlich eine hoch bepackte Karre vor dem Haus hielt. Ein wenig erschrak ich schon, als ich Antonio erkannte. Er lud mit einem Begleiter einen Schrank und Kleinmöbel ab sowie mehrere Körbe.
Paolina öffnete die Tür, großes Hallo. Antonio begrüßte Mutter und Schwester, stellte seinen Diener vor, beide brachten die Gaben in die Küche.
Meine Schwester packte aus, im Schrank befanden sich Küchenwerkzeuge und Dinge für den Haushalt, in den Körben Lebensmittel. Antonio erklärte, seine Mutter schicke dies zur Begrüßung für Mutter Tessieri, weil doch sicherlich nicht alles mitgenommen werden konnte. Mutter bedankte sich mit einem Lächeln.
Mein Herz klopfte wie wild. Warum begrüßt er mich nicht? Als spürte er meine Gedanken, kam er auf mich zu, lächelte und sagte: „Na endlich, meine kleine Annina, sehe ich dich wieder. Hast du Lust zum Musizieren mitgebracht?“
Wieder einmal brachte ich keinen Ton heraus.
„Oh, du bist groß geworden, willst du noch meine kleine Annina sein?“
Ich sah in die Augen, die blauen und sofort war er wieder mein Held. Plötzlich fasste er mich um die Taille, hob mich hoch, anders als damals beim Konzert und drückte mich an sich. Blitzschnell begriff ich, ich war kein Kind mehr, diese Umarmung war anders als früher. Ich verbarg mein Gesicht mit innerer Unruhe an seiner Schulter.
„Jetzt haben wir uns wieder“, flüsterte er.
Noch nie hatte ich den Körper eines Mannes so gefühlt. Dabei trug er die Soutane, die alles Gefühl einsperren sollte. Er aber meinte es nur lieb mit mir, fast väterlich, stellte mich auf die Füße und wischte mir mit seinem Ärmel die Tränen fort.
„Morgen früh hole ich dich ab. Dann gehen wir ins Ospedale, ich melde dich an und stelle dir deine Gesangslehrerin vor und die anderen. Dann beginnen wir mit dem Unterricht.“
„Du hast auch mal in diesem Hause gewohnt?“
„Ich bin hier geboren, wir sind erst kürzlich umgezogen, in ein Haus am Campo San Filippo e Giacomo.“
In dieser Nacht träumte ich von ihm, träumte in aller Unschuld und doch mit einer Ahnung… er würde mir gehören bis in alle Ewigkeit… dann, spät in der Nacht meldete sich Aufregung in mir wegen morgen.
Auch Mutter hatte schlecht geschlafen, weil sie mitkommen musste ins Ospedale. Die edlen Herren des Vorstandes sollten sehen, dass ich kein Waisenkind war. Antonio kam zeitig, auch er wirkte angespannt.
Im Ospedale, einem Gebäude mit unscheinbarer Fassade, führte uns eine der Anstandsdamen zur Direktion. Antonio klopfte an und öffnete sofort die Tür.
Zwei Männer in Soutanen und einer in Brokat blickten sichtlich erstaunt auf.
„Was ist sein Begehr, Don Reverando?“
Antonio erklärte sein Anliegen, er habe ein großes Talent entdeckt in Mantua, einer musikalischen Ausbildung würdig. Weil die Mutter lebte, als seine Privatschülerin. Für seine Entlohnung würde Signora Tessieri aufkommen. Ich erschrak, wir hatten doch gar kein Geld, wusste aber, er musste das so sagen.
Die edlen Herren lächelten.
„Wenn Er das mit seiner Arbeit vereinbaren kann, mag Er es tun, Vivaldi. Hat Er etwas Schriftliches vorbereiten lassen?“
Antonio rief nach dem Schreiber, der die Unterlagen brachte.
„Tragen wir den Namen ein, wie war er gleich?“
„Tessieri, Anna Madalena“, antwortete Antonio, so als könne ich nicht sprechen und fügte hinzu, „Madalena mit einem d.“
Drei Augenpaare blickten mich an, der Adlige lächelte. Man legte Antonio und Mutter das ausgefüllte Blatt zur Unterschrift vor. Mutter unterschrieb zitternd, weil ich keinen Vater und keinen Vormund hatte. Somit waren wir entlassen und ich offiziell aufgenommen.
Die Frauen und Mädchen, die Antonio mir schließlich vorstellte, gefielen mir besser. Ich nahm am Musikunterricht teil, um eine Vorstellung zu bekommen, was hier ablief. Auch meine Gesangslehrerin, nur wenig älter als ich, kam mir mit Freundlichkeit entgegen. Nach der ersten Unterrichtsstunde sagte sie: „Du passt zu uns Musikerinnen, ´Annina del Prete rosso´, mit dir werde ich nicht viel Arbeit haben.“
Die Freude darüber ließ mich erröten, sah sie doch in mir eine Musikerin und die „Annina des roten Priesters“.
Meine erste Cembalostunde bei Antonio jedoch war der Höhepunkt. Hinterher konnte ich eine Arie singen und mich selbst begleiten mit einfachen Griffen.
Später schlenderte ich mit Antonio den kurzen Weg durch die Gassen, er wollte mich dem Rest seiner Familie vorstellen. Etwas mulmig war mir zumute, doch ich wagte es, ihn zu fragen:
„Warum sagt man Prete rosso zu dir und nennt deine Familie auch Rossi?“
Antonio lachte etwas nachdenklich. „Wohl wegen meiner Haarfarbe und der meines Vaters, die seinen waren nicht immer weiß… Vielleicht auch wegen meiner Musik, die man mit der Farbe meiner Haare gleichsetzt, rot, gleich wild. Aber ich bin nicht so, spiele nur gut die Geige... Du hast vielleicht Fragen…“ Er lachte noch mehr. „Na, komm...“
Vater Vivaldi begrüßte mich wie eine alte Bekannte, nahm mich herzlich in den Arm und stellte mich seiner Frau vor.
„Signora Camilla“, er nannte sie so, „das ist das hochtalentierte Mädchen aus Mantua, Anna Tessieri, hübsch, nicht wahr…“
Antonios Mutter war klein und zart, hatte dunkelbraune Haare mit einem Stich ins Rötliche und die gleichen Augen wie Antonio. Doch halt, nein, ihre waren braun und ich sah Misstrauen in ihnen… oder bildete ich mir das nur ein? Ich knickste artig.
„Ich grüße dich, Anna… da heißt du wie eine meiner Töchter.“ Jetzt lächelte sie.
„Vielen Dank“, sagte ich, „für die vielen schönen Sachen, auch im Namen meiner Mutter und meiner Schwester.“
„Ist schon gut, Kind…“
In mir entstand sofort ein Schuldgefühl. Später wurde mir klar, warum sie mich ablehnte. Sie fürchtete ständig um ihren erstgeborenen Sohn, sein Leben und seinen guten Ruf, sah in allem eine Gefahr.
Zwei Schwestern Antonios wohnten im Elternhaus. Beide blickten mich genauso an wie ihre Mutter. Ein Bruder, der nicht mehr hier lebte, war heute anwesend. Er sah anders aus als Antonio, war klein wie die Mutter und dunkelhaarig. Er dienerte theatralisch vor mir und sagte: „Na dann, Willkommen schönes Mädchen, nehmt nur meinen Bruder nicht zu sehr in Klausur. Man fürchtet hier um sein Wohlergehen.“ Dazu lachte er.
Mutter und Schwestern taten so, als hätten sie es nicht gehört. Antonio aber ballte die Faust und flüsterte seinem Bruder etwas zu. Dann sah er meine Unsicherheit, nahm meine Hand und führte mich zum gedeckten Familientisch, an dem alle schon Platz genommen hatten.
„Setz dich, Annina“. Mutter und Schwestern zogen die Augenbrauen hoch. Ich setzte mich, schloss einen Moment die Augen. Speisen wurden aufgetragen, ich weiß nicht mehr, welche, auch nicht, wie sie schmeckten.
Weil man im Hause Vivaldi gern musizierte, holte Antonio nach dem Mahl seine und seines Vaters Geige und beide begannen zu Improvisieren, ihre Art, sich zu unterhalten und der Rest der Familie verstand nichts davon. Ich empfand die Seelenverwandtschaft von Vater und Sohn und fühlte mich ihnen zugehörig, denn auch ich verstand, was sie sich sagten.
Später spielte Antonio ein wunderschönes Violinkonzert, das er erst kürzlich komponiert hatte. Nach dem zweiten Satz unterbrach die Mutter:
„Aber Tonino, was spielst du da, das klingt wie aus den Ridotti, du als Priester…“
Der Sohn machte eine großartige Geste: „Ach Mama…“
Vater Vivaldi lachte und sagte: „Signora Camilla, du verkehrst doch gar nicht in den Ridotti und von Musik verstehst du auch nicht viel…“
Ich zuckte zusammen. Nun stand fest, was sie gegen mich hatte, konnten doch alle fühlen, dass Antonio dieses Konzert für mich geschrieben hatte. Später änderte er es, machte es zu einem Cellokonzert und spielte es nicht mehr auf der Geige. Aus dem zweiten Satz aber arbeitete er eine meiner Lieblingsarien heraus, die ich viele Jahre in Opern und bei Veranstaltungen singen sollte.
Schließlich brachte er mich nach Hause, erzählte mir unterwegs von seinen Plänen und den Konzerten, die er wöchentlich schreiben musste für die Pieta.
Falls er diesen Verpflichtungen nicht pünktlich nachkam, würde er entlassen.
Das sei schon öfters vorgekommen. Die edlen Herren warteten nur, dass einer einen Fehler beging und schon passierte es. Zum Glück hielten die Mädchen stets zu ihren Lehrern.
„Aber weißt du“, sagte er, „du wirst es sowieso erfahren, weil du die Lieder lernen wirst, die Oper, die vor zwei Monaten aufgeführt wurde und die hier ein großer Erfolg war, der ´Orlando´, war hauptsächlich von mir. Ristori lieferte nur dazu und half bei den Rezitativen. Alle sagen, ich soll vorsichtig sein, nicht als Opernkomponist auftreten hier in dieser Stadt. Man kann in Teufels Küche kommen…“
Da war es wieder, das Gefühl, Unrecht zu tun.
„Opern schreiben muss ich“, fuhr er fort, „ich kann nicht anders. Ich habe schon wieder eine Oper fast fertig, ´Ottone in villa´ heißt sie. Ach, Annina, demnächst wird in der Pieta ein Konzert aufgeführt. Dafür schreibe ich dir noch eine kleine Arie, die schönste… und jetzt lach mal.“
Ich lächelte brav. „Ich darf singen, wie schön...“
„Weißt du, ich habe sie nicht gezählt, meine Konzerte, aber die meisten aufgeschrieben mit meines Vaters Hilfe. Einiges habe ich auch schon veröffentlicht, in Venedig und in Amsterdam bei einem großen Verleger. Aber davon habe ich nichts. Diese Verleger zahlen nicht viel, während meine Musik in ganz Europa gespielt wird... interessierst du dich überhaupt dafür? Es war ein anstrengender Tag, du wirst müde sein, komm…“
„So eine schöne Melodie vorhin, irgendwie kenne ich sie…“, flüsterte ich.
Er legte den Arm um mich. „Kannst du gar nicht kennen, du bist doch erst seit gestern hier...“
Später im Bett dachte ich noch lange nach. Da kommt einiges auf mich zu, künstlerisch und sicher auch menschlich. Ich nahm mir fest vor, mich nicht unterkriegen zu lassen und fleißig zu lernen, um eine Künstlerin zu werden und um Antonio zu gefallen...
Irgendwann freundete ich mich mit Antonios Schwester Zanetta Anna an. Sie erzählte mir, warum ihre Mutter so sehr an Antonio hing, warum sie keiner Frau das Recht einräumte, sich an seine Seite zu stellen. Einen guten Ruf sah sie als Voraussetzung zur Entfaltung seines besonderen Talentes.
Ich erfuhr nicht nur von Antonios Jugend, sondern auch von seiner dramatischen Geburt. Es war Camillas dritte Schwangerschaft, denn wenige Monate nach ihrer Hochzeit hatte sie eine kleine Tochter zur Welt gebracht, Gabriela Antonia und bereits drei Monate danach war sie erneut guter Hoffnung. Es endete mit einer Fehlgeburt. Erneut vergingen nur wenige Monate und Antonio war unterwegs. Camilla musste viel aushalten, dazu die kleine Tochter. Sie zu stillen, war natürlich ab einem gewissen Zeitpunkt der Schwangerschaft nicht mehr möglich. Eine Amme wurde gefunden. Mehrmals dachte die Mutter, sie verliere auch dieses ungeborene Kind. Kurz vor dem Geburtstermin bebte plötzlich die Erde in Venedig. Mehrere kräftige Erdstöße ließen die Inseln erzittern. Wasser floss durch die Calle, großer Schaden entstand an den prächtigen Gebäuden, viele einfache Häuser stürzten ein, begruben Menschen unter sich.
Am Haus der Familie Calicchio/Vivaldi entstanden Risse, Geschirr fiel aus den Schränken. Das kleine Mädchen schrie, die Großmutter versuchte zu beruhigen, denn Signora Camilla war nicht da, war zum Einkaufen. Sie rannte durch die Calle nach Hause, erblickte nahe des Wohnhauses auf der Piazza einen von einem Blumentopf Erschlagenen, um den sich ein Menschenhaufen bildete. Ihr wurde ob dieses Anblicks schwarz vor Augen, Onkel und Mutter mit dem Kind auf dem Arm brachten sie zu Bett, immer mit der Angst im Nacken, das Haus könne einstürzen und alle unter sich begraben.
Signore Giovanni Battista kam aufgeregt nach Hause gerannt. Und siehe, seine Sorge war nicht umsonst. Kräftige Wehen hatten eingesetzt, der werdende Vater rannte nach der Hebamme, die er in dem entstandenen Chaos nicht gleich fand. Als er mit ihr zu Hause eintraf, war ein kleiner Junge soeben geboren. Doch er atmete nicht, einige dramatische Minuten vergingen, alle beteten, dazu schrie das kleine Mädchen. Die Hebamme erbarmte sich des Neugeborenen, endlich der erlösende erste Schrei, Gott sei gelobt.
Schnell erhielt das Kind die Nottaufe, denn immer noch bestand Lebensgefahr.
Erst nach zwei Monaten stabilisierte sich sein Zustand, die Eltern hielten nach einem Paten Ausschau. Der wohlhabende Apotheker von nebenan hielt den Jungen über das Taufbecken in der Kirche San Giovanni in Bragora, gab ihm wohl auch seinen Vornamen, Antonio. Sicher aber hatten die Eltern bei der Namensgebung an Giambattistas Bruder gleichen Namens gedacht, wie auch immer. Dazu kam der Name Lucio, nach dem Willen der Mutter.
Antonio Lucio Vivaldi Das Gedeihen des kleinen Antonio lag der Familie sehr am Herzen, der erste Sohn, der Stammhalter galt als etwas Besonderes. Camilla stillte ihn, umsorgte ihn. Vielleicht beschloss sie auch, ihn dereinst die Priesterlaufbahn einschlagen zu lassen, quasi als Dank an Gott, wer weiß...
Gabriela Antonia aber vertrug plötzlich die Milch der Amme nicht mehr, verfiel in kurzer Zeit und starb im Juni 1678 mit nur eineinhalb Jahren, kurz nach der Taufe des kleinen Bruders. Traurig für die Eltern, die erst später lernten damit umzugehen, denn noch zwei weitere Kinder starben früh.
Antonio aber wuchs heran, obwohl ihm eine Krankheit blieb, Atembeklemmung genannt. Die Eltern fürchteten ständig um sein Leben.
Als er drei Jahre zählte, ließ der Vater, obwohl ihn alle dafür auslachten, eine kleine Violine anfertigen für viel Geld, weil er erkannte, das Kerlchen interessierte sich für Musik, nahm heimlich Papas Geige und versuchte, mit den noch viel zu kleinen Händchen darauf zu spielen. Giovanni Battista unterrichtete sofort seinen begabten Sohn und stellte fest, der Junge konnte schon spielen, er musste es ihn nicht lehren. Nach kurzer Zeit kam es ihm so vor, als ob er, der jahrzehntelang musizierte, von dem Kleinen lernte, von der Musik, die das Kerlchen improvisierte. Seine Kollegen vom Orchester bemerkten dies ebenfalls. Antonio galt bald als ein Genie und trotz seines Leidens als ein wilder, unruhiger Junge. Da zu Hause wegen der kleinen Geschwister, die sich mittlerweile eingestellt hatten, keine Ruhe war für seine Musik, verschwand er mit einem Boot in der Lagune, ließ sich inspirieren vom Meer, der Sonne, von einer seltsamen Sehnsucht, spielte auf der Violine und schrieb nun seine Musik auf. Die Eltern befanden sich in höchster Sorge. Doch zum Glück passierte nie etwas, höchstens bei seiner Heimkehr. Dann gab es oft ein Donnerwetter und auch mal eine Tracht Prügel. Was aber sollte aus diesem hochbegabten Sohn eines Barbiers und Musikers werden? Wie ermöglichte man ihm ein Studium der Musik? Selbst der alte Onkel sah nun ein, dass Antonio weder zum Barbier, noch zum Schneider taugte, Berufe, die seit Generationen die Familie ernährten.
Ein Pastor kam schließlich darauf, Antonio zum Priester ausbilden zu lassen.
Er war sofort bereit, den jungen Musiker als Lehrling bei einem seiner Amtskollegen in einer Kirche am Markusplatz unterzubringen. Nebenbei blieb genügend Zeit für das Musikstudium.
Die Mutter war Feuer und Flamme. Auf diese Weise würde der Sohn einst zur besseren Gesellschaft gehören. So begann Antonio im Alter von 15 Jahren mit der Priesterausbildung, empfing die ersten Weihen. Trotzdem reiste er mit seinem Vater oft ans Festland, um sich bei bekannten Musikern ausbilden zu lassen und um Konzerte zu geben, hauptsächlich in Kirchen.
Erst 10 Jahre später wurde er zum Priester geweiht, erhielt die Aufgabe, in einer Kirche die Messe zu lesen und Messen für Verstorbene zu zelebrieren.
Anfangs hielt er sich treu und brav daran. Später ereilte ihn mehrmals beim Messelesen ein Anfall seiner Krankheit und er musste vom Altar treten, ohne die Messe beenden zu können. Böse Zungen allerdings behaupteten, das tat er nur, um musikalische Themen aufzuschreiben. Die Wahrheit war sicherlich beides. Man beurlaubte ihn, doch er fand sofort eine Anstellung am Pio Ospedale de la Pieta als Cello- und Violinlehrer.
In Venedig gab es vier solcher Institute für verlassene Frauen und Mädchen, von der Kirche geleitet und von Spenden lebend. Talentierte, aber auch Privatleute aus Adelskreisen, konnten sich hier musikalisch ausbilden lassen.
Die Schulen galten als vorbildlich. Es ging sehr streng zu. Aus Kostengründen wurde jährlich abgestimmt, welche Lehrer man benötigte, welche man einsparen konnte, stellte ihnen während des Unterricht Anstandsdamen an die Seite, die die Moral überwachten.
Antonio entließ man mehrmals, genau wie andere Lehrer, er wurde nicht mehr gebraucht, denn die Mädchen unterrichteten sich selbst nach dem Schneeballsystem. Ein weiterer Grund für seine Entlassungen waren sicherlich seine vielen Reisen. Bald galten Vater und Sohn Vivaldi weit über den Veneto hinaus als große Violinvirtuosen.
Einmal, so erzählte mir Zanetta Anna, unternahm Antonio mit dem Vater sogar eine Reise an den französischen Hof, wollte die dortigen Modeerscheinungen der Musik ergründen, um sie vielleicht in eigene Kompositionen einzubringen. Vielleicht hofften sie auch auf eine Anstellung, wer weiß? Nach einigen Monaten kehrten sie ernüchtert heim, obwohl ihre Konzerte in Paris und Versailles durchaus Anklang fanden. Das sei nichts für ihn, bedauerte Antonio, solch künstliche Verzierungen beleidigten sein Ohr.
Und trotzdem, mit den Jahren gewöhnte auch er sich solche Spielarten an, vielleicht unbewusst. Die Schwester mutmaßte leicht bösartig, sicher hätten die Franzosen den Bruder als Sohn eines italienischen Barbiers nicht genügend hofiert. Später jedoch verkaufte Antonio so manches seiner Konzerte nach Frankreich, genau wie nach England, wo er schon früh bekannt wurde. Viele seiner Sonaten, Konzerte und Lieder erreichten die Insel, verbreitet durch Musiker, Sänger und Adlige.
Schon in jungen Jahren begegnete Antonio der Oper, was in Venedig mit seinen zahlreichen Opernhäusern auch nicht zu vermeiden war. Er betätigte sich, zusammen mit dem Vater, als Ghostwriter, half Komponisten bei den Rezitativen für geringes Entgelt, lernte dadurch viel und schrieb selbst Arien.
1705 wurde ein solches Gemeinschaftsprojekt aufgeführt, offizieller Komponist ein gewisser Girolamo Polani, die Oper hieß „Creso tolto a le fiamma“. Und diese Oper blieb nicht die einzige. Der junge Vivaldi wurde schnell ein Experte, verkaufte viele seiner Arien, bald schon für gutes Geld.
Seit seiner frühen Jugend fiel dieser rothaarige junge Mann natürlich auch den Damen auf, doch er fühlte sich an die Gelübde der Priesterschaft gebunden und trotzdem, einige wenige, sicher aus besseren Kreisen, niemals aus der Pieta, hinterließen bei Antonio Erinnerungen und wohl auch Erfahrungen.
Sehr belastend für uns alle war Antonios Krankheit, mit der er zur Welt kam, Atembeklemmung genannt. Viele Menschen litten an dieser Volkskrankheit.
Antonio bereitete sie besondere Probleme, sein Leben lang. Zeitweise dachten wir, es würde besser, die Anfälle kamen seltener, doch irgendwann, oft nach längerer Zeit, warum auch immer, verschlimmerten sich die Beschwerden erneut, die Kraft verließ ihn. Trotzdem unterstellte man ihm stets, so furchtbar könnten die Beschwerden nicht gewesen sein, war er doch in der Lage, als Violinvirtuose aufzutreten und als Opernimpresario große körperliche Anstrengungen auf sich zu nehmen und dies noch mit 60 Jahren. Doch jeder, der Asthma kennt, weiß, dass die Beschwerden plötzlich und aus völligem Wohlbefinden heraus auftreten und welche gesundheitlichen Folgen nach Jahren erscheinen können... es war oft schlimm, für uns alle...
Schnell lebten wir uns ein in Venedig, Paolina half im Haushalt der Familie Vivaldi. Sie wusch und bügelte die Wäsche, war so den ganzen Tag ausgelastet. Man hatte ihr extra einen Raum dafür eingerichtet. Unsere Mutter begab sich ins Haus eines Pastors, um als Hausdame zu dienen, kam selten nach Hause. Paolina und ich kannten uns bald aus in der Stadt, wir wussten, mit welchen Gondeln man wohin fahren, wo man einkaufen konnte, wo es den frischesten Fisch gab, den besten Bäcker, gutes Gemüse.
Ich aber ging jeden Tag zum Unterricht in die Räumlichkeiten der Pieta, spielte bald auf dem Cembalo wie eine Maestra. Dazu nahm ich Unterricht in Latein und Allgemeinkunde und sang nach wenigen Monaten mit einem klaren schönen Mezzosopran.
An der allgemeinen Speisung nahm ich allerdings nicht teil, weil ich Privatschülerin war. Doch tief in meinem Inneren beneidete ich meine Mitschülerinnen und die Lehrer, denn oft duftete es verführerisch aus der Küche, so dass mir das Wasser im Munde zusammenlief. Die Menge der Speisen, die jeder erhielt, richtete sich nach seiner Wichtigkeit, die Lehrer bekamen das Meiste, es folgten die Solistinnen, dann die Frauen des Orchesters. Das Wenigste gab man den „Putti“, also den Heranwachsenden und den kleinen Kindern.
Es nahte das Fest „Maria Vergine“. Wie üblich zu solchen Feiertagen, bereitete man in der Pieta ein Konzert vor. Antonio probte bereits seit zwei Wochen mit dem Orchester. Oh... dachte ich, wenn er mich nehmen würde, denn auch Sängerinnen sollten auftreten. Einige Stimmen waren bereits besetzt und die das Glück hatten, singen zu dürfen, triumphierten. Ich wurde traurig und eifersüchtig, besonders auf Giulietta mit dem schönen Sopran. Ob er mich vergessen hat, oder war ich nicht so gut?
Ich wartete im Cembalozimmer, blickte zum Fenster hinaus. Antonio verspätete sich, doch endlich sah ich ihn durch die Calle eilen, den Geigenkasten unter dem Arm und eine Mappe. Atemlos betrat er den Raum.
„Entschuldige, Annina, ich bin spät. Aber das hat seinen Grund. Ich musste noch was fertig machen.“ Er kramte in seiner Mappe: „Hier, sieh es dir mal an...“
Auf den ersten Blick erkannte ich, sie war nicht allzu schwer, diese Arie. „Sit nomen Domini benedictum, ex hoc nunc, et usque in saeculum saeculorum...“
Er brauchte es nicht sagen, das war meine Arie. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. Noch niemals durfte eine Schülerin nach so kurzer Zeit des Studiums in einem Konzert singen.
„Du bist gut, Annina und deine Stimme passt in das Programm.“
Die Cembalo-Stunde wurde eine Gesangsstunde. Ja, mit diesem Lied würde ich wohl auffallen, genau wie Giulietta.
Das merkten bald auch meine Mitschülerinnen und die Frauen des Orchesters.
„Oh“, hörte ich, „was hat er da wieder geschrieben, unser Prete rosso. Man könnte denken...“
„Du erst wieder“, kam von einer anderen Stimme, „alle Lieder sind gut, na ja, und dieses...“
„Das von Giulietta ist auch etwas Besonderes...“
„Freut euch doch, dass wir seine Musik spielen dürfen, ja unser Don Reverando...“
Schon zwei Stunden vor Beginn des Konzertes fand ich mich in der Pieta ein und wurde von meinen Mitschülerinnen in das Gewand gekleidet, das alle trugen. Ein weißlich-graues Kleid, das mich von oben bis unten umhüllte. Es war mir zu groß und zu weit, die Ärmel bedeckten meine Hände, am Hals ein Kragen, der bis auf die Schultern fiel. Zum Glück brauchte ich mein Haar nicht zu bedecken, trug es offen. Wenigstens ein Lichtblick, dachte ich, als ich an mir hinunter sah, was gingen mich die Gepflogenheiten der Pieta an. Ich wollte mich nicht hinter diesem Vorhang verstecken, wie es üblich war. Doch keiner der Zuschauer durfte einen Blick auf die musizierenden Mädchen und Frauen werfen, so verlangte es die Sitte. Nun galt das auch für mich.
Auch Antonio war wohl etwas aufgeregt, er verschwand ebenfalls hinter dem Vorhang und probte noch einmal mit dem Orchester einige Passagen. Die Kirche füllte sich langsam, erwartungsvolles Raunen im Raum. Auch die edlen Herren der Direktion, nun sah ich erstmalig, wie viele das waren, nahmen in der vordersten Reihe Platz.
Schon begann das Konzert. Zuerst eine Sinfonia, dann ein Domine, dann das Ascende und endlich das Dixit Dominus und somit auch meine Arie. Ich sang trotz Aufregung konzentriert und war gut wie noch nie, so als hätte ich mein Leben lang nichts anders getan als gesungen. Dazu sah ich meinen Lehrer an, der das Orchester dirigierte, er lächelte mir zu, zufrieden mit seiner kleinen Privatschülerin. Nun hörten nicht nur die edlen Herren der Anstaltsleitung, dass ich diese Ausbildung wert war, sondern alle Anwesenden. Schade, dass mich keiner sah, dachte ich. Freude und Stolz breitete sich in mir aus, als meine Mitschülerinnen mir zulächelten. Dennoch wusste ich, meine Stimme war noch lange nicht fertig ausgebildet und ich war sicher noch viel zu jung, um in einer Oper aufzutreten. Danach sehnte ich mich, jetzt erst Recht. Das Publikum aber applaudierte begeistert, uns allen und auch mir, der erst 13-Jährigen.
Wie ich später erfuhr, geschah an diesem Abend etwas Besonderes. Ein junger Mann sprach im Anschluss an das Konzert bei den edlen Herren vor und bat um die Hand einer der Schülerinnen, Antonella mit Namen, 20 Jahre alt. Sie sang im Chor, hatte eine schöne Sopranstimme und spielte Cello. Bereits wenige Tage später verschwand sie aus der Pieta, kam nie mehr wieder. Von Antonio erfuhr ich, sie hatte diesen Freund schon längere Zeit, einen jungen wohlhabenden Adligen. Nun war sie ihm als seine Braut gefolgt. Ich verstand, das Ospedale galt auch als eine Art Heiratsmarkt.
Bald wuchs ich meiner Gesangslehrerin über den Kopf und Antonio überlegte, wer sich eignen würde, mir mehr beizubringen. Er gewann eine bekannte Opernsängerin, Ehefrau eines Komponisten Venedigs, sie erklärte sich bereit, mich zu unterrichten. Mit ihr arbeitete Antonio gern zusammen, obwohl sich ihre Laufbahn dem Ende zuneigte. Sie hatte sich schon vor Jahren emanzipiert und trotz Verheiratung Opernrollen angenommen, zu dieser Zeit eher selten.
„So, so“, meinte sie, „der Prete rosso hat dich nach Venedig gebracht. Das hat er noch nie getan, ein Mädchen hierher geholt. Er, als Priester… Da muss es mit dir schon etwas ganz besonderes auf sich haben.“
Auch außerhalb der Pieta war ich oft mit Antonio zusammen. Ich half ihm Noten abzuschreiben und er benötigte dafür keine Kopisten, die er hätte bezahlen müssen, erledigte kleine Wege für ihn, besonders wenn er krank war, wusste immer, wo was zu finden war in seinen Unterlagen, verstand ohne Worte, was er wollte. Und er nahm mich und Paolina mit auf seine Konzertreisen ins Veneto. Zu dieser Zeit trat er noch als Violinvirtuose auf und spielte manchmal in Orchestern anderer Städte mit, oft in Begleitung seines Vaters. Über unser Zusammenhalten wunderten sich viele, wie kann sich ein Mann seines Standes so intensiv um ein fremdes Mädchen kümmern?
Zu der Zeit veröffentlichte Antonio seinen Opus IV in Amsterdam. Der Verleger, der den Opus III, „L´Estro Armonico“ sehr gut verkauft hatte, lag seinem Autor schon seit längerem in den Ohren, nach drei Jahren endlich wieder eine Sammlung Konzerte zusammenzustellen. Antonio entschloss sich für 12 Violinkonzerte, die er noch einmal überarbeitete und abschreiben ließ, ehe er sie nach Amsterdam schickte. Wenig später erschien das Werk unter dem Titel „La Stravaganza“. Opus I und II erschienen schon vor langer Zeit, als ich noch ganz klein war, in Venedig. Davon sprach jetzt keiner mehr, obwohl Antonio diese Werke immer noch gern spielte.
Während unzähliger Konzerte lernte ich seine Musik kennen und begriff ihre Vielfalt. Ich bewunderte ihn grenzenlos...
Die Mädchen und Frauen spielten und sangen eine Menge sakraler Werke und nicht nur das, sondern auch weltliche Lieder und so manche Opernarie. Ich beneidete sie, auch wenn ich bereits einmal öffentlich auftreten durfte.
Laufend bat ich meine Schwester, zu beurteilen, ob ich schon so sang wie eine Opernsängerin, wusste ich doch, in manchen Opernaufführungen wurden sogar 15-Jährige besetzt.
Paolina antwortete: „Das weiß ich doch nicht, da musst du schon den Prete rosso fragen.“