Volk und Elite - Kolja Möller - E-Book

Volk und Elite E-Book

Kolja Möller

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Beschreibung

Der populistische Appell an das »Volk« und die Mobilisierung gegen die »Eliten« dominieren mittlerweile die Politik in vielen Ländern der Welt. Aber wo liegen die geschichtlichen Wurzeln dieser Politikform? Und wie hängt sie mit gesellschaftlichen Krisenprozessen zusammen? Welche Spielarten des Populismus sind zu unterscheiden und was ist ihr Verhältnis zu Demokratie und Verfassung? Kolja Möller verfolgt die Wege des Populismus, die bereits im 11. Jahrhundert beginnen und bis zu den jüngsten Konflikten im Zuge der Globalisierung führen, und er entwickelt eine umfassende Gesellschaftstheorie dieser Politikform. Ein unverzichtbares Buch, um die gegenwärtige populistische Welle zu verstehen.

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Seitenzahl: 583

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Cover

Titel

3Kolja Möller

Volk und Elite

Eine Gesellschaftstheorie des Populismus

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2452

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-78108-1

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Prolog

1 Gegenwart des Populismus

2 Populismusforschung

3 Volk/Elite: Doppelte Unterbestimmung

Erster Teil

Kapitel 1 Populismus als Politikform

1 Verfassung und Volkssouveränität

2 Funktion der Politik

3 Populismus als Wiedereintritt der Volkssouveränität

4 Populismus an der Macht

Kapitel 2 Populistische Momente

1 Volkskonstruktionen und soziale Evolution

2 Evolution der Ko-Evolution

3 Hierarchieumkehr (

reversed hierarchy

)

Kapitel 3 Kritik des Populismus

1 Demokratischer und identitärer Populismus

2 Rechtspopulismus und Faschismus

3 Transformativer Populismus

Zweiter Teil

Kapitel 4 Frühe Volksbezüge

1 Vor der Volkssouveränität

2 Popolo: Das Volk der Städte

3 Errungenschaften des

popolo

4 Das Volk der Kirche

5 Die päpstliche Revolution und das Kirchenvolk

6 Ecclesia: Rückbindung des Volkes

7 Juridische Korporationslehre und positives Recht

8 Schließung und Öffnung der Korporation: Politisierungsspielräume

9 Populismus und Kirche

Kapitel 5 Das Volk der Volkssouveränität

1 Zwei Konfliktachsen

2 Souveränitätslehre

3 Populismus vor der Volkssouveränität

4 Populismus nach der Volkssouveränität

5 Verkörperungsverbot

6 Bilderflut: Dynamisierung durch Volksbezüge

7 Populismus: Der kleine Volksaufstand

Kapitel 6 Das Volk der Arbeit

1 Sozialwissenschaftliche Aufklärung der Volkssouveränität

2 Der jakobinische Fehler: Volksaufstand

3 Der identitäre Fehler: Volksidentität

4 Der autoritäre Fehler: Volksführer

5 Verdrängung und Rückkehr der Volkssouveränität

Kapitel 7 Das Volk als Masse

1 Der Sog in die Massendemokratie

2 Wahlsozialismus

3 Die Volkspartei als Verallgemeinerungsrelais

4 Populistischer Gegenkreislauf: Der Massenstreik als Volksbewegung

5 Vom linken zum transformativen Populismus: Lernen auf dem Dornenweg der Befreiung

Kapitel 8 Das Volk zwischen Regression und Fortschritt

1 Blockierte Volksdemokratie

2 Regression

3 Der moderne Fürst

4 Alltagsverstand

5 Volksrepubliken der Nachkriegszeit und Rückkehr des Populismus

Kapitel 9 Das Volk der Leute

1 Volkspolitik und Populismus

2 Sozialistischer Populismus

3 Radikale Demokratie

4 Lernblockaden

5 Negativität und Macht: Vom Volk zum

plebs

6 Der

plebs

als Gegenmacht (Volk als

plebs

)

7 Der

plebs

als anarchisches Protestrelais (

plebs

ohne Volk)

8 Populare Politik und die Herausforderung der Globalisierung

Kapitel 10 Gegenwart und Zukunft der Volkssouveränität

1 Vom Kirchenvolk zum Volk der Leute: Aufstieg der Volkssouveränität

2 Marktvolk und Globalisierung: Krise der Volkssouveränität

Epilog

Danksagung

Literaturverzeichnis

Fußnoten

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Prolog

Es gibt nur wenige Romane, in denen die historischen Erfahrungen des Antifaschismus in so dichter Form beschrieben werden wie in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. Der Roman beginnt mit einem langen Gespräch zwischen drei Antifaschisten. Sie treffen sich am 20. September 1937 vor dem Pergamonfries in einem Berliner Museum – Auftakt einer Handlung, in der sich die Figuren während der 1920er und 1930er Jahre dem Faschismus in den Weg stellen. Der ist zu dieser Zeit schon auf dem Siegeszug, draußen dröhnt das »taktfeste Schmettern nagelbeschlagner Stiefel«.[1]  Doch die drei lassen sich von den widrigen Bedingungen nicht beirren, sondern unterhalten sich über den Kampf zwischen Göttern und Titanen in der griechischen Mythologie, welcher auf dem Fries dargestellt ist. Sie interpretieren die Szenen als Verbildlichung politischer Ordnungskonflikte. Die ganze Bedeutung dieser Einstiegsszene in der Ästhetik des Widerstands erschließt sich erst am Ende des Romans nach einer langen Reise des Ich-Erzählers, die ihn von Berlin in den spanischen Bürgerkrieg und über Paris bis ins skandinavische Exil führt. Gezeichnet von den politischen Niederlagen und dem Verlust enger Freunde und Weggefährten sowie seinen tiefen Persönlichkeitskrisen, wendet er sich am Schluss erneut dem Herakles gewidmeten Friesabschnitt zu. Von dieser Herakles-Figur ist im Fries allerdings nur die von seinem Umhang stammende Löwenpranke erhalten geblieben. Sein Platz ist leer. Dabei war aber, trauen wir der Überlieferung, gerade Herakles, der als unehelicher Sohn einer Sterblichen und eines Gottes weder zu den Giganten noch zu den Göttern gehörte, ausschlaggebend für den Sieg der Götter. Peter Weiss schreibt:

[U]nd ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehn, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten.[2] 

10Mit dieser Schlusspassage wird die Handlung des Romans erschlossen: Seine Figuren sind stets damit beschäftigt, diesen leeren Platz zu füllen. Sie nehmen Abstand von sich und der Welt, wie sie ist, und überlegen, wie sie so in die Geschichte eingreifen können, dass Veränderungen ermöglicht werden. Was heißt es, den leeren Platz zu füllen, der den Konflikt entscheidet und einer neuen Ordnung zum Durchbruch verhilft? Den leeren Platz zu besetzen, ist in den Augen der drei Antifaschisten nicht allein eine Frage des Willens, sondern der realen Möglichkeiten, die sich im Geschichtsverlauf ergeben.

Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen von demokratischen Verfassungen, dass sie einen solchen »leeren Platz« bereithalten. Sie schreiben nicht feingliedrig inhaltlich vor, wie genau er zu besetzen ist, aber gründen sich auf die Volkssouveränität – auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Von dort aus erhält die Ordnung ihre Legitimation und kann verändert, umgewälzt oder gar revolutioniert werden. Dass politische und soziale Bewegungen immer wieder auf das »We, the people« zurückkommen, ist dementsprechend kein Zufall, sondern hängt mit der Art zusammen, wie der Bereich der Politik in Demokratien konfiguriert und der leere Platz dem Volk zugeordnet ist. Wer nicht nur Geländegewinne erzielen, sondern die Ordnung verändern will, muss erfolgreich das Volk repräsentieren.

Die demokratische Verfassung löst das Problem des leeren Platzes jedoch nie endgültig, sondern – darauf haben unterschiedliche politische Theorien immer wieder hingewiesen – stellt es auf Dauer, und das mit allen Risiken. Schließlich schwanken die Appelle ans Volk zwischen Emanzipation und identitärer Schließung – bis hin zu einer autoritären Transformation der Ordnung, die den leeren Platz in der Folge auslöscht, indem sie ihn dauerhaft besetzt. In diesem Sinne – das ist eine zentrale These der folgenden Überlegungen – ist der zugespitzte Populismus, der für sich beansprucht, das Volk gegen die Eliten zu vertreten, eine wiederkehrende politische Handlungsoption. Die Auseinandersetzung mit seiner Theorie und Geschichte soll den Blick dafür schärfen, wie er genau zu verstehen ist und welche Trajektorien sich im historischen Verlauf nachweisen lassen. Dieser Zugriff beschränkt sich nicht darauf, populistische Politikformen zurückzuweisen oder zu verteidigen. Vielmehr wird der Frage nachgegangen, inwieweit populistische 11Politikformen dazu geeignet sind, den »furchtbaren Druck«, der auf den Machtunterworfenen und ihrer Geschichte lastet, tatsächlich zu überwinden, oder ob sie sich ganz im Gegenteil eher als Blockade erweisen.

Zur Beantwortung dieser Fragen wird zunächst im ersten Teil des Buches eine systematische Theorie zum Verhältnis von Volkssouveränität, Gesellschaft und Populismus entwickelt (Kapitel 1-3), in deren Mittelpunkt die folgenden Thesen stehen: Der Populismus ist in der Art, wie das politische und rechtliche System konstitutionalisiert, d.h. in der demokratischen Verfassung miteinander verknüpft sind, als Kommunikations- und Handlungsoption angelegt. Er übernimmt eine spezifische Funktion, indem er die Volkssouveränität im Sinne einer konstituierenden Gegenmacht in die regulären Verfahren des politischen Systems einführt, um die jeweiligen Eliten und Funktionsträger:innen abzulösen (Populismus als Politikform) und öffentliche Amtsmacht zu erobern (Populismus an der Macht). Obwohl sich verschiedene Formen von Populismus durchaus unterscheiden, weisen sie doch ein gemeinsames soziales Substrat auf. Sie treten in Situationen auf, in denen die strukturellen Kopplungen unterschiedlicher Sozialsysteme wie insbesondere Politik, Recht und Wirtschaft in Krisen geraten (populistische Momente). Populistische Politikformen lassen sich demnach nicht nur im Hinblick darauf untersuchen, mit welchen Ideologien sie verknüpft sind und wie sie ihr Volk der Volkssouveränität jeweils bestimmen, sondern auch, inwiefern sie aussichtsreich auf die jeweiligen Krisen reagieren und eine transformative Veränderung bewirken (Kritik des Populismus).

Auf diesen Thesen aufbauend werden im zweiten Teil des Buches unterschiedliche Etappen einer Problemgeschichte nachgezeichnet. Dabei wird ersichtlich, wie der Bezug auf das Volk in die Geschichte eintrat und schrittweise zur Fundierungsnorm der Politik avancierte. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Veränderungen gelegt, die Volkssouveränität und Populismus über die Jahrhunderte durchliefen.

Zu Beginn dieser Problemgeschichte wird analysiert, wie die Grundstrukturen der Volkssouveränität schon in den frühen Volksbezügen des katholischen Kirchenvolks (populus dei) und der Stadtstaaten (popolo) angelegt waren (Kapitel 4). Beide Entwicklungslinien werden in der Folge in einem sich von der Gesellschaft 12und der Kirche lösenden Bereich politischer Herrschaftsausübung miteinander kombiniert. Dies mündet mit den bürgerlichen Revolutionen des 18.Jahrhunderts in ein modernes Verständnis der Volkssouveränität (Kapitel 5). Fortan gerät der Populismus in ein Spannungsverhältnis zum prozeduralen Legitimationsmodell, wie es in den einschlägigen bürgerlichen Vertragstheorien angelegt ist. Dies hält die sozialen Bewegungen des 19.Jahrhunderts indes nicht davon ab, wieder auf die Verkörperung des Volkes zurückzukommen (Kapitel 6). Sie bringen sich als Volk der Arbeit in Stellung, das in den ökonomischen Produktionsverhältnissen begründet ist. Damit verschiebt sich die Fragestellung zudem dahingehend, ob der Volkswille überhaupt als Ausgangspunkt für eine gelingende soziale Transformation tauglich ist. Eine sozialwissenschaftliche Aufklärung, an die die marxistisch geprägte Arbeiterbewegung anschloss, identifizierte Fehlstellungen und kritisierte eine populistische Lesart der Volkssouveränität. Doch ließ sich diese Lesart nicht einfach verdrängen. Der Kampf um die demokratische Volkssouveränität avancierte vielmehr zum Kernprojekt der sozialen Bewegungen. Das politische System inkludierte das Volk als Masse in seine Verfahren und die Revolutionen seit 1917 führten das erste Mal Verfassungsordnungen ein, nach denen ein inklusives Volk das gesellschaftliche Leben ausgestalten sollte (Kapitel 7).

Dieser scheinbare demokratische Fortschritt erlebte in der Folge allerdings massive Regressionen: In den 1920er und 1930er Jahren entstand eine populistische Konstellation, in der faschistische Kräfte das Volk als Volksgemeinschaft mobilisierten und die rechtlich gebundene Volkssouveränität in einer gewaltschwangeren Dauerbewegung auflösten (Kapitel 8). Wiederum bestand die Antwort auf diese Entwicklung in einer popularen Lesart der Volkssouveränität: Franklin D. Roosevelts New-Deal-Politik in den USA ebenso wie die Volksrepubliken und Volksfronten, die den Faschismus bekämpften, bemühten ein weiteres Mal einen demokratischen Volkswillen, den sie dem Faschismus zu entwenden suchten. Dies sorgte für einen großangelegten Neuanlauf demokratischer Volkssouveränität in der westlichen Welt und eine internationale Völkerrechtsordnung, die einer nochmaligen Machtergreifung durch den Faschismus entgegenwirken sollten.

Populistische Politikformen waren jedoch auch dieses Mal nicht dauerhaft zu verdrängen: Seit den 1950er und 1960er Jahren reüs13sierten nationale Befreiungsbewegungen in Lateinamerika, Asien und Afrika. Sie stützten sich auf ein heterogenes Volk der Leute, das sich im Konflikt mit den Kolonialmächten herausbildete. Dies war Teil einer Veränderung der Weltordnung, die sich schließlich auch in den Staaten der westlichen Welt und des Ostblocks in den Forderungen nach einer »Demokratisierung der Demokratie« beziehungsweise nach einem »demokratischen Sozialismus« niederschlug (Kapitel 9).

Diese Dynamik wurde ab den 1980er Jahren jäh gestoppt. Neoliberale und autoritäre Populismen riefen erfolgreich ein Marktvolk der vereinzelten Individuen als Selbstunternehmer herbei und zogen das populistische Moment auf ihre Seite. Die Demokratisierungsdynamik wurde durch das Leitbild des Marktes als neues gesellschaftliches Allgemeines abgelöst und transnationale Spielarten der Verfassungsbildung blockierten Eingriffe in die Wirtschafts- und Eigentumsordnung fortan dauerhaft. Diese Kombination aus Freihandel und Marktvolk manövrierte die Welt in eine Krise, die sich spätestens mit der Finanzkrise 2008 deutlich manifestierte. Darauf reagiert gegenwärtig wieder eine populistische Welle, die versucht, zu einer nationalen, identitären Volkssouveränität zurückkehren und die globalen Krisen gewaltbewährt zu verdrängen (Kapitel 10). So stellt sich am Ende dieser Problemgeschichte die Frage, ob eine andersgeartete populare Politik bessere Antworten im Umgang mit den existenziellen Gefährdungen unserer Zeit finden und erneut aus der national-identitären Spielart der Volkssouveränität heraustreten kann.

1 Gegenwart des Populismus

Das Schwanken des Populismus lässt sich an einer Episode aus dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2016 verdeutlichen. Barack Obama erklärte: »Mir liegen die Menschen am Herzen. […] Das macht mich wohl zu einem Populisten.«[3]  Ein wahrer Populist, so Barack Obama in einer längeren Ausführung, 14stütze sich nicht nur auf unmittelbare Zustimmung in der Bevölkerung, sondern vertrete die Interessen der Leute. Obama erläuterte, wie er sich für streikende Arbeiter:innen, alleinerziehende Mütter und benachteiligte Stadtteile in seinem politischen Leben eingesetzt habe. Deutlich wendete er sich gegen die amerikanische Rechte, die das Etikett »populistisch« ausdrücklich nicht verdiene. Mit ihren Forderungen nach Steuersenkungen und Privilegien für die weiße Bevölkerung und mit ihrem Desinteresse an der Lebenssituation der Schwachen unterlaufe sie den wesentlichen Kern des Populismus, die Interessen des einfachen Volkes zu vertreten. Offenkundig verhallte Obamas Versuch, den Populismus für sein Lager zu beanspruchen. Donald Trump gewann die Wahlen mit jenem »Make America Great Again«-Slogan, den Obama im Wahlkampf als Etikettenschwindel entlarvt hatte. In dieser Episode kommt eine tiefer liegende Problemlage zum Ausdruck. Sowohl Barack Obama als auch Donald Trump werfen hintergründig die Frage nach der Volkssouveränität auf: Wer ist die Gründungsmacht des Gemeinwesens, aus dem die jeweiligen Organgewalten und politischen Funktionär:innen ihre Legitimation beziehen – ein ländliches Amerika der Mittelklassen, vom christlichen Glauben zum auserwählten Volk erklärt, oder ein Volk der Arbeiter:innen, alleinerziehenden Mütter und einfachen Leute, an die Obama appellierte?[4] 

Das politische Leben der letzten Jahre ist ganz offensichtlich von Bewegungen geprägt, die in der Öffentlichkeit und wissenschaftlichen Forschung als populistisch gelten, nicht zuletzt in der Europäischen Union des letzten Jahrzehnts. Zunächst artikulierte sich der Widerstand gegen die Austeritätspolitik in der Euro-Zone als popularer Protest des europäischen Südens gegen die Brüsseler Funktionäre.[5]  Ab 2015 erstarkte eine bis heute anhaltende Welle des Rechtspopulismus. Zwar sind diese Bewegungen in einzelnen Ländern schon seit den 1980er Jahren erfolgreich, aber erst die Diskus15sionen um die jüngeren Migrationsbewegungen sorgten für ihren erneuten Aufschwung.[6] 

Es wäre jedoch vorschnell, den Populismus auf rechte oder linke Bewegungen zu reduzieren. Schließlich beschränkt sich die populistische Wende nicht nur auf den Parteienwettbewerb. Sie nistet sich auch in der Verfassungsrechtsprechung ein, wo die Frage nach dem Volk ebenfalls auftaucht. So forderte das Bundesverfassungsgericht ein, dass Kompetenzübertragungen an die Europäische Union nur abgestuft erfolgen und nicht in die Verfassungsidentität des Staatsvolkes eingreifen dürfen.[7]  Im entsprechenden Urteil figurierte das Gericht ein gründendes Gemeinwesen, auf dem die europäische und internationale Verrechtlichung aufbaut. In besonders brisanter Weise ist die Konzeption der Verfassungsidentität durch die Rechtsprechung der sogenannten »Visegrád-Staaten« in den letzten Jahren aufgegriffen worden, in der nicht nur die Verfassung, sondern auch das jeweilige Staatsvolk identitär bestimmt wird. Die Verfassungsgerichte interpretieren das Demokratieprinzip so, dass ein national bestimmtes Volk der Verfassung vorausgeht. Das einschlägige Beispiel ist die Verfassungsrevolution in Ungarn 2011: Die Regierung installierte eine neue Verfassung, die das Volk als verfassungsgebende Gewalt begreift, die mit eindeutig feststellbarer Substanz, Geschichte und religiöser Orientierung vor der Verfassung existiert. Die Verfassungsidentität des neuen ungarischen »Grundgesetzes« gilt als »Grundwert«, der »nicht aus der Verfassung hervorgeht«, sondern nur von ihr »anerkannt« wird.[8]  Das siebte Änderungsgesetz, das das Parlament 2018 beschloss, führte diese Argumentationslinie nochmal explizit aus: »Wir bekennen uns dazu, dass 16der Schutz unserer in unserer historischen Verfassung verwurzelten Identität eine grundsätzliche Verpflichtung des Staates ist.«[9]  Ähnliche identitäre Neudefinitionen spielen in den Verfassungsdiskursen der anderen Mitglieder der Visegrád-Gruppe (neben Ungarn auch Polen, Tschechien, Slowakei) eine herausgehobene Rolle, in denen »liberale Komponenten« der Verfassungen aus den 1990er Jahren in Frage gestellt werden.[10]  Die Verfassungsgerichte beanspruchen, eine Identitätskontrolle vorzunehmen, also zu überprüfen, inwieweit einfache Gesetze, aber auch die Bindung an Europa- und Völkerrecht mit der supponierten Volksidentität vereinbar sind, so das slowakische Verfassungsgericht im Jahr 2010, das tschechische Verfassungsgericht 2011 und das ungarische Verfassungsgericht 2016 in ihren Urteilen.[11]  Durch Geschichte, kulturelle Traditionen und christlichen Glauben geprägt, wird die Identität in den Verfahren der Demokratie und von den Gerichten nur noch bestätigt. So hält der ungarische Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung 2016 fest: »Das Verfassungsgericht stellt fest, dass die verfassungsmäßige Selbstidentität Ungarns ein Grundwert ist, der nicht durch das Grundgesetz geschaffen wird, sondern lediglich durch das Grundgesetz anerkannt wird. Folglich kann die Verfassungsidentität nicht durch einen völkerrechtlichen Vertrag aufgehoben werden […].«[12] 

Im internationalen Maßstab hat sich die Verfassungs- und Staatsrechtslehre in den letzten Jahren einer möglichen Transnationalisierung der Volkssouveränität zugewandt.[13]  Zwar werden nationale, 17identitäre Volksverständnisse oft als unzeitgemäß zurückgewiesen, aber das Problem der verfassungsgebenden Gewalt stellt sich trotzdem weiterhin. Man versucht daher, die Rolle des Volkes zu reformulieren und auf die Globalisierung zu beziehen. So liegen unterschiedliche Vorschläge vor, die Gründungs- und Kontrollfunktion des Volkes in verschiedene Typen der Öffentlichkeit, in konstituierende beziehungsweise destituierende Kommunikationsverhältnisse oder in Spielarten transnationaler Bürgerschaft zu verlagern. Die aufgezeigten Entwicklungen deuten auf eine tiefgreifende Veränderung hin, die die Gegenwart prägt. Nach dem Versuch, seit den 1990er Jahren eine liberale Weltordnung zu verallgemeinern, die von ökonomischem Freihandel und internationaler Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet ist, sind Gegentendenzen beobachtbar. Die Repräsentation des Volkes erschien lange als veraltetes Konzept, das sich nur schwer mit der Komplexität der modernen Gesellschaft verträgt. Gegenwärtig avanciert es wieder zum zentralen politischen Kampfplatz.

Diese Wiederkehr ist insofern nicht erstaunlich, als auch in der Vergangenheit die Gesellschaft sich immer wieder mit der Rolle des Volkes auseinandersetzte und sich das politische Leben von dort aus strukturierte. Freilich wiederholt sich die Geschichte nicht einfach, schließlich ist die Gegenwart von ganz anderen Rahmenbedingungen gekennzeichnet. Aber die Frage nach dem Volk als Gründungs- und Gegenmacht hat die Evolution politischer Ordnungen immer begleitet.[14]  Ein Blick in die einschlägigen Handbücher zur Ge18schichte der Demokratie, die sich ja schließlich als Volksherrschaft versteht, lässt erkennen, dass die Frage nach dem Volk mit der alttestamentarischen Überlieferung zum Auszug des Volkes Israels ins Gelobte Land beginnt. Sie erstreckt sich dann von der griechischen Polis und den dortigen Diskussionen um die Volksherrschaft sowie den Ordnungskämpfen der römischen Republik zwischen Plebejern und Patriziern über die unterschiedlichen Volksbewegungen und -aufstände des Mittelalters bis hin zu den Revolutionen des 18. und 19.Jahrhunderts, die dem Volk die verfassungsgebende Gewalt zuschrieben. Die Politik führte fortan ihre gründende Einrichtung auf das Volk als verfassungsgebende Gewalt zurück.[15]  Der Populismus – die Mobilisierung des Volkes gegen die jeweiligen Eliten – war also schon immer eine Option der Politik. Mehr noch: Sobald das Volk schließlich offiziell in der Verfassung als verfassungsgebende Gewalt geadelt wird, entfesselt dies die Auseinandersetzung darum, auf welche Weise sich der Volkswille zur Geltung bringt.

Die deutschsprachige Diskussion neigt bisher dazu, diese Zusammenhänge zu übersehen. Sie will nicht wahrnehmen, dass der Begriff des Populismus in vielen Ländern und Regionen neutral oder sogar positiv besetzt ist. Dies gilt vor allem in präsidentiellen Systemen, in denen das Volk viel unmittelbarer auf die höchste Macht im Staat – das Präsidentenamt – zugreift, als es in der parlamentarischen Demokratie der Fall ist. In präsidentiellen Systemen begleitet die Selbstinszenierung, wonach die einzelnen Kandidat:innen auch das Volk in seiner Gesamtheit verkörpern, das politische Leben. Insgesamt verkennt eine Betrachtung, die den Populismus einseitig mit der neuen Welle des Rechtspopulismus kurzschließt, dass populistische Bewegungen in ganz unterschiedlichen Facetten zu beobachten sind.

So identifiziert die Forschung in den Politik- und Sozialwissenschaften einen wichtigen Bezugspunkt für populistische Politikfor19men in den Widerstandsbewegungen von Bauern und Landarbeiter:innen in den USA der 1890er Jahre. Sie begehrten gegen die Machtkonzentration in Politik und Wirtschaft auf und gründeten eine »Populist Party«.[16]  In dieser Bewegung traten nicht nur typische Strukturmerkmale des Populismus hervor, sie bezeichnete sich auch selbst in einem machtkritischen Sinne als populistisch. Die Macht, die sich in den Händen der Großbanken und der im Entstehen begriffenen Industrie konzentrierte, sollte an die einfache Landbevölkerung zurückgegeben werden. Dieses Selbstverständnis drückte eine damalige Trägerorganisation des Widerstands, die Farmers Alliance, wie folgt aus: »Die Bauern dieses Landes haben gearbeitet, und andere haben die Gesetze gemacht […], der Nichtproduzent blühte auf, während der Produzent arm geworden ist.«[17]  Das Volk dieses US-Populismus war die Gemeinschaft derjenigen, die – zumindest im Selbstbild – hart arbeiten und das Land versorgen, während das Establishment auf ihre Kosten lebt. In etwa zur selben Zeit entstanden in Russland soziale Bewegungen der Bauern und Intellektuellen, die sich »Narodniki«, »Volkstümler«, nannten, und auf eine demokratische Selbstverwaltung von Land und Wirtschaft zielten.[18]  Dies sind nur zwei Beispiele aus der vielgestaltigen Geschichte des Populismus, die sich über Jahrhunderte erstreckt.[19] 

Eine weitere Fehlstellung der jüngeren Diskussion ist der Kurzschluss von besonders vereinfachender oder provokanter Kommunikation und Populismus. Dabei wird ein folgenreicher Kategorienfehler wirksam. Das politische System ist schließlich von sich aus darauf angelegt, komplexe Problemlagen zu vereinfachen und einzelnen Entscheider:innen zuzurechnen, mitsamt dem Provokations- und Emotionalisierungsdruck, der sich zwischen Opposition und Regierung ergibt. Man mag allzu grobe Vereinfachungen kritisieren, populistisch sind sie nicht zwangsläufig. Schließlich wird nicht in jeder Vereinfachung der Anspruch ausgedrückt, das Volk 20gegen die Eliten vertreten zu wollen. Wird der Populismus jedoch mit Vereinfachung gleichgesetzt, wird eine spezifische politische Operation in Gang gesetzt. Man teilt die Öffentlichkeit in das Lager derjenigen, die auf Vernunft setzen, und derjenigen, die einer gefühlsgetriebenen Vereinfachung folgen. Und so spaltet sich die Gesellschaft angeblich in diejenigen auf, die sich an der Rückkehr von einfachen Botschaften und Gefühlen erfreuen, während die anderen genau darin massive Risiken sehen und die wildgewordenen Gefühle der Massen kontrollieren wollen.

Solche Zugriffe missachten, dass zwischenzeitlich mehr über die Gesellschaft bekannt ist, als die Autor:innen der deutschen Klassik wussten, die ihr Weltbild noch auf dem Konflikt zwischen Pflicht und Neigung errichteten. Anders formuliert: Das Verhältnis von affektiven und sozialen Systemen ist komplexer strukturiert, als es die Rede von der Gefahr der Vereinfachung oder das Lob der Leidenschaften nahelegt. Gerade in der Verarbeitung von Komplexität spielt Vereinfachung notwendigerweise eine Rolle, genauso wie Gefühle nicht einfach als Gegenpart zur ratio zu verstehen sind, sondern in vielen Fällen eine rationale Funktion übernehmen. Diese Einsichten sagen noch nichts darüber aus, ob und wann eine komplexitätssteigernde oder -reduzierende Politik angezeigt ist. In jedem Fall ist die Gegenüberstellung von vereinfachender, gefühlsgetriebener Kommunikation und Vernunft für eine Analyse des Populismus nicht erkenntnisfördernd, da sie sich die jeweiligen Übersetzungs- und Differenzierungsmechanismen nicht vor Augen führt.

2 Populismusforschung

Die wissenschaftliche Forschung begreift Populismus demgegenüber als eigene Form der Politik, die durch spezifische Merkmale geprägt ist.[20]  Dabei ist der Begriff des Populismus noch recht jung, 21denn als wissenschaftlicher Reflexionsbegriff wird er erst seit den späten 1960er Jahren verwendet.[21]  Allerdings wurden vergleichbare Zusammenhänge schon zuvor unter anderen Leitbegriffen diskutiert – sei es als Bonapartismus, als Cäsarismus, als Herrschaft der Masse oder des Pöbels.

Im Europa des 19.Jahrhunderts tauchten beispielsweise viele Fragestellungen auf, die wir heute unter dem Gesichtspunkt des Populismus behandeln. Damals waren es die lebhaften Diskussionen um die Herrschaftsprojekte von Napoleon Bonaparte (1799-1815) und Louis Napoleon Bonaparte (1851-1870).[22]  Beide stützten ihre Legitimation auf eine Verbindung von autokratischer Führung und popularer Unterstützung, die in Plebisziten zum Ausdruck kam. Die damaligen Zeitgenossen – Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx, Heinrich Heine, Victor Hugo und Jules Michelet – stritten darüber, inwieweit der Volkswille als verlässlicher Träger sozialen Fortschritts gelten könne. Auch damals teilte sich die Debatte in widerstreitende Lager. Hegel sehnte in seiner frühen Schrift »Die Verfassung Deutschlands« (1800-1802) einen »Theseus«, einen Helden, herbei, der die Verfassungsbildung der Nation vorantreibe:

Der gemeine Haufen des deutschen Volkes nebst ihren Landständen […] müßte durch die Gewalt eines Eroberers in eine Masse versammelt, sie müßten gezwungen werden, sich Deutschland zugehörig zu betrachten. Dieser Theseus müßte Großmut haben, dem Volk, das er aus zerstreuten Völkern geschaffen hätte, einen Anteil an dem, was alle betrifft, einzuräumen […].[23] 

Demgegenüber entlarvte Marx fünfzig Jahre später in seiner Schrift »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« die Fehlstellungen des Bonapartismus und zeigte auf, wie dieser die demokratischen Aspirationen der Revolutionen 1789 und 1848 verriet.[24] 

In der Populismusforschung, die seit den 1960er und 1970er Jah22ren zu beobachten ist, kehren diese Fragestellungen wieder,[25]  wenn auch unter anderen Zeitumständen. Nach dem Zweiten Weltkrieg strebten viele Länder des globalen Südens nach nationaler Unabhängigkeit. Diese Dekolonialisierung vollzog sich aber nicht anhand von eindeutig liberal-kapitalistischen oder sozialistischen Ordnungsvorstellungen, wie sie die Welt im damaligen Zustand der Blockkonfrontation prägten.[26]  Die dominanten politischen Entwicklungen des globalen Südens reichten von nationalen Befreiungsbewegungen bis hin zu sich demokratisch gebärdenden Diktaturen. Sie stützten sich in vielen Fällen auf einen allgemeinen Volkswillen, knüpften an regional verankerte Ideologien und populare Traditionen an.

So war es nur konsequent, dass einige Teilnehmer:innen auf der ersten Konferenz zur Populismusforschung an der London School of Economics im Jahre 1967 eine ausdrücklich modernisierungstheoretische Perspektive einnahmen. Der Populismus erschien ihnen als eine spezifische »Entwicklungsideologie«.[27]  In Gesellschaften mit einer nachholenden Modernisierung, in denen keine klare Fraktionierung unterschiedlicher sozialer Klassen entlang der Unterscheidung von Kapital und Arbeit eintrat, waren offenere Bezugspunkte zu identifizieren, die politische Kohärenz herstellten. Der Bezug aufs Volk bot sich als Integrationsbegriff an, um die verschiedenen sozialen Gruppen zu verbinden. Dabei zeigten schon die damaligen Diskussionen auf, wie sich der Populismus von anderen Politikformen dadurch unterscheidet, dass er das Volk in seiner Gesamtheit repräsentieren will und es der Elite oder einem Machtblock gegenüberstellt. In seinem Beitrag zur Londoner Konferenz legte der Philosoph Isaiah Berlin eine Definition vor, die sich später durchsetzte. Demnach »entspringe« der Populismus »den unzufriedenen Menschen, die das Gefühl haben, dass sie irgendwie die Mehrheit der Nation repräsentieren, die von der einen oder anderen Minderheit heruntergeputzt worden ist«.[28] 

23Die Populismusforschung löste sich im weiteren Verlauf von diesen modernisierungstheoretischen Grundlagen, weil die Entwicklungen in den westlichen Demokratien seit den 1970er Jahren gegen die These von der Übergangsideologie sprachen. So wurde herausgearbeitet, wie etwa die neoliberalen Projekte Margret Thatchers und Ronald Reagans in den 1980er Jahren eine populistische Politikform bemühten.[29]  Sie mobilisierten den Volkswillen der nach Freiheit strebenden Individuen als Marktvolk gegen den Wohlfahrtsstaat und seine vermeintlichen Eliten. Auch der Rechtspopulismus, der in den 1980er Jahren in Frankreich, Italien und Österreich erste Erfolge erzielte, unterlief die modernisierungstheoretischen Annahmen. Schließlich tauchten hier populistische Bewegungen in stabilen Demokratien auf und zogen das nationale Volk gegen die etablierten Volksparteien auf ihre Seite.[30] 

Seitdem versuchen die Populismusstudien, der Vielgestaltigkeit des Phänomens gerecht zu werden. Sie beobachten rechte, linke, zentristische, religiöse, agrarische und liberale Populismen und grenzen sie voneinander ab. Dahinter steht eine knappe Definition, die besagt, dass populistische Politikformen den Volkswillen gegen eine sich verselbstständigende Elite oder einen Machtblock wenden.[31]  Die populistische Politikform beruht nicht auf einer umfassenden Lehre von der Gesellschaft, der Geschichte oder des Menschen, wie die historisch gewachsenen Strömungen des Libera24lismus, des Sozialismus oder des Konservatismus sie hervorgebracht haben. Populistische Politikformen orientieren sich demgegenüber an der Leitunterscheidung zwischen Volk und Machtblock beziehungsweise einer Elite:

Populismus in modernen demokratischen Gesellschaften lässt sich am besten als Appell an ›das Volk‹ gegen sowohl die etablierte Machtstruktur als auch die vorherrschenden Ideen und Werte der Gesellschaft verstehen.[32] 

Unabhängig davon, unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen populistische Politikformen auftreten und ob sie sich als linke oder rechte, bewahrende oder modernisierende Kraft gerieren – entscheidend ist die Unterscheidung von Volk und Elite. So kann sich der Populismus als Politikform – scheint es jedenfalls – höchst unterschiedlichen politischen Projekten anschmiegen. Mit dieser Forschungsperspektive können verschiedene politische Bewegungen beobachtet, ihre Interaktionsverhältnisse mit der etablierten Politik beschrieben oder die vielfältigen Spielarten des Populismus unterschieden werden.

3 Volk/Elite: Doppelte Unterbestimmung

Die Unterscheidung zwischen Volk und Elite ist somit das kennzeichnende Merkmal des Populismus. Sie wird genutzt, um nachzuzeichnen, wie der Populismus in unterschiedlichen Formationen – seien es Bewegungen oder Parteien – Gestalt annimmt. Doch der Verweis auf das einende Merkmal in der Vielfältigkeit reicht nicht aus, um populistische Politikformen zu durchdringen. Es bleibt dabei offen, welche systematische Rolle und Funktion der Populismus in der Politik spielt und in welchem Verhältnis er zur Grundstruktur des politischen Systems sowie insbesondere zur Volkssouveränität steht. Schließlich gilt, wie bereits gesehen, die Volkssouveränität 25als höchste demokratische Verfassungsnorm in der Moderne, auf die sich Recht und Politik zurückführen lassen. Handelt es sich beim Populismus um eine bloße Ideologie, auf die Akteure beliebig zugreifen, oder nicht doch um einen Mechanismus, der im politischen System angelegt ist? Als Teil der konstitutionellen Formen ist die Unterscheidung zwischen Volk und Elite in andere Unterscheidungen verstrickt. Die erste Frage müsste gerade darin bestehen, wie sich diese Unterscheidung zur Verfassung verhält. Wer die Unterscheidung zwischen Volk und Elite bemüht, setzt nicht nur eine besonders grelle Kommunikation in Gang; vielmehr wird an die grundlegende konstituierende Macht eines wie auch immer zu verstehenden Volkes appelliert. Eine Definition des Populismus wird also nicht umhinkommen, den Ort des Volkes in diesen Verweisungszusammenhängen anspruchsvoller herauszuarbeiten.

Wenn sich eine Populismustheorie allein darauf konzentriert, das Selbstverständnis politischer Akteur:innen zu beleuchten, können nur schwache Aussagen über die praktische Wirksamkeit und die Veränderungsfähigkeit von Gesellschaften durch den Populismus gewonnen werden.[33]  Als zweiter, in gewisser Weise gesellschaftstheoretischer Fragekomplex wäre zu untersuchen, in welchen Situationen populistische Politikformen reüssieren, wie ihre Konjunkturen zu verstehen sind und in welchem Sinne sie Gesellschaft und Politik verändern. Dabei ist eine weitere Unterbestimmung der Unterscheidung zwischen Volk und Elite zu beobachten, die besonders deutlich in Überlegungen hervortritt, die den Populismus kritisieren oder verteidigen. Wenn der Populismus als Dynamisierungsinstrument verteidigt wird, wird in der Regel darauf verwiesen, dass er den kommunikativen Verfestigungen in der Meinungsbildung entgegenwirke.[34]  Solche Verteidigungen wei26sen insbesondere auf seine Explorationsfunktion hin. Selbst wenn der Populismus seine Positionen vereinfacht artikuliere, so die Annahme, so sei doch zu würdigen, dass sie auf diese Weise überhaupt erst zugänglich und verarbeitbar gemacht würden. Dabei bleibt jedoch offen, ob und in welcher Hinsicht der Populismus nicht nur der neutrale Träger bestimmter Inhalte ist, sondern als Politikform operiert, die auf die Themensetzung einwirkt.

Das Argument der Gegenseite, der Populismuskritiker:innen,[35]  wiederum lautet, dass der Populismus eine angemessene Exploration gerade unterlaufe, indem er den Volkswillen für sich beanspruche oder polemisch überspitze. So präformiere der Populismus die Inhalte auf eine Weise, dass sie nicht mehr in rationalen Verfahren bearbeitbar seien. Die Populismuskritiker:innen sehen in der Unterscheidung zwischen Volk und Elite eine ständige Regressionsgefahr angelegt: Schwingen sich Bewegungen auf, einen totalisierenden Anspruch auf die Vertretung des Volkswillens zu erheben, führe dies immer in eine autoritäre Transformation des Rechtsstaats und halte andere soziale Gruppen davon ab, ihre Standpunkte in die öffentliche Diskussion einzuspeisen. Doch die Frage, ob der Populismus immerzu öffnet und dynamisiert oder immerzu ins Autoritäre umschlagen muss, lässt sich nur dann beantworten, wenn seine Rolle und Funktion in der modernen Politik geklärt ist: In welchem Sinne ist der Populismus in unser Demokratieverständnis verstrickt? Welche Rolle spielt der Appell ans Volk? Entscheiden die politischen Akteure überhaupt bewusst, ob sie einer populistischen Strategie folgen oder nicht? Und wie sollen oder können sie dies entscheiden, wenn der Populismus sowieso immer Teil des Spiels ist?

Um den Populismus zu durchdringen, muss also eine anspruchsvollere Bestimmung der Volk/Elite-Unterscheidung ausgearbeitet werden. Dies ist voraussetzungsreich, da die Unterscheidung einen eigentümlichen Doppelcharakter aufweist. Sie ist einerseits eine ausdrücklich politische Unterscheidung in dem Sinne, dass sie sich in das politische System einfügt, doch sie geht andererseits auch 27über dieses hinaus. Schließlich drücken sich in ihr allgemeinere Machtkonstellationen aus, die Bezüge zur Wirtschaft und zum gesellschaftlichen Leben oder sogar zu Fragen des Geschmacks oder der Lebensgestaltung aufweisen.[36]  Insofern nimmt der Populismus nicht nur an der Politik teil, sondern ist auch durch ein soziales Substrat gekennzeichnet.[37]  Viele Forschungsbeiträge gehen – zumindest hintergründig – davon aus, dass populistische Politikformen in einem Verhältnis zur Sozialstruktur stehen und von dort ihren Nährboden beziehen. Dies gilt insbesondere für Zugriffe, die den Populismus auf modernisierungskritische Trägergruppen zurückführen. Sie betrachten den ökonomischen Wandel, der die Gruppe der Modernisierungsverlierer:innen anwachsen lässt, als Nährboden für den Populismus.[38]  Andere Theorien des Populismus erkennen in ihm einen Hebel, um gesellschaftliche Fortschritte durchzusetzen. In diesem Sinne bringt der Populismus ein Wechselspiel aus Verallgemeinerung und Protest zum Ausdruck, das in der Logik des Sozialen angelegt ist.[39]  Die Unterscheidung zwischen Volk und Elite ist dementsprechend um Annahmen über die Verhältnisse anzureichern, auf die der Populismus reagiert. Um populistische Politikformen zu erklären, muss somit untersucht werden, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sie gedeihen, welche Anlässe ihre Entstehung begünstigen und ob sie Spielräume für gesellschaftliche Veränderungen erschließen. Der hier vorgebrachte Einwand gegen die bisherigen Populismusstudien lautet also, dass sie an einer doppelten Unterbestimmung leiden.

Um diese doppelte Unterbestimmung zu beheben, entwickelt die vorliegende Studie eine Gesellschaftstheorie des Populismus. Die zentrale Annahme ist, dass erst die Einsicht in das wechselseitige Verhältnis von Politik, Recht und Gesellschaft aufweisen kann, wie populistische Politikformen zu verstehen sind und in welchen 28charakteristischen gesellschaftlichen Konstellationen sie entstehen. Dazu setzt die Studie auf einem gewissen Abstraktionsniveau an. Auch wenn sich der Argumentationsgang bemüht, immer wieder Beispiele und historische Entwicklungslinien zu analysieren, so geht es letztlich darum, den Populismus als Politikform zu durchdringen. Diese theoretische Distanzierung mag für den geneigten Leser oder die geneigte Leserin, die engagiert in der Welt lebt und politisch für oder gegen »die Populisten« Partei ergreift, zunächst eine gewisse Zumutung darstellen. Wer eine solche immanente Betrachtungsweise entwickelt, wer den Populismus also nicht an externen (oftmals moralischen) Kriterien misst, sondern aus sich selbst heraus zu analysieren, zu verstehen und zu kritisieren sucht, begibt sich notwendigerweise in eine Verstrickung in seinen Gegenstand und lässt sich ein Stück weit auf diesen ein.[40]  Der Mehrwert eines solchen Verfahrens besteht jedoch darin, so die hier vertretene These, dass sich dadurch besser nachzuvollziehen lässt, wie der Populismus als Politikform funktioniert und was die allgemeinen Problemstellungen sind, die sich unabhängig von der eigenen Weltanschauung, demokratiepolitischen Überzeugung oder moralischen Werthaltung ergeben. In diesem Sinne versucht eine immanente Betrachtungsweise dieses fraglos politisch umkämpften und heiklen Forschungsgegenstands ein in unserer Zeit ohnehin schon allzu verbreitetes »preaching to the converted« zu umgehen, das bereits existierende Erwartungshaltungen bloß verstärkt. Das hier vorgeschlagene Verfahren setzt auf ein Wechselspiel zwischen dem Einlassen auf den Gegenstand und einer gewissen Distanz zu allzu schematischen Anwendungsperspektiven, die vorgefasste Wertungen oder Prinzipien nur applizieren und zu zeigen versuchen, dass das eine mit dem jeweils anderen im Konflikt steht. Doch Konflikte und Widersprüche, so die immanente Perspektive, ergeben sich vielmehr aus einem dynamischen Prozess des Durcharbeitens. Dies ist ein Verfahren, das fraglos irritationsanfälliger ist als die Anwendungsperspektive, weil es sich seinen Grund erst erschließen muss. 29Es ist aber auch leistungsfähiger, da es besser bestimmen kann, wo die Defizite und Potentiale des jeweiligen Forschungsgegenstands liegen. Die Leser:in wird hier daher eingeladen, diesen Weg mitzugehen und die vorgefasste Meinung über die »Populisten« zumindest für den Moment der Lektüre ruhen zu lassen.

Die in dieser Studie auszuarbeitende Analyse betrachtet die soziale Differenzierung und das Zusammenspiel von Politik, Recht und Gesellschaft in der modernen Gesellschaft. Sie knüpft damit an eine gesellschaftstheoretische Traditionslinie an, die sich seit dem 19.Jahrhundert und dort insbesondere seit Hegel und Marx herausgebildet hat. Insofern wird in den folgenden Überlegungen einerseits immer wieder auf Forschungsarbeiten aus dieser Traditionslinie zurückgegriffen, andererseits wird davon ausgegangen, dass sich die Arbeiten, die in den letzten Jahrzehnten als Systemtheorie der Gesellschaft ausgearbeitet worden sind, ebenfalls in diese Traditionslinie einfügen. Trotz hartnäckiger Kontroversen in den Sozialwissenschaften der Nachkriegszeit sind doch verblüffende Überschneidungen festzustellen – sei es die immanente Betrachtungsweise sozialer Phänomene, das Interesse an historischen Trajektorien oder die Annahme einer Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären und Formen. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade in jüngerer Zeit an Synthetisierungen und Anschlüssen gearbeitet worden ist, die sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen haben.[41]  In einem Forschungsumfeld, dass immer stärker von einem freischwebenden Normativismus oder einem übermäßigen Fokus auf lokale Macht- und Subjektivierungspraktiken geprägt ist, soll hier nochmals eine Gesellschaftsanalyse gewagt werden, 30die aufs Ganze geht. Ein solches Projekt steht fraglos vor großen Herausforderungen – sei es die Einbeziehung globalgeschichtlicher Betrachtungen, sei es die Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher Konflikttypen wie Widersprüche und Paradoxien oder sei es die nach dem Verhältnis von Normativität und Kritik.

Das vorliegende Buch zur Gesellschaftstheorie des Populismus wird selbstverständlich nicht alle diese Herausforderungen vollumfänglich abarbeiten können. Doch es ist von der Annahme getragen, dass angesichts der aktuellen Krisentendenzen in der Welt geradezu erforderlich ist, allgemeinere Tendenzen und Mechanismen der gesellschaftlichen Entwicklung zu bestimmen, um von dort her die Möglichkeit einer Überwindung oder wenigstens eines Umgangs mit diesen Krisen zu eröffnen. Es knüpft damit an das Programm an, das einst in der kritischen Gesellschaftstheorie und im Marxismus, aber auch in der Systemtheorie und in den vielfältigen Studien zur Evolutionsgeschichte politischer und rechtlicher Herrschaft seit den 1960er und 1970er Jahre ausgearbeitet wurde – dann jedoch für allzu lange Zeit liegen gelassen worden ist.[42] 

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Erster Teil

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Kapitel 1 Populismus als Politikform

1 Verfassung und Volkssouveränität

Die Verfassung ist die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens und legt das Ganze der Ordnung fest. Dies gilt umso mehr für Verfassungen, die sich im Nachgang der demokratischen Revolutionen so verstehen, dass sie auf der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes – der Volkssouveränität – beruhen. Die Annahme ist dabei, dass die jeweilige Verfassungsordnung ihre Anerkennungsfähigkeit auf ganz spezifische Weise herstellt: Sie führt ihre Einrichtung auf die konstituierende Macht des Volkes zurück, sich eine Verfassung zu geben und sich in deren Rahmen selbst zu regieren. In den Verfassungstexten fallen die jeweiligen Formulierungen unterschiedlich aus, wenn sie die Volkssouveränität beschreiben. So heißt es im Grundgesetz »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus« (Art. 20), in der französischen Verfassung »gouvernement du peuple, par le peuple et pour le peuple« (Art. 2) oder in der italienischen Verfassung »La sovranità appartiene al popolo« (Art. 1).

Diese Formulierungen haben eine Gemeinsamkeit. Sie verweisen alle darauf, dass man die jeweilige Verfassungsordnung als vom Volk gegeben begreifen soll. Selbst wenn faktisch gar keine vollumfängliche revolutionäre Verfassungsgebung stattgefunden hat, soll wenigstens rückwirkend die Verfassung so eingerichtet werden, als wäre dies der Fall gewesen. In prägnanter Weise brachte ein zentraler Theoretiker und Politiker der Französischen Revolution, Emmanuel Joseph Sieyès, diesen Umstand auf den Punkt, als er in seinem berühmten Text »Was ist der dritte Stand?« zwischen dem pouvoir constituant und den pouvoirs constitués unterschied.[1]  Er schrieb dem Volk den pouvoir constituant zu, aus dem sich die pouvoir constitués – die konstituierten Organgewalten wie beispielsweise Parlamente oder Gerichte – ableiten, was für die Verfassungsordnung folgenreich ist. Denn ist das Volk erst einmal als pouvoir constituant in die 34Verfassung eingetragen, stehen die konstituierten Organgewalten unter dem Vorbehalt, verändert, reformiert oder sogar revolutioniert zu werden, wenn sie die Volkssouveränität nicht mehr adäquat zum Ausdruck bringen.

In der Verfassungstheorie wird seit Jahrhunderten über die damit einhergehenden Herausforderungen gestritten, insbesondere wie die Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitués zu verstehen ist, wie weit sie reicht und welche Spielräume für politische Erneuerungen sie bietet: Wie und unter welchen Umständen kann die Verfassung verändert, reformiert oder grundlegend revolutioniert werden? Was ist unter dem Volkswillen überhaupt zu verstehen? Ist die Interpretation der Volkssouveränität den Verfassungsgerichten vorbehalten oder darf sie vom allgemeinen Gründungsbegriff auch zum politischen Kampfbegriff avancieren?

All diese Überlegungen sind jedoch nur die Hälfte der Geschichte, wie verfassungssoziologische Analysen herausstellen, die mit Hegels Rechtsphilosophie im beginnenden 19.Jahrhundert einsetzen. So stark die Lehre von der Volkssouveränität die moderne Verfassungsdiskussion informiert, so sehr ist die Verfassung auch immer Gesellschaftsverfassung. Sie geht aus einem historischen Entwicklungsprozess hervor und reguliert die Differenzierung von unterschiedlichen sozialen Sphären und Systemen, die von der Wirtschaft über die Wissenschaft bis hin zur Verwaltung reichen.[2]  Die jeweiligen Rechtekataloge am Beginn der Verfassung oder deren Passagen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Religion, Wirtschaft oder Sozialstaat zeugen davon, dass hier soziale Komplexität durch Verrechtlichung organisiert und ermöglicht wird. Insofern verankert die Verfassung nicht nur die jeweiligen pouvoirs constitués in Recht und Politik, sondern konstituiert auch andere gesellschaftliche Sphären mit – etwa die Wirtschaftsweise, das Bildungs- oder Gesundheitswesen oder die Wissenschaften. Sie ist mithin ein Regulationszusammenhang, der direkt auf die gesellschaftlichen Entwicklungsoptionen einwirkt.

Die Verfassung, so resümierte Hegel in seiner Rechtsphilosophie, sei nicht nur eine revolutionäre Errungenschaft, sondern 35ebenso »wesentlich ein System der Vermittlung«.[3]  Für Hegel war dies der zentrale Grund, warum er die Lehre von der Volkssouveränität zurückwies, wie sie die Französische Revolution geprägt hatte. Zwar wollte Hegel die freiheitlichen Fortschritte des modernen Verfassungswesens sichern, er kritisierte jedoch die Lehre von der Volkssouveränität scharf. Sie sei ein »verworrener Gedanke«, ja eine »wüste Vorstellung«: Indem sie revolutionär von einer »Gliederung des Ganzen« absehe, abstrahiere die Rede vom Volk von den sozialen Umständen. Sie werde unbestimmt, formlos, leer und verleugne, dass es stets ein organisierendes Moment brauche (schon konstituierte Organe oder Amtsträger:innen und Führungspersonen), um den Volkswillen in produktiver Weise zur Geltung zu bringen.[4]  Deshalb überzeuge die Lehre von der volkssouveränen Umwälzung in der Sache nicht und neige in der Konsequenz dazu, die Fortschritte des Konstitutionalismus – die vermittelnde »Arbeit von Jahrhunderten«, die sich in den gewachsenen Institutionen ansatzweise verkörpere[5]  – zu zerstören. Wie diese Einlassungen aus der Einleitung seiner Rechtsphilosophie verdeutlichen, wollte sich Hegel deutlich vom »Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung« abgrenzen, den er in der jakobinischen Endphase der Französischen Revolution und der sie tragenden Verfassungslehre angelegt sah.[6] 

Dessen ungeachtet ist die Lehre von der Volkssouveränität über das 19.Jahrhundert hinweg Teil der Verfassungsevolution geworden und prägt das politische Leben bis heute. Volksbewegungen, Volksverfassungen, Volksrevolutionen oder Volksrechte mag man als undifferenziert, schlecht begründet, destruktiv, verkürzt, überschüssig oder romantisierend zurückweisen oder, wie Bertolt Brecht einst vorschlug, man ersetzt das Wort Volk einfach durch das Wort Bevölkerung.[7]  Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass 36politische Bewegungen immer wieder an die Lehre von der Volkssouveränität anknüpfen und auf diesem Wege gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen versuchen.

Eine Betrachtung der Politik, wie sie in der modernen Verfassung konstitutionalisiert ist, muss folglich beides berücksichtigen: Einerseits ist die Volkssouveränität nicht einfach ein Hirngespinst, sondern erstreckt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, bis in die regulären Verfahren des politischen Systems. Andererseits darf sich eine Betrachtung der Politik nicht einseitig in die Lehre vom pouvoir constituant – sei es in verteidigender oder verwerfender Absicht – zurückziehen; vielmehr trägt die Verfassung zu gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen bei, die im Gegenzug die Reichweite und Richtung politischer Entscheidungen eingrenzen. Schließlich stützt der Konstitutionalismus als vermittelndes System maßgeblich ebenjene Differenzierungsvorgänge ab. Diesen Doppelcharakter der Verfassung zum Ausgangspunkt zu wählen, ist von zentraler Bedeutung: Denn erst wenn man beides berücksichtigt – dass die Lehre von der Volkssouveränität in rechtliche Begründungskonflikte und den Bereich politischer Handlungsoptionen hineinragt und dass die Verfassung immer Gesellschaftsverfassung ist –, lässt sich sinnvoll fragen, inwieweit eine Politik, die für sich in Anspruch nimmt, das Volk zu vertreten, zu einem gelingenden gesellschaftlichen Wandel beitragen kann oder sich im Gegenteil als problematische Transformationsblockade erweist.

Diesen Doppelcharakter untersuchte Karl Marx in seinen Frühschriften. Er knüpfte an Hegels Beobachtung zur vermittelnden Funktion der Verfassung an, entwickelte sie aber weiter, indem er spezifischer das Zusammenspiel aus politischem Staat und kapitalistischer Wirtschaftsweise in der bürgerlichen Gesellschaft analysierte.[8]  Die sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur hat die Frühschriften vor allem als normatives Projekt ausgedeutet, das eine radikaldemokratische Kritik des politischen Staates formuliert.[9]  Marx hat in diesen Frühschriften aber nicht nur den Fluchtpunkt 37einer radikalen Demokratie angedeutet; vielmehr ist seine Auseinandersetzung mit Staat und Verfassung ein instruktives Erklärungsmodell, das das Verhältnis von Volkssouveränität und Gesellschaft genauer beleuchtet. Den Marx’schen Frühschriften folgend differenziert sich im politischen Staat ein eigener, von der Gesellschaft getrennter Bereich heraus, der sich gleichsam als Hüter des gesellschaftlichen Ganzen versteht. Dabei schließt auch Marx an die Verfassungstheorie der Französischen Revolution an, wie sie Jean-Jacques Rousseau in seinem Gesellschaftsvertrag und der Abbé Sieyès in seinen Schriften ausgearbeitet hatten. Nach der Französischen Revolution ist die Gründungsmacht zunächst das Volk, indem es als pouvoir constituant Verfassungsrang erhält. Im politischen Staat, so Marx, werde »ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität« ausgerufen.[10]  Das Volk trage seinen Willen in die Verfassung und die Gesetze ein und schaffe sich so ein Ganzes nach seinem Bilde: »In der Demokratie ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volkes und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er politische Verfassung ist.«[11] 

Im nächsten Schritt erweitert Marx diese Beobachtung und problematisiert sie zugleich. Denn der holistische Anspruch der Volkssouveränität nimmt an einem umfassenderen sozialen Transformationsprozess teil – nämlich am Übergang zur »bürgerlichen Gesellschaft«, die von einer beschleunigten Differenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme, insbesondere der kapitalistischen Wirtschaft, gekennzeichnet ist. Insofern findet die konstitutionelle Vermittlung der sozialen Differenzierung nicht nur als Vermittlung von bürgerlicher Gesellschaft, Familie und Verwaltung (Hegel) statt, sondern stützt die kapitalistische Wirtschaftsweise ab, verhilft ihr zur Dominanz und blockiert die gewonnenen Freiheiten und Entwicklungsoptionen der anderen sozialen Sphären dort, wo sie in Konflikt mit ihr geraten.

Die Verfassungen postulieren die gleiche Freiheit der Bürger:innen als Gesetzgeber:innen. Sie halten jedoch gleichsam – so argu38mentiert Marx vor allem in seinem Text »Zur Judenfrage« – vorpolitische Rechte fest, wie das Recht auf Eigentum. Auf diese Weise konstituiert die Verfassung sowohl die Gesetzgebung als auch den Wirtschaftsverkehr und schirmt dessen zentrale Institutionen – Eigentum und Vertrag – von gesetzgeberischen Eingriffen ab. Vor diesem Hintergrund begrüßt Marx die demokratische Volkssouveränität und die Lehre vom pouvoir constituant, da sie anerkennen, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen. Die Demokratie sieht er als »aufgelöstes Rätsel aller Verfassungen« an, indem sie die gesellschaftlichen Kooperationsverhältnisse als Grund des Sozialen offenlegt.[12]  Doch die Lehre vom pouvoir constituant bleibt in einen frühbürgerlichen Liberalismus verstrickt, der nicht nur als Volk der citoyens figuriert, sondern in noch viel stärkerem Maße als Volk der selbstinteressierten Privatbürger:innen – der bourgeois –, die ihren Interessen und Neigungen nachgehen. Er beschreibt diesen Widerspruch wie folgt:

Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird.[13] 

Demnach bezieht sich die Politik immer zugleich auf das Volk der gemeinwohlorientierten citoyens als auch auf das der bourgeois, die als Privatbürger:innen ihren Interessen nachgehen, ohne vom Staat daran gehindert zu werden. Dieser Widerspruch macht sich in der politischen Praxis und Theorie immer wieder bemerkbar – sei es als Konflikt zwischen Allgemeinwohl und individueller Freiheit oder zwischen Republikanismus und Liberalismus. Dabei entsteht ein Variationsspielraum, den die Politik dazu nutzt, regulierend tätig zu werden und die Gesellschaft zu gestalten. Im Namen des Allgemeinwohls greift der Staat verändernd in den Wirtschaftsverkehr ein, allerdings ohne dass er seinen »unpolitischen« Bezugspunkt im »natürlichen« Volk der egoistischen Individuen antastet.[14]  Nach der 39Marx’schen radikalen Demokratiekonzeption wird dieser kapitalistische Differenzierungstyp von Politik, Recht und Gesellschaft erst dann überwunden, wenn an seine Stelle eine »wahre Demokratie« tritt, die das in der Volkssouveränität mitschwingende Verfügbarmachen der Gesellschaft für die Gestaltungsmacht sozialer Kooperation einlöst.

Marx übt hier also nicht nur eine in den damaligen frühsozialistischen Strömungen gängige Staatskritik, darüber hinaus beschreibt er, dass in der Politik ein Mechanismus angelegt ist, der für Variation, Korrektur und Konflikt sorgt. Der »politische Staat« differenziert sich als »organisierende Form« aus und legt die handelnden Akteure auf eine entweder staatsbürgerlich-republikanische oder liberal-besitzegoistische Grammatik fest. So sorgt die Politik dafür, dass die Gesellschaft auf sich selbst einwirkt, sie stabilisiert oder verändert sie. Stets jedoch verallgemeinert der Staat eine Konstellation, die den gesellschaftlichen Problemhaushalt fortschreibt oder – sobald sich eine Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft aufdrängt – blockiert. Schließlich bleiben die Eigentums- und Verfügungsverhältnisse rechtlich geschützt. Deshalb sind, so die Marx’sche Demokratiekritik, die sozialen Widersprüche vom Standpunkt des politischen Staates schwer zu adressieren. Wenn um das Allgemeinwohl gerungen wird oder wenn Interessen zum Volkswillen avancieren, sind die ausschlaggebenden Konfliktlinien im Bereich der politischen Ökonomie nur um den Preis ihrer Verfremdung kommunikationsfähig. Sie werden, so betont auch eine Linie des an Marx anschließenden politischen Denkens, eingemeindet und verlieren ihr gesellschaftsveränderndes Potential.[15]  Unabhängig davon, ob man daraus eine nüchterne Analyse der Volkssouveränität abliest oder ihre radikale Kritik, besteht der Widerspruch nicht nur zwischen den unterschiedlichen Interessen, die in Konflikten aufeinanderprallen, sondern zwischen Volkssouveränität und Gesellschaft, zwischen dem gesellschaftlichen Problemhaushalt und den Möglichkeiten, ihn erfolgreich im Rahmen der konstitutionalisierten Politik zu bearbeiten.

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2 Funktion der Politik

Marx verfolgte diese verfassungstheoretischen Einlassungen in seiner späteren Kritik der politischen Ökonomie nicht systematisch weiter. Die an seine Schriften anschließenden kritischen Theorien der Politik bemühten sich allerdings darum, diese Überlegungen fortzuführen. Sie widmeten sich jedoch in den meisten Fällen vordringlich der Frage, wie sich Interessenkonflikte institutionell artikulieren lassen und wie sich die kapitalistische Wirtschaft zu den staatlichen Institutionen verhält. Die Frage nach der genaueren Konfiguration des politischen Systems und seiner Rolle im Kontext der Verfassung haben sie bis auf wenige Ausnahmen ausgespart.[16]  Erst die Gesellschaftstheorien aus dem Umfeld der Systemtheorie der Nachkriegszeit kommen dann sowohl auf das Zusammenspiel von Volkssouveränität und sozialer Differenzierung als auch auf die interne Konfiguration des politischen Systems zurück.[17]  In der Verbindung beider Linien entsteht eine angemessenere Beobachtung des Verhältnisses von Volkssouveränität und Gesellschaft, die sich als aufschlussreich für die Analyse des Populismus erweist.[18]  Während Marx’ Schriften von der Geschichtsphilosophie des 19.Jahrhunderts geprägt waren, bezieht die Systemtheorie unterschiedliche Evolutionstheorien sowie Erkenntnisse der Kybernetik ein, die den Prozess sozialer Differenzierung auf kommunikative Selbstreferenz zurückführen.[19]  Demnach verketten sich Kommunikationen zu Systemen, die jeweils bestimmte Funktionen erfüllen und eigenen 41Codierungen folgen. Dabei werden im jeweiligen System nur solche Kommunikationen beobachtbar, die sich an spezifischen Codierungen – beispielsweise Recht/Unrecht im Rechtssystem oder Zahlung/Nicht-Zahlung in der Wirtschaft – orientieren. Alle anderen Kommunikationen verharren in der diffusen sozialen Umwelt.

Die Kernfunktion des Bereichs der Politik besteht im »Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden«.[20]  Die Politik differenziert sich aus, indem sie sich darauf spezialisiert. Sie trifft Entscheidungen, die das Kollektiv binden, und ermöglicht es, dass diese Entscheidungen – in der Regel durch die »Institution des Verfahrens«[21]  – variiert werden. Das politische System codiert die Kommunikation als Unterscheidung zwischen Machtüberlegenheit und Machtunterlegenheit.[22]  Es geht immer darum, wer privilegierten Zugriff auf Ämter und Verfahren hat, in denen bindende Entscheidungen getroffen werden. Kommunikationen, die sich nicht am Machtcode orientieren, sind mithin für die Politik unlesbar und in die soziale Umwelt verwiesen. Die oft vorgetragene Klage über mangelnde Sachorientierung in der Politik vollzieht sich vor dem Hintergrund, dass Themen oder Inhalte nur zählen, wenn sie für das Verhältnis von Machtüberlegenheit und -unterlegenheit eine gewisse Bedeutung erlangen.

Im Übergang zur Demokratie wird die Machtkommunikation umgeformt und mit anderen Sozialsystemen vernetzt, was sich in zwei Schritten vollzieht. In einem ersten Schritt findet eine »Re-Codierung der politischen Macht«[23]  statt: Die Unterscheidung zwischen Machtüberlegenheit und -unterlegenheit wird in den Konflikt zwischen Regierung und Opposition überführt. Die entscheidende Veränderung besteht darin, dass die unterlegene Seite – die Opposition – eine anerkannte Rolle übernimmt und die Regierung mit Kritik konfrontiert bis hin zum Punkt, wo sie die 42Ämter übernehmen kann.[24]  So tritt eine andauernde Spaltung der Spitze ein und die Politik reflektiert auf ihre Kontingenz, also auf die Änderbarkeit ihrer Entscheidungen.[25]  Die Regierung muss stets mit der Möglichkeit leben, von der Opposition abgelöst zu werden. Jedes oppositionelle Thema, jede Forderung oder jedes Interesse kann zum Ausgangspunkt für eine Übernahme der Regierungsgeschäfte avancieren. Dies ist folgenreich für die Art, wie in der Politik verfahren und diskutiert wird. Die Re-Codierung politischer Macht stellt immer auch eine Erweiterung dar. Denn die Funktion der Politik fußt nun nicht nur auf kollektiv bindenden Entscheidungen, sondern verspricht zudem kollektive Selbsteinwirkung, bewusste Veränderung und gesamtgesellschaftliche Steuerung.

Als zweiter Schritt lässt sich herausstellen, dass das Entscheiden in rechtlich formalisierter Form stattfindet und Politik strukturell mit dem Recht gekoppelt ist. Bei einer strukturellen Kopplung bildet ein System einen privilegierten und dauerhaften Kontakt mit einem anderen System aus, indem die jeweiligen Kommunikationskanäle für wechselseitigen Einfluss geöffnet werden. Dies ist der Fall, wenn »ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft« voraussetzt und sich auf sie »verlässt«.[26]  Die Politik ist allein aufgrund der erforderlichen Verfahrensorientierung mit dem Rechtssystem gekoppelt, weil das Recht die nötigen Formen und Regeln zur Verfügung stellt[27]  – von der Gesetzgebung bis zur rechtlichen Bindung der Exekutive.

Diese Kopplung mit dem Recht ermöglicht es, die offenliegenden Gründungsprobleme der Politik handhabbar zu machen: Indem die Politik ans Recht gebunden ist, führt sie ihre Einrichtung nicht mehr einseitig auf willkürliche Entscheidungen zurück, die – den demokratischen Kontingenzansprüchen folgend – auch immer anders hätten ausfallen können. Sie unterwirft sich einer höherrangigen Verfassung, die die Spielräume politischer Entscheidungen eingrenzt. Die demokratische Volkssouveränität führt also 43gerade nicht einseitig zu einer voluntaristischen Vereinfachung der Verfassungsgebung (»Alle Gewalt geht vom Volk aus«), sondern zu einer paradoxen Verknüpfung von rechtlicher und politischer Souveränität, von Bindung und Willkür, von ratio und voluntas.[28]  Das Volk wird zur verfassungsgebenden Gewalt geadelt, die allerdings wiederum an ein höchstes Gesetz gebunden bleibt.

Aus der Kopplung mit dem Recht in der Verfassung geht eine Zweistufigkeit hervor, denn politische Entscheidungen setzen sich damit zugleich einer Beobachtung zweiter Ordnung nach dem Muster verfassungsgemäß/verfassungswidrig aus.[29]  Diese Beobachtung hat nicht einzig den konkreten Inhalt des Entscheidens zum Gegenstand, sondern reflektiert die Verfasstheit derjenigen Verfahren, in denen entschieden wird. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass in der konstitutionalisierten Politik stets eine konstituierende Politik wirksam bleibt.[30]  Sie tritt zutage, wenn die grundlegende Verteilung der Macht und die Verfahren, die die Gesetzgebung und Ämterverteilung organisieren, kritisiert, reformiert, verändert oder umgewälzt werden. Damit enthält der Konstitutionalismus eine interne Dynamisierungsoption, die über die reguläre Oppositionsrolle hinausgeht und sie radikalisiert. Dies ist der Fall, wenn die Opposition nicht mehr nur die Regierung kritisiert und eine Übernahme der Amtsgeschäfte anstrebt, sondern wenn sie beklagt, dass sich die Regierungspraxis von der geforderten Volkssouveränität entfernt hat, und eine umfassendere Revision oder Neuausrichtung der Ordnung einfordert.

Der Bereich der Politik ist also nicht durch einen einseitigen Blick auf den Machtkampf entlang von Überlegenheit/Unterlegen44heit zu entschlüsseln, da er ebenso von einer eigenen Reflexivität gekennzeichnet ist. Unter Reflexivität wäre zu verstehen, dass die einfache Kommunikation nochmals auf der Ebene einer Kommunikation zweiter Ordnung im Sinne einer Kommunikation über Kommunikation beobachtet wird.[31]  Wenn also von Politik die Rede ist, dann bedeutet das einerseits das Handeln und Entscheiden in den konstituierten Verfahren und Institutionen und andererseits die konstituierende Dimension im Gründen, Ent-Gründen, Revolutionieren oder Reformieren der konstituierten Politik. Dies kann nicht nur in kämpferischen politischen Bewegungen zum Ausdruck kommen oder in besonders kritischer Oppositionspolitik, denn auch die Verwaltungen und die Gerichte betreiben eine solche Politik, wenn sie bestehende Verfahren, Machtverteilungen oder rechtliche Begründungszusammenhänge grundsätzlich in Frage stellen oder gar revolutionieren.[32]  Die Volkssouveränität wird immer wieder für eine Politisierung genutzt, und die Demokratie entwickelt sich dadurch zu einem »unbeherrschbaren Abenteuer« – wie der französische Philosoph Claude Lefort es einst ausgedrückt hat –, indem sie das Gemeinwesen für unterschiedliche Gestaltungsoptionen öffnet, die sich auf die Grundordnung selbst richten.[33] 

Die Analyse des politischen Systems, wie wir sie eingangs im Anschluss an Marx rekapituliert haben, weist jedoch auf eine ent45scheidende Blockade hin. Obwohl der Bereich der Politik nicht auf eine verwaltende oder nur korrigierende Praxis zurückzustutzen ist, bleibt der Widerspruch zwischen Volkssouveränität und Gesellschaft erhalten. Eine an der Volkssouveränität ausgerichtete konstituierende Politik wirkt öffnend und dynamisierend. Es steht jedoch nicht fest, ob Leforts »Abenteuer« auch gut endet, denn die Dynamisierung kann ebenso der Ausgangspunkt für eine regressive Involution bieten, die den Bereich der Politik ins Autoritäre wendet – oder die Volksrethorik ändert ohnehin nichts daran, dass diejenigen Handlungsoptionen blockiert bleiben, die eigentlich erforderlich wären, um eine gelingende Transformation herbeizuführen. Zwar ist die Politik von einem Wechselspiel aus einfacher Gesetzgebung und Volkssouveränität geprägt, aber – so hatten wir festgehalten – sie kann nur begrenzt auf den grundlegenden Problemhaushalt der Gesellschaft zugreifen.[34]  Die Volkssouveränität bleibt zwischen dem Anspruch, auf das Ganze zuzugreifen, und einer Verfremdung der ausschlaggebenden sozialen Konflikte zerrissen.