Volker Bruck - Katharina Johanson - E-Book

Volker Bruck E-Book

Katharina Johanson

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Beschreibung

Das Jahr 1991 war eins der denkwürdigsten in der deutschen Geschichte. Die Währungsunion war vollzogen, die deutsche Einheit herge-stellt. Die Menschen in Ost und West wollten oder mussten mit veränderten Verhältnissen fertig werden, auch irgendwie miteinander auskommen lernen. Jenseits der großen Politik nahmen sie ihr Schicksal begeistert oder gedrungen an. Raushalten konnte sich niemand. Mit gutem Willen gehen die Protagonisten der vorliegenden Geschichte an ihr Werk. Allerdings sorgen die sich aus oberflächlichen Urteilen und Halbwahrheiten zusammensetzenden subjektiven Befindlichkeiten hier und dort für Verwirrung, an denen die Gemeinschaft zu zerbrechen droht und das hohe Ziel, sich zusammenzuraufen, zeitweilig in unerreichbare Ferne rückt.

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Katharina Johanson

Volker Bruck

oder Die Reise in den Osten

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. März 1991

2. März 1991

3. März 1991

4. März 1991

5. März 1991

6. März 1991

7. März 1991

8. März 1991

9. März 1991

10. März 1991

11. März 1991

12. März 1991

13. März 1991

14. März 1991

Impressum neobooks

Prolog

Volker Bruck und Maria saßen sich am Küchentisch gegenüber. Sie plauderte während des Essens ungezwungen. Er aß schweigend und hörte mit halbem Ohr zu. Ab und an hob Maria die Stimme. Mit „Haben Sie gehört?“ oder „Ist doch wahr!“ versicherte sie sich seiner Aufmerksamkeit. Gewohnheitsmäßig quittierte Bruck an dieser Stelle mit „Aber ja“ oder „Ist ja interessant“, obwohl er wenig Anteil nahm. Die Mahlzeit dehnte sich in die Länge. Den Mann und die Frau drängten nichts und niemand.

Bruck schaute auf den Kalender am Schrank. Es war der 4. September 1990. Seit Monaten wartete Maria mit Episoden über die Entwicklung im Osten auf. Bruck reagierte mürrisch. Was gingen ihn die dortigen Ereignisse an? Ob die friedlich demonstrierten, irgendwelche Vereinbarungen trafen oder sich die Köpfe einschlugen, war ihm gleichgültig. Man lebte hier in München, hatte sich eingerichtet. Man lebte gut. Das Kapitel Osten war für ihn seit Jahrzehnten abgeschlossen. Bruck knurrte: „Lassen Sie doch bitte die Politik und den Osten sowieso.“ Maria schwieg pikiert, um wenig später unbekümmert auf ein anderes Thema einzugehen. Sie wollte ihn nicht verärgern. Sie kannte ihn gut und schätze seine ansonsten so friedfertige Art.

Des Mannes heutige Einstellungen resultierten aus seinem Lebensüberdruss, ja einer sich allmählich eingeschlichenen Müdigkeit. Der jetzt fast Fünfzigjährige war auch in jungen Jahren niemals drängend oder stürmisch gewesen. Er neigte eher zu Zurückhaltung und Bedachtsamkeit. Er fühlte sich nie berufen, die Welt zu verändern. Er lobte sich die bescheidene Karriere eines Kunsthistorikers, strebte selbst im universitären Alltag niemals die hohen Ziele einer ordentlichen Professur an. Er mochte nicht im Rampenlicht stehen. Er blieb nach seiner Promotion Privatdozent. Ihm genügten seine Forschungen, gelegentliche Veröffentlichungen und die Arbeit mit wenigen, sehr begabten Studenten. Er richtete sich maßvoll, anspruchslos in der Mitte der Gesellschaft ein. Gerade diese Bescheidenheit beförderte seinen stetigen beruflichen Aufstieg und seine Beliebtheit im Umfeld. Da hätte er sich glücklich schätzen können. Allein, es war ihm nicht vergönnt, seinen kleinen Traum vom Glück fest- und lebendig zu erhalten. Das machte ihn schwermütig.

Brucks Traum vom Glück war die junge, schöne Helena gewesen. Helena hatte bei ihm einige Semester Kunstgeschichte des frühen, abendländischen Mittelalters belegt, sich nicht nur als ausgesprochen talentiert für das Fach, sondern sich gleichfalls als sensibel für die Forschungsintentionen ihres Lehrers erwiesen. So kam es zu gemeinsamen Arbeiten, über diese zu intimer Vertrautheit und schließlich gingen sie den Bund fürs Leben ein. Die Vermählten hatten niemals materielle Sorgen. Sie schöpfte aus einer reichen Erbschaft, er aus den gut fließenden Tantiemen seiner Veröffentlichungen. Da leisteten sich die jungen Brucks das schöne Haus, beschäftigten ein paar Dienstleute, unternahmen Reisen, betrieben ihre wissenschaftliche Arbeit, pflegten einen auserwählten Freundeskreis. Bis zu dem Unglück! Helena starb an einem Fieber. Der Bund hatte gerade mal zehn Jahre Bestand gehabt. Bruck blieb verzweifelt und resigniert zurück.

Nach Helenas Tod entließ Bruck den Gärtner und den Hausmeister mit der Begründung, man könne Dienstleistungen preiswert extern einkaufen. Nicht notwendige Sparsamkeit trieb den Witwer an, sondern der Wunsch nach völliger Ruhe. Helenas Räume durften nicht verändert werden, Altäre mit Porträts der geliebten Frau, mit Blumenschmuck und mit Kerzen wurden errichtet, Erinnerung und Trauer nahmen den Mann vollständig ein. Seine Haushaltshilfe Maria fortzuschicken, dazu kam er nicht, denn sie sah deutlich, wie sehr er im Begriff war, dieses Haus in ein Mausoleum zu verwandeln und sich selbst zu zerstören. Sie drängte sich dem Hausherrn förmlich auf. Sie riss konventionelle Schranken nieder und wendete sich ihm wie eine Mutter ihrem unmündigen Sohn zu: bestimmend und lebensbejahend. Brucks Lebensquell sprudelte neu, nun ja nicht gerade üppig, aber immerhin soweit, dass er seiner Biografie einige gute Schaffensjahre anfügen konnte.

Diese Gedanken ließ Bruck Revue passieren, während sie speisten. Maria war heute für ihn weniger Hausangestellte als viel mehr Vertraute, auch wenn eine imaginäre Grenze immer bestand. Diese Grenze war kaum räumlich auszumachen. Sie war durch die unterschiedlichen Lebenssphären der beiden bedingt. Bruck glaubte zu wissen, dass sie nur dem Haushalt und ihren flüchtigen Unterhaltungen lebt, während er selbst sich tiefschürfenden wissenschaftlichen Analysen hingab.

Kürzlich kam Maria mit folgender Neuigkeit: „Ich habe gelesen.“ Aha, wieder eins ihrer bunten Blättchen, vermerkte Bruck amüsiert und hörte weiter: „Ich las also, dass im Kaukasus Leute mit hundertzehn und noch älter leben. Wie kommt das?“, mit Seitenblick versicherte sie sich seiner Aufmerksamkeit, „die Kaukasier trinken täglich ihren Wodka, die Engländer ihren Whisky und die Franzosen ihren Rotwein.“ Bruck war da im Zweifel. Er sagte nichts. Maria ergänzte nunmehr jeden Tag das Mittagessen mit einem Glas Rotwein. Er rührte den Wein nicht an.

Maria hob demonstrativ ihr Glas in Brucks Nähe, prostete ihm zu und trank von dem schweren, roten Traubensaft. Ihr Mitteilungsbedürfnis wurde inzwischen vom gefüllten Magen gedämpft. Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. Bruck nahm dies als Aufforderung, sich zurückzuziehen. Er erhob sich, schob seine Brille zurecht, dankte und verabschiedete sich in die Bibliothek. Maria räumte das Geschirr in die Spüle, goss den vom Tischgenossen unberührten Wein zurück in die Karaffe. Sie überwand ihre Müdigkeit, nahm die Putzmittel zur Hand, stieg die Treppe hoch und begann im letzten Zimmer die Fenster zu polieren.

Soeben hatte Bruck sich an seinem Schreibtisch in der Bibliothek niederlassen wollen, als draußen heftig geschellt wurde. Bruck lauschte. Würde die Maria öffnen gehen? Sie schien nicht gehört zu haben. Bruck bemühte sich selbst. In der Tür stand ein Fremder und forderte: „Lass mich gefälligst rein!“ Bruck gab perplex den Weg in die geräumige Diele frei. Der Fremde trat ein. Die Männer schauten sich forschend an, der eine unsicher, der andere lauernd. Da breitete der Ankömmling die Arme aus und sagte: „Lass Dich ans Herz drücken, Bruder.“ Der kleine, graue Bruck fühlte sich an eine muskulöse Brust herangezogen, von kräftigen Armen umschlungen und von derben Händen getätschelt. Erst jetzt realisierte er: Das ist Peter! Das ist mein Bruder Peter. Den hatte Bruck vor mehr als dreißig Jahren das letzte Mal gesehen, und damals war Peter noch ein Kind gewesen. Was will der denn hier?

„Nun, dann komm rein“, lud Volker Bruck den Bruder ein, eilte voraus zur Bibliothek und bot Platz an. „Was führt Dich in mein bescheidenes Heim?“, überbrückte Volker seine Verlegenheit. „Bescheiden?“, höhnte Peter, ließ sich schwer in den großen Sessel einer Sitzgruppe fallen und stellte mit ausholender Geste fest: „Wenn Du das hier bescheiden nennst, dann muss ich ja der ärmste Bettel sein.“ Der Hausherr, unschlüssig rumstehend, stammelte fassungslos: „Also, was führt Dich zu mir?“ Gezwungen setzte er hinzu: „Und sei mir willkommen.“ - „Prima“, kommentierte Peter die Höflichkeit, „so soll’s gehen! - Frag‘ nach meinem Pläsier. Aber vorher einen Drink, bitte.“ Er lümmelte im Sessel. Volker ging zur kleinen Bar, entnahm ihr ein Glas und eine Flasche Cognac. Seine Hände zitterten und waren nur mühsam zu beherrschen. Er bediente den Bruder und stellte die Flasche wieder zurück. Peter heftig: „Lass die Flasche hier!“ Volker gehorchte, setzte sich dem Bruder gegenüber, rückte die Brille zurecht und wartete auf einen neuen Anfang.

Peter lehrte das Glas gierig, goss sich nach und holte dann aus: „Ich will’s kurz machen: Unsere Leute sind reene verrückt geworden. Jahrelang haben wir ihnen den Himmel auf Erden nicht nur versprochen, sondern auch hingebastelt. Dann kommt der Kohl, verspricht blühende Landschaften, und alles geht den Bach runter ...“ Volker hatte sich inzwischen gefasst und dachte: Ist ja irre! Der Maria verbiete ich über diese ganze Ostpolitik zu reden, ich will nicht behelligt werden, da fällt dieser Kerl über mich her. Ich setze ihn in mein Haus, biete zu Trinken an, höre zu, statt ihm gleich an der Tür den rechten Weg zu weisen. Ist ja irre!

Bruck musste zuhören. „Für mich sieht es jetzt ganz blöd aus“, erklärte Peter, „ich bin jetzt sozusagen der Verlierer, wenn nicht ein Verfolgter, wenn man so will. Aber soweit lasse ich es nicht kommen. Ich bin weg.“ Er legte eine Pause in seine Rede, schaukelte die goldgelbe Flüssigkeit im Glas und gab dem Bruder Zeit zum Nachdenken. Der erinnerte sich: Der Peter, drei Jahre jünger als ich, hatte sich zum Landwirt ausbilden lassen und war dann zur Armee gegangen. Mehr wusste Volker nicht und mehr wollte auch gar nicht wissen.

Peter kippte das Getränk runter, goss sich erneut das Glas voll und nahm den Faden wieder auf: „Da also die Siegerjustiz jetzt über unser Wohl und Wehe entscheidet, mein Lieber, suche ich das Weite. Und jetzt kommst Du ins Spiel: Da Du Dir jahrelang einen schönen Tag gemacht hast. Und ich betone: Dich verdrückt hast! -“ Volker hob abwehrend die schmalen Hände. Peter bekräftige: „Ja, verdrückt hast! - Jetzt bist Du also dran, Dich um Mutter und Vater zu kümmern.“ Volker Bruck saß wie mit einer Keule erschlagen im Sessel und hatte keinen Plan.

Was soll das? Seine Gedanken irrten ab und noch ehe er etwas erwidern konnte, erhob sich der ihn um Haupteslänge überragende Peter, legte ein paar Zettel auf den Tisch und befahl: „Hier zur Auffrischung: Adresse, Telefonnummer und paar Daten, die Du brauchen könntest. Sieh‘ zu, dass Du den alten Herrschaften unter die Arme greifst!“ Schließlich log er: „Und glaube ja nicht, ich würde das nicht aus der Ferne überwachen können. Ich bin stets gut informiert und weiß Dich zu stellen.“ Volker Bruck blieb wie angewurzelt im Sessel sitzen. Peter Bruck verschwand wie von Geisterhand.

Der Mann saß noch immer unverwandt vor sich hin starrend im Sessel, als die Maria gegen Abend in die Bibliothek lugte, um ihm zu bestellen, dass das Essen aufgetragen sei. „Um Himmels Willen, was ist Ihnen denn geschehen?“, barmte Maria, schlug die Hände vorm Gesicht zusammen, eilte hinaus, kam mit einem kalt gewässerten Tuch und einem Glas Tee zurück. Vorsichtig balancierte sie die belebenden Mittel auf einem Tablett, stellte alles ab, befeuchtete Schläfen und Wangen des Mannes, und riet, langsam ein paar Schlucke Tee zu sich zu nehmen. Bruck erwachte aus seiner Erstarrung. „Es geht schon“, versicherte er der sorgenvoll bemühten Maria. Die fragte wieder: „Um Himmels Willen, was ist denn geschehen? Sie sehen aus, als wäre Ihnen der Leibhaftige erschienen.“ - „Ist er auch“, erklärte Bruck trocken, erhob sich und folgte der Frau in die Küche.

Maria bereitete dem schweigend am Tisch hockenden Bruck ein Abendbrot aus mundgerechten Häppchen und wies streng an: „Es wird gegessen, Herr Doktor! Das fangen wir gar nicht erst wieder an.“ Volker Bruck würgte brav an den Happen. Mit Tee spülte er nach. Ist ja irre, resümierte er immer neu und wälzte seine Gedanken. Es lag ihm völlig fern, der Aufforderung des Bruders nachzukommen. Das zog er gar nicht in Betracht. Auch Drohungen konnten ihn nicht erschrecken. Brucks Ratlosigkeit und Betroffenheit resultierten allein aus der überwältigenden Macht, die von dem Bruder ausging. Binnen des Bruchteils einer Sekunde, hatte der andere ihn nachhaltig völlig aus der Bahn geworfen. Der mühsam über Jahre geschaffene Schutzwall war gebrochen.

„Was ist passiert?“, kam Maria unerbittlich auf ihre Frage zurück. Bruck gab betonungslos Auskunft: „Mein Bruder war da. Ich soll mich um die Eltern kümmern.“ Die Frau kannte seine Geschichte und ahnte, was in ihm vorging. Sie ließ ihm Zeit. Mochte er nachdenken. Er folgte ergeben den sich unweigerlich einstellenden Erinnerungen.

Volker Bruck war in dem kleinen Ort Kerkow bei Berlin aufgewachsen. Zur Familie gehörten Vater, Mutter und Bruder Peter. Sie lebten von Landwirtschaft. Die Knaben wuchsen heran, besuchten die Schule, hatten Spielkameraden und ihre Hobbys. Die Welt war in Ordnung. Während der jüngste Sohn, der Peter, von Anbeginn eine große Affinität zur Arbeit auf dem Feld und im Stall hatte, war Volker eher den schönen Künsten zugetan. Er betätigte sich in einer Arbeitsgemeinschaft schreibender Pioniere, spann sich kleine Märchen aus, gewann auch Preise mit seiner Kunst, er malte und er las kunsttheoretische Abhandlungen. Volker war so gar nicht Bauer und wollte auch nie Bauer werden. Er erfüllte seine Pflichten im Haus und auf dem Hof so gut wie möglich und halbherzig. Die Eltern waren stolz auf die außergewöhnliche, feinsinnige, intellektuelle Begabung ihres Sohnes, ließen ihm so manche Nachlässigkeit bei der praktischen Arbeit durchgehen. Der Bruder nörgelte an Volker herum und machte dessen Ungeschicklichkeit zum Ziel von Spott und Hohn. Die Brüder lebten sich auseinander und gingen getrennte Wege.

Volkers schulische Leistungen vermittelten ihm ein hohes Ansehen zu Hause, bei den Nachbarn, bei den Klassenkameraden und den Lehrern. Volker war was Besonderes. Er legte die Hochschulreife ab, und durfte dann doch sein Lieblingsfach, die Kunstgeschichte, nicht studieren. Ein Bruck müsse Landwirt werden, wurde ihm beschieden. Für ihn brach eine Welt zusammen. Sollte er ein Leben lang Erde schaufeln, Kuhställe ausmisten, Trecker fahren, eine Arbeit verrichten, die er weder beherrschte noch mochte? Da bot sich ihm ein Schlupfloch aus der Misere an: Schon lange hatte Volker eine freundschaftliche Beziehung zum Pfarrer des Ortes, dem alten Herrn Günzel. Als der das Unmögliche wahrnahm, wie hier eine erfolgversprechende Karriere verbaut werden sollte, engagierte sich der Mann und brachte den jungen Bruck in München an der hiesigen Universität unter. Das war im Herbst des Jahres 1960. Nicht für alle Zeit sollte Volker in den Westen gehen, sondern sich Qualifikation und Ruf erwerben und dann nach Hause zurückkehren. So war es eingefädelt und ging zunächst auch auf. Die Eltern berichteten den Nachbarn stolz von ihrem begabten Sohn, zeigten dessen Briefe herum, erzählten von den Telefonaten, man ließ Liebesgaben hin und her gehen, und die Leute bewunderten den hoffnungsvollen Spross der Bruck-Familie. Eines Tages knirschte es im Gebälk. Volker war vor die Wahl gestellt: Hals über Kopf die Koffer packen und heimfahren, um die Familie zu kitten, oder sich hier einrichten. Ohne Promotion wäre er daheim ein Blatt im Wind. Dazu kam die Frage: Wovon sollte er leben? Kuhställe ausmisten und Trecker fahren? Er blieb hier. Abbruch aller Kontakte. Keine Lebenszeichen mehr. Er richtete sich in der neuen Heimat ein. Er durchlebte Jahre schweren Heimwehs und klammerte sich an die letzten Worte der Mutter: „Versuche in der Fremde unterzukommen, mein Junge. Hier haben wir kein Glück gehabt.“ Diese Worte waren für ihn Rechtfertigung seines Handelns und Auftrag zugleich.

„Eine gewissen Bequemlichkeit hat zur Entscheidung wohl auch beigetragen?“, sagte Maria. Er stutzte ob der Punktlandung. Maria hatte ein bewundernswertes, sehr feines Gespür für sein Befinden. „Mag sein“, gab Volker Bruck zu und bekräftigte: „Inzwischen hatte ich hier alles und dort nichts. Bedenken Sie, Maria, die anderen haben mich ausgestoßen. Ich war es nicht.“

Die Frau kannte seine Argumente. Widerspruch regte sich. Sie wollte ihn nicht brüskieren und dachte sich ihren Teil:

Volker Bruck ist ein Schwächling. Er meidet jeden Kampf. Was als Zurückhaltung und Höflichkeit bei den Leuten gut ankommt, kann man auch als Bequemlichkeit verstehen. Ich will dem Bruck nicht unrecht tun, meinte die Frau bei sich, aber der strotzt nur so vor Bequemlichkeit. Vielleicht hat er einfach zu früh aufgegeben und jetzt holt ihn die Geschichte ein.

Aufmerksam beobachtete sie, was und wie viel der Mann aß. Als sie sicher war, es genüge für heute, räumte sie den Tisch ab. Bruck stand auf, dankte und verabschiedete sich zur Nacht. Er stand schon in der Küchentür, da fragte Maria: „Und was werden Sie nun tun, Herr Doktor?“ - „Wahrscheinlich nichts“, antwortete er. Maria missbilligend: „Wie immer.“ Darauf reagierte er nicht mehr. Den Einwand schob er weg. Er ging in sein Schlafzimmer. Maria beschloss, der Sache eine zuträgliche Wendung zu geben. Auch dem Volker Bruck war tief im Innern schon klar, dass dies nicht das letzte Wort war.

Am nächsten Morgen traf er in der Küche auf eine völlig veränderte Situation. Der Tisch war nur für eine Person gedeckt. Bruck schaute sich um. Maria war weder zu sehen noch zu hören. Stattdessen fand er einen Zettel neben seiner Tasse: „Ich putze in den hinteren Räumen. Nicht vergessen: Die Mutter anrufen! Gruß Maria.“ Diese Einmischung in seine Angelegenheiten stieß dem Bruck gallig auf.

Seine gewohnte Ordnung war empfindlich gestört. Er verzichtete auf das Frühstück und setzte sich in die Bibliothek. Das Telefon schwieg. Bruck schwieg auch. Maria sich ließ den ganzen Tag nicht blicken. Zum Mittag und zum Abendessen die gleiche Szene. Er aß widerwillig und wurde nervös. Sein häuslicher Friede geriet ins Wanken. Nach dem Abendbrot strich er durch die Räume und suchte die Frau. In der kleinen Einliegerwohnung, die ehemals der Hausmeister bewohnt hatte, fand er Maria.

Sie hatte es sich bequem gemacht. Sie strickte an einem bunten Stück. Im Fernseher lief leise eine Unterhaltungssendung. Bruck schaute sich um: Sie hat offenbar ihr Zimmer im Vorderhaus geräumt. „Was soll das?“, brach es heftig aus ihm heraus. Maria gelassen: „Ich wohne, wie es mir passt und wie es mir zukommt.“ - „Was ist denn los?“, fragte der Hausherr um Nuancen milder. Maria deutete einladend auf die Couch. Er nahm Platz und hörte nun:

„Ich habe mir mein Leben auch anders vorgestellt, als anderen Leuten den Dreck nachzuräumen.“ - „Das habe ich doch nie verlangt“, rechtfertigte sich Bruck und sah gleich ein, wie unüberlegt der Einwand war.

Na klar, am Anfang, als seine Frau ihren Stab an Dienstleuten hier einführte, war es ihm schon unangenehm aufgestoßen, sich bedienen zu lassen. Es war ihm peinlich, dass andere seine persönlichen Sachen pflegten und aufbereiteten. Helena fand das durchaus legitim. Sie war es nicht anders gewöhnt und redete ihrem Mann ein: „Wir können unsere Zeit nutzbringender anwenden, als uns um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Und denk mal, wovon soll denn der Hausmeister leben, wenn Du an seiner statt, die Wiese harkst oder die Wasserleitung reparierst? Diese Leute haben doch auch eine Daseinsberechtigung.“ Solche Erklärungen und sein beruflicher Erfolg gaben der Kräftekonstellation schließlich recht, bis er eines Tages nicht mal mehr darüber nachdachte, seine eigene Kaffeetasse in der Spüle abzustellen. Aber er hatte seine Maria doch immer gut behandelt, besonders in den letzten Jahren. Worauf lief ihre Betrachtung hinaus?

„Meine Intention war wie die Ihre, eine gepflegte Akademikerlaufbahn hinzulegen und mich gemütlich zwischen Büchern und Vorträgen einzurichten. Ich hatte ähnliche Träume wie Sie. In der Schule bekam ich überall otlichno. Wir hatten zu Hause mehr Bücher über Geschichte, als manchmal Schuhe für den Winter oder so. Ich hatte sogar schon ein paar Artikel über Heimatgeschichte nach Moskau eingesandt. Die Antwort stand noch aus, als die Deutschen über uns herfielen und mich wegholten ...“ Immer die gleichen Geschichten, vermerkte der Mann widerwillig und unterdrückte mühsam Einspruch. Er wusste, dass Maria in jungen Jahren in der Ukraine eingefangen und nach Deutschland zur Arbeit zwangsverpflichtet worden war. Doch was hatte das mit ihm zu tun?

Maria referierte weiter: „Im fünfundvierziger Jahr war endlich Frieden. Ich konnte heimkehren. Aber wohin? Dort, wo ich früher lebte, war nichts mehr. Kein Mensch, kein Haus, kein Baum, nichts. Wissen Sie, was verbrannte Erde ist?“ Bruck schüttelte den Kopf. Maria vorwurfsvoll: „Dacht‘ ich mir. Nichts von dem, was an die hundert Kilometer jenseits der Isar geschieht oder geschehen ist, interessiert sie auch nur ein Gran.“ - „Das hat seine Gründe. Ich bin enttäuscht worden“, quälte er sich ab. Maria: „Mann kann doch seine Enttäuschungen nicht ein Leben lang mit sich rumschleppen. Man muss doch verzeihen können.“ Er starrte missmutig vor sich hin. Sie nahm ihren Faden wieder auf:

„Fünfundvierzig war ich siebzehn, viel zu jung, um alles zu überschauen. Eins war jedoch klar, auf verbrannter Erde neu anfangen, das konnte ich nicht. Ein Fehler? Vielleicht. Durch den Suchdienst hörte ich auch noch, dass kein Verwandter den Krieg überlebt hatte. Und hier, wenn auch alles Mögliche kaputt war, hier jedenfalls konnte man leben. Ich blieb und mit mir der Traum vom Studium der Historie. Aber wissen Sie, was man für Bildungschancen hat, wenn man die Landessprache nicht beherrscht und kein Geld hat?“ - „Kann es mir denken“, pflichtete Bruck bei.

Sie fuhr fort: „Aber ich bekam meine Chance. Ich büffelte deutsch, machte meine Qualifikation als Hauswirtschafterin, ich verdiente Geld, das Geld investierte ich in Bücher und von da an war ich zwar keine Akademikerin, aber als Heimatforscherin bekam ich Zuspruch.“ Sie stand auf, nahm aus einem Schrankfach einen Hefter und zeigte Handschriftliches und Gedrucktes vor.

Bruck hatte Maria völlig verkannt. Es wohnen ja zwei Seelen in der Brust dieser Frau! Maria erläuterte dies und jenes. Er kam aus dem Staunen nicht heraus: Seine Haushälterin war Referentin auf den Heimatabenden der ukrainischen Landsmannschaft? Nervös schob Bruck die Brille zurecht. Maria ging auf dessen Verunsicherung ein: „Lieber Herr Doktor, wir sind alle nicht das, was wir scheinen oder vorgeben zu sein.“

Sie strahlte den Bruck an. Der stammelte ob der Wendung dumm: „Und nun?“ - „Was, nun?“, äffte Maria, mäßigte sich und redete gewinnend: „Das erzähle ich Ihnen doch nicht, um vor Ihnen anzugeben, sondern um zu zeigen, dass man manchmal Umwege gehen muss, weil die Umstände es verlangen. Und ich möchte von Ihnen ernst genommen werden! Es wird einem doch niemals alles auf dem Silbertablett geliefert.“ Bruck stöhnte auf: „Als hätte ich es immer nur leicht gehabt.“ - „Ich respektiere Ihre Bemühungen. Nur jetzt betreiben Sie so eine Art Vogel-Strauß-Politik. Damit schaden Sie sich und schaden Ihrer Familie.“ Maria hob die Stimme: „Ihre Familie wartet!“

„Ja, klar“, warf Bruck hin und fragte unbeholfen: „Wann ziehen Sie wieder nach vorne um?“ - „Wenn Sie die Mutter angerufen haben“, sprach sie energisch.

Das Telefonat mit der Mutter verlief einsilbig: „Wie geht es?“ - „Gut.“ - „Was macht der Vater?“ - „Ist alt geworden.“ - „Kommt Ihr zurecht? - „Geht schon.“ Volker Bruck plagte sich durch ein paar Minuten nichtssagender Floskeln, verabschiedete sich höflich und legte auf. Sein Resümee: Mutter und Sohn konnten nichts mehr miteinander anfangen. Die Trennung war absolut.

Allein, Maria zog auch als Bruck mit der Mutter telefoniert hatte, nicht wieder in ihre alte Stube zurück. Ihr war in den letzten paar Tagen aufgegangen, dass sie älter wird und mit ihren Kräften haushalten muss. Ein geregelter Arbeitstag, abendlich ein paar Stunden Ruhe, arbeitsfreie Wochenenden waren so wohltuend nach den langen Jahren unermüdlichen Schaffens. Mit Genugtuung genoss die Frau das erste Mal die Behaglichkeit einer eigenen, abschließbaren Wohnung. Soweit Maria zurückdachte, hatte sie doch immer in einer Art permanenter Ruf- und Dienstbereitschaft mit ihren Herrschaften gelebt. Das brachte mit sich, dass Maria alle persönlichen Angelegenheiten unterbrach, weglegte, auf später verschob, sobald einer der Herrschaften, das Wort an sie richtete. Ohne Zweifel waren die Brucks großzügig, gaben gerade der Maria mit zahlreichen Aufmerksamkeiten das Gefühl eine Schlüsselstellung inne zu haben. Eine Schlüsselstellung, die zwar hoch gelobt wurde, jedoch schließlich darin bestand, morgens als erste und abends als letzte auf den Beinen zu sein. Maria war im Haus niemals ihr eigener Herr gewesen. Das gute Gefühl von Selbstbestimmung wuchs ihr jetzt spontan in der kleinen Einliegerwohnung zu und sie fasste den Plan, die Sache auf solide Beine zu stellen.

Bruck rief wiederholt bei der Mutter an. Das Weitere war genauso unergiebig wie das Vorige. Er verblieb mit der Mutter, sie möge sich melden, wenn er gebraucht werde, und war sich sicher: Da kommt nichts mehr.

Eines Tages hielt Maria dem Bruck ein Papier hin und verlangte fest: „Unterschreiben, bitte!“

Bruck las und glaubte nicht, was da stand. Maria mutete ihm tatsächlich zu, einen ordinären Arbeitsvertrag mit ihr abzuschließen. Mehr noch: Ein zweites Papier, welches ihm Maria jetzt zuschob, sollte die Frau auf Lebenszeit ermächtigen, die Einliegerwohnung zu einer festen Miete zu nutzen. „Was habe ich Ihnen getan?“, brüllte der Mann fassungslos und fegte die Papiere auf den Boden. Maria redete unbeeindruckt sachlich: „Herr Bruck, Sie sind es gewohnt, die Dinge so laufen zu lassen, wie sie eben laufen. Und genau das geht so nicht!“ Bruck erwiderte bestürzt: „Es war doch alles gut so.“ - „Nein, es war nicht gut!“, setzte Maria dagegen und stellte das Ultimatum: „Entweder Sie unterschreiben oder ich bin weg!“

Bruck unterschrieb. Was sollte er denn machen? Er war auf Maria angewiesen und in gewisser Weise hing er auch emotional an ihr. Er hatte keine Alternative.

Maria richtete sich in ihrer Wohnung ein, trällerte über den Tag, stellte Blumen ans Fenster, kochte für sich in der eigenen Küche, sortierte ihre Bücher ins eigene Regal, und beendete nach acht Stunden ihre Arbeit im bruckschen Haus. Sie hielten keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr ab. Maria war für Gespräche nicht mehr zu haben. Wenn Bruck mit der Absicht, das strenge Reglement aufzuweichen, leutselig auf sie zukam, wich Maria mit der Begründung aus, sie wolle die wertvolle Arbeitszeit nicht verschleudern. Distanziert fügte sie hinzu: „Zeit ist Geld. Es ist schließlich auch Ihr Geld, Chef!“

Volker Bruck sank ins Bodenlose. Seine Welt löste sich auf. Mit Mühe erledigte er seine beruflichen Aufgaben, aber auch das lieblos, ohne Schwung.

So vergingen Wochen. Das neue Jahr kam. Bruck begrüßte das Jahr 1991 mutlos und traurig. Er prostete sich selber zu und verfluchte sein missgestaltetes Leben.

Eines Mittags, Ende Februar erschien Maria in der Bibliothek. Der einsame Mann war froh, als er sie sah. Nahm sie sich Zeit für ein Gespräch? Maria setzte sich in einen Besuchersessel und begann generös: „Ich mache gerade Pause, die soll heute Ihnen gehören, lieber Bruck.“ Bruck erhob sich, ging diensteifrig zur Hausbar und nahm eine Flasche roten Weines heraus. Maria herrschte ihn an: „Das sollten Sie mal schön bleiben lassen!“ Bruck ließ die Flasche stehen und setzte sich der Frau gegenüber.

„Nun, wie fühlen Sie sich?“, examinierte die Haushälterin ihren Dienstherren. „Schlecht“, gab der zu, „ich kann das gar mit Worten beschreiben.“ - „Versuchen Sie es, bitte“, verlangte Maria sehr lieb. Bruck war den Tränen nahe. Er schob seine Brille zurecht. Die warme Stimme, die Mütterlichkeit, die Fürsorge lockerten ihm die Zunge und er sagte: „Mir ist, als wäre mein Leben im Strudel, immer abwärts, nichts regelt sich, alles entgleitet mir.“ Er weinte.

Maria nahm seinen Kopf zwischen ihre breiten, abgearbeiteten Hände, tupfte die Tränen fort und sprach behutsam: „Lieber Bruck, wenn alles über einem zusammenstürzt, nichts mehr gilt, was vordem gut und heilig war, dann brauchen wir am meisten einen Menschen an unserer Seite.“ Der verzweifelte Mann schaute hoffnungsvoll. Maria ließ seinen Kopf los und belehrte: „Man kann so tief unten sein, dass man Worte nicht mehr findet. Ihre Mutter schweigt. Warum denn?“ - „Wir haben uns nichts mehr zu sagen“, stammelte Volker Bruck, „was soll ich denn machen?“

Die Frau bestimmte: „Ganz einfach. Sie nehmen ein paar Tage Urlaub und fahren hin.“ Er schüttelte den Kopf. „Doch, doch“, erklärte Maria freimütig, „das geht gut. Sehen Sie, ein Historiker recherchiert doch immer am besten vor Ort.“

Die Haushälterin schaute demonstrativ auf die Uhr. „Meine Pause ist zu Ende. Ich habe zu tun.“ Sie verließ die Bibliothek. Bruck blieb zurück. Es lag ihm nicht, einer verlorenen Sache nachzulaufen. Allerdings gestand er zu, dass Maria recht haben konnte. Was verlor er denn, wenn er zur Mutter fuhr? Der Mann raffte sich auf.

Er regelte seine beruflichen Belange, packte eigenhändig seinen Koffer, informierte sich über die Bahnverbindung von München nach Kerkow bei Berlin. Als alles erledigt war, wählte er die bekannte Nummer und hatte die Mutter am Apparat. „Junge, Du?“, Pause, „Wie geht es Dir?“, Pause, Volker Bruck sagte: „Ich komme am Freitag, den ersten Dritten, gegen zwanzig Uhr bei Euch an.“ - „Dann ist ja gut“, hörte er und spürte Erleichterung.

1. März 1991

Auf der Zugfahrt zwischen München und Berlin überkam den Volker Bruck eine nicht zu unterdrückende Unruhe. Was wird, wenn sie mich gar nicht sehen wollen? Ein weitere Enttäuschung würde er nicht verkraften. Noch besser, hielt er sich mit grimmigem Humor vor, wenn sie mich auf der Straße stehen lassen, und ich nächtens gottverlassen in der Gegend herumirre und nichts mit mir anzufangen weiß. Was dann? Je weiter er sich von der Heimat entfernte, umso klarer wurde ihm die Abenteuerlichkeit seiner Unternehmung. Er sagte sich: In gewisser Weise flüchte ich vor Maria und dränge mich Leuten auf, die nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Dass er ein lädiertes Nervenkostüm hatte, fiel ihm gar nicht ein.

Da war die Ruhe, die den Mann umgab, als er in Kerkow aus der S-Bahn stieg, eine wahre Wohltat. Bruck schaute sich um. Der alte Bahnhof, von wenigen Lampen sparsam beleuchtet, löchriges Mauerwerk, ein schief hängendes, blechernes Ortsschild, darunter eine verwitterte Holzbank, alles ganz genauso, wie er es erinnerte, nur eben viel, viel älter. Der Zug fuhr mit leisem Summen aus der Station, der Bahnaufseher steckte den Fahrtrichtungsanzeiger zurecht und verschwand in seiner Bude. Volker Bruck war allein. Leicht ging der Abendwind, ein blasser Mond schob sich durch die Wolken, der würzige Duft aufbrechender Erde verbreitete sich. Bruck stieg die hohe Bahnhofstreppe hinab, bog links in die Bahnhofsstraße ein und lief seinen Weg zum Dorf. Die Straße lag grauschwarz vor ihm, der Mann folgte diesem Band, rechts und links wusste er Wassergräben und Felder, ganz hinten sah man winzig klein das fahle Licht der Bauernhäuser.

Bruck stolperte. Der Koffer zerrte schmerzhaft am Handgelenk. Er fing sich und fluchte: „So was nennt sich Straße! Seit eh und je nichts verbessert.“ Dabei wusste er genau, dass die Kerkower Bauern sich immer sehr um diese Straße bemüht hatten. Schwere Regengüsse unterspülten permanent den dünnen Straßenbelag, im Winter sprengte das Eis in die wenigen ebenen Abschnitte erbarmungslos tiefe Löcher, und, was das Wetter nicht anrichtete, pflügten die schweren, von einem zum anderen Feld über wechselnden Landmaschinen um. In Gruppen zogen die Kerkower immer wieder hinaus um ihre Straße instand zu setzen. Diese einzige, lebenswichtige Verbindung zu den Nachbarorten und zum Bahnhof blieb Sorgenkind. Volker Bruck begnügte sich mit beißendem Zynismus: „Nun ja, es mag schon gut sein, dass es diesen Weg überhaupt noch gibt.“

Er wusste auch, dass dieses Band zwischen Bahnhof und Ort zugleich Prozessionsstraße war. Auf dieser Straße begrüßten und bewunderten die Kerkower Bauern ihre ersten Traktoren und geleiteten sie feierlich ins Dorf. Volker war als Kind dabei gewesen, wie die russischen Zugmaschinen Einzug hielten und hatte wie alle anderen Kinder spontan beschlossen, Traktorist zu werden. Über die Bahnhofstraße wurde unter fröhlicher Begleitung von Jung und Alt die Rinderherde, die dann den Wohlstand der Genossenschaft begründete, nach Kerkow getrieben.

Ja, diese Straße hatte so einiges gesehen: Wenn die Kerkower ihr Soll ablieferten, zottelten die hochbeladenen Fuhrwerke Korn, Gemüse, Kartoffeln über diese Trasse zu den bereitstehenden Güterwagen. Zufrieden verfolgten die einen den Abtransport der Früchte ihrer Arbeit. Es war an ihnen, die Städter zu ernähren. Darauf waren sie stolz. Vereinzelte maulten herum, weil sie sich übervorteilt fühlten. Das Ablieferungsprozedere beschloss gewöhnlich ein Erntefest, bei dem sowohl die Zufriedenen als auch die Nörgler reichlich dem Freibier zusprachen und sich schließlich brüderlich in den Armen lagen. Bruck lief seinen Weg.

Er kam am westlichen Dorfrand an. Rechts lag die alte Schule. Ein kleines Licht markierte den Eingang. Neben der Schule erkannte Bruck wie ehedem die Gastwirtschaft. Über der Tür funzelte in müder Leuchtschrift das Wort „Hotel“. Volker Bruck konnte sich nicht vorstellen, dass in der schmierigen Spelunke jemals ein Reisender abgestiegen sein könnte. An das Hotel grenzte die Pfarrei. Einige Fenster glänzten einladend. Bruck erinnerte die von ihm häufig besuchte Bibliothek des Pfarrers, verweilte einen Moment träumend vor dem Grundstück und machte die Silhouette eines Menschen hinterm Vorhang aus. Gleich neben der Pfarrei befand sich die Kirche mit umliegendem Friedhof. Volker Bruck passierte diese wenigen Institute, die wie ein Vestibül dem eigentlichen Ort vorgelagert waren, und betrat die Kerkower Hauptstraße. Rechts und links flankierten Bauernhöfe den Weg. Kerkow war ein lang gestrecktes Straßendorf und praktisch unverändert seit der askanischen Gründung.

Die Höfe an der Hauptstraße gehörten samt und sonders dem Kerkower Uraltgeschlecht, Bauern, die seit Generationen hier lebten und schafften. Kaum einer von denen blickte nicht auf einen Stammbaum von hundert und mehr Jahren zurück, wobei hier und da sicher Informationen über Abstammung und Verzweigung verloren gegangen waren. Wo Informationen fehlen, werden Legenden gesponnen. Wer vorn an der Straße wohnte, hielt sich für was Besseres und bestimmte im Großen und Ganzen über weite Strecken die öffentliche Meinung von Kerkow. Volker Bruck spürte auch jetzt noch aufdringlich: Hier vorn wohnt die Autorität des Ortes.

Er bog auf der rechten Straßenseite in die zwischen zwei Altbauernhöfen eingefügte Gasse ein und betrat den schmalen Weg zur Neubauernsiedlung. Die war hinter den Höfen der Altbauern, sozusagen in zweiter Reihe, errichtet worden. Die Neubauern, Ausgewiesene aus Ostpreußen und ein paar Städter aus der damals zerstörten Metropole Berlin, hatten nach fünfundvierzig hier Land zum bewirtschaften erhalten und sich ihr Heim gebaut. Das Vaterhaus des Volker Bruck stand in der zweiten Reihe.

Als die Brucks sechsundvierzig nach Kerkow kamen, war Volker noch so klein gewesen, dass er der Anfänge nicht erinnerte. Allerdings war der Anfang wohl schwer gewesen, die Alten berichteten mitunter davon, dass ein regelrechter Krieg zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen entbrannt war. Doch mit den Jahren schliffen sich Ecken und Kanten ab und die Leute verbreiteten sich in wahren Heldensagen über den siegreichen, für alle zuträglichen Start in eine lichte Zukunft. So erzählte man es den Kindern, so nahmen es dann auch die Geschichtsbücher auf: Man versöhnte sich, stiftete Frieden, vergaß und wirtschaftete schließlich zum Wohlgefallen aller in einer großen Genossenschaft.

Allein, der alte Zwist erlosch nie gänzlich. Ab und an schossen Widersprüche wie die Lava aus einem ruhig geglaubten Vulkan hervor. Dann geriet einer der Leute ins Feuer und wenn er nicht verbrennen wollte, musste er bei Nacht und Nebel fliehen. War es Flucht gewesen?, fragte sich Volker Bruck. Nun ja, nicht gerade Flucht, schränkte er ein, aber man musste doch zumindest temporär raus aus diesem Wust an Streitereien, um nicht runtergezogen zu werden. Wollte man zurückkehren, wurde man von den eigenen Leuten ausgestoßen! Diese Erinnerung war bitter.

Volker Bruck fand sein Ziel. Sein Elternhaus war das fünfte Gehöft in einer schnurgeraden Reihe von Bauernhöfen. In dem Moment, als er die Hand zum Klingelknopf an der Pforte hob, verließ ihn der Mut. Er stand draußen und zauderte. Der Mond verschwand hinter den Wolken, der Wind wurde stärker, Regen kam auf. Umkehren war genauso unbehaglich wie sich melden. Er riss sich zusammen und drückte den kleinen Zylinder nieder.

An der Haustür flammte Licht auf, es wurde geöffnet, man rief: „Wer da?“. Dazu eine zweite Stimme: „Das wird der Volker sein.“ Der Mann durchschritt den Vorgarten, stieg ein paar Stufen hoch und ward augenblicklich im schmalen Hausflur von einer Menschenmenge umringt. Ihn drückten, küssten und tätschelten viele Leiber, Münder und Hände. Sie redeten auf ihn ein. Volker Bruck fühlte sich arg bedrängt. Allmählich unterschied er von erklärenden Worten begleitet: Die Schwägerin Karin, Nachbarn und Nachbars Kinder. Abseits, zusammengedrückt, klein und schrumpelig stand die Mutter. Sie hatte die Hände vor dem Gesicht und schluchzte. Volker drängelte sich durch den Menschenhaufen, legte der Mutter die Arme um die Schultern und tröstete, den Mund dicht an ihrem Ohr: „Ist ja gut. Jetzt bin ich ja da.“ Die Mutter belebte sich und ergriff Volkers Hand. Der schaute sich um. Wo ist der Vater? „Der Vater ist krank“, sagte sie leise. Die anderen nickten mitleidig.

Sie schoben ihn in die geräumige Wohnküche, nötigten ihn auf einen extra für ihn frei gehaltenen Stuhl und nahmen ihrerseits die angestammten Plätze wieder ein, um die soeben unterbrochene Mahlzeit fortzusetzen. Vor Volker wurde ein Gedeck hingestellt. Er solle sich bedienen, sagten sie ihm. Bruck überblickte den Raum. Es hatte sich nichts verändert, nur schien die Küche damals größer gewesen zu sein. Oder trügt der Schein, weil jetzt hier so viele Menschen dicht bei dicht um den mit Speisen und Getränken reich beladenen Tisch herum saßen? Alle langten gierig zu, aßen, kleckerten, schmatzten auch. Man ließ sich nicht stören, auferlegte sich keine Scheu. Nur Volker Bruck mochte keinen Bissen herunter bringen, und die Mutter saß, das Taschentuch immer wieder zu den Augen führend, still neben dem Sohn und konnte auch nichts essen.

Das Geklapper des Bestecks und die Kaugeräusche verebbten. Da griff einer zum Glas, hob es an und sprach feierlich: „Nun, lieber Volker, ich bin der Holger, wenn ich mich nochmal vorstellen darf.“ Der Mann erhob sich schwerfällig und fuhr fort: „Dann wollen wir Dich mal herzlich willkommen heißen. Prost, Leute!“ Die anderen Erwachsenen taten es dem Redner nach. Die Kinder leerten ihr Glas Limonade. Nur die Mutter und Volker blieben unbewegt. Schwägerin Karin stand diensteifrig auf, räumte den Tisch ab, begann geräuschvoll zu spülen. Die Kinder trollten sich. Die Erwachsenen rückten um Volker herum zusammen.

„Nu, erzähl ma‘! Wie war die Reise? Was machst Du so? Wie geht es Dir?“, eröffnete Holger leutselig den gemütlichen Teil des Abends. Volker wusste nicht, was er sagen sollte. Nervös nestelte er an seiner Brille. Höflich wäre es, ein bisschen was von sich zu erzählen und dann seinerseits freundliche Fragen zu stellen. Er fand keinen Anfang. Der fest im Raum stehende Geruch aus fettigem Fleisch und Alkohol machte den Mann schwindlig. Er schaute fragend in die rot geriebenen Augen seiner Mutter. Sie saß gebückt und klein neben ihm. Endlich sagte sie: „Kinder, der Junge wird müde sein. Ich schlage vor, wir vertagen uns.“

Unwillig brummend, maulend, was von „blöde gelaufen“ murmelnd, verdrückten sich die Gäste aus der Küche, riefen ihre Kinder im Haus zusammen, zogen Jacken über, schlüpften in Schuhe und die Haustür schlug zu. „Wirst müde sein“, wiederholte die Mutter in der eingetretenen Stille. Volker nickte.

Die Mutter voran stiegen sie die schmale Treppe zum Obergeschoss hinauf und nun redete sie aufgeregt: „Ich habe Dein Zimmer hergerichtet. Wirst alles wie früher vorfinden. Du sollst Dich wohl fühlen. Richte Dich bissel ein, und wenn Du noch was brauchst, ruf mich nur. Auch in der Nacht. Ich habe keinen festen Schlaf mehr.“ Sie standen sich in der Tür gegenüber. Da fragte der Sohn: „Und der Vater?“ - „Ach, Junge, das muss bis morgen Zeit haben. Schlaf gut.“

Die Alte entfernte sich. Volker lief ihr nach, nahm sie an der Treppe beim Arm und drang auf sie ein: „Mutter, sag doch, was ist mit Vater!“ Die Mutter seufzte auf, wollte nicht erzählen und berichtete dann in kurzen abgehackten Sätzen: „Vor einem halben Jahr, wie der Peter fortging, schlug es den Vater um. Nun liegt er im Pflegeheim und wartet auf den Tod. Ich mag ihn kaum besuchen, der Anblick ist schlimm, und sterben muss ja doch jeder für sich allein.“ Volker Bruck konnte es nicht glauben. Der große, starke Vater sterbend in einem Heim. „Wann darf ich zu ihm?“, fragte er mit belegter Stimme. Die Mutter: „Ist das so wichtig?“ Als sie Volkers Befremden wahrnahm, schob sie versöhnlich nach: „Morgen vielleicht, ja?“ Sie wandte sich ab. Er ging in sein Zimmer zurück.

Die alte Bruck betrat die Küche. Aufzuräumen war nichts mehr. Das hatte Schwiegertochter Karin anständig und sauber erledigt. Kraftvoll riss die Frau das Fenster auf. „Es stinkt!“, murrte sie halblaut, setzte sich auf einen Stuhl, atmete die frische Luft ein und reflektierte den Abend. Den fand sie misslungen, wenn nicht erbärmlich. Die Idee, Volkers Ankunft, wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu feiern, war den Nachbarn gekommen. Neugierde war das erste Motiv der Leute gewesen. Dazu kam, dass sie keine Gelegenheit ausließen, sich bei anderen durchzufuttern und bis zum Eichstrich zu saufen. Karin hätte die ganze Geschichte ohne Aufheben abbiegen können. Auf Karin hörte man hier in diesen Kreisen. Sie tat es nicht. „Wer weiß, ob wir die Leute nicht noch brauchen. So eine kleine Feier schadet doch nicht. Der Volker wird sich freuen.“ Also feierten sie. „Dabei war es der Karin doch gar nicht um den Schwager gegangen, sich ihm gut zu stellen“, legte sich die Frau im Selbstgespräch vor, „kein Wort hat sie mit ihm geredet. Es lag der Karin daran, den Volker von Anfang an zu vergraulen. Und ich? Sitze da, heule und krieg‘ auch kein Wort raus.“ Die frische Luft tat gut, förderte nüchterne Überlegungen. Ich werde der Karin morgen ins Gewissen reden, nahm sich die alte Frau vor, schloss das Fenster und ging zu Bett.

Volker räumte seine Sachen aus dem Koffer, legte die Wäsche auf die blank geputzten Bretter im Schrank, stellte den Reisewecker auf das Bord über dem Bett und drapierte Schreibzeug und zwei Bücher auf dem kleinen Tisch. Er war nicht müde. Es war gerade mal einundzwanzig Uhr. So zeitig pflegte er niemals schlafen zu gehen. Er zog sich aus, schlüpfte in seinen Schlafanzug, steckte die Füße in weiche Pantoffeln und schlurfte mit dem Waschzeug unterm Arm in den Flur hinaus. Am hinteren Ende des Flurs, gleich neben der Tür zur Nähstube der Mutter, befand sich das Waschbecken. Volker erledigte eine Katzenwäsche und träumte sich in die Vergangenheit zurück.

Dieses Waschbecken war lange Zeit Streitobjekt zwischen Volker und seinem Bruder gewesen. Die beiden Knaben, die hier oben unterm Dach ihre Stuben hatten, zankten jeden Morgen um den ersten Platz für die Morgentoilette. Die Rangelei artete in eine wilde Schlägerei aus, die Volker regelmäßig verlor, weil der andere eindeutig stärker war. Dann trödelte der solange mit Waschen und Zähneputzen, bis Volker trotz größter Eile zu spät zum Frühstückstisch kam und von den Eltern ob seiner Langsamkeit ermahnt, manchmal sogar des Tisches verwiesen wurde. Bruder Peter heizte die morgendliche Missstimmung mit gehässigen Bemerkungen an. Volker rechtfertigte sich nie, deshalb brauchte es eine Zeit, bis die Mutter das Treiben durchschaute. Mit ihren Appellen an die Vernunft erreichte sie bei Peter gar nichts. Der Vater musste eingreifen. Er befestigte einen Zettel mit rotierenden Benutzungszeiten neben dem Waschbecken und verfügte mit drohender Stimme: „Wer sich nicht an die Regeln hält, wäscht sich künftig unten im Hof an der Pumpe. Und das für alle Zeit!“ Die Autorität des Vaters im Haus war unbestreitbar. Peter unterstellte dem Bruder „Du alte Petze!“ und fügte sich murrend. Volker gewann zwar ein Stück Ruhe und Ordnung im Tagesverlauf, verlor jedoch um ein weiteres Quantum die brüderliche Sympathie.

Der Mann schlurfte zurück in sein Zimmer, breitete das feuchte Handtuch fein säuberlich über die Stuhllehne und legte sich ins Bett. Die Wäsche knisterte leise und verströmte einen angenehmen Duft. So kannte er es von früher. Der Mutter hoher Ehrgeiz waren ausgiebig gelüftete, strahlend sauber bezogene Betten. In solch einem Bett schlief man wie im Himmel. Später, in den langen Jahren nach der Kindheit, hat Volker nie wieder so ein Einschlafgefühl verspürt. Er schloss die Augen, wollte hinüber dämmern. Allein, der Schlaf stellte sich nicht ein. Er stand missmutig auf, öffnete das Fenster und ließ die Nachtluft herein. Er lauschte. Es war mucksmäuschenstill. Von sehr fern waren schwach Bahn- und Autogeräusche auszumachen. Für den Mann am Fenster verknüpfte sich diese Ruhe nicht mit der Kindheit.