Die Pest geht um - Katharina Johanson - E-Book

Die Pest geht um E-Book

Katharina Johanson

0,0

Beschreibung

Als in den 1970er Jahren das Gebiet um Marzahn und Hellersdorf für den Bau der sozialistischen Großsiedlung vorbereitet wurde, zogen hunderte Bodenkundler auf der Suche nach archäologischen Funden übers freigegebene Gelände. Im Ortskern Hellersdorfs fanden sie die Reste eines etwa sechshundert Jahre alten Dorfes mit Hofanlagen und einer Kirche. Im Kirchenfundament waren neben einer Frau fünf Kinder bestattet worden. Das war insofern verwunderlich und gab den Fachleuten Rätsel auf, weil es nämlich im hohen Mittelalter nicht üblich war, Frauen und Kinder in einer Dorfkirche zu beerdigen. Die Todesursache konnte nicht mehr festgestellt werden, die Ereignisse lagen viel zu weit zurück, der Fall blieb ungeklärt, und die Zeugnisse wurden sauber beschriftet und geordnet im Archiv des Märkischen Museums zu Berlin abgelegt. Allerdings bewegte einige rührige Geister nach wie vor die Frage, was sich in den 1370er Jahren in und um den kleinen Flecken Hellersdorf ereignet haben mag. Mehr noch interessierten sich professionelle Historiker und Heimatforscher für die damaligen Menschen mit ihren Ansichten, ihrer Lebensweise und ihrem Umfeld. So kam dennoch einiges an Fakten zusammen. Im vorliegenden Roman werden diese Fakten zu einer griffigen Erzählung verdichtet. Wobei die unmittelbare Handlung und die Personen selbstverständlich frei erfunden sind, wie sämtliche Namen, Titel, Funktionen und Orte aus Gründen ihrer Lesbarkeit weitestgehend dem aktuellen Sprachgebrauch angepasst sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 388

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Pest geht um

von Katharina Johanson

Die Pest geht um

© 2024 by Katharina Johanson

Herstellung im Eigenverlag

Katharina Johanson

Arnold-Zweig-Straße 43 A

13189 Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort

Als in den 1970er Jahren das Gebiet um Marzahn und Hellersdorf für den Bau der sozialistischen Großsiedlung vorbereitet wurde, zogen hunderte Bodenkundler auf der Suche nach archäologischen Funden übers freigegebene Gelände. Im Ortskern Hellersdorfs fanden sie die Reste eines etwa sechshundert Jahre alten Dorfes mit Hofanlagen und einer Kirche. Im Kirchenfundament waren neben einer Frau fünf Kinder bestattet worden. Das war insofern verwunderlich und gab den Fachleuten Rätsel auf, weil es nämlich im hohen Mittelalter nicht üblich war, Frauen und Kinder in einer Dorfkirche zu beerdigen. Die Todesursache konnte nicht mehr festgestellt werden, die Ereignisse lagen viel zu weit zurück, der Fall blieb ungeklärt, und die Zeugnisse wurden sauber beschriftet und geordnet im Archiv des Märkischen Museums zu Berlin abgelegt. Allerdings bewegte einige rührige Geister nach wie vor die Frage, was sich in den 1370er Jahren in und um den kleinen Flecken Hellersdorf ereignet haben mag. Mehr noch interessierten sich professionelle Historiker und Heimatforscher für die damaligen Menschen mit ihren Ansichten, ihrer Lebensweise und ihrem Umfeld. So kam dennoch einiges an Fakten zusammen.

Im vorliegenden Roman werden diese Fakten zu einer griffigen Erzählung verdichtet. Wobei die unmittelbare Handlung und die Personen selbstverständlich frei erfunden sind, wie sämtliche Namen, Titel, Funktionen und Orte aus Gründen ihrer Lesbarkeit weitestgehend dem aktuellen Sprachgebrauch angepasst sind.

Karl schrieb: „Prag, im Frühjahr 1370“, und setzte seufzend den Schlusspunkt. Er legte die Feder beiseite, schloss das Tintenfass, holte tief Luft und drehte sich um. Er sagte: „Christopher, in einer halben Stunde treffe ich alle im Thronsaal.“ Er betonte: „Alle!“ Der Mann, der sich bis dahin dösend auf dem Bänkchen nahe des Kamins breit gemacht hatte, leierte sich hoch und schlurfte zur Tür. Karl warf ihm nach: „Und schicke Ralf zu mir!“ Christopher blickte Karl groß an, schüttelte den Kopf und grummelte in sich hinein. Er öffnete die Tür, setzte einen Fuß über die Schwelle, schaute noch einmal zurück, wendete sich ab und trabte los.

Karl ging ans Fenster, öffnete und sah hinaus. Das Land lag im milden Licht der Nachmittagssonne. Im Schatten des Burgbergs kauerten einige kleinen Hütten. Vereinzelt werkelten Leute in ihren sauber abgesteckten Gärten, und am Flussufer schafften Fischer. Kinder sprangen umher und spielten auf den Wiesen und in den Büschen. Ganz hinten türmten sich die Berge, deren schroffe Felshänge noch Reste von Schnee trugen, während an einigen Stellen bereits hauchzartes Laubwerk spross und sich helles Grün zeigte. Ein schönes Land, ein friedlich schlummerndes Land mit einem fleißig arbeitenden Völkchen. Karl liebte diesen Ausguck, diesen Blick auf seine Besitzungen und seine Leute. Die Stadt mit ihrem wuselndem Verkehr auf Straßen und Plätzen dehnte sich auf der anderen Seite des Burgbergs. Deren Anblick brauchte Karl nicht zu seiner Erbauung. Er bevorzugte die Stille der Natur und sparsame Besiedlung. Er schloss das Fenster, kehrte um, stapfte mit dem derben Tritt seines schweren Körpers zu seinem Pult. Er nahm das soeben beschriebene Blatt hoch, hielt es waagerecht gegen das Licht, prüfte, nickte, lüftete zwei Deckel eines Folianten und schob das Blatt hinein. Er griff das Buch, wog es zwischen seinen breiten Händen und trug es liebevoll lächelnd zum Regal. Er schob es in die Reihe und strich zärtlich über die Buchrücken. Er wedelte imaginäre Stäubchen vom Einband. Er liebte Bücher. Es waren seine Bücher. Er liebte die Ordnung. Es war seine Ordnung. Und wie immer, vor oder nach großen Entscheidungen, vor oder nach bedeutenden Erfolgen oder Niederlagen, zur Erbauung, zur Beruhigung oder nur aus Freude am geschriebenen Wort hatte sich Karl seinen Aufzeichnungen gewidmet und ein weiteres Kapitel seiner Annalen fertig gestellt. Er betrachtete sich als einen bedeutenden Staatsmann, einen hervorragenden Diplomaten und als einen großen Schriftsteller. Er war gern fleißig, ordentlich, entschlussfreudig, mildtätig und gewaltbereit. Er grunzte zufrieden und drehte sich weg. Er ging zu seinem Stuhl, setzte sich nieder und wartete auf Ralf.

Der Diener trat mit dem Ornat ein. Er hob den Mantel an und breitete ihn aus. Gedämpft kam seine Stimme hinter dem Stoff hervor: „Ihr wünscht große Robe?“

Karl antwortete nicht. Er ruhte mit den Augen auf seinem Mantel. Was für ein Meisterstück! Dieses in allen Farben leuchtende, federleichte und zugleich füllige wirkende Gewebe war die Frucht seines genialen Erfindergeistes und musste jeden, aber auch jeden beeindrucken. Wie er auf die Idee kam, sich diesen Mantel fertigen zu lassen, lobte er sich nach wie vor. Er war von sich selbst noch ganz fasziniert. Lange hatte er gelitten, sehr lange, und zunehmend hatte er seine öffentlichen Auftritte in dem schwerlastigen Kleid des höchsten Repräsentanten des Heiligen Römischen Reiches gefürchtet und alsbald nur noch gehasst. Ja, als er jung war, mochte er seine Rüstungen aus Stahl, Gold und Stein, da kleidete er sich gern in schwere Stoffe und voluminöses Beiwerk, er behängte sich mit Auszeichnungen und Machtsymbolen. Da konnte es ein Zuviel nicht geben. Je mehr, umso besser. Aber im Alter drückte und zwackte es, schränkte das Atmen und die Bewegungsfreiheit ein. Stundenlanges Stehen und die Last des Ornats wurden ihm unerträglich, quetschten sein Fleisch und schmerzten in seinen Knochen. Er fühlte sich wie lebendig begraben. Nur leider waren Audienzen und Zurschaustellungen unumgänglich. Gesandte aus aller Herren Länder knieten zu seinen Füßen, brachten ihre Botschaften vor und legten ihre Wünsche dar, wollten beraten und ernst genommen sein. Er musste sie anhören. Er musste sie ausreden lassen. Er musste sogar freundlich, ausführlich und sinnstiftend antworten. So ging es und es wurde immer schlimmer. Schon der Gedanke an Empfänge jagte ihm einen Schauder über den Rücken, reanimierte die Qual und schmerzte im Vorfeld. So litt er, und er litt wie ein Hund. Da kam ihm der Einfall, sich einen Mantel fertigen zu lassen, der sowohl ausgesprochen ansehnlich als auch tragbar im wahrsten Sinne des Wortes sein würde. Er rief sämtliche Weber und Schneider zu sich und gab ihnen den Auftrag, einen Mantel herzustellen, der freie Bewegung zuließe, der federleicht sei und zugleich seinen Träger als den Herrscher der Welt auszeichnen würde. Einen Mantel, dessen Macher er mit reichlich Gold belohnen würde, den er jedoch, da war er immer ehrlich und pflegte seine Drohungen auch wahrzumachen, im Falle seines Versagens dem Scharfrichter übergeben würde. Es dauerte fast ein Jahr, bis das Prunkstück geschaffen war. Doch dann glänzte und strahlte er wieder und alles Elend hatte ein Ende. Karl lächelte versonnen.

Er sagte: „Danke. - Ich wollte nur sehen, ob noch alles in Ordnung ist. Einpacken. Wir reisen.“

Ralfs verwundertes Gesicht tauchte hinter dem Mantel auf. Karl winkte ab: „Du hast es gehört?“ Ralf nickte, raffte den Stoff zusammen und trat weg.

Christopher hatte das Dienstvolk hochgescheucht, die Autoritäten informiert, im Thronsaal ein paar Anweisungen erteilt und kehrte in das Kabinett zurück. In der Tür prallte er mit Ralf zusammen. Seinem fragenden Blick begegnete Ralf mit Achselzucken und ging weiter. Christopher trat ein, schloss die Tür und fragte unwirsch: „Wie jetzt doch nicht?“ Er war auch nicht mehr der Jüngste und verabscheute sinnlos verausgabte Energie.

Karl erklärte zögerlich, verlegen: „Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich es ihnen sagen soll.“ - „Was willst du denn sagen?“, fragte Christopher mit warmer Stimme. Karl antwortete: „Ich will sagen, dass ich gern reisen würde, noch mal richtig verreisen. Vielleicht nach Brandenburg? Das möchte uns gefallen. Was denkst du?“ Er zeigte ein unsicheres Lächeln. Christopher stockte, ließ für Momente den Mund offen stehen, klappte ihn wieder zu und fragte misstrauisch: „Dazu planst du den großen Auftritt?“ Karl erwiderte harmlos betont: „Ein paar Leute will ich schon dabei haben.“ Christopher setzte böse giftend nach: „Alle Minister, sämtliche Offiziere, das Heer?“ Karl meinte: „Freilich, das steht mir doch zu.“ Christopher war augenblicklich aufgebracht und ballerte: „Bist du wahnsinnig geworden? Du verletzt die Hoheitsrechte und sprichst von einer Reise? Ist da irgendwas mit Otto von Brandenburg abgesprochen? Hast du etwas vorbereitet? Und was sollen die Nachbarn dazu sagen?“ - „Mach doch nicht so ein Gewese. Ein harmloser Besuch. Es ist mein gutes Recht.“ - Christopher kreischte mit sich überschlagender Stimme: „Was soll das? Das wird Krieg! Wenn es schief geht, brennt ganz Europa.“

Karls Augen verschatteten sich, seine Miene verdüsterte sich und sein mächtiger Körper sackte förmlich zusammen. Christopher sah die Veränderung. So schnell, wie er oben gewesen war, kam er wieder runter. Er streichelte Karls Buckel und sagte warm: „Du hast Recht. Wir wollen verreisen, uns mal umschauen und frische Luft schnuppern. - Komm, sie warten schon.“ Er nahm Karl fürsorglich am Arm und führte ihn aus dem Raum.

Während sie durch den Wandelgang trotteten, überflog Christopher noch einmal die vorige Szene. Er bereute seinen Ausbruch, die harten Worte. Mitunter konnte er sich nur noch mit Mühe beherrschen, denn Karl war schwierig geworden. So wie ihm sein Körper zunehmend den Dienst versagte, tat es auch sein Geist. Manchmal kamen ihm die törichsten Ideen, flackerten irgendwelche maßlosen Machtgelüste auf, war er übellaunig, ungerecht und dumm, gar nicht der große Kaiser, sondern bockig wie ein Dreijähriger, ein tobender Wüterich. Dann kam es auf ihn, Christopher, an, den Alten möglichst gefühlvoll zu erden. Das war sein Part, den hatte er angenommen, dazu fühlte er sich berufen, und das führte er aus. Er war der erste Mann vor Ort, hegte und pflegte. Und er lenkte! Ganz wohl war ihm dabei nie. Sein Engagement war auch nicht unbedingt notwendig, denn da waren noch die vielen anderen, die Würdenträger, die Berater und die Minister, die sich in allen Belangen des Hofes, der Wirtschaft und in der hohen Politik bestens auskannten und schon längst, diskret im Hintergrund wirkend, das Zepter in die Hand genommen hatten. Aber Christopher tat, was er für richtig und wichtig hielt. Und ihn leitete sein guter Geist. Ein Geist, der sich aus tief empfundener Liebe und Lebenserfahrung speiste. Er wollte Karl jegliche Blamage, öffentliche Abfuhr oder Auseinandersetzung ersparen und sein gutes Werk erhalten. Das habe niemand verdient, meinte er, nach so vielen guten Jahren eine Niederlage zu erleiden. Denn Kaiser Karl war einst ein Meister seines Faches, Friedensstifter, ein Regent, wie ihn das Abendland zuvor noch nicht gesehen hatte, und wie ihm wahrscheinlich auch kein zweiter folgen würde. Dabei war Christopher auch nur ein Mensch mit Nerven und Gefühlen, die rebellierten, die ihm durchzugehen drohten, die er manchmal nicht mehr im Griff hatte. So war denn sein Dienst ein Drahtseilakt geworden, in dem er sich aufrieb, den er gern tat, der ihn erschöpfte und belebte – alles in einem, sowohl Last als auch Lust, Fron und Leidenschaft.

Er führte Karl behutsam die paar Stufen hinauf, achtete auf jeden seiner Tritte und sagte sanft: „Mein lieber, lieber Karl, ich vertraue deiner Klugheit und Rechtschaffenheit. Gehe es vorsichtig an, sage nicht zu viel auf einmal und poltere nicht los. Falle nicht mit der Tür ins Haus. Warte ab, wie sie dir entgegenkommen.“ Karl nickte und strahlte die Zufriedenheit eines gutgenährten Säuglings aus. Christopher gab den Türstehern einen Wink. Die sperrten das zweiflügelige Tor auf. Christopher blieb zurück und Karl betrat die hohe Halle.

Die Gespräche verebbten, die Menge teilte sich und gab den Weg zum Thron frei. Karl lief nicht bis nach vorn. Er blieb mittig stehen und schaute sich betont arglos um. Die Herren neigten sich ihrem Kaiser zu. Der schwieg bedeutungsvoll, dehnte den mächtigen Brustkorb, setzte eine ernste Miene auf, um sogleich mild lächelnd zu gurren: „Ich hätte gern eure Meinung. Wie sieht es aus? Ein kleiner Ritt nach Brandenburg?“ Er strahlte naiv, etwas dümmlich, und gespielt spitzbübisch in die Runde.

Den Würdenträgern fuhr die Nachricht genauso in die Knochen wie Christopher: Das bedeutete Krieg!

Viele erinnerten sich noch des letzten großen Krieges, der ausgebrochen war, um die Welt neu zu ordnen. Doch anstatt sie zu ordnen, war sie im Chaos versunken. Ganze Stämme waren ausgerottet, riesige Gebiete verheert, Leben war vielerorts praktisch unmöglich geworden und Europa lag am Boden. Die wenigen Überlebenden hatten sämtlichen Besitz und ihre Familien verloren. Sie sahen den Untergang vor Augen. Apokalyptisch hatte sich die Welt verändert und stand an ihrem Ende. Die Menschen fanden keinen Neuanfang und wünschten sich mit verbitterter Abgestumpftheit nur noch den Tod. Lieber sterben, als in dieser Wüstenei existieren zu wollen. Ein Teil der Übriggebliebenen stritt auf Teufel komm raus um die paar noch vorhandenen Güter. Wobei diese Zwietracht auch oft mit dem Tod beider Parteien endete und damit niemandem etwas nutzte. Dann kam Kaiser Karl, erwirkte den Friedensschluss, vermittelte Hoffnung und Leben regte sich wieder. Er förderte Handel und Wandel. Die Städte und Dörfer stiegen wie Phönix aus der Asche auf. Karl bewährte sich als befähigter und guter Mann. Die Völker verständigten sich und respektierten einander und ihre Grenzen. Ab und an rasselte ein Fürst mit dem Säbel, aber den zu beschwichtigen, war Karl nie schwergefallen. Sein Einsatz für das Handwerk, den Handel, die Künste, die Wissenschaften und der allseitige Wohlstand imponierten jedermann. Darüber waren drei Jahrzehnte ins Land gegangen, und alle hatten sich an den Frieden gewöhnt beziehungsweise sich damit arrangiert. Aber jetzt zettelte Kaiser Karl einen Weltbrand an!

Minister Ignaz nahm das Wort: „Unsere Präsenz in Brandenburg ist völlig überflüssig und reizt die Anrainer zu sinnlosen Ausfällen. Die Verträge sind geschlossen. Die Brandenburger löhnen, wie es vereinbart ist. Da muss man weder einreiten noch einschreiten.“ Die Umstehenden nickten.

Karl fuhr hoch: „Es ist mein gutes Recht!“

Ignaz bekräftigte: „Wir haben Botschafter dort, und Otto von Brandenburg ist auch noch da. Bestelle ihn ein, rede ihm ins Gewissen und halte ihm die Verträge vor.“

Seine Bemühungen fußten nicht so sehr auf dem Wunsch, einen Weltbrand zu verhindern. Der war ihm eigentlich egal, denn er fühlte sich allzeit gut versorgt und war noch nie von irgendwas oder irgendjemandem beeinträchtigt worden. Aber er hatte eine geheime Mission zu erfüllen, nämlich den Kaiser unter Kontrolle zu halten. Sein Ideengeber war der Papst. Als ständiger Gesandter am Hofe des Kaisers war Ignaz nicht mehr und nicht weniger als ein raffiniert eingeschleuster Spion im Auftrag des Heiligen Stuhls, der die Fäden im Hintergrund ziehen wollte und sollte. Dazu verfügten die Kirchenfürsten über Erfahrungen aus mehr als fünf Jahrhunderten, wobei ihnen nicht alles glatt ging, ja gar nicht glatt gehen konnte, und sie mitunter auch Federn ließen. Die Lage war manchmal schwierig, verworren, unübersichtlich und der Geist, den das Christentum beschwor, wurde mitunter brüchig, weil er nicht mehr glaubwürdig war. Dann griffen der Papst und sein Klüngel zu ungewöhnlichen respektive populären Mitteln, wie sie es im Falle von Karls Ernennung getan hatten. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich für Karl entschieden, war die Lage brisant, ähnlich wie nach den drei verpatzten Feldzügen gegen Jerusalem. Die Kirche hatte sich wiedermal restlos delegitimiert, desavouiert und ruiniert. Kein normaler Mensch gab mehr einen Pfifferling auf die Appelle, sprich auf das hirnrissige Gerede des christlichen Oberhauptes. Die Kirche war ein Tollhaus für Schwachsinnige und kleine Kinder geworden. Da setzten sie auf einen Volkstribun. Sie setzten auf einen kleinen Mann aus der Mitte der dazumal noch als heidnisch geltenden Unterdrückten und Geächteten, auf einen gebürtigen Přemysliden, und sie sollten sich nicht verrechnet haben. Dieser Přemyslide verlieh den Dingen neuen Schwung. Dank seiner Popularität und seiner Aufgeschlossenheit hob Karl der christlichen Kirche Glaubwürdigkeit wieder an. Er schweißte das Reich zusammen, unterwarf es dem bewährten Römischen Recht. - Ein Recht, das die Großen größer machte und die Kleinen brutal knebelte. - Da hatte Karl ein sicheres Händchen für. Er baute das Reich im Innern auf und stärkte es gegen die äußeren Feinde. Unter seiner Hand reifte das Reich sozusagen zu einer köstlichen Frucht am Baum der Menschheitsgeschichte. Dankbar ließen die Kirchenfürsten ihrem Zögling Eigenheiten und Mauscheleien durchgehen, und fuhren allzeit gut mit ihm. Allerdings brauchten sie im Moment Ruhe in den Ostprovinzen, denn sie hatten dieser Tage Albrecht von Utrecht als Berater jenseits der Oder-Neiße-Linie platziert. Demzufolge käme ihnen ein Truppenaufmarsch zwischen Oder und Elbe momentan nicht zu pass, weil dieser Truppenaufmarsch die slawischen Stammesfürsten aufwecken und deren Misstrauen befördern würde. Albrecht sollte sich erstmal einen Überblick verschaffen und etablieren, später würden Kreuzritter nachstoßen und mit oder ohne Gewalt die östlichen Stämme christianisieren und deren Reichtümer einsacken. Das alles hatten sie langfristig eingefädelt, wobei sie eben Lärm diesseits der Oder-Neiße-Linie stören würde. Insofern war Karls Einsatz zum jetzigen Zeitpunkt denkbar ungünstig und musste gebremst werden. Freilich durfte er von den Plänen des Heiligen Stuhls nichts wissen. So agierte und manipulierte Minister Ignaz scheinheilig mit Ablenkungsmanövern und pochte auf Vertragstreue.

Karl murrte: „Ach, Otto von Brandenburg“, und brach ab.

Alle wussten, wie der Kaiser mit seinem Schwiegersohn stand und haderte. Er hielt ihn für politisch unfähig, faul und träge, und posaunte seine Meinung auch offen heraus. So freimütig äußerte sich selbstverständlich nicht jeder, musste aber zugestehen, dass bei aller Friedfertigkeit, mit der Otto herüberkam, bei dem Entgegenkommen, das er immer demonstrierte, er seine Pflichten nur zögerlich erfüllte, keinen Schwung hatte, keinerlei Initiative zeigte und sich kaum darum scherte, was der Kaiser wollte und ihm auftrug, und wie es in den übrigen Teilen der Welt zuging, interessierte Otto auch nicht. Er war in der Tat ein weicher, nach allen Seiten hin nachgiebiger Fürst. Freilich mochte der Kaiser in vielen Punkten recht haben, aber das rechtfertigte noch lange keine Drohgebärde mit militärischen Mitteln. So dachte Ignaz. Und ähnlich dachten die meisten in diesem Raum, und viele waren noch vehementer gegen Krieg eingestellt. Sie kannten die aktuelle Weltlage, die subjektiven Befindlichkeiten, sie wussten Bescheid, sie grübelten schwer, und sie fragten sich mit der ganzen Tiefe seiner Bedeutung: Womit rechtfertigt man einen Krieg? Kann das Militär etwas richten? Ist Krieg wirklich das letzte Mittel der Wahl?

Karl forschte in den Gesichtern. Er registrierte Abwehr und Abkehr. Wie eine Wand standen sie, schwiegen still, und er spürte geschlossene Aversion. Das rumorte in seiner Brust und schlug ihm auf den Magen. Seine Atmung verflachte, sein Herz pumpte heftig, Schwindel überkam ihn, und die Gesichter vor ihm verschwammen zu einem Einheitsbrei. Er sah nicht mehr durch. Dunkelheit umfing ihn. Er hielt seinen starken Körper angestrengt aufrecht und im Gleichgewicht. Er befürchtete, sich zu übergeben und lang hinzuschlagen. Er kämpfte gegen die Schwäche. Er horchte aufmerksam nach innen. Darüber verging Zeit.

Alles lauerte und wartete. Tastendes Spüren und knisterndes Kräftemessen hatten sich ausgebreitet.

Karl wurde besser. Er sah wieder klare Bilder. Er schaute sich um, er überlegte nüchtern und taxierte seine Untergebenen erneut. Da entdeckte er in zweiter und dritter Reihe, halb verdeckt von den Hochwürden einige junge Offiziere und Aspiranten. Er sah strahlende, jugendlich naive und neugierige Augen und Mienen. Wie schön! Wie wunderbar waren diese Kraft, diese Entschlossenheit, dieser Mut. Die Jugend zeigte forsches Verlangen. Warm und erregend rieselte ein belebendes Gefühl in Karls Seele. Er war angenehm berührt und lächelte mild.

Kaiser Karl trat zwei Schritte zurück, schaffte Abstand, hob einen Arm in die Horizontale, streckte ihn und wedelte mit der Hand: „Wer in Prag bleiben will, soll bleiben. Wer Lust hat, folgt mir. Meine Getreuen hierhin, die anderen können gehen.“ Mit hocherhobenem Haupt blickte er streng in imaginäre Ferne.

Die Vasallen stockten. Die Vasallen starrten. Die Vasallen lauerten. In die Vasallen kam Bewegung. Die Jugend schlug sich rasch und entschlossen durch und auf ihres Kaisers Seite. Die Alten folgten gehemmt, langsam schreitend. Am Ende dieser denkwürdigen Stunde waren jedoch alle auf Kaiser Karls Seite getreten. Sie hörten seine Befehle und schritten mehr oder minder engagiert zur Tat.

Es wurde organisiert, geplant, verworfen und neu entschieden. Die ganze Burg war zu räumen und praktisch alles mitzunehmen, was nicht allzu sperrig oder gänzlich überflüssig war. Zum einen bedurften Hofstaat und Kaiser auf Reisen einer gewissen Bequemlichkeit und zum anderen pflegten sie nie etwas zurückzulassen, weil sich in den hiesigen Mauern während ihrer Abwesenheit Gesindel, vom armen Mann bis hin zu Dieben, und Ungeziefer wie Ratten, Mäuse, Tauben und Raben einnisten würden. Da wäre es um jedes Stück schade gewesen. Allerdings hatte sich der Hofstaat seit Jahren festgesetzt und eingerichtet, und viel Zeug war zusammengekommen, was man nicht so einfach transportieren konnte. Das verscherbelten die Hofschranzen unten in der Stadt, weil sich Geld leichter befördern ließ als Möbel, Bilder, Spiegel, Teppiche, Geschirr und Tand.

So ging die Kunde vom Krieg auch unter den Bürgern Prags herum und erschreckte sie zunächst, denn sie sorgten sich um friedlichen Handel und Wandel im Weltmaßstab. Ihre Beziehungen reichten von der Atlantikküste bis in die Tiefen des Teutoburger Waldes, von Neapel bis Bergen. Da könne so ein Krieg in den östlichen Provinzen auf andere Gebiete überschwappen und Verbindungen kappen und Geschäftspartner abschrecken, befürchteten die meisten. Doch dann wurden die Bürger von dem inflationären Angebot so vieler schöner Gegenstände abgelenkt und sagten sich, nun ja, ein Krieg, der sich nicht unbedingt vor ihrer eigenen Haustür abspiele, den würden sie aus der Ferne betrachten, der ginge sie eigentlich gar nichts an, da müsse man sich keine grauen Haare wachsen lassen. Sie beruhigten sich und widmeten sich ihren Geschäften.

Während sich die Vasallen tummelten, saßen Karl und Christopher im kaiserlichen Gemach und ließen es sich bei Essen, Trinken, Dösen und einer Partie Schach gut gehen.

Die Tür ging auf und Minister Roman trat ein. Karl blickte hoch. Roman trug vor: „Die Transportmittel reichen nicht aus. Die Bürger weigern sich. Sie sagen, dass sie im anbrechenden Geschäftsjahr auf ihre Fuhrwerke nicht verzichten können und dass sie verbriefte Rechte hätten.“ Karl knurrte: „Na und?“ Die Bürger hatten Spanndienste zu leisten und der Minister verfügte über sämtliche Machtmittel. Roman setzte fort: „Sie sagen auch, dass sie der Krieg des Kaisers nichts anginge.“ - „So, sagen sie das?“, mimte Karl Verwunderung und schaute zu Christopher, dessen Miene versteinert und nichtssagend wie die des blödesten Sklaven war. Im Beisein Dritter verriet er nichts von seinen Gedanken und Gefühlen. Karl wendete sich wieder an Roman: „Und was willst du nun von mir?“ Roman antwortete: „Wir haben von Zwangsmaßnahmen abgesehen. Es sei denn, der Kaiser befielt sie ausdrücklich.“ Karl schloss: „Ich befehle nichts ausdrücklich“, und winkte ab. Roman entfernte sich.

Als der Minister wieder draußen war, murrte Karl: „Ich mag diesen gelackten, schmierigen Leisetreter nicht.“ Christopher lächelte nachsichtig: „Du magst ihn nicht, weil dir ähnelt.“ - „Sag doch nicht so was!“ - „Er kam wie du aus niedrigstem Hause, verfügt über keinerlei Einfluss und schafft es nur mit Fleiß.“ Karl moserte: „Willst du damit sagen, dass ich auch so ein Trottel gewesen bin?“ Christopher sprach Verständnis erheischend: „Trottel sage ich nicht unbedingt, und ich möchte auch nicht behaupten, dass du ein Schwächling warst, aber ziemlich einfältig und ungeschickt und aus geringem Hause warst auch du.“

Er erinnerte sich, wie Karl, gerade mal siebenjährig, weinend und hilflos in der großen Toreinfahrt des königlichen Palastes in Paris stand und wahrscheinlich versuchte hätte, durchzubrennen oder eine andere Verzweiflungstat zu begehen, und sehr, sehr unglücklich ausschaute. Da war Christopher hervorgetreten, hatte den Neuen an die Hand genommen, ein paar tröstende Worte geflüstert und in die Knabenunterkunft gebracht. Freilich hätte sich auch ein anderer gefunden, um den Ankömmling zu führen. So ein Fürstenspross blieb nicht allein und ging nicht verloren. Da waltete Gott vor. Hunderte Augenpaare achteten auf diese Perlen der Gesellschaft. Aber Christopher sah dessen Not als erster und deckte die schlimmsten Wunden zu. Und schlimm war dieser Augenblick alle Male! – Fürstensöhne wurden frühzeitig in Internatsschulen gegeben. Sie waren brutal aus ihren Familien gerissen, sahen ihre Eltern und Geschwister über Jahre nicht mehr, und mussten fortan den militärischen Drill einer ihnen feindlich gesinnten Welt über sich ergehen lassen. Der Starke lebte auf, setzte sich durch und stieg in der Hierarchie nach oben. Der Schwache wurde zweite oder dritte Wahl, und hatte sein Lebtag nichts mehr zu lachen. So rekrutierten die Mächtigen ihren Nachwuchs und sicherten ihr Regime. – Die Szene hatte sich aufgelöst, die hoheitliche Kutsche und der Geleitzug hatten sich entfernt, die Aufseher wendeten sich ab, und Christopher führte Karl herum und in seine Aufgaben ein. Sie waren vom ersten Augenblick an Freunde. Karl war klein, unbeholfen, wenig wendig und hatte ein scheues Auftreten. Und er verstand die Sprache nicht! Denn sein Kinderbett stand im an die sechshundert Meilen entfernten Böhmen. Christopher war kräftig und umsichtig, entstammte dem nahegelegenen Avignon, verfügte über einiges an Durchsetzungsvermögen und ein großes, liebendes Herz. Er avancierte von Anfang zum Dolmetscher, Lehrer und Beschützer. Wobei er es immer gut meinte. So auch jetzt, als er den Vergleich mit dem jungen Minister Roman anstellte.

Dieser Vergleich schmeckte Karl nicht. Zwar hatte er äußerst ungünstige Startbedingungen, schien als Außenseiter oder Versager gehandelt zu werden, aber so war es nicht. Als gebürtiger Přemyslide, als Nachkomme eines erst kürzlich christianisierten Stammes, verfügte er bereits mit sieben über die Wendigkeit eines Luchses. Er gab sich dümmer als er war und hielt sich an die Segenssprüche seiner Eltern. Die hatten ihm eingeschärft, sich nicht hervorzutun, sich nicht an den anderen zu reiben und von denen provozieren zu lassen. Er sollte gutes Mittelmaß sein und vorsichtig seine Möglichkeiten auszuloten – .Die Přemysliden hatten sich zwar dem Christentum unterworfen, verfolgten jedoch eigene Ziele: ins System eindringen und es von innen aufweichen. Sie ließen ihre Söhne in Paris ausbilden und hofften damit einen Fuß ins Machtzentrum zu bekommen. – Karl beherzigte die Ratschläge seiner Eltern und rückte davon niemals weg, jedenfalls nicht, solange bis sich eine treffliche Gelegenheit fand, und er als strahlender Sieger ungebremst bis nach oben aufstieg. In Christopher hatte er von der ersten Stunde an seinen Golem, den Mann fürs Grobe, der für ihn die Drecksarbeit erledigte, gefunden. Wobei er seinen Dienst immer auch schätzte. Er versorgte ihn gut und hielt sein Händchen über ihn. Sie wurden ein unzertrennliches Paar, der Denker und der Raufbold. Karl lenkte und Christopher führte aus. So kamen sie durch, so bewährten sie sich. Nachdem sie jegliche Konkurrenz, alles Anwärter auf die Krone, hinter sich gelassen hatten, ließ sich Karl mit zwanzig zum Kaiser krönen und breitete seine scharfsinnige Strategie über dem Land aus. Er beschnitt die Macht des Klerus und der Fürsten, er förderte das Handwerk und die Wissenschaften, er brachte das Land hoch. Er regierte mit Weisheit und Milde, mit Strenge und Nachsichtigkeit. Und er regierte gut, wie man sah.

Er murrte: „Dein Vergleich hinkt. Und er hinkt schon deshalb, weil Roman Karolinger ist, sämtliche Möglichkeiten in Nürnberg, Aachen oder in Avignon hatte, doch wahrscheinlich auch dort versagte oder sich zumindest unmöglich machte. Ich will ihn aber auch nicht haben und werde ihn wieder abschieben.“

„Er ist vom Papst als Minister auf Lebenszeit bestätigt worden. Du willst dich doch nicht etwa mit dem Papst anlegen?“, wendete Christopher ein. Karl knurrte böse: „Der Papst steht mir bis hier.“ Er zeigte mit der Handkante unters Kinn. „Du hast nicht mitgekriegt, wie mich Ignaz vor aller Augen zum Popanz machte.“ Er hob geifernd die Stimme: „Ignaz sagte, dass unsere Präsenz in Brandenburg völlig überflüssig ist und die Anrainer zu sinnlosen Ausfällen reizt. Er berief sich auf die Verträge und meinte, dass die Brandenburger löhnen, wie es vereinbart ist. Da wüsste ich aber von! Wie einen Schulbub hat der mich abgekanzelt.“ Er schnappte nach Luft. Christopher schlichtete: „Du kannst dich doch nicht mit allen und jedem streiten.“

Karl murrte: „Aber ich kann nachweisen, wie unfähig Roman ist.“ Christopher holte geduldig aus: „Wie soll er es denn wissen? Er ist jung, kommt von weither, hat wenig Ahnung von den hiesigen Gepflogenheiten. Er beherrscht wahrscheinlich unsere Sprache nur schlecht. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Das musst du doch einsehen. Sei ihm eine Stütze, gib ihm eine Chance. Der Junge ist fleißig und umsichtig, nicht besser oder schlechter als andere. Nimm ihn dir zur Brust, erkläre ihm, was dir nicht gefällt, wie man es macht und wie du es gern haben möchtest. Vielleicht bist du eines Tages froh, dass du ihn hast. Man verprellt doch nicht Leute, die einem bedingungslos dienen. – Er ist so ein lieber Junge.“ Er lächelte mild und versonnen.

Karl schnaubte: „Vielen Dank auch! Kannst du nicht wenigstens zugeben, dass er die primitivsten Aufgaben nicht erfüllt, dass er nicht die simpelsten Fähigkeiten und Durchsetzungsvermögen hat. – Soll ich etwa zu Fuß nach Brandenburg latschen?“

Christopher erwiderte: „Du musst gar nicht Brandenburg latschen. Was willst du denn da?“

Karl schwieg, denn was er in Brandenburg wollte, konnte er mit niemandem teilen und offenlegen. Das würde auch niemand nachvollziehen wollen oder können. Dessen war er sich sicher, wie er sich seiner Strategie stets sicher war. Offen gestanden wollte er mit einem Feldzug seine verpfuschten Familienangelegenheiten wieder ins Lot bringen. Die Wittelsbacher sollten ihm seine Tochter Katharina zurückgeben, denn er liebte sie mehr als sich selbst, und er setzte auf sie mehr als auf sämtliche Götter und Geister. Nach vier gescheiterten Ehen hatte Karl seiner Tochter beigelegen, um mit ihr nach altem heidnischen Brauch den längst fälligen Thronfolger zeugen. Das hatte auch soweit geklappt und war auf dem besten Wege heranzureifen, als er sie mit Otto von Brandenburg, einem gebürtigen Wittelsbacher, verheiratete. Er musste sie ihm an den Hals werfen, weil die Christen, allen voran der Papst die Kinder Blutsverwandter grundsätzlich nicht respektierten und als Bastarde verfemten. Da wurde dann Otto von Brandenburg der offizielle Gatte Katharinas. Dieser Wittelsbacher schien geeignet, weil er allzeit als umtriebig, blödsinnig und faul galt, und er fand es wohl auch selbst ganz passabel in den Dunstkreis des Kaisers einzuheiraten. Insofern rechnete Karl seinerseits damit, dass der in jeder Beziehung impotente Gatte null Interesse an seiner Frau und ihrem Sohn haben würde und war seiner Sache sicher. Er lockte Otto zu sich nach Prag, schmeichelte ihm und schmierte ihn mit reichlich Gaben. Allein, die Rechnung ging nicht auf. Im fortgesetzten Stadium ihrer Schwangerschaft schnappte sich Otto Katharina und entführte sie nach Oberbayern, auf den Stammsitz seiner Familie. Fort war sie! Fort war jeglicher Einfluss Karls auf das Kind und alle positiven Aussichten waren verpufft. Katharinas Sprössling würde ein Wittelsbacher werden, Karl nicht zum Ruhm, sondern nur zum Ärger gereichen. Da entschied er sich der Wittelsbacher Besitz in Brandenburg anzugreifen, die Kornkammer Europas auszuplündern, den Rest der Welt vom Hauptnahrungsmittel abzuschneiden und sich ganz oben als Monopolist auf die Verteilerliste zu setzen. Dann wolle er doch mal sehen, wer Oberhand und recht behielte! Hunger besänftigte noch immer sämtliche Gemüter und zwang sie zum Einlenken. Über Derartiges schwieg sich Karl freilich aus. Solche Maßnahmen hängte man nicht an die große Glocke, die ließ man ganz einfach nur wirken. Er begründete seinen Aufbruch mit Reisegelüsten, die ja auch gar nicht so abwegig waren. Zumal jeder Fürst öfter Freunde und Rivalen besuchte, im Land schwadronierte, seine Besitzungen visierte und hier und da bei weltlichen Festen und christlich verbrämten Aufzügen aufzutreten pflegte. Im Grunde bestand der Fürsten Alltag aus Sehen und Gesehenwerden. Warum also sollte nicht auch der Kaiser dem Üblichen folgen? Er wiederholte nur: „Ich möchte doch so gern mal wieder verreisen!“

Christopher redete mit Engelszungen: „So eine Reise ist auch anstrengend. Man entbehrt einiges. Das macht Mühe und man läuft Gefahr, irgendwo überfallen und ausgeraubt zu werden. - Bleib daheim. Steck die Füße in die Pantoffeln. Lass es dir gut gehen. Du hast es verdient.“ Er lächelte wieder mild. Karl grummelte nichtssagend. Christopher fand das Aufgebot nach wie vor tödlich. „Das bringt doch alles nichts“, sagte er ein wenig schroff, „und auf Pferd und Wagen kannst du lange warten. Die Bürger haben da keine Lust drauf. So ein Krieg ist kein Pappenstiel. Das wissen die Bürger genauso gut wie du und ich.“ – „Von Krieg war nie die Rede.“ – „Karl! Du weißt es und ich weiß es auch. Was glaubst du denn, was du mit deinen Befehlen losgetreten hast? Die Bürger sind doch auch nicht doof. Mobilmachung nur so zum Spaß? Das nimmt dir doch keiner ab! Da sieht jetzt jeder zu, sein bisschen Zeug zusammenzuhalten.“ Mahnend hatte er sich hochgereckt. „Ich würde mir das nochmal gründlich überlegen.“ Karl brummte: „Das mache ich“, und schwieg. Christopher wähnte sich am Ziel, beruhigte sich und schwieg ebenfalls – .Sie beugten sich übers Schachbrett und versanken im Nachdenken über den nächsten Zug.

Zwei Tage später inspizierte Karl seine Truppe. Die Mannschaften waren angetreten, die Bagagewagen standen übervoll bepackt, die Offiziere saßen hoch zu Ross, alles war zum Abmarsch bereit. Die Frühlingssonne wärmte angenehm, das Wetter war ihnen günstig. Karl erhielt Meldung, dankte, überschaute die exakt geordnete Menge und schritt die Reihen ab. Die Männer waren zünftig gekleidet und ausgesprochen stattlich anzuschauen. Militär hatte etwas stark Beeindruckendes, überwältigend Männliches, und Karl fühlte sich in seine Jugend hinein versetzt, war ob dieser Kraft beflügelt und berauscht. Er lächelte dankbar und aufmunternd diesem und jenem zu, wobei diejenigen kaum zu reagieren wagten. Karl hatte dafür Verständnis und meinte, sie würden sich schon noch lockern und einander näher kommen, zumal er selbst den kleinsten Rekruten für gute Dienste fürstlich zu belohnen pflegte. Er durchschritt die hinteren Reihen und blieb bei den niedrigsten Knappen stehen. Er betrachtete ein sehr junges Gesicht, sah, wie Schweiß perlte, wie fliehender Atem ging und dieses Kind mit Mühe und Not die Last des ihm aufgebürdeten Gepäcks stemmte. Karl wendete sich an seine Offiziere und befahl: „Zehn Knappen wie sie sind zu mir, alle anderen weggetreten.“

Sie traten weg und zehn Knappen mit Sack und Pack vor ihren Kaiser. Der beschrieb mit der Hand einen ausladenden Kreis und sagte: „Ihr lauft hier im Trab diese Runde. Ihr lauft solange, bis ich euch anhalte.“ Die Jungen setzten sich in Marsch. Karl ballerte: „Schneller!“, ließ sich einen Stuhl bringen und setzte sich nieder. Eine Handvoll Offiziere blieb in seiner Nähe. Die Jungen trabten, keuchten, schwitzten, strauchelten, rissen sich zusammen und trabten weiter. Immer im Kreis, immer diese eine Runde, ohne Widerspruch, ohne Murren, mit verbissenem Ehrgeiz, treu ergeben, sich aufopfernd, Runde um Runde. Sie trabten und Karl schaute zu. Die Offiziere sahen sich stumm um und fragend an. Karl sagte nichts und erklärte nichts. Er tat gelangweilt. Die Jungen liefen langsamer. Karl feuerte: „Schneller!“ Sie erhöhten ihr Tempo. Einer brach zusammen, blieb liegen. Karl schnarrte: „Aufheben! Weitermachen!“ Sie hoben ihn auf und schleiften ihn mit. Und der Gefallene fasste wieder Tritt und lief selbstständig mit. Karl grunzte zufrieden.

Diese Aufführung dauerte etwa sechs Stunden an und bis in den Abend hinein. Inzwischen ließ sich Karl ein kühlendes Getränk und einen kleinen Imbiss bringen. Er trank und speiste geruhsam, die Augen auf die ihn umkreisenden Knaben gerichtet, und sobald sie nachließen, befeuerte er sie mit knappen Anweisungen. Endlich brach einer zusammen, blieb liegen, ließ sich auch nicht mehr aufrichten und zeigte kein Lebenszeichen. Karl stoppte: „Die Knappen weggetreten, die Offiziere zu mir.“ Die Kinder taumelten zu ihren Kameraden und wurden dort aufgefangen, von ihrer Last befreit, entkleidet, gewaschen und gebettet. Die Offiziere standen bei ihrem Herrn und hörten die Frage: „Was glaubt ihr, wie viele Meilen sie geschafft haben.“ Einer sagte zehn, einer sagte acht. Sie wussten es nicht. Sie hatten die Runden nicht gezählt. Karl verbesserte: „Exakt dreieinhalb“, und murmelte: „Das war schon mal ganz lehrreich.“ Die Offiziere glotzten dumm. Sie verstanden ihres Kaisers Ambitionen nicht. Bei aller Härte der Ausbildung, bei allem Training – was sollte diese Demonstration? Und auf dem Boden des Übungsplatzes lag der Tote!

Karl verlangte: „Holt mir Jaro Medikus.“ Sie stellten den Befehl durch. Der Arzt, Jaro Medikus, kam, untersuchte den Toten und fasste zusammen: „Erschöpfung, Hitzschlag.“ Karl sagte: „Der Junge starb an der Pest.“ Herausfordernd sah er sich um. „Wir haben es alle gesehen. Er war von Anfang an geschwächt und zeigte sich kümmerlich.“ Die Offiziere bestätigten: „Er trat schon mit Fieber an. Es war die Pest.“ Der Arzt echote: „Er starb an der Pest.“ Er pflegte niemals zu widersprechen. – „Was ordnest du an?“, fragte Karl, und Medikus antwortete: „Die Leiche wegschaffen und beerdigen, das Eigentum des Toten verbrennen, das Quartier ausräuchern, ein Bußgebet in der Kirche.“ – „Die Leiche gleich hier und sofort mit all den Sachen verbrennen“, verbesserte Karl und schloss: „Also dann.“ Er überschaute noch einmal den Platz und schlappte in seine Gemächer.

Dort verschaffte er sich Luft: „Wie blöd ist das denn? Die laden einem Zwölfjährigen Tornister, Lanzen, Messer, Schlafdecken, Proviant für vier, fünf Männer auf und glauben, damit vorwärts zu kommen. Habe ich es hier eigentlich nur noch mit Idioten zu tun?“ Christopher schlichtete: „Nicht alle. Einige sind doch ganz gut dabei.“ Karl erwiderte stur: „Aber die meisten. Die meisten sind Idioten und Irre.“ Christopher nuschelte: „Reg‘ dich doch nicht auf. Sie werden schon noch lernen.“ Karl stimmte grummelnd ein und beruhigte sich.

Das Wort von der Pest zündete wie Schwarzpulver. Die Glocke schrie in auf- und abschwellenden Tönen. Höflinge und Dienerschaft versammelten sich in der Schlosskirche. Die Flammen des Scheiterhaufens leckten nach dem glasklaren, anthrazitfarbenen Sternenhimmel. Die Bürger der Stadt Prag riss es aus ihren Betten, sie rannten auf die Straße, sie schauten zum Burgberg hinauf, und als sie realisierten, welch fürchterliches Unglück über sie hereingebrochen war, strömten auch sie in ihre Gotteshäuser, beteten um Rettung und flehten, dass der Kelch an ihnen vorübergehen gehen möge. Etliche rafften eiligst ihr Zeug zusammen und flüchteten noch in dieser Nacht aus der Stadt. Denn die Pest schonte niemanden, weder Mann, noch Frau oder Kind und vernichtete sie ganz unabhängig von ihrer Weltsicht und Vermögenslage. Die Übrigen blieben und harrten verzweifelt oder tapfer der Prüfungen, die ihnen das Schicksal auferlegt hatte. Angst und Schrecken umschlossen die Stadt mit Bann und Fluch.

Die Männer des Rates der Stadt Prag setzten sich zusammen. Ihre Runde war klein geworden. Wolfgang Eiche, David Hirschfelder und Paul Pavlika bildeten den verbliebenen Rest und widmeten sich ihren Pflichten.

Paul Pavlika eröffnete: „Ich schlage vor, sofort und unverzüglich die Bewohner des Judenviertels festzusetzen.“ Pest und Ghetto waren für ihn zum Synonym geworden. „Wir jagen da einmal die Bürgerwehr durch, nehmen die Verdächtigen fest, hängen sie auf und Ruhe ist.“

David Hirschfelder entgegnete bedächtig: „Ich weiß nicht, was das bringen soll.“

Pavlika reizte: „Hältst dein Händchen über dein Volk?“

Hirschfelder knurrte: „Nicht mein Volk!“

„Aber du machst deine Geschäfte mit denen, wie man sieht.“

Hirschfelder erwiderte: „Von irgendwas müssen die Leute ja leben. Ab und an kleine Hilfsdienste. Versteh doch!“

Pavlika murrte: „Hilfsdienste? Die Juden breiten sich überall aus und treiben sich in jedem Haus rum. Was die wirklich machen, kriegt keiner mit. Wir schieben da einen Riegel vor.“

Hirschfelder mahnte: „Wenn du da drinnen wühlst, riskierst du eine Welle, die uns alle zu erschlagen droht. Das halte ich für den hellen Wahnsinn.“

David Hirschfelder reflektierte, wie er einst schon einmal diesen Wahnsinn mitgemacht und mit Ach und Krach überlebt hatte. In Nürnberg, im Jahr 1350, als Pest und Judenverfolgung zusammenfielen und sich zu einem riesigen Sterben entfalteten, erlebte er das pure Grauen. Was harmlos mit ein paar armen, wahrscheinlich wirklich straffällig gewordenen, zumindest liederlichen Juden begann, zog fürchterliche Kreise. Hirschfelder hatte seine Landsleute, auch Christen, auch Moslems, auch Zigeuner, auch Heiden zu Hunderten sterben gesehen, viele waren ausgeplündert und erschlagen worden, etliche endeten auf dem Schafott. Die Flucht gelang nur wenigen. Und wie sie flohen! Die Hälfte ihres Besitzes ging dabei drauf. Manche liefen mit nichts als einem Hemd und ohne Schuhe davon. Als sie die Landstraße und freies Feld erreichten, wurde sie von marodierenden Banden verfolgt, niedergeschlagen, ausgeplündert und weitergejagt. Nirgends fanden sie Schutz, eine Bedeckung oder Hilfe. Kein Stück Brot wurde ihnen gereicht. Sie durften nicht einmal ihre Toten beerdigen. Sie verloren das Letzte. Wer dieses Grauen überlebte, irgendwie davon kam, irgendwo ankam, sich niederlassen durfte, griff dankbar nach jedem Strohalm. Seither mied Hirschfelder Menschenansammlungen. Er wohnte auch nicht mehr im Ghetto, sondern im ersten Haus am Platze und unter Christen, beschäftigte einen eigenen Rabbiner und Priester und unterhielt ein privates Gebetszimmer. Freilich brachte er ab und an ein paar arme Schlucker in Lohn und Brot. Aber bestimmt nicht, um sich mit ihnen gemein zu machen, oder weil er sonderliche Sympathien zu dem Bettelvolk hegte. Nein! Die kleinen Juden waren einfach williger und billiger als die Handwerker im Zentrum der Stadt. Hirschfelder wäre auch einem Ausmisten des Judenviertels durchaus nicht abgeneigt gewesen – Krankheiten, Schmutz, Dreck und Dieberei hatte gerade dort ihre Heimstatt gefunden –, wenn er nicht bereits einmal den von einer solchen Gewaltkur ausgehenden Sog durchlitten und die neuerliche Brandung hätte befürchten müssen.

Er schlichtete: „Wir müssen ja nicht gleich das Kind mit dem Bade ausgießen, wenn in Wirklichkeit der Kaiser erkrankt ist.“ – „Wo hast du denn die Weisheit her?“ – „Ich sehe ihn fast täglich, und da macht man halt seine Beobachtungen und zieht seine Schlüsse“, antwortete Hirschfelder, warf sich ein wenig in die Brust und hoffte, vom Ghetto abzulenken. Pavlika stockte und registrierte wieder mal, wie ihm Hirschfelder sowohl politisch als auch wirtschaftlich weit überlegen war. Der ging da oben auf dem Schlossberg ein und aus, hatte Einblick in des Kaisers Geschäfte und war groß rausgekommen. Inwendig grollte Pavlika dem Juden und hielt ihn für einen Betrüger oder zumindest für eine kriecherischen Emporkömmling. Allerdings kam er kaum an ihm vorbei. Er ruderte zurück: „Ich will doch nicht alles kaputt hauen. Ich habe doch auch nichts gegen dich persönlich. Aber sieh doch mal ein, wenn wir nichts tun, sind wir erst recht verloren.“ Mit Einsicht in die Notwendigkeit suchte er Einvernehmlichkeit: „Wir können ja von vornherein, die Schuldigen festmachen. Man kennt doch seine Pappenheimer. Wir minimieren den Aufwand, grenzen ein, machen langsam, schauen genau hin. Wir nutzen allen und verhindern sinnloses Gemetzel. Also ich meine, wir verhindern, dass Unschuldige mit reingezogen werden.“ So plädierte er vehement für die gängige Praxis.

David Hirschfelder hörte nicht mehr. Er sah rot! Zu tief saßen die Schmach und die Angst. Die Bilder von Pogrom und Flucht irrlichterten bei Tag und Nacht durch sein Gemüt. Er brüllte aus Leibeskräften: „Lass die Finger vom Judenviertel! Was willst du denn damit? Wie irre muss einer sein, wenn er so ein Gemetzel zulässt? Himmel hilf!“ Er rang die Hände vor der Brust. Er bibberte und bebte. Verzweifelt spie er: „Nutzloser Idiot!“

Das traf Pavlika wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Jude hatte ihn beleidigt! Was erlaubte der sich? Einer derartige Herabsetzung hatte er nicht verdient. Stur war der jüdische Hundsfott und unbelehrbar, ließ sich auf keinerlei Verständigung ein. Pavlika sträubten sich die Nackenhaare. Er verlor die Beherrschung. Er spulte sich hoch. Er schimpfte unflätig und kreischte sinnlos hohles Zeug. Hirschfelder blieb ihm nichts schuldig. Er konterte wie angestochen. Die Emotionen waren aufgebrochen. Sie blitzten sich böse an. Sie ballerten und schnauften, geiferten und spuckten, zeterten und zankten. Es fehlte nicht viel, und sie hätten sich auch noch geprügelt, aber ihr Alter ließ eine handfeste Rauferei nicht mehr zu. So versprühten sie wortreiches Gift, bis schlussendlich weder der eine noch der andere wusste, worum es eigentlich ging.

Wolfgang Eiche, der schweigende Dritte in dieser Runde, blieb ganz und gar bei sich, verfolgte das Gerangel und sinnierte still. Als sich die beiden ausgetobt hatten, sagte er trocken: „Ganz anders.“ Er lächelte verschlagen. „Der Kaiser will reisen? Lassen wir ihn ziehen.“ Er betonte gleichmütig: „Soll er mit all seinen Kranken oder Gesunden abziehen, bitte schön. Was meint ihr?“ Und wieder dieses aufreizende Lächeln.

Hirschfelder und Pavlika schauten sich verblüfft an und um. Des Kaisers Befehle hatten sie völlig vergessen. Sogleich fragten sie einhellig: „Und wie soll das aussehen?“

Eiche erklärte: „Ich denke, wir stellen ein paar Gespanne mit Wagenlenkern zur Verfügung, damit der Kaiser reisen kann. Außer“, er zwinkerte gewitzt, „außer unseren eigenen Fuhrwerken und Leuten freilich, denn die brauchen wir hier für unsere Bürgerwehr, um Ruhe und Ordnung weiterhin aufrechtzuerhalten.“

Hirschfelder und Pavlika nickten bedächtig und konnten die Sache auf einmal nüchtern betrachten: Mit des Kaisers Auszug wären sie aller Lasten ledig. Der erhob Steuern ohne Ende, führte sie mit haarsträubenden Begründungen ein, machte keinerlei Zugeständnisse, hielt sein Wort selten oder nie, regierte bis in die Wohnstuben der Bürger hinein, und war im Grunde nur noch lästig. Mit der gleichen Gründlichkeit, mit der er einst die Stadt hochgebracht hatte, ruinierte er sie derzeit. Ließen sie ihn gehen, dann wäre er fort, und mit etwas Glück würde der Alte draußen verrecken und seinen Anhang mit sich in den Abgrund ziehen. Man hatte schon viel von der Brandenburger urwüchsigen Kraft gehört. Die würden einem wahrscheinlich den Rücken frei machen, und Prag wäre allzeit frei, auf sich selbst gestellt und würde wieder zu einer blühenden Metropole werden. – Da breitete sich sonnige Morgenröte aus. Sie strahlten einander an.

Sie riefen nach dem Stadtschreiber, der wie immer geduldig im Nebenraum gewartet hatte. Wolfgang Eiche diktierte: „Sämtliche Transportmittel und Knechte dienen ab sofort und ausnahmslos dem Kaiserhof.“ Der Schreiber fertigte mehrere Exemplare aus. Die Ratsherren signierten und siegelten die Schriftstücke, wie es der Brauch verlangte. Und als dann wirklich die Sonne aufging, preschten die Boten durch die Gassen, riefen das Volk herbei und verlasen die Verlautbarung ihrer Stadtväter. Die Bürger nickten, verstanden und schickten sich in ihre Aufgaben.

In den Vormittagsstunden rollten große und kleine Gespanne in schier unüberschaubarer Zahl die Schlossfreiheit hinauf. Hofstaat und Militär konnten auswählen, packen und sich einrichten. Der Kaiser war zufrieden und die Truppe bestens gerüstet. Die Prager sahen die vermeintlichen Pestkranken abziehen und waren froh darüber.

Der Tross rumpelte den Schlossberg hinunter, tangierte die Stadt und bog auf die Straße parallel zum Flusslauf der Moldau gen Norden ein. Er folgte dem Straßenverlauf bis zu der ersten großen Gabelung. Geradezu ging es auf dem internationalen Handelsweg über Leipzig, Magdeburg, Hamburg bis nach Bergen. Rechter Hand ging es direkt über die Lausitz ins Zentrum Brandenburgs. Dort bogen die Kaiserlichen ein, zogen bergauf und verschwanden im Wald. Als sich anderntags der Wald wieder lichtete und den Blick in die Ebene freigab, sahen sie ein Land, wie es schöner und friedvoller keiner von ihnen bisher gesehen hatte. In sattes Grün und strahlendes Gelb waren bunt gewürfelt Siedlungen hineingetupft. Über dieser Pracht spannte sich das tiefblau glänzende Himmelsgewölbe und die weiche, warme Luft umflorte das Arrangement liebreizend – ein paradiesisches Bild, wie von eines begabten Malers Hand geschaffen. Karl stockte der Atem und auch seinen Begleitern blieben die Worte im Halse stecken. Das hatten sie nicht erwartet, und der wirkliche Eindruck übertraf sämtliche Erzählungen. Karl war überwältigt und fragte sich fasziniert, warum sie nicht schon viel früher hierher aufgebrochen waren.

K