Grete Minde in Tangermünde - Katharina Johanson - E-Book

Grete Minde in Tangermünde E-Book

Katharina Johanson

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Beschreibung

Tangermünde im Jahre 1609. Albrecht von Minden, Sohn einer der reichsten Familien, wird des Mordes verdächtigt und flieht bei Nacht und Nebel aus der Stadt. Der junge, unbedarfte Flüchtling findet bei Gauklern Aufnahme und Auskommen. Sie ziehen im Land umher und erleben alle möglichen Höhen und Tiefen. Eines Tages stirbt Albrecht. Er hinterlässt eine mittellose Witwe und ein Kind. Diese Witwe, Margarete von Minden, erheischt im Jahre 1614 Beistand von den Schwägern in Tangermünde. Allein, die haben kein Interesse an der Frau des Mörders und werden keinen Zipfel ihres Vermögens mit Margarete teilen. Der Erbschaftsstreit weitet sich zum Skandal aus, lässt soziale Verwerfungen übersehen und bringt ganz Tangermünde an den Rand des Abgrundes. Der vorliegende Text bedient nicht die übliche Schablone von mystischem Mittelalter und grausamen Hexenprozessen, sondern er lotet die frühe Neuzeit tiefgründig aus. Trotz aller Tragik der Ereignisse wird die Geschichte mit einem Augenzwinkern erzählt, nimmt die Akteure beim Wort und garantiert auf diese Weise ein hohes Lesevergnügen.

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Katharina Johanson

Grete Minde in Tangermünde

Historischer Roman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Albrecht von Minden

Die Calberger

Margarete und Albrecht von Minden

Die von Minden in Tangermünde

Der Erbschaftsprozess

Kurfürstin Anna

Kurfürst Georg Wilhelm

Altruismus kleiner Leute

Der Richtspruch

Nach dem Prozess

Kurfürst Georg Wilhelm und König Gustav Adolf

Die Austreibung der Margarete

Das normale Leben

Das verbrannte Tangermünde

Die Hirtenfamilie

Die Ruhe nach dem Sturm

Im Kerker

Die Emigranten

Die Hinrichtung

Die Entstehung der Legende

Dichtung und Wahrheit; ein Nachwort des Verlegers

Impressum neobooks

Albrecht von Minden

Impressum

©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2020

www.herasverlag.de

Layout Buchdeckel Rainer Schulz

Unter Verwendung eines Fotos von Harald Rossa

Am Abend des 1. September 1609 nahm der zwanzigjährige Albrecht von Minden seinen Weg von der Stadt Tangermünde nach dem kleinen, nur etwa dreieinhalb Meilen entfernt liegenden Örtchen Bölsdorf unter die Füße. Albrecht hatte im Krug zu Bölsdorf Spielschulden gemacht und die wollte er an diesem Abend begleichen, um das Spiel endgültig aufzukündigen. Die Schuld betrug nur fünf Taler und wenige Groschen, für arme Leute sicher ein Vermögen, für den Sohn des reichen Patriziers Baltasar von Minden eine Klackssache. Albrecht hätte seine Schuld mit links bezahlen und sich dann aus dem Staube machen können. Er war dem Wirt von Bölsdorf in keiner Weise verpflichtet. Allerdings ärgerte ihn die krumme Tour, wie der Wirt zu dem Guthaben gekommen war, und Albrecht wollte sich Genugtuung verschaffen.

Der Wirt von Bölsdorf, der Kilian Kleiber, war ein gewiefter Falschspieler, der im rechten Moment manipulierte Würfel ins Spiel brachte und die gesamte Bank des Abends gewann. Das hatte sich längst herumgesprochen. Das wusste jeder. Trotzdem trafen sich bei Kleiber allabendlich die Spieler und versuchten ihr Glück aufs Neue. Zuweilen gewann einer, wähnte sich überlegen, um bald danach wieder alles zu verlieren. Bis aufs Hemd ruiniert zogen der eine oder der andere ab. Kilian Kleiber blieb immer der Sieger. Heute nicht! Heute wird der Albrecht dem Kleiber auf die dreckigen Finger klopfen, sein Geld und seine Ehre herausholen und sich dann nie wieder am Spieltisch blicken lassen.

Der Abend war schön. Die Sonne stand schon tief. Die Gegend bot mit ihren saftig grünen Wiesen und Auen an den Ufern längs von Tanger und Elbe einen herrlichen Anblick. Man konnte im flachen, leicht hügeligen Land weit schauen. Seitlich säumten Weiden und Haselsträucher den ausgetretenen und zerfurchten Weg. Die meisten Bäume waren bereits bis auf die Stümpfe herunter geschnitten und trieben an vereinzelten Stellen neu aus. Die Ruten nahmen die Bauern für Körbe und Zäune. Flechten ist eine Winterarbeit. Das wusste Albrecht, weil er häufig draußen vor der Stadt herumstromerte, hier und da bei Bauern oder Fischern in die Stube schaute. Albrecht hatte ein offenes, freundliches Wesen. Das machte ihn unter den Leuten beliebt. Er steckte seine Nase in alle möglichen Angelegenheiten, war neugierig und mitteilsam. Wenn er irgendwo einkehrte, ließen sie ihn gewähren. War er doch angesehener Bürger Spross. Zugleich sagten die Leute von ihm: Er ist ein Herumtreiber, ein Taugenichts, ein Tunichtgut.

Seine hohe Geburt gestattete ihm ein gutes Leben, doch an seiner Ausbildung oder Arbeit hatte bisher niemand Interesse gezeigt. Solange sein um zehn Jahre älterer Bruder Caspar die Hoffnungen auf Nachfolge im väterlichen Geschäft erfüllte, kümmerte sich kaum mal jemand um Albrecht. Freilich hatten die Eltern und der Großvater ihn lieb, erfüllten ihm fast alle Wünsche, aber deren Sorglosigkeit ließ den Jungen verwildern. Sie rechtfertigten sich damit, dass ihm ohnehin ein schweres Leben bevorsteht, wenn er nämlich ins kurfürstliche Heer eintritt. Dann sind Strenge, Entsagung und körperliche Ertüchtigung angesagt. Schon längst hätte Albrecht als Knappe sinnvoll beschäftigt sein können, doch die Mutter barmte, wollte den Knaben nicht hergeben, und der Großvater warnte, man wisse nie, ob der Caspar sich im Handelsunternehmen bewährt. Da ist es gut, einen Reservekandidaten vorzuhalten. Und der lebte einen angenehmen Tag zwischen Müßiggang und Spiel.

Das Spiel erregte und geißelte den Jungen gleichermaßen. Er lobte sich den Nervenkitzel zwischen Einsatz und Gewinn. Er hasste die Bettelei um Geld. Vom Vater war der Spieleinsatz niemals zu erheischen. Der Alte saß auf dem Gelde und rückte nichts für Vergnügungen heraus. Die Mutter zwackte vom Haushalt ab, was ihr Sohn hier und da nebenbei brauchte. Sie gab weichherzig nach und bangte um ihres Jungen zügellose Leidenschaft. Albrecht liebte die Mutter. Er wollte sich ändern. Er hatte die besten Vorsätze. Heute wird er ein letztes Mal spielen, nahm er sich fest vor.

An der Seite schnitt ein junger Mann Weidenruten. Albrecht passierte die Stelle. Sie begrüßten einander. Da erkannte er den Tönnies und blieb stehen. Anteilnehmend fragte Albrecht: „Nun, hast Du schon was für den Winter gefunden?“ Tönnies unterbrach die Arbeit und schüttelte den Kopf.

Er war einer der Hilfsarbeiter, wie sie die Stadt während der Sommermonate zu Hauf beschäftigte und im Winter vor die Tore setzte. Hatten sie Arbeit und Schlafstelle, war gut leben. Fehlte es daran, wurden sie ausgewiesen. Obdachlose und Bettler duldeten die Bürger nicht. Eine straff geführte Stadtwache räumte Abend für Abend die Straßen Tangermündes von herumziehendem Volk frei. Das war in der warmen Jahreszeit erträglich. In den kalten Nächten tödlich. Der Tönnies war jung, kräftig, gewitzt. Er überlebte jetzt schon das fünfte Jahr ohne feste Unterkunft und Anstellung. Albrecht von Minden und viele andere kannten den Tönnies sehr gut.

Zuweilen kam es vor, dass ein Geschäftsmann für einen größeren Auftrag vier oder fünf zuverlässige Arbeiter suchte. Dann rief der den Tönnies. Der kam mit kräftigen, jungen, zuverlässigen Kerlen und sie arbeiten die Aufgaben ab. Da wurde nicht gefeilscht, nicht gepöbelt, nicht geklaut. Da wurde rangeklotzt und der Arbeitgeber war am Ende zufrieden.

Tönnies war ein guter Fachmann. Er hatte Tischler gelernt, aber wegen der strengen monetären Auflagen seiner Zunft kein eigenes Gewerbe aufmachen können. Nun verdingte er sich als Tagelöhner. Die Alternative hieß Auswandern. Allein, der Tönnies liebte die Heimat. Seine Lebensmaxime waren der Stolz und die Bodenständigkeit. Er sagte jedem, der es hören wollte, und auch denen, die es nicht hören wollten: „Wenn die Stadt mir das Gewerbe nicht gibt, strafe ich sie mit meinem Martyrium.“ Er qualifizierte sich selbst zur leibhaftigen Anklage gegen die Engherzigkeit der Tangermünder. In der Tat verfehlte der Vorwurf den Zweck nicht ganz. Die Bürger fühlten sich durch den Anblick der Armen unangenehm bedrängt.

Albrecht bedauerte den Tönnies. Der sagte herausfordernd: „Ist eventuell ein von Minden bereit, mich über den Winter zu beschäftigen und lässt mich bei sich wohnen?“ Albrecht winkte ab. Er wusste, dass sein Vater zu den ganz hartgesottenen Bürgern gehört, die niemals auch nur einen Groschen für einen Bedürftigen herreichen, geschweige denn Quartier für die langen Wintermonate bereitstellen. Eher gab der alte von Minden sein Geld dafür aus, die Stadtbefestigung auszubauen und die Wachen hochzurüsten.

Albrecht selbst genoss Freiheiten wie kaum ein zweiter. Noch dazu hatte er sich mit dem Landsknecht Karl Hafermaß angefreundet, der ihm für ein Handgeld von nur einem Groschen Tag und Nacht das kleine Schlupftürchen im Stadttor öffnete.

„Vielleicht lässt sich mal was arrangieren“, versprach er gutmütig und dachte ehrlichen Herzens: Wenn ich große Schlachten geschlagen habe und zu Ruhm und Reichtum gekommen bin, werde ich ein schönes, gepflegtes Armenhaus einrichten. Dann braucht niemand im Winter zu hungern und zu frieren. Vielleicht gewinne ich ja auch heute die Bank, dann kann ich dem Tönnies das Geld geben und er mietet sich irgendwo ein.

Albrecht verabschiedete sich von Tönnies und lief weiter auf Bölsdorf zu.

An diesem Abend gewann Albrecht mehr als er jemals eingesetzt hatte. Er spielte zunächst sehr vorsichtig, steckte sein Geld weg und hielt sich bei den weiteren Runden bedeckt. Immer nur kleine Einsätze. Nach einer Weile hatte er seine Schuld getilgt und noch gutes Geld heraus. Entspannt konnte er dem Spiel zuschauen und zuweilen selbst mitmischen. Der Wirt, Kilian Kleiber, nahm anfänglich nur sporadisch am Spiel teil, denn er hatte Gäste zu bedienen, die Magd zu unterweisen und draußen im Hof die Pferde der Durchreisenden zu versorgen. Zu später Stunde, als im Krug nur noch wenige, sehr müde Gäste bei einem späten Bier hockten, gesellte sich Kilian fest zu den Spielern. Die Szene war bekannt: Kilian forderte den Einsatz. Die ließen sich gern überreden. Hier saßen keine Feiglinge. Kilian wechselte die Würfel aus, mischte schnell, griff sich in die Jackentasche, mischte wieder, ließ die Würfel auf die Tischplatte rollen. Sechsmal die Sechs. Erstaunen, Bewunderung, Lob. Kilian strich die Bank ein.

Neue Runde, neues Glück. Die Magd brachte Getränke auf Kosten des Hauses. Sie ließen sich nicht lumpen. Sie langten zu. Die Münzen kullerten auf den Tisch. Kilian gewann wieder, gewann in einem fort. Die verblüfften Spieler berechneten mit vernebeltem Gehirn ihre Chancen und setzten neu. Diese eine Runde noch. Der Kilian muss doch zu bremsen sein. Die Glückssträhne muss heute abreißen. Kilian war nicht zu bremsen. Die Glückssträhne riss nicht ab.

Als Albrechts Taschen restlos leer waren, gewahrte er, dass sein guter Vorsatz zerstoben ist. Wütend brüllte er: „Du Betrüger!“ Die Mitspieler griffen den Ausbruch wie einen Schlachtruf auf. Sie stürzten sich zu fünft auf den Wirt, schlugen auf ihn ein, fledderten im die Kleidung runter. Mit „Du Falschspieler!“ und „Du Betrüger!“ peitschten sie sich gegenseitig hoch. Der Wirt lag am Boden. Da sauste ein Knüppel auf den Wehrlosen nieder. Der Kopf war tief gespalten. Blut rann heraus. Der Mann hauchte sein Leben aus. Die Spieler ernüchterten augenblicklich. Die Magd schrie: „Mord!“

Sie starrten sich entsetzt an.

Die Magd geiferte: „Mörder.“ Einer sagte: „Der Albrecht hat angefangen.“ Ein zweiter sagte: „Der Albrecht hat den Wirt erschlagen.“ Da wussten alle: „Albrecht ist der Mörder.“

Die Gruppe der übrigen Spieler rückte zusammen und von Albrecht weg. Der wich zur Türe aus. Die anderen folgten ihm. Albrecht versuchte stammelnd zu erklären: Er habe doch den Knüppel nicht geführt. Er habe doch niemanden erschlagen wollen. Albrecht drückte gegen die Tür. Die Tür sprang auf. Er stolperte ins Freie.

In der tiefen Dunkelheit der Nacht, nur der Mond gab fahles Licht, strauchelte Albrecht heimwärts. Er brachte nicht zusammen, was er soeben getan hatte. Er klagte und weinte und taumelte vorwärts. An einem Weidenstumpf setzte er sich nieder und offenbarte dem lieben Gott sein Leid. Als er die ganze Litanei zum dritten Mal runter hatte, sprach eine Stimme zu ihm: „Junge, da hilft nur eins: Auswandern.“

Albrecht war so fertig, dass ihn nicht mal mehr erstaunte, wie Gott zu ihm sprach. Er führte Rede und Gegenrede mit Gott, bis der sich zu erkennen gab. Der Tönnies war durch den krakeelenden Nachtwandler aufgeschreckt und hatte ihn aufgespürt. Tönnies wiederholte: „Da hilft nur eins: Du musst auswandern.“ Er entwickelte nüchtern die Aussichten: „Auf Mord steht die Todesstrafe. Ist ganz klar. Du bist der Täter. Fünf oder mehr Zeugen gegen Dich. Du kannst das Gegenteil nicht beweisen. Die Sache ist gelaufen.“

Albrecht sank zusammen.

Tönnies behutsam: „Geh‘ heim, packe ein paar Sachen zusammen, nimm etwas Geld mit und zieh‘ in die Welt. Bevor der Mord ruchbar wird, kannst Du über die Landesgrenze sein. Man fandet nach Dir, man sucht Dich, aber niemand findet Dich. Verdinge Dich draußen, so gut es geht, und komm später als reicher Mann heim, dann ist alles vergessen. Die von Minden haben doch Geld, die werden inzwischen den Mordprozess schon niederschlagen.“

Albrecht schöpfte Hoffnung.

Er klopfte seine Kleider ab, suchte den Weg, wollte nach Hause laufen und tun, wie ihm geraten war. Da merkte er, dass ihm ja nicht mal mehr der eine lumpige Groschen, notwendiges Salär für die Passage durchs Stadttor, geblieben war. Wie ein gerupftes Huhn stand er vor Tönnies. Alles ist aus, alles ist verspielt.

Nein.

Tönnies hielt dem Albrecht ein silbern glänzendes Geldstück hin. „Nimm das und lauf!“, sagte er. Albrecht ahnte, dass dieses Geld Frühstück, Mittag und Abendessen des armen Mannes für die nächsten Tage war. Er kannte die gängigen Preise. Er umarmte und küsste den Tönnies: „Das vergesse ich Dir nie.“ Tönnies hielt barsch dagegen: „Lauf, sonst haben Dich die Häscher, bevor Du es mir vergelten kannst.“

Albrecht stob davon.

Er erreichte ungesehen das elterliche Anwesen in der Schlossfreiheit. Er schlüpfte in eine Seitengasse, erkletterte die den rückwärtigen Garten umgebende Mauer, balancierte darauf entlang bis zum Schuppendach, überquerte es, erklomm das offene Treppenhaus, stieg bis ganz nach oben, schwang sich übers Geländer zum Fenstersims, drückte das vorsorglich nur angelehnte Fenster auf und ward in seinem Zimmer. Albrecht verzichtete auf Licht und vermied jedes Geräusch. Leise, ganz leise packte er etwas Kleidung in seinen Rucksack und dazu einige Dinge, von denen er glaubte, dass sie Wert haben könnten. Er nahm sie an Geldes statt. Irgendwie musste er sich ja ernähren und eventuell Fuhrleute dingen, auch wollten der Weg durch die Stadtmauer und des Torwächters Schweigen erkauft sein.

Licht erhellte das Zimmer. Albrecht fuhr herum und schaute in die schreckensgeweiteten Augen seiner Mutter. Eine Kerze haltend stand sie im Türrahmen. „Was ist geschehen?“, fragte sie, obwohl sie längst wusste, dass ein großes Unglück passiert ist. Albrecht schilderte mit flatternder Stimme, was sich im Krug zu Bölsdorf ereignet hatte und dass er als der Mörder erkannt ist.

Der Sohn ein Mörder? Das glaubte die Mutter nicht. Wobei, er war ein Spieler. Wer weiß, was ein Spieler in seiner größten Bedrängnis tut? Sie schob zweifelnd ihre Gedanken hin und her. Eins stand jedenfalls fest: Ihr Kind ist in Not. Sie muss helfen. Er braucht Geld, dringend Geld. Geld hatte sie kaum, nur ein paar Groschen.

Die Mutter verschwand und kehrte mit den Münzen wenige Augenblicke später wieder zurück. Sie drückte dem Jungen das Geld in die Hand. Er steckte es weg. Zuwenig. Das wird kaum ein paar Tage langen. Entschlossen nahm sie ihr Goldkettchen vom Hals. Eine zierliche Kette mit einem winzigen Anhänger, der wie eine Krone geformt ist. Sie legte die Kette in ein kleines Tuch, streifte auch noch zwei Ringe von den Fingern und gab die dazu. Sie verknotete das Stück Stoff und reichte es dem Sohn.

Sie umarmten und küssten sich. Die Mutter löschte das Licht. Der Albrecht verschwand auf dem gleichen Wege wie er gekommen war. Die Mutter wachte am offenen Fenster bis der Morgen graute.

Die Calberger

Ohne Schwierigkeit kam Albrecht aus der Stadt heraus. Dem Torwächter Karl Hafermaß hatte er zwei Groschen gegeben und die Lüge aufgebunden, in drängendem Auftrag seines Vaters unterwegs zu sein. Ganz unwahrscheinlich war das nicht, zumal um diese Zeit reichlich Warenlieferungen in der Stadt erwartet wurden, manche sich verspäteten, auch verirrten und die betreffenden Kaufleute gern ihre Agenten losschickten, um die Säumigen sicher einzubringen.

Albrecht lief auf Stendal zu. Die Straße war so zeitig am Tag menschenleer. Albrecht strauchelte, er war erschöpft, völlig übernächtigt und gestresst, außerdem hatte er seit Stunden nichts gegessen, vom Alkohol war der Magen ausgehöhlt. Albrecht war in jämmerlicher Verfassung. Die Sonne zeigte sich am Horizont, als der Flüchtling etwa die Hälfte des Weges nach Stendal bewältigt hatte.

Zwischen den beiden Städten Stendal und Tangermünde gab es eine gut ausgebaute und von patrouillierenden Landreitern bewachte Straße. Die beiden Städte praktizierten einen ständigem Waren- und Personenaustausch. Was hier fehlte, wurde freizügig von dort ergänzt und umgekehrt. Die eifersüchtig gehütete Selbstständigkeit der einen wie der anderen Bürgerschaft wurde durch die städtische Partnerschaft sukzessive aufgeweicht und bereichert. Dieser Brauch ließ die Tangermünder und die Stendaler wie in einer großen, weit verzweigten Familie leben. Man kannte sich untereinander, besonders die wohlhabenden Bürger pflegten einen regen Austausch, nicht nur zu Geschäftszwecken.

Daher war für Albrecht die Stadt Stendal auf keinen Fall ein sicherer Hort. Sobald seine Tat ruchbar wird, würde fast jeder Mensch hier und in der näheren Umgebung ihn erkennen und ausliefern können. Er musste also heute noch, so rasch wie möglich, Stendal passieren und dann weiter fort. Immer weiter von dieser Gegend hier weg. Nur wohin? Albrecht hatte so gut wie keine geographischen Kenntnisse. Wo liegt das Ausland? Wo ist die Grenze? Er wusste es nicht.

Von Stendal kamen zwei Berittene auf ihn zu. Landreiter! Albrecht schlotterte vor Angst. Er hatte keine Papiere, keinen Geleitbrief. Allein seine Kleidung wies ihn als wohlhabend aus. Albrecht baute sich demütig am Wegesrand auf. Mit dem Mut der Verzweiflung hoffte er, durchschlüpfen zu können. Auf seiner Höhe angekommen fragte der eine schon: „Nun, wohin zu so früher Stunde?“ Albrecht log: „Bin in des Vaters Auftrag unterwegs.“ Der Landreiter fragte vom Pferd herab: „Gibt es eine Legitimation?“ Albrecht kramte in seinen Kleidern, täuschte Suchen vor. Die Augenblicke dehnten sich schmerzhaft. Da wurde dem zweiten Reiter die Sache zu müßig: „Lass doch den Jungen laufen. Das ist doch der junge von Minden. Der ist in redlichen Geschäften unterwegs.“ Albrecht fiel ein Stein vom Herzen. Sie grüßten einander und zogen weiter.

Ein ganzes Stück wegabwärts musste sich Albrecht niederlassen und ausruhen. Die soeben ausgestandene Angst lähmte ihm die Glieder. Schlimmer noch: Man hatte ihn erkannt! Wurde jetzt bereits nach ihm gefahndet, dann war es eine Kleinigkeit, ihn einzuholen und festzusetzen. Albrecht überlegte, ob es nicht besser sei, sich zu stellen oder sich gleich in der Elbe zu ertränken. Der Fluss war nicht weit. Ihm schwanden die Sinne, er kam nicht hoch, es ging nicht weiter.

Von fern hörte er Pferdegetrappel, Räder knarren. Sie kommen schon, sie holen ihn! Albrecht blieb hocken. Er dachte nicht an weglaufen. Es hat ja eh alles keinen Sinn mehr. Er schloss die Augen.

Der Wagen stoppte neben Albrecht und eine Mädchenstimme rief: „Da schau nur, Vater! Ein Kranker, ein Verletzter?“ Eine Altmännerstimme antwortete unwirsch: „Musst Du jede Kreatur aufsammeln?“ Albrecht öffnete die Augen und sah einen mit buntem Tuch bespannten Wagen. Er folgerte richtig: Gaukler auf ihrem Weg zur nächsten Stadt. Ein junges Mädchen sprang behände herab und lief auf ihn zu, ein Alter saß auf dem Kutschbock und blickte mürrisch.

Das Mädchen fragte sorgenvoll: „Ist Ihnen etwas geschehen? Sind sie verletzt oder krank, Herr?“ Albrecht gab hilflos das Naheliegende an: „Ich habe Hunger?“

Das Mädchen lachte: Ein reicher Mann und lagert hungernd am Wegesrand. Dinge gibt es zwischen Himmel und Erde! Sie ordnete das Notwendige an: Der Alte musste den Wagen auf eine Ausbuchtung an der Straße lenken und das Pferd versorgen. Das Mädchen kletterte auf dem Wagen herum, nahm dies und jenes, lief hin und her, und hatte innerhalb von Minuten ein kleines Feldlager errichtet. Vor Albrecht bauten sich Lebensmittel auf und er wurde freundlich angehalten, sich zu stärken. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Sie frühstückten gemeinsam. Das Mädchen plauderte aufgeräumt belangloses Zeug, der Alte knurrte zuweilen zustimmend oder ablehnend, Albrecht blieb wortkarg und dachte: Henkersmahlzeit. Nichtsdestotrotz kam er zu Kräften und die Lebensgeister kehrten zurück.

Das Mädchen registrierte mit Genugtuung, wie er sich erholt, Farbe in sein Gesicht zurückkehrt, seine Körperspannung sich langsam wieder aufbaut. Nun würde er ohne ihre Hilfe weiter kommen. Sie hatte gern geholfen. Auch ihr Vater, der stets zurückhaltend auf ihre offene und freizügige Art reagierte, duldete nicht nur ihr Tun, sondern er war auch stolz auf sie. Sie hatte nämlich heilende Kräfte. Da war es dann schon eine Wonne, mit anzusehen, wie sich einer belebt und aufsteht.

Die drei lächelten in stillem Einvernehmen: Das Mädchen zufrieden, der Vater stolz und Albrecht dankbar.

Während Albrecht nach Dankesworten suchte, näherten sich von Tangermünde her kommend die beiden Landreiter von heute früh. Albrecht erkannte sie sofort, erbleichte und sank in sich zusammen. Sie haben mich! Die Reiter sausten vorbei. Das Mädchen beobachtete die Szene mit wachen Augen und folgerte: „Herr, Sie werden gesucht?“ Albrecht nickte, und weil er ja nun doch schon erkannt war, stellte er sich ordentlich vor: „Mein Name ist Albrecht von Minden aus Tangermünde.“ Der alte Mann quittierte die Höflichkeit: „Das ist meine Tochter Grete und ich bin Christian Calberger.“ Das Mädchen verzog schmollend den Mund: „Vater, ich bin kein kleines Kind mehr!“ Christian friedfertig: „Gut, gut. Sie heißt Margarete Calberger.“

Eine nachdenkliche Pause entstand. Die Calberger schauten offen. Albrecht dürstete nach Entgegenkommen. Freimütig setzte er das ganze Dilemma seines verpfuschten, verwirkten, nutzlosen Daseins auseinander. Die Calberger lauschten anteilnehmend. Die Sache ging ihnen nahe. So etwas kannten sie. Wie schnell kommt einer in Mordverdacht. Dieser Junge ist doch kein Mörder.

Inzwischen kam die Sonne höher, die Straße belebte sich, Fuhrwerke und Fußgänger strebten ihrem Ziel zu. Die Gaukler lagerten seitlich. Der eine oder andere Passant dachte geringschätzig: Die haben es gut, können am hellerlichten Tag faul in der Sonne liegen. Allein, die kleine Gruppe wälzte ein schwerwiegendes Probleme: Wie kommt der Flüchtling unbeschadet ins Ausland?

Christian und Margarete verstanden sich auf allerlei Handwerk. Das brachte ihr Beruf mit sich: Sie konnten singen, tanzen, spielen, dichten sowieso. Stellmachern, tischlern, nähen, kochen, heilen - das kam noch oben drauf. Aber eins konnten sie nicht: Sie waren keine Schmuggler oder etwa Fälscher. Albrecht brauchte gute Papiere oder eine sichere Reiseroute jenseits der offiziellen Straßen. Sie entwickelten und verwarfen etliche Pläne. Stunden gingen darüber ins Land. Sie nahmen eine weitere Mahlzeit zu sich. Die drei Menschen näherten sich einander an. Zu einem tragfähigen Ergebnis gelangten sie nicht. Die Calberger mussten den unbeholfenen Jungen sich selbst überlassen und rüsteten zum Aufbruch.

Plötzlich kam Christian die zündende Idee: „Kinder, manchmal ist man wie vernagelt! - Haben wir den ganzen Tag hier gehockt und um nix debattiert? Dabei hätten wir doch eins sehen müssen: Kein Mensch hat uns behelligt. Keine Patrouille, kein Neugieriger, niemand. Na klar! Gaukler auf der Durchreise. Bei uns vermutet niemand den Gesuchten.“ Das Mädchen und der Junge waren verblüfft und hörten nun, wie der Alte den rechten Plan entwickelte.

Die Calberger hatten einen Freibrief für ihr Gewerbe und damit die Möglichkeit, überall durchzukommen, vorausgesetzt, es dient der Berufsausübung. Allgemeinhin genossen Gaukler sowieso freies Geleit. Narrenfreiheit. Der Albrecht kann also als Harlekin zurecht gemacht mit der Truppe reisen und kommt auf diese Weise ganz sicher an die Grenze. Was dann noch fehlt, ist ein Schleuser, der die Passage ins Ausland bewerkstelligt. Das wird sich an Ort und Stelle schon irgendwie regeln lassen.

Da packten sie wieder aus und richteten sich hier draußen für die Nacht ein.

Im Schein des Lagerfeuers nähte Margarete ein Kostüm. Christian betätigte sich als Frisör und Maskenbildner. Und als Albrechts alte Kleidung in den Flammen zusammenschrumpfte, sah er erleichtert sein bisheriges Leben entschwinden. Er behielt nur das Kettchen und die zwei Ringe der Mutter bei sich.

Am nächsten Morgen weckte die Sonne drei lustig ausschauende Gaukler, die sich alsbald auf den Weg nach Stendal machten.

Die Torwache begrüßte den hereinziehenden Wagen mit „Hallo“ und dem Freudenruf „Spielleute sind da!“. Die Stendaler liefen herbei.

Auf dem Kutschbock balancierte tänzelnd die Margarete, warf Kusshände nach links und rechts, verbeugte sich und lachte. Den Wagenlenker machte Albrecht. So hatte er eine feste Aufgabe und erregte die geringste Aufmerksamkeit. Vater Calberger lief neben dem Wagen her, streute bunte Schnipsel und spaßige Sprüche unters Volk. „Kommt, kommt zum Marktplatz! Heute das große Spiel um Moritaten und Hexenzauber!“, warb er für die Aufführung. Halb gruselnd, halb belustigt hörten das die Leute und nahmen sich vor, später vorbeizuschauen. Es kostete ja nichts, mal eine Weile zuzusehen. Man gibt ein Salär, wenn man gut bei Kasse ist und das Spiel einem gefällt. Trifft das nicht zu, geht man heim und hat nichts verloren.

Auf dem freien Platz vor dem Rathaus stoppte Albrecht das Gefährt. Christian Calberger ging zum Platzmeister und ließ sich die Stelle zeigen, wo sie die Bühne aufbauen können.

Neugierige fanden sich schon jetzt ein: Schausteller haben einen hohen Seltenheitswert, erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Calberger stellten Böcke auf, legten Bretter darüber, spannten Seile, hängten Vorhänge an. Im Handumdrehen war ein kleines Theater entstanden.

Als alles hergerichtet war, sprach Christian im Rathaus vor. Der strenge Beamte fragte: „Calberger-Truppe. Wie viel Personen?“ Der Alte sagte fest: „Wie immer. Drei Leute. Margarete, Albrecht und Christian Calberger.“ Nun hätte der Beamte gewissenhaft auch noch Personalien und Identität der einzelnen Akteure überprüfen müssen. Allein, er verspürte dazu wenig Lust. Hinausgehen oder die Leute einbestellen, das macht alles Umstände und zieht mit Sicherheit den Unmut der Schaulustigen auf sich.

Unmut, der durchaus seine Berechtigung hat, meinte er und dachte: Marktplätze sind seit archaischen Zeiten Plätze des Friedens. Freier Handel und Wandel, Toleranz und Verzicht auf jegliche Gewalt. Verwehrung von Aufenthalt und Berufsausübung ist an sich schon Gewalt. Unruhe gilt es zu vermeiden. Der Beamte balancierte vorsichtig in dem Dreigestirn zwischen Pflichterfüllung, Realitätssinn und Bequemlichkeit. Drohend ließ er hören: „Ich hoffe doch, dass die Angaben so stimmen.“ Christian nickte treuherzig, bekam den Sichtvermerk auf dem Geleitbrief, wurde ins Meldebuch eingetragen, bezahlte eine Gebühr und erhielt eine Quittung darüber. Erleichtert ging er auf den Marktplatz zurück. Ihr Aufenthalt war genehmigt und die Spur des Albrecht von Minden war verwischt.

Es war noch Zeit bis zur Aufführung. Die bestand regelmäßig aus dem gleichen Programm: Artistische Darbietungen und Gesang der Margarete, Zauberei und Vortrag der neuesten Moritaten von dem Alten. Die beiden Schauspieler bauten für den Albrecht auch eine Rolle ein. So blieb er unauffällig. Als Statist hatte er etwas hin- und herzubringen oder zuzureichen. Abschließend würde er unterm Publikum mit dem Sammeltöpfchen herum gehen. Das konnte er leisten. Gewissenhaft lernte Albrecht die Stichworte und probte das Gehen auf der Bühne. Er unterwarf sich dankbar dem Schutz der Calberger.

Sobald auch dies besprochen war, schminkte sich Margarete ab, zog ihr Kostüm aus und streifte ihr Alltagskleid über, steckte ein Fläschchen mit einer Essenz zu sich und verabschiedete sich von den Männern. Der Vater wusste Bescheid. Albrecht musste nicht alles wissen. Sie verschwand in einer vom Marktplatz abgehenden Gasse. Christian und Albrecht vertrödelten die Zeit, aßen, tranken, inspizierten das Equipment ihres Theaters und Albrecht lauschte ehrfurchtsvoll den halbwahren Erfolgsgeschichten des alten Schauspielers.

Derweil lief Margarete zielstrebig durch ein paar Gassen und gelangte zu dem Haus des Jörgen Haffner. Sie bediente den Klopfer. Der schlaftrunkene Hausherr öffnete, blinzelte, überlegte, erkannte und rief fröhlich: „Die Calberger, Margarete!“ Er nötigte das Mädchen über den Flur ins Wohnzimmer und begann erfreut: „Mädchen, was bist Du groß geworden und der Mutter so ähnlich. Man glaubt es kaum. Gott habe die Mutter selig!“ Haffner faltete die Hände, murmelte ein Gebet und kehrte alsbald seine Aufmerksamkeit dem Mädel wieder zu. Sie genoss die Zutraulichkeit und Offenheit des Mannes und ließ sich gern mit übertriebenen Lobesworten willkommen heißen. Als der Hausherr seiner Freude ausreichend stattgegeben hatte, fragte er endlich, ob sie essen oder trinken oder beides begehre. Margarete lehnte ab, sie habe nur wenig Zeit, sie müsse in Kürze zur Aufführung zurück sein. „Nun, was bringst Du?“, fragte er ernst.

Margarete zog das Fläschchen aus dem Kleid, hielt es ihm hin und sagte: „Absolut zuverlässig. Es tötet auf Anhieb und ist völlig schmerzfrei.“ Haffner zögerte: „Bist Du Dir sicher?“ Margarete sagte: „Sicher sein, kann man sich nie, aber ich habe es an einer Sterbenden und an der Katze ausprobiert. Herz- und Pulsschlag gingen ganz sanft nach unten, keinerlei Angst- oder Wahnzustände. Ich denke, es ist sicher.“ Jörgen Haffner schüttelte das Fläschchen und fragte: „Was ist es? Und wie viel braucht man?“ Margarete: „Es ist die Colchicum autominale. Ein kleines Löffelchen voll, das müsste genügen. Da bist Du komplett auf der sicheren Seite.“ Haffner drehte die Augen nach oben: „So wahr mir Gott helfe! - Was bekommst Du dafür, Mädel?“ Margarete lächelte sanft und wünschte: „Einen Platz im Himmel.“ Haffner sprach wissend und gütig: „Das kann ich Dir nicht versprechen, Kind. Aber wenn Du mal in Not bist, dann komm zu mir. Ich helfe Dir mit allem, was ich habe.“ Sie verabschiedeten sich. Er brachte sie durch den Flur zur Haustür.

Margarete trat auf die Straße hinaus und blickte sich um. Einige Nachbarn reckten die Hälse. Margarete lächelte und dachte amüsiert: Ja, grübelt nur. Was habe ich wohl mit dem Scharfrichter zu schaffen? Da kommt ihr nie drauf, frohlockte sie und lenkte ihre Schritte eilig Richtung Marktplatz.

Zum Theater zurückgekehrt schlüpfte Margarete in ein schillerndes Knabenkostüm, zwängte das Haar unter die Narrenkappe, zeichnete Mund, Wangen, Augen mit Farbe grell nach, überschaute das bunte Völkchen der Zuschauer und examinierte die Ihren streng. Als sie alles gut vorbereitet fand, begannen sie das Spiel.

Der Albrecht hatte seine Rolle gewissenhaft studiert und wartete hoch konzentriert auf seinen Einsatz. Er betrat die Bühne und betrat sie schon falsch. Margarete runzelte die Stirn und ließ ihn gewähren. Albrecht wollte es besonders gut machen. Er tat es linkisch, ungeschickt, verstand den Wink nicht, verdarb das Konzept. Margarete geriet in Unruhe und überspielte die Pannen. Der alte Calberger raufte sich Haare und beherrschte sich nur mühsam. Das Spiel muss weitergehen. Man verdirbt die Aufführung nicht wegen einer schwachen Stelle. Das Spiel ging weiter. Christian und Margarete agierten wie im Fieber. Albrecht führte sich unmöglich auf.

Die Leute grinsten, die Leute lachten. Sie achteten nicht mehr auf das Geschehen, hatten nur noch Augen für Albrecht. Sie warteten auf des Jungen tapsige Auftritte. Er wäre gern fortgelaufen, merkte er doch, dass irgendetwas nicht rechtens läuft. Aber er musste weitermachen. So war es vereinbart. Weglaufen geht nicht. Unglücklich stolperte er hierhin, stolperte dorthin.

Die beiden Schauspieler beobachteten die Menge. Das Volk bog sich vor Lachen. Lachten die den Albrecht aus? Oder lachten die den Albrecht an? Ist das Schadenfreude oder Mitgefühl? Christian und Margarete begriffen schlagartig: Albrecht gibt gerade den perfekten Hanswurst.

Sie arbeiteten ihm zu, improvisierten Fallen, ließen ihn hineintappen, erlösten ihn, um ihn gleich wieder zu schurigeln. Albrecht rotierte, ohne recht zu verstehen.

Am Schluss brandete ein Riesenapplaus auf. Man rief nach Albrecht Calberger, forderte ihn vors Publikum. Er verbeugte sich wieder und wieder. Man ließ ihn nicht gehen. Sie lachten Freudentränen.

Linkisch, dumm, erschöpft ging Albrecht mit dem Sammeltöpfchen durch die Reihen der Zuschauer. Sie warfen Münzen und Schmuck zu Hauf hinein. Sie schlugen ihm auf die Schulter, sie sprachen ihm zu, sie freuten sich, sie tätschelten ihn. Das ausgelassene Volk feierte seinen Spaßmacher. Sie lobten den kleinen, getretenen, wackeren Mann.

In nur drei Stunden hatten die Calberger mehr verdient als sonst in einem halben Jahr. Das war die gute Bilanz. Das Schlechte war, dass Geld auch immer Diebe anzieht. Man musste es gut verstecken. Das beste Versteck ist immer ein offen liegendes. Margarete nähte einen doppelten Boden in des Pferdes Futtersack, schob den Schatz dort hinein und hängte den mit Heu gefüllten Sack dem Tier vor. Niemand wird dort suchen.

Bis weit nach Mitternacht saßen die drei Calberger zusammen und berieten, wie es weiter gehen soll. Der ursprüngliche Plan, ein paar Tage in Stendal aufzutreten, musste aufgegeben werden. Die aus der Notsituation heraus spontan geborene Rolle des Albrecht war nicht oder nur nach sehr hartem Training wiederholbar. Albrecht ist kein Schauspieler. Außerdem konnte man sich in Stendal nicht mehr frei bewegen. Was den Albrecht hatte bedecken sollen, rückte ihn ins Rampenlicht. Irgendjemand würde ihn auf jeden Fall erkennen, denn wer derart berühmt ist, wird gut beobachtet. Sie mussten dringend aus dieser Gegend hier fort.

Als die Kirche die Morgenandacht einläutete, waren die drei Gaukler bereits auf der Landstraße Richtung Norden unterwegs.

Ihr Ziel war die etwa einhundert Meilen oder zehn Tagesmärsche entfernt liegende Stadt Lüneburg. Dort konnten die Calberger ihr Winterquartier nehmen. Die Wirtschaft „Zu den Eichen“ bot günstige Konditionen für Spielleute und die Lüneburger waren ein dankbares und freigiebiges Publikum, welches selbst an kalten Tagen die eine oder andere Aufführung gut besuchte und hoch honorierte.

Ihre Reisegeschwindigkeit war gering, gerade mal normales Schritttempo. Man schaffte höchstens zehn Meilen am Tag, denn die Wege waren auf großen Abschnitten nur unter elender Mühe passierbar. Außerdem hatten die Calberger eine ordentliche Last zu befördern. Ihr gesamter Besitz türmte sich auf dem Wagen, das Pferd durfte man nicht überanstrengen, sonst saß man unweigerlich fest. An den längs der Straße regelmäßig eingerichteten Gasthäusern hätten die Durchreisenden zwar ein frisches Zugtier gegen ihr ermüdetes eintauschen können, aber die Calberger scheuten die viel zu hohe Taxe für einen derartigen Luxus und man war ja an den alten Gaul auch längst gewöhnt. Sie liebten und schätzten ihr Pferdchen.

In jeder Ortschaft, die die Calberger passierten, gaben sie eine Probe ihrer Kunst. Die finanzielle Ausbeute war gering, rechtfertigte oft die Mühe, die Bühne aufzubauen kaum. Die Leute waren arm und der berauschende Erfolg des Albrecht als Hanswurst wiederholte sich nicht. Er war eben kein Schauspieler.

Das konnte die Calberger nicht verdrießen, denn Albrecht machte sich als junger, kräftiger Arbeiter unentbehrlich. Er schob den Wagen über schwierige Stellen und half dem Pferd die Last zu bewältigen. Manche Brücke war überhaupt nicht stabil genug. Dann musste alles entladen, einzeln rüber geschafft und drüben wieder aufgeladen werden. Da lief der Albrecht zu Höchstform auf. Er hatte den drängenden Wunsch, seinen Rettern nützlich zu sein.

Gemächlich kamen sie voran und wurden mit der Zeit immer enger vertraut. Albrecht fühlte sich unter den Calberger geborgen und wohl. Der Plan, sich ins Ausland abzusetzen, rückte völlig in den Hintergrund. Margarete und Christian konnten sich auch nicht vorstellen, auf den Jungen verzichten zu müssen. Ohne viele Worte, verschrieb er sich gänzlich der Truppe und alle waren es zufrieden.

Dunkle, undurchsichtige Wälder wechselten mit offenem, freiem Feld. Allmählich färbte sich das Blattwerk bunt. Die Landschaft war atemberaubend schön. Wie die drei Menschen so durch die Gegend zogen, sich an der Natur erfreuten, verspürten sie eine wahre Lust zu leben.

Soeben den holprigen Hohlweg eines düsteren Waldstücks verlassend, zeigte sich ihnen eine ziemlich große Wiese am Rande eines kleinen Sees. Bizarre, lila Blumen standen zu Hauf zwischen dem matten Grün. Das war herrlich anzusehen. Margarete stoppte den Wagen ab und legte fest: „Hier rasten wir wenigstens zwei Tage.“ Albrecht spannte das Pferd aus. Vater und Tochter hantierten auf dem Wagen und der Junge führte das Tier auf die Wiese. „Um Himmels Willen!“, schrie Margarete erschrocken auf, „bring sofort das Pferd zurück!“ Albrecht gehorchte und lernte nun Folgendes:

Die kleine Blume auf der Wiese ist die hochgiftige Colchicum autominale, im Volksmund auch Herbstzeitlose genannt. Sein Verzehr, selbst das intensive Einatmen des Duftes, der Abrieb der Pflanzenteile auf der Haut führt mit großer Sicherheit zum Tod. Sehr geringe Dosen können wahrscheinlich ausgeschlafen werden, doch wo liegt die Grenze des Verträglichen? Also Hände weg vom Colchicum autominale. „Und was tun wir dann hier in dieser giftigen Gegend?“, fragte Albrecht dumm.

Margarete erklärte ihm ihre Mission als Heilerin: Sie sammelt die Kräuter, extrahiert durch Auspressen des Saftes und vorsichtiges Verdunsten der Wasseranteile, die Inhaltsstoffe und bereitet davon ein hochwirksames Elixier. Es gibt Tinkturen, die heilen, und es gibt solche, die absolut sicher töten. Letzteres gewinnt sie jetzt hier von der lila Blume. Albrecht fragte entgeistert: „Wozu, um Himmels Willen, brauchst Du ein solches Mordinstrument?“ Margarete lächelte weise und sprach: „Als Du völlig verzweifelt auf die Greifer wartetest, war Dir da nicht nach Sterben zumute?“ Albrecht nickte in trüber Erinnerung. „Es gibt Situationen im Leben, da wünscht man sich den Tod, weil Weiterleben nur noch Qual wäre. Den Selbstmord als spontane Verzweiflungstat, lehne ich genauso ab wie Du. Aber das, was heute bei der Tortur oder am Richtplatz einem Menschen angetan wird, ist so grausam, dass mein Gift ein Gottessegen ist und den Eintritt des armen Mannes in den Himmel erleichtert. - Unser Pferdchen lass nicht auf die Wiese. Geh‘ und pflücke Futter, ganz ohne die lila Blume, schau genau drauf und reiche es unserem treuen Gesellen.“

Albrecht zog mit einem Sack los und pflückte Grünzeug. Margarete sammelte, vorsichtig Kelch und Stängel berührend, die Blume in einen Korb. Christian baute das Lager auf und richtete eine Kochstelle ein.

Bis weit nach Mitternacht hantierte Margarete mit Mörser und Stößel, Töpfchen und Pfännchen. Albrecht verfolgte ihr Tun mit sorgender, ängstlicher Neugier. Im Widerschein des Feuers sah das konzentriert arbeitende Mädchen wie eine überirdische Erscheinung aus. Gegen Morgen füllte sie das gewonnene Extrakt in kleine, dickwandige Fläschchen, stöpselte sie gewissenhaft zu und verstaute sie im Wagen. Sie räumte ihren Arbeitsplatz auf und legte sich erschöpft zur Ruhe.

Da schloss auch Albrecht die Augen. Im Traum sah er Margarete sich in Krämpfen windend. Er trug sie zum Lager. Er wollte sie retten. Er gab ihr belebende Mittel. Nichts half. Sie starb im Feuer. Der Nachtvogel schrie: „Ki witt, ki witt.“ Schweißgebadet erwachte Albrecht. Er richtete sich auf. Es war längst heller Tag. Margarete war nicht zu sehen. Christian werkelte am Wagen. Albrecht rief erschrocken: „Wo ist Margarete?“ Der Alte schaute sich um und zeigte in die Richtung zum See. Albrecht stürzte dorthin und sah die Nixe beim Bade. Diskret zog er sich zurück und schalt sich einen Tor.

Das Elixier war also gewonnen, Albrecht wähnte, es könne weitergehen und wartete auf das Zeichen, zur Fahrt zu rüsten. Allein weder Christian noch Margarete machten Anstalten, das Lager aufzulösen. Der Alte hockte schon geraume Zeit im Schatten eines Baumes und blätterte in einem Buch. Jetzt kam Margarete vom Wagen herunter, legte sich auf eine wollene Unterlage und begann, bäuchlings so daliegend, den Kopf in die Hände gestützt, ebenfalls zu lesen. Albrecht wusste, dass die Calberger eine ganze Kiste mit Büchern bei sich haben, und sobald Gelegenheit war, gern eins davon vor die Nase nahmen. Das erstaunte und befremdete ihn gleichermaßen. Gelegentlich schrieb Margarete sogar etwas in ein Büchlein ein. Exponieren sich die Gaukler nicht mit derartigem Gehabe?, fragte sich Albrecht besorgt. Der tiefe Sinn ihrer Schriftkunde erschloss sich ihm sich nicht, machte ihn eher misstrauisch.

„Vertrödeln wir nicht unsere Zeit?“, rief er aus. Margarete ließ sich nicht stören. Der Alte empfahl gelassen: „Du kannst Dir auch eins nehmen. Das schadet nicht. Und uns drängt doch nichts. Ein paar Tage Zeit haben wir schon noch.“

Christian Calberger tat, als würde er sich auf die Zeilen konzentrieren, in Wirklichkeit beobachtete er, ob der Junge sich zur Lektüre herbei lässt. In der Tat schlenderte Albrecht zum Wagen, kramte in den Sachen herum und setzte sich schließlich mit einem großformatigen Folianten in Christians Nähe. „Da hast Du Dir was Gutes rausgesucht“, lobte er. Bilder über Bilder. Albrecht schaute und legte Blatt um Blatt um. Landschaften, Jagdszenen, Familienidyllen, Porträts. Er las Bildunterschriften: Jan van Eyck, Piero della Francesca, Lucas Cranach. „Leider verstehe ich nichts von Malerei, außer, dass manche Bilder wirklich schön sind“, bekannte der Junge.

Christian schwieg zunächst. Es lag ihm nichts daran, Albrecht zu überfrachten, obwohl er schon meinte, etwas mehr Bildung kann nicht schaden. Zugegeben, Bücher sind nicht ganz billig und auch nicht überall zu bekommen, aber Christian hielt es grundsätzlich für verkehrt, das Lesen nur einem elitären Personenkreis zu überlassen. Wer keine Bücher erwirbt und nicht liest, schließt sich freiwillig aus der großen weiten Welt der verschiedenen Künste aus.

Albrecht stöhnte: „Das verstehe ich gar nicht.“ Er hatte das Blatt mit der Judith von Giorgio de Castelfranco aufgeschlagen. „Warum tritt das Mädchen den Männerkopf mit dem Fuß, dabei sieht sie doch so lieblich aus?“ Christian stieg darauf ein und erzählte die Geschichte der Judith und des Holofernes. Albrecht hörte gebannt zu. Dann blätterte er um und fragte weiter.

So wunderbar sich Albrecht nun Lesen und Schauen eröffneten, so sicher geriet sein Weltbild ins Wanken. Alles, was er bisher gelernt hatte, war, den Griffel halbwegs zu führen, mitunter in Vaters Kontor langweilige Zahlenkolonnen abzuschreiben und sich ansonsten weder um Geschriebenes noch um Gedrucktes zu kümmern. Albrechts Kardinalfrage wurde: Wie kommt ein Gaukler auf die krude Idee, Bücher zu lesen und etwas aufzuschreiben? Er öffnete sich seinem Schutzpatron nicht, behielt jedoch die beiden Gefährten gewissenhaft im Auge.

Anfang Oktober des Jahres 1609 gelangten die Calberger gesund und gut gelaunt beim Eichenwirt in Lüneburg an. Der Wirt freute sich, seine Wintergäste begrüßen zu dürfen, und fragte erstaunt: „Ein Nachwuchskünstler?“ - „Nee, nee“, Christian lachte verschmitzt, „unser Kulissenschieber. Damit konnte der Wirt nicht viel anfangen. Er beließ es dabei. Mit einem Putztuch vor sich her wedelnd komplimentierte er seine Gäste an den besten Tisch in der Wirtschaft und bat um die Bestellung. Albrecht zierte sich. Er hätte gern erst den Wagen abgeladen, das Pferd versorgt und die Zimmer eingerichtet. Allein, der Eichenwirt, wehrte ab. Er bestand darauf, alle Arbeiten von seinem Knecht erledigen zu lassen. Die guten Gäste sollten sich wohl fühlen. Die drei Calberger bekamen vom Erlesensten aus Vorratskammer und Küche, die Magd eilte hin und her, der Knecht schaffte Kisten, Koffer, Säcke auf die Zimmer und der Eichenwirt hockte neugierig bei den Ankömmlingen und achtetet gewissenhaft, dass denen Essen und Wein nicht ausgehen. Sie verplauderten aufgeräumt die halbe Nacht.

Des Wirtes Freude war nicht ganz unbegründet. Die Calberger garantierten ihm feste Einnahmen übers Winterhalbjahr in doppelter Hinsicht: Sie zahlten fair, was sie hier verbrauchten. Außerdem stand Margarete als Heilerin in gutem Ruf. Sie zog die Hilfesuchenden wie ein Magnet an. Erfahrungsgemäß ordern die Patienten dann auch noch Essen oder Getränke. Nun war dem Wirt für die nächsten Monate nicht bange um seine kleine Existenz. Allerdings um den Preis äußerster Verschwiegenheit. Doch die bewährte sich schon seit vielen Jahren.

Am nächsten Morgen eilte der Eichenwirt zum Rathaus, um die Anwesenheit seiner Gäste anzuzeigen. Auch im Rathaus waren die Calberger bereits gut bekannt und ausgezeichnet beleumundet, so dass deren Aufenthalt anstandslos genehmigt wurde.

Am Markt erhielten die Schauspieler eine feste Stellfläche für ihr Theater. Damit erübrigte sich ständiger Auf- und Abbau. Mit zunehmender Kälte verkürzten sie ihre Aufführungen. Im Januar und Februar des Jahres 1610 traten sie überhaupt nicht auf und konzentrierten sich auf die Arbeiten im Haus: Christian und Albrecht besserten Requisiten und Kostüme aus. Margarete kümmerte sich um ihre Patienten und schrieb nebenher Rezepturen, kleine Erfahrungsberichte sowie Texte für Lieder und Sketche in einem Buch nieder.

Albrecht fühlte sich in Margaretes Nähe sehr wohl, ja er bewunderte sie, himmelte sie an, las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und mochte ohne sie überhaupt nicht mehr sein. Sein Herz hüpfte vor Freude, wenn er sie für sich alleine hatte, und tiefer Trübsinn bemächtigte sich seiner, wenn sie sich mit anderen abgab. Treu wie ein Hündchen folgte er ihr auf allen Wegen und wartete stundenlang vor einem Haus, während sie ihre Patienten versorgte. Saß sie daheim und schrieb etwas in ihr Büchlein, hockte sich der Junge daneben, nahm sich eine Handarbeit vor, simulierte Geschäftigkeit und schmachtete sie an. Ständig umwarb er sie, wobei Margarete auch nicht abgeneigt war, die feinen Fäden erster Liebe zu spinnen.

Das Schreiben irritierte Albrecht nach wie vor. Gelegentlich fasste er sich ein Herz und fragte Margarete aus: „Ist es nicht hochmütig, sich derart zu beschäftigen?“ Sie verstand nicht gleich, worauf er hinaus wollte, zog die Brauen hoch und runzelte die Stirn. Er fand andere Worte: „Es gibt Schriftgelehrte, die schreiben, aber ein Gaukler sollte doch wohl bei seinem Geschäft bleiben.“ Unbedarft stieg Margarete darauf ein: „Warum sollte man nicht beides verbinden? Außerdem erleichtern mir meine Notizen das Leben. Nichts kann ich vergessen. Und es macht Spaß, einen Text wachsen zu sehen“, sie lächelte verträumt, „es hat was Schöpferisches.“ - „Eben, eben“, hakte Albrecht nach, „dazu hat man doch kein Recht.“ Er wurde ausführlich: „Gottes Wort steht am Anfang und schöpft das Licht, den Himmel, die Erde, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Und die zehn Gebote führen uns an. Wie kann man, darf man da etwas Eigenes hinzufügen?“ Margarete blickte offen, ungläubig und vermerkte: Der Junge ist ja fromm. Das hätte ich nie gedacht.

Behutsam setzte sie auseinander: „Gottes Wort steht am Anfang. Das ist richtig. Und die Bibel ist unser aller wichtigstes Buch. Nur, das was ich schreibe, kratzt doch nicht an den feststehenden Codices. Hier ist es Handwerk, dort Verkündigung.“ Albrecht beharrte: „Erlaubt man sich nicht zu viel, wenn man da eingreift.“ - „Glaube mir, ich greife nirgends ein. Ich schaffe Eigenes.“

Wie gut sie sprach. Wie souverän sie rüber kam. Und doch blieb ein Schimmer Unbehagen. Albrecht hatte nicht vor, Margarete Vorschriften zu machen. Ihn bedrängte eher Sorge. Es wusste von Hexen, die das Wort missbrauchen und dann im Feuer enden. Wie schnell übt das Wort Macht aus und wendet sich aus dem gutem Vorsatz augenblicklich ins Ungeheuerliche. Da ist dann alles verloren. Er versuchte, sich anders verständlich zu machen: „Ist das, was Du da schreibst, die Wahrheit?“ Margarete nickte. „Wenn es also wahr ist, wie der Himmel und die Erde, wie Gott und die Menschen, dann muss man es doch nicht nochmal aufschreiben. Dann findet man es doch immer wieder. Sowas vergisst man doch nicht.“ - „Dann schadet es aber auch nicht, es nochmal aufzuschreiben“, erwiderte sie prompt und dachte enttäuscht: Wie dumm der ist!

Sie zog sich schmollend zurück.

Jetzt hatte Albrecht genau das Gegenteil von dem erreicht, was er hatte bezwecken wollen, nämlich sie mäßigen und beschützen. Margarete ist so lieb, so klug und so großherzig. Er hatte sie verprellt und bedauerte seine ungeschickte Art. Enttäuscht und traurig verließ auch er die Szene.

Margarete überlegte sich, dass er ja wohl nichts für sein unbeholfenes und ungebildetes Wesen kann. Sie lief ihm nach, ergriff seine Hand und sagte liebevoll: „Lass es Dir erklären. Glaube mir, ich tue nichts Unrechtes. Auch maße ich mir nichts an. Schau hier, jedes Wort stimmt. - Wenn es Dich beruhigt, darfst Du alles lesen und wirst sehen, es sind nur unsere kleinen Alltagsdinge, die ich aufschreibe.“

Alle Bedenken abwürgend und voller Hingabe lächelte Albrecht, umfasste sie und drückte sie vorsichtig an sich. „Ich wollte Dir nichts Böses. - Im Gegenteil.“ Er kniete nieder, umschlang ihre Beine und sprach leise eindringlich: „Bitte verzeih. - Ich bin Euch doch so dankbar.“ Sie schob ihn burschikos weg, er stand auf und sie lachte. „Ach, Unsinn! Wir sind nichts ohne Dich und Du bist ohne uns vielleicht auch verloren. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das Glück hat uns halt zusammengeführt. - Und alles andere, mein Lieber, werden wir einfach lernen.“ Sie zog seinen Kopf zu sich hinunter und küsste ihn.

In diesem Moment trat Vater Calberger hinzu, überblickte die Situation und fragte übermütig: „Wann, bitteschön, darf ich das Aufgebot bestellen?“ Albrecht und Margarete schauten sich in die Augen, überlegten und waren sich ganz sicher: „Heute, Vater.“

Ein Aufgebot. Wie konnte man ein Aufgebot bestellen? Albrecht besaß keine Papiere und die ließen sich auch nicht so ohne weiteres beschaffen. Schließlich galt er als gesuchter Mörder.

Liebe hält sich niemals an irdische Regeln. Fortan lebten sie wie Mann und Frau und scherten sich einen feuchten Kehricht um etwaige Hochzeitsglocken. Allein Vater Calberger grämte sich. Liederlicher Lebenswandel, vermerkte er. Sosehr er seinen Kindern dieses Glück gönnte, so argwöhnisch beäugte er deren ungezwungenes Zusammensein: Sie leben schließlich nicht im luftleeren Raum. Überall haben sie Freunde, Bekannte. Eine Trauung muss her. Das Gewissen spielte dem gottesfürchtigen Menschen üble Streiche. Er sah seine Enkelkinder in der Hölle schmoren und sich selbst wegen Kuppelei am Pranger stehen. Er grübelte, dachte nach, schlief nachts wenig, hatte tagsüber schlechte Laune. Die Jungen focht das nicht an. Sie glaubten an eine glückliche Fügung. Die stellte sich tatsächlich aus unerwarteter Richtung ein.

Als die Sonne höher kam und den Schnee schmolz, stiegen wieder mehr Reisende im Gasthaus „Zu den Eichen“ ab. Der Wirt freute sich über Arbeit, Knecht und Magd beendeten ihre Winterpause. Die Calberger rüsteten für die nächste Saison. Da hörte Margarete den Ruf des Wirtes. Ein junges Paar war eingetroffen, die Frau war hoch in anderen Umständen, der Ehemann deutlich besorgt, die Niederkunft stand kurz bevor. Der umsichtige Wirt wollte die Kreisende nicht sich selbst und ihrem nervösen Partner überlassen. Margarete sollte helfen. Sie kam und das Paar legte sein Schicksal in die Hände der Heilerin.

In den vielen Stunden des Wartens auf die Ankunft des neuen Erdenbürgers erzählten sich die beiden jungen Frauen gegenseitig aus ihrem Leben. Und siehe da: Margaretes Lebenslauf war kein Einzelfall. Nicht jede Liebe steht unter einem glücklichen Stern. Nicht jedes heiratswillige Pärchen, bekommt den Zuschlag der Eltern oder der Geistlichkeit. Es gibt aber in einer kleinen Kirche bei Angern den Priester Hagen, der gegen ein geringes Handgeld den Liebenden Gottes Segen nicht versagt und deren Partnerschaft legitimiert. „Ein Katholik?“, fragte Margarete ablehnend. Die andere antwortete überlegen: „Was schadet es, sich von einem Priester trauen zu lassen. Trauung ist Trauung. Wenn es nicht anders geht, muss es eben ein Priester sein. - Ich hätte nie gedacht“, dabei lachte sie ihre Hebamme freimütig an, „dass eine junge Frau wie Du so altmodisch sein kann. Seit dem Augsburger Frieden haben nicht nur die Großen, sondern auch wir Kleinen die freie Wahl des Glaubens. Lasst Euch von Hagen trauen, dann ist alles in Ordnung. Und wir huldigen ja schließlich alle dem gleichen Gott.“ Margarete ließ sich überzeugen.

Die Frau brachte ein gesundes Mädchen zur Welt. Die Calberger verabschiedeten sich. Ihr Ziel war das fast einhundert Meilen entfernte Angern.

Diese Reise verlief wie alle vorherigen: Man kam langsam vorwärts, gastierte in jedem kleinen und großen Ort, verdiente sich ein annehmbares Salär, lebte sparsam, und wenn ein kranker oder armer Mensch Hilfe für sein Fortkommen benötigte, taten die Calberger, was in ihren Kräften stand. Die Vorfreude auf die Hochzeit dominierte alles. Christian war jetzt ganz versessen auf Enkelkinder und schwärmte vom Altenteil. Sie zogen in Erwägung, sich irgendwo dauerhaft niederzulassen. Ein Theater, fest etabliert in einer größeren Stadt, das müsste doch möglich sein. Die Stimmung war gut. Es war eine Lust zu leben. Die aufblühende Natur trug das Ihrige dazu bei.

Mitte April des Jahres 1610 waren sie noch zwei oder drei Tagesreisen von Angern entfernt, da überkam Christian Calberger eine Schwäche. Ein Reißen in der Herzgegend, Kurzatmigkeit und Schwindelgefühl machten ihm zu schaffen. Auf dem Wagen unter der Plane bereiteten sie ihm ein Lager. Margarete wiegelte ab, es sei eine kleine Verstimmung, pflegte den Vater aufopfernd, und sie wusste doch genau, dass es zu Ende geht. Sie erreichten Angern und Christian Calberger war verstorben.

Das Priesteramt von Angern ward leicht gefunden. Eine winzige Basilika am Rande der Siedlung, eher versteckt, denn offen den Gläubigen zugewandt, daneben ein kleines Wohnhaus mit anliegendem Gartenland und rückwärtig ein Friedhof mit wenigen Grabstellen. Das Ganze war von einer niedrigen Feldsteinmauer eingehegt. Priester Hagen grub, den frühen Vormittag nutzend, gerade in seinem Garten, als er das Gefährt mit dem bunten Verdeck wahrnahm. Aha, registrierte er, Gaukler auf der Durchreise, und wollte schon weiterarbeiten, als der Wagen hielt, eine junge Frau vom Kutschbock sprang und ihn anrief: „Sind Sie Hagen?“. Der Priester bejahte, stellte sein Gerät beiseite, wischte die erdigen Hände an seinem Kittel ab und ging auf die Leute zu. Jetzt kam auch ein junger Mann um den Wagen herumgelaufen. Sie begrüßten einander. „Wir haben da eine Bitte“, sagte die Frau und Hagen mutmaßte: Die wollen heiraten.

Der Priester ließ sich gern herab, denn er hatte Zuspruch und Publikumsverkehr in seiner am Ende der Welt liegenden Enklave bitter nötig. Er war großzügig, gab den Liebesleuten alle Unterstützung. Und er nahm die kleinen amourösen Geschichtchen gern als Gegenleistung für seine Dienste an. Dieser Preis war gering und wollte ausgekostet sein. Hagen näherte sich leutselig dem Wagen, fragte dieses und jenes, flocht ein, dass ein kleines Entgelt auch noch zu entrichten sei. Da schlug Margarete die Plane beiseite und fragte: „Können Sie den Vater beerdigen?“

Priester Hagen prallte zurück. Ein Toter! - Das wirft Fragen auf. Misstrauisch betrachtete er den Toten. Er ließ sich berichten. Das erleichterte. Er war Seelsorger genug, um zu erkennen, dass Christian Calberger an Altersschwäche gestorben war. Das hier sind zwar Gaukler, aber bei aller Liederlichkeit ihres Berufsstandes doch immerhin Gottes Kinder, vermerkte Hagen. Die Papiere wiesen die Calberger als gläubige, lutherisch-reformierte Christen aus. Der Priester gab den Geleitbrief zurück und Albrecht steckte ihn wieder unters Wams. Hagen sah die Not. Der Verstorbene musste augenblicklich bestattet werden, und das möglichst in geweihter Erde. Er seufzte tief. Platz auf dem Friedhof war genug. Der Priester war auf jeden Fall bereit. Er hatte per Zufall soeben seinem Herrn ein Schäfchen gewonnen. Tod oder lebendig ist schließlich egal. Eine kleine Zeremonie konnte vollzogen werden. Nur, es fehlten ein Sarg und ein Totengräber. Albrecht erklärte: „Das mache ich.“ Sie verabredeten das Prozedere und der Priester empfahl sich für die Zeit, während die beiden jungen Leute eine ordentliche Beerdigung vorbereiteten.

Sie schleppten den Toten in die Sakristei. Margarete wusch den Verstorbenen und bahrte ihn in seinen besten Kleidern auf. Albrecht lud die Bodenbretter des Theaters vom Wagen ab, trug sie auf den freien Platz hinter der Basilika, richtete sich einen Arbeitsplatz ein und tischlerte einen Sarg zusammen. Er hob auch die Grube an vorbezeichneter Stelle auf dem Friedhof aus. Dann legten sie den Toten in den Sarg, umhüllten ihn mit weichen Tüchern, nagelten den Deckel fest, trugen den Toten im letzten Gehäuse hinaus und ließen ihn in das Erdloch hinunter. Ein paar Schaulustige waren auch zugegen. Priester Hagen kam in festlicher Kleidung und sprach ein Gebet. Sie sangen einen Choral. Das klang eher mäßig, weil außer Hagen kaum einer Text und Melodie draufhatte. Allein, es genügte dem guten Zweck. Schließlich schaufelte Albrecht das Grab zu und sie begaben sich in das Kirchlein.

Hagen sprach noch einmal ein Gebet für den teuren Toten und überließ dann die beiden Gotteskinder ihrer Trauer. Albrecht und Margarete knieten vor dem Altar und hielten stille Andacht. In der Sakristei holte der Priester das Kirchenbuch hervor und notierte: Christian Calberger, Schauspieler, 27. April 1610. Hinter die Eintragung malte er ein Kreuz und bezeichnete auch noch die Grabstelle auf dem Friedhof. Dann ging er seinen Alltagsgeschäften nach.

Irgendwann am Nachmittag dieses Tages hörte Priester Hagen Pferdegetrappel und den Wagen der Gaukler abziehen. Liederliches Volk, resümierte er, von Höflichkeit keine Spur! Man hätte sich verabschieden sollen, und der Obolus für die Beerdigung war auch nicht entrichtet. Leicht verstimmt trödelte er über sein Anwesen, schaute hier und da nach dem Rechten, setzte sich auf sein kleines Bänkchen vorm Haus, hielt Zwiesprache mit einer schwarzen Katze und döste in den Abend hinein. Als die Sonne dem Horizont schon sehr nahe war, erhob sich der Mann, um seine Kirche zuzusperren. Gewohnheitsmäßig, den Schlüssel schon im Schloss, lugte er in den sakralen Raum und sah zu seiner Verblüffung die beiden Gotteskinder unverändert vor dem Altar knien. Vorsichtig näherte er sich und fragte leise: „Was tut Ihr hier? Ich dachte, Ihr wäret fort.“ Margarete erhob sich und erklärte unbedarft: „Herr Priester, wir wollen noch heiraten. Ist das möglich? Heute noch oder morgen eventuell?“ Hagen sprach, Schlimmes ahnend, völlig entgeistert: „Euer Wagen ist fort!“

Margarete und Albrecht stürzten auf den Vorplatz und sahen, was sie nicht glauben wollten: Wagen und Pferd waren wie vom Erdboden verschluckt. Von Dieben fortgeschafft, von Müßiggängern geraubt, von Verbrechern gestohlen. Der gesamte Besitz ist verloren! Margarete stammelte fassungslos: „Unser Theater, unsere Bücher, unsere Kleider, unsere Betten, unsere Arzneien, unsere Lebensmittel, unsere Ersparnisse - alles weg.“ Es ist aus! Der Priester überschaute die Tragödie und fasste sich: „Kinder, ich denke, wir gehen erstmal zu mir rein. Essen und Schlafen könnt Ihr hier, fürs erste. Dann sehen wir weiter.“

Priester Hagen bemühte sich hingebungsvoll um die beiden mittellosen Schäfchen. Er gab ihnen zu essen und zu trinken, richtete ein Nachtlager her, spendete liebe Worte, traute sie am nächsten Tag zu Mann und Frau, hielt die Eheschließung der Margarete und des Albrecht von Minden in seinem Kirchenbuch fest und versuchte, den beiden nach besten Kräften neue Perspektiven zu eröffnen. Das war nicht ganz so einfach. Gern hätte er ihnen einen Teil ihres Eigentums ersetzt. Nur leider war er ja auch nur ein armer Mann. Er sparte nicht mit lieben Worten, den materiellen Verlust konnte er nicht ausgleichen.

Margarete und Albrecht erholten sich von ihrem Schrecken. Es musste ja irgendwie weiter gehen. Sie waren jung, sie rafften sich auf. Sie beschlossen, die Landstraße in altbewährter Form unter die Füße zu nehmen und sich Arbeit und Brot zu suchen. Schweren Herzens verabschiedeten sich die drei Menschen voneinander. Sich vor der Haustür noch eine Weile sprachlos, bedrückt, nachdenklich gegenüberstehend, fragte Albrecht endlich: „Was schulden wir Ihnen.“ Der Priester lächelte milde und wiegelte ab: „Nichts, meine Kinder.“ Da kramte Albrecht das Tuchpäckchen seiner Mutter hervor, knüpfte es auf, nahm einen Ring heraus und überreichte dem gütigen Gottesmann das Schmuckstück. Seiner verblüfften Frau und dem überraschten Priester erklärte er angeberisch: „Der kluge Mann baut vor. Eine kleine Reserve hat man doch immer.“ Befreit lachten alle drei. Margarete und Albrecht zogen von dannen. Hagen schaute ihnen noch lange nach, bis sie an einer Wegbiegung seinem Blick entschwanden.

Die kleine Reserve versetzte die beiden jungen Menschen in Hochstimmung. Ihre Pläne nahmen hoffnungsfrohe Formen an. Margarete betrachtete kennerisch das Goldkettchen mit dem Anhänger, der wie eine Krone geformt ist, und den Ring, und sie kalkulierte: „Für beides bekommen wir garantiert Pferd und Wagen, und wenn wir sehr gut handeln, sogar noch Wolldecken und etwas Kochgeschirr. Dann sind wir erstmal aus dem Gröbsten raus.“ Albrecht freute sich über die muntere Art seiner Frau. Allerdings gab er zu bedenken: „Das Kettchen dachte ich für Dich als Hochzeitsgeschenk, ist ja aus meiner Familie, und sollte sozusagen eine Tradition begründen. Den Ring können wir verkaufen. Sicher. Und was für Pferd und Wagen und Haushalt noch fehlt, muss ich eben erarbeiten.“ Gut gelaunt stimmte Margarete zu.

Margarete und Albrecht von Minden