Eine kleine Geschichte von Marzahn - Katharina Johanson - E-Book

Eine kleine Geschichte von Marzahn E-Book

Katharina Johanson

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Beschreibung

"Eine kleine Geschichte von Marzahn" stellt den Berliner Stadtbezirk aus der Sicht seiner Bewohner dar. Wir berichten von der ersten Besiedlung bis zur Gegenwart. Wir zeigen die Zusammenhänge und gehen kritisch mit unserer eigenen Geschichte um. Damit würdigen wir diejenigen, die in Marzahn Großes leisteten, und vermitteln denen, die Marzahn nur vom Hörensagen kennen, einen tieferen Einblick.

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Eine kleine Geschichte von Marzahn

von Katharina Johanson

Für Eberhard

Eine kleine Geschichte von Marzahn

© 2024 by Katharina Johanson

Herstellung im Eigenverlag

Katharina Johanson

Arnold-Zweig-Straße 43 A

13189 Berlin

Projektbetreuung: Ka & Jott, Bernau bei Berlin Kontakt zur Autorin: [email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Rechte vorbehalten.

Einleitung und Methode

Marzahn ist ein kleiner Landflecken auf dem südlichen Barnim, schon fast im Flusstal der Spree und am Rande der Großstadt Berlin gelegen. So viel zur Orientierung, und die paar Worte dürften zur Einleitung eigentlich schon genügen, denn Marzahn kennt fast jeder. Die Gegend ist vor rund fünfzig Jahren als sozialistische Großsiedlung in die Schlagzeilen geraten, wurde hernach auch viel beschrieben, geliebt und gehasst, gerühmt und verdammt, sodass ein Bild von dem, was Marzahn ist, schon fast jeder haben müsste. Demzufolge möchten Sie, meine lieben Leser meinen, dass Sie dieses Büchlein gleich wieder zuschlagen und weglegen könnten. Geschichte könnten Sie halt auch woanders nachlesen. Über Marzahn wüssten Sie schon genug. Die Lektüre wäre der Mühe nicht wert. Aber nein, so ist es nicht. Bleiben Sie dran. Unsere Geschichte ist Ihnen neu. Sie geht nämlich anders. Sie definiert sich nicht über die Menge, es sind wirklich nur ein paar Seiten, sie zeigt auch keine chronologische Auflistung von Ereignissen und auch nicht viele Zahlen oder die Anhäufung von Beispielen. Unsere Geschichte ist Sozialgeschichte oder, wenn man so will, Kulturgeschichte. Sie zeigt, wie die Menschen lebten, welche Motive und Ziele sie hatten, was sie erhofften und träumten, und weshalb sie so wurden, wie sie sind. Damit geht unsere Geschichte in die Tiefe. Sie geht sozusagen unter die Haut. Sie bewegt das Gemüt und lässt einen nicht mehr los. Obgleich wir nicht in privaten, intimen Angelegenheiten schnüffeln, etwa schlüpfrige Details offenlegen. Wir sind doch keine Voyeure! Nein. Wir sind auch keine Sadisten oder Masochisten, solche krankhaften Neigungen haben wir nicht. Wir wahren Abstand, Anstand und Respekt. Wir berichten also mit Bedacht, Hintergrundwissen und forschen mit gesunder Neugierde. Dadurch begreifen wir die Zusammenhänge und ziehen unsere Schlussfolgerungen. Sie, liebe Leser, werden bereichert, gut unterhalten und im wahrsten Wortsinn reich beschenkt dieses Büchlein am Ende zuschlagen. – Soweit die Vorrede und nun fangen an.

Die hiesige Geschichte begann vor etwa 17‘000 Jahren mit dem Abschmelzen der aus dem Norden hereingekommenen Gletscher. Zwar war das nicht der Anfang aller Dinge, aber da sich im Hinblick auf menschliche Besiedlung beziehungsweise Zivilisation bis dahin in unserer Gegend noch nicht viel getan hatte, beginnt jegliche Erzählung hierzulande mit der jüngsten Eiszeit. Andernorts tummelten sich schon längst Menschen in sehr großen Siedlungen, so zum Beispiel in Afrika und in Zentralasien, aber in Mitteleuropa herrschte dazumal noch absolute Ebbe, gähnende Leere, tiefste zivilisatorische Finsternis, wodurch dann eben die Geschichte in Marzahn erst relativ spät begann.

Kurze Bemerkung zu den Fakten und Zahlen: Die Historiografie hält für uns eine große Fülle unterschiedlichster Angabe bereit. In der jüngeren Berichterstattung ist die Variation besonders breit. In dem Wust fällt es oft schwer, den rechten Faden zu finden. Da lassen wir uns aber nicht beirren. Wir feilschen nicht um Kleinigkeiten. Wir wissen, dass Geschichte immer einen politischen Zweck verfolgt, wie jegliche Wissenschaft Klasseninteressen untergeordnet ist. Wir entkleiden die Angaben ihrer Verschleierung, ihres schmückenden oder verzerrenden Beiwerks und zeigen Tendenzen, die größtmögliche Wahrscheinlichkeit, das Wesentliche von Entwicklungen. Wobei wir selbstverständlich parteiisch vorgehen, im Interesse der arbeitenden Klasse Stellung beziehen und um Klarheit bemüht sind. – Weiter im Text.

Die abschmelzenden Gletscher gaben ein leicht hügeliges, mit zahlreichen Seen aufgelockertes und von Fließen durchzogenes, äußerst fruchtbares Land frei. Gräser, Strauchwerk, Bäume wuchsen auf, viel Getier tummelte sich in, auf und an den Gewässern. Ein paradiesisches Land! Da war es dann auch nicht mehr verwunderlich, wie fünf- oder sechstausend Jahre später die ersten Siedler aus dem Osten hier eintrafen. Selbstverständlich sprach damals noch kein Mensch von Marzahn. Der Begriff Marzahn soll sich von Sumpfgebiet ableiten, sagen Gelehrte. Allerdings weiß man nichts Genaues, jeder hat da seine eigene Theorie. Wir halten uns aus dieser Diskussion heraus und an unschlagbare Fakten. Und Fakt ist, dass die hiesigen Ureinwohner aus dem Osten kamen. Ganz logisch, denn die Weltmeere waren noch nicht schiffbar gemacht, das Flugwesen existierte noch nicht und der Hochgebirgsgürtel im Süden Europas stellte für Fußgänger eine unüberwindliche Barriere dar. Aber zum Osten hin gab es eine gangbare Landverbindung und so lieferten jene Völker, die chauvinistische Deutsche heute so vehement bekämpfen, verleugnen, beschimpfen, nicht anerkennen, auf Teufel komm raus vernichten wollen, den Grundstock der hiesigen Kultur. Die Leute kamen und siedelten, sie rodeten einen Teil des üppig wuchernden Waldes, bauten ihre Dörfer auf – an Städte dachten sie noch nicht – und ernährten sich von Fischfang, Jagen, Tierzucht und Ackerbau.

Was hatte die Menschen aus ihrem ehemals angestammten Gebiet hergetrieben? Weshalb wanderten sie einen so weiten, sich über Generationen hinziehenden Weg? Auch in dieser Hinsicht gibt es viele Theorien, angefangen vom Platzmangel über Nachbarschaftsstreit und Kriege bis hin zu Naturkatastrophen, die wir jedoch alle verwerfen können. Denn Kriege, Hass, Streit, Neid waren bis vor zehntausend Jahren unüblich. Jegliche Querelen wurden rasch beigelegt – Platzmangel ist eine Erfindung von Faschisten – und die Einbrüche der Natur haben die Menschen bei aller persönlichen Tragik mit Langmut aufgenommen. Das alles kann sie also nicht zum Aufbruch bewogen haben. Vielmehr sind diese ersten Völkerwanderungen, die man halt nicht mit heutigen Maßstäben messen kann, einzig und allein mit der natürlichen Neugierde zu erklären. Der Mensch ist und bleibt ein strebsames Wesen. Es liegt in seiner Natur, immer über den Tellerrand hinausschauen zu wollen, sich weiterzuentwickeln, was erworben ist, auszubauen, sich umzutun und dazuzulernen. Ja, der Mensch mag keine Langeweile und Bequemlichkeit. Hat er ein Ziel erreicht, strebt er schon nach dem nächsthöheren. So ist er, so war er und so wird er immer sein. Nur leider ist diese Wesensart heutzutage, hierzulande, in unserer mit lauter Tand und Blödsinn übersättigten Gesellschaft bei den meisten verkümmert. Demzufolge vermutet die Mehrzahl unserer Zeitgenossen bei anderen eine ähnliche Verdorbenheit. Aber dieser Analogieschluss wäre falsch, wie jegliche Analogieschlüsse in der Geschichtsbetrachtung falsch wären, und wir vermeiden sollten. Vielmehr setzen wir zur Einschätzung der einzelnen Ereignisse immer die gesellschaftlichen Verhältnisse voraus und stellen mit dieser Methode fest, dass es sich bei der ersten Besiedlung Marzahns und der näheren Umgebung um ein munteres, quicklebendiges, aufgeschlossenes Völkchen handelte. Ein Volk, das sein Tagwerk in friedlichem Miteinander verrichtete. - Darüber vergingen Jahr und Tag, Jahrzehnte, Jahrhunderte.

Inzwischen hatte sich am äußeren Rand Südeuropas eine Klassengesellschaft entwickelt, die prompt auf Expansion aus war.

Die Entstehung der Klassengesellschaft ist dem Mehrprodukt, das sich durch die immer bessere Beherrschung und Ausnutzung der Natur anhäufte, geschuldet. Mit dem Mehrprodukt konnten sich die Gemeinschaften eine nicht mehr unmittelbar an der Produktion beteiligte, intelligente Oberschicht leisten. Eine Oberschicht, die sich alsbald – nach vielleicht zwanzig oder dreißig Tausend Jahren – das alleinige Recht über die Verteilung anmaßte und dieses Recht dann gewaltsam durchsetzte. Infolgedessen gab es auf der einen Seite gewaltbereite, unterbeschäftigte Müßiggänger und auf der anderen Seite eine gebeugte, fleißig schaffende Masse. Wie es dazu kam, dass sich die Masse letztendlich nicht oder zu wenig gegen diese Zustände wehrte, ist kaum erklärbar. – Man könnte die damalige Menschheit in ihrer Unreife mit kleinen Kindern, die sich um ein Bonbon oder um ein Spielzeug streiten, vergleichen, wo halt der Verschlagene und körperlich Stärkere naturgemäß gewinnt. Der Vergleich ist banal und hinkt wie alle Vergleiche, trifft es aber wohl am ehesten. Denn gerechte Gesellschaften fußen immer auf Bildung, Aufklärung und geistiger Reife, wie sie Erwachsene haben beziehungsweise haben sollten, während die Klassengesellschaft vor antagonistischen Widersprüchen nur so strotzt.

Diese geistig-sittliche Unreife illustriert die Gegenwart am besten: Will man etwa als intellektuelle Großtat bezeichnen, wenn auf der einen Seite immer mehr, präzisere, effektiver tötende Waffen entwickelt werden, während in den Parlamenten tönende Reden von Umweltschutz gehalten werden? Wie viele Schadstoffe schleudert eigentlich so ein atomarer Flächenbrand in die Atmosphäre? Oder will uns etwa einer weismachen, dass die Abschlachtung von Frauen und Kindern in Palästina den Frieden befördere? Das kann doch nur die Frucht von geistig minderbemittelten Schaumschlägern sein, um das mal banal auszudrücken. Rational und nüchtern betrachtet, würde jeder Vernunft begabte Mensch die Kriegstreiber und Waffenfabrikanten als asoziale Verbrecher oder als unheilbar Kranke lebenslänglich wegsperren. Und ist der aktuelle Streit um die unbewohnten Inseln im Südpazifik nicht Kinderkram? Was will denn einer damit, wo so viel Platz auf Erden ist? Aber nein! Millionen, Milliarden werden verschleudert, um die eigene Position zu halten. Wie die Kindsköpfe balgen sie sich um die Pfründe und sind im Grunde nur noch lächerlich, wenn sie nicht so gefährlich wären. – So viel dazu. Wir werden am weiteren Verlauf der Geschichte sehen, dass allen Ausbeutern ein sowohl recht eigenwilliger, verschlagener Trieb als auch der Mangel an Weitsicht eigen war, wodurch all die Besitzlosen in äußerst schwierige, bedrohliche Situationen gerieten und die Fessel ihrer Unterdrückung immer wieder sprengten oder zumindest versuchten, sie zu sprengen.

Die Klassengesellschaft breitete sich rasant aus. Die Römer kamen! Sie überwanden die Alpen, zogen längs des Rheins bis hinauf nach der Nordseeküste, schwammen über den Kanal, besetzten die nördlichen Inseln und strebten dann nach dem Landesinneren Europas, gen Osten hin. Im Jahr 1100 ungefähr hatten sie endlich auch unseren Raum zwischen Elbe und Oder erreicht. Zwar nannten sie sich zu der Zeit nicht mehr Römer, sondern Askanier und Ottonen, aber der Name änderte am Inhalt nichts. Deshalb bleiben wir bei dem Begriff Römer. Die setzten nun ihren Fuß auf unser Gebiet. Sie kamen als Missionare und gaben vor, der Menschen Heil und Segen mit dem Christengott zu befördern.

Auf dem Barnim, in Marzahn und in den Dörfern ringsherum, lebten nun aber seit Menschengedenken die Slawen beziehungsweise die Wenden, wie man sie dazumal nannte. Die wollten keine Christen sein und verspürten wenig Neigung, sich seiner Heiligkeit in Rom zu unterwerfen. Zwar hatten sich auch unsere Ureinwohner derweil in eine Klassengesellschaft aufgespalten, standen ergo gesellschaftlich mit den Römern ungefähr auf einer Stufe, aber ihre Lebensformen schlappten dem neuen Verteilungsprinzip noch hinterher. Sie lebten in großen, gemeinschaftlich wirtschaftenden Familienverbänden mit zahlreichen Verwandten und Nichtverwandten unter einem Dach. Sie kannten noch die Gleichberechtigung beziehungsweise das Mitspracherecht der Frauen und praktizierten die Polygamie. Die Christen hingegen hatten bereits das vollständige Patriarchat wie die Monogamie eingeführt und der Papst war juristisch, praktisch wie theoretisch ihr obersten Gebieter und Alleinherrscher. Diese ideologische Ausrichtung auf nur einen Gott und die familiäre Eingleisigkeit ging den Slawen mächtig gegen den Strich. Sie wehrten sich energisch, sie zogen zu Felde und schlugen die Eroberer aufs Haupt.

Die Römer blieben indessen sieghaft. Ihr strategischer Vorteil bestand in ihrer einheitlichen Führung. Obendrein glaubten sie alle an ein und denselben Gott, gehorchten dem Papst und ihnen waren blühende Landschaften versprochen worden. In jedem Krieger steckte nämlich zugleich auch ein Bauer und dieser Bauer wollte gern einen eigenen Hof haben. Also zog er aus, um Beute in Form von Land zu machen. Was nebenher an Schätzen an seine Obrigkeit abfloss, interessierte den einzelnen Kämpfer eigentlich nicht, nur der Hof interessierte ihn. Denn dieser Bauer war ein wirtschaftlich denkender Mensch und wusste, dass aller Reichtum aus dem Boden kommt. Für Landgewinn trat er an und ein. An diese Idee klammerte er sich. Er handelte also im eigenen Auftrag und ferner im Namen Gottes, den der Papst verkörperte. Die Slawen ihrerseits verteidigten ihre Heimat, ihr angestammtes Recht, ihre Zukunft. Aber sie waren uneinig. Jeder Stamm hatte seinen eigenen Häuptling, sein eigene Verteidigungstruppe, seinen eigenen Schutzpatron und seine eigene Taktik. Ein jeder schlug getrennt von dem anderen los, handelte also mehr aus dem Bauch heraus, besprach sich nicht mit seinem Nachbarn oder höchstens mal in Einzelfällen. Sie stellten also keine Einheitsfront her, selbst in der größten Not nicht. Zwar erreichten sie mal hier einen Vorteil, gewannen dort eine Schlacht, machten viele Römer nieder, weil sie das Terrain kannten und ziemlich geschickt waren, was die Römer viel Blut kostete und sie immer verbissener und brutaler kämpfen ließ. Aber insgesamt hatten die Slawen das Nachsehen, weil sie gegen die geballte Kampfkraft der Römer viel zu wenig ausrichten konnten. Die standen halt wie ein Mann, und wenn einer fiel, rückte schon der nächste nach. Ihr Pool schien unerschöpflich. Der Kampf währte lange, über Jahrzehnte. Die Kultstätten der Slawen wurden samt und sonders eingeäschert, ihre Priester ermordet, das Fußvolk fürchterlich misshandelt. Es war schaurig. Viele, viele Slawen gingen zugrunde, etliche verbargen sich in den Wäldern und fristeten ein elend Leben, wieder welche flüchteten über die Oder-Neiße-Linie gen Osten. Der Rest beugte sich und ließ sich christlich taufen. Der letzte Slawenfürst, Yacza, hier aus unserer Gegend, soll erst Ende des 12. Jahrhunderts gefallen sein. Die Eroberer setzten sich fest und nahmen sich ihren Lohn für die hinter ihnen liegende Schinderei.

Sie legten die Waffen nieder, siedelten in und um Mahlsdorf, Kaulsdorf, Hellersdorf, Hohenschönhausen, Marzahn, Falkenberg, Weißensee, Heinersdorf, Wartenberg, Malchow, Buchholz, Niederschönhausen, Pankow, Blankenburg, Rosenthal und Blankenfelde. Die Gründung all unserer Dörfer datiert um 1230 herum.

Die Dörfer waren im Wesentlichen alle gleich, mit zehn, zwölf Wohnhäusern, angrenzenden Tiergehegen und Speichern vollständig ausgestattet, und entsprechend eines Gesamtplanes angelegt und gut befestigt. Sie stellten Wehrdörfer, Bollwerke beziehungsweise Brückenköpfe dar. Denn auch dazumal war nach dem Krieg zugleich auch immer vor dem Krieg. Der Papst und sein Klüngel gaben sich nämlich nie mit dem Erreichten zufrieden. Die nächste Ostererweiterung war schon ins Auge gefasst. Nur das sagten sie den Leuten nicht. Sie ließen die Leute erst mal arbeiten und in ihrer neuen Situation ankommen. In einigen Dörfern gruppierten sich die Häuser um ein Rondell: Angerdorf, und in den anderen standen die Gehöfte in einer geraden Flucht: Straßendorf. Die Siedlungen lagen nicht weit voneinander entfernt, sodass ein Nachrichtenaustausch beständig gut funktionieren und eine militärisch breite Front hätte rasch hergestellt werden können.

Jede Dorfgemeinschaft baute sich ihr Kirchlein. Meistens bauten sie über der alten slawischen Kultstätte, weil die Stelle bezüglich ihrer Lage auf dem bereits von den Vorgängern befestigten Baugrund bestens dazu geeignet war. Außerdem glaubten die Leute, mit der Umwidmung des Platzes die Rückkehr der alten Geister zu verhindern. Ganz frei von Geister- und Vielgötterglaube waren die Christen nämlich auch nicht. Wobei sie namentlich nur einen Gott kannten und für die vielen anderen Aufgaben, die ein einzelner Gott unmöglich alleine schaffen konnte, dann eben Heilige auftreten ließen: einen für Mildtätigkeit, einen für Gesundheit, einen für Wohlleben und so weiter. Den Nachrichtendienst zwischen Himmel und Erde übertrugen die Christen auf die niedlichen, kleinen Engelchen, die rasch hin und her sausen konnten, weniger Respekt und Demut als der liebe Gott und jede Heiligkeit verlangten und bei den ganz profanen Alltagsdingen praktisch immer zugegen waren. Ab und an mischte sich in dieses niedere, dienstbare Völkchen noch ein Gnom oder eine Elfe, welche den Christen ebenfalls völlig selbstlos zur Seite standen. So schufen sie sich ihre Götterwelt nach eigenem Dafürhalten und passend zu ihrem Lebensstil, arbeitsteilig und allzeit abrufbar.

Die römischen Bauern waren nun ganz froh ob der Ruhe ringsherum und verrichteten fortan fleißig, geduldig, gottgefällig ihr Tagwerk. Wie sie nun aber klaren Blicks und rechtschaffen ihre Gegend betrachteten, fühlten sie ihre Einsamkeit und Verlassenheit in dieser fremden Gegend und unter gänzlich anderen klimatischen Bedingungen, als sie sie von daheim im sonnigen Süden gewöhnt waren. Es fehlte ihnen an Erfahrung für die Bodenkultur und sie hatten auf ihrem weiten Weg und bei dem Kampf keine oder kaum mal eine Partnerin aufgegabelt und mitgebracht. Da entdeckten sie die slawischen Frauen, die aus den Wäldern hervorkamen. Diese Frauen waren während der Schlachten mit ihren Kindern und dem beweglichen Hausstand geflohen und tauchten nun wieder auf. Unsere Römer nahmen sich ihrer beglückt an. Die Frauen fühlten ähnlich, denn ihre Männer waren in den Kämpfen gefallen. Ergo kam es ganz natürlich zur Vereinigung, denn niemand lebt gern allein. Die slawische Frau war eine Kennerin der Natur und konnte dem römischen Bauern so manches vermitteln, was er hierzulande zum Überleben brauchte. So teilten und vermehrten sie die Zivilisation, die Kultur und die Herzenswärme, die auf dem Schlachtfeld verloren gegangen waren. Neue Familien gründeten sich. Sie vermischten römisches und slawisches Brauchtum, ihre Sprachen und all das, was Menschen so an sich haben und mit sich bringen.

Die Bauern führten ein friedliches und friedfertiges Leben. Sie bauten ihre Dörfer aus und schafften sich wunderschöne Anwesen, die freilich, verglichen mit heute, recht bescheiden waren, aber alles zum Leben Notwendige hatten. Das Bauernhaus bestand dazumal aus einem einzigen Raum für Schlafen, Essen, Aufenthalt und im Winter wurde das Vieh mit hineingenommen. Diese Bauform und Nutzung ist über Jahrhunderte erhalten geblieben. Mit der kleinen Einzelwirtschaft, also mit der Idee vom kleinen Familienverband aus Eltern, Großeltern und Kindern haben sich die Römer durchgesetzt. Das alte slawische Dorf, wo eine große Gruppe blutsverwandter und nichtverwandter Personen unter einem Dach lebte, ist bei der Eroberung unwiederbringlich verloren gegangen. Patriarchat und Monogamie zogen mit dem Christengott ein, was weder Mann noch Weib hinderte, ab und an mal in Nachbars Garten von den besten Früchten zu naschen. Nebenher hielten die Dörfer untereinander feste Verbindung, die Menschen tauschten Waren und Meinungen aus, kauften bei durchreisenden Händlern, verkauften ihre Produkte in den inzwischen erbauten Städten wie Blumberg, Altlandsberg und Werneuchen. Das Verwaltungszentrum unserer hiesigen Gegend befand sich in Köpenick und hatte sich mit seinen Mönchen auf der alten slawischen Burg am Zusammenfluss von Dame und Spree festgesetzt. Unsere Bauern lieferten dorthin ihre gesetzlich festgelegten Abgaben: den Zehnt. Sie lieferten pünktlich, regelmäßig, gottergeben und gottgefällig, was ihnen leicht gemacht war, denn der Zehnt drückte nicht allzu schwer.

Dieser Zehnt, also ein Zehntel aller Produkte und Leistungen, versetzt uns heute in Staunen, wenn wir die aktuelle Abgabenhöhe zum Vergleich heranziehen. Was löhnen wir nicht alles an Kopf-, Verbraucher-, Haupt- und Nebenabgaben! Abgaben, die mit haarsträubenden Begründungen eingeführt, niemals nachgelassen werden und dennoch nie auszureichen scheinen, das Staatswesen halbwegs gesund aufrechtzuerhalten. Seinerzeit, im Mittelalter hingegen genügten der Obrigkeit zehn Prozent, um ihre Leistungsaufgaben zu erfüllen und zugleich einen gehobenen Lebensstandart zu führen. Wenn man den unglaublichen Wohlstand, den die dazumal hatten, und den Reichtum, den die anhäuften, und den Glanz, den die ausstrahlten, betrachtet, ist man förmlich überrollt. Da fragt man sich: Wie machten die das eigentlich? Hier der Zehnt und dort dann solche Paläste? Donnerwetter! Wie konnten die derart wirtschaften?

Ganz einfach. Ihr Anspruch war nicht sonderlich hoch, wir können es auch als Genügsamkeit bezeichnen, zum einen. Andererseits lebten sie in einer fast vollständigen Harmonie mit sich und ihrer Umwelt. Sie wucherten nicht, sondern sie teilten sich vernünftig ein, sowohl die Herren als auch die Untertanen. Denn sie beobachteten ihr Umfeld gewissenhaft und setzten ihre Erfahrungen in die Praxis um. Ihre Gemeinden waren relativ klein, ihre Kräfte relativ gering. Was sie der Natur zu entnehmen vermochten, wuchs gleichermaßen augenblicklich nach. Aber auch die Vernunft, der Gemeinschaftssinn, der Wille zum Leben war ihnen noch nicht gänzlich abhanden gekommen, sodass sie sowohl sich selbst als auch die natürlichen Ressourcen schonten, weil sie nicht vor der Zeit untergehen wollten.

Sehen wir uns zum Beispiel mal das mittelalterliche Dorf an: Es verfügte nur über einen einzigen Backofen, den alle gemeinsam nutzten. Zwar gab es in jedem Haus eine Feuerstelle, um die Stube zu heizen und das Mittagsmahl zu wärmen, aber das Brot backten sie im Gemeinschaftsofen auf dem Dorfanger. Nicht etwa, weil sie nicht in der Lage gewesen wären, in jedes Haus einen Backofen zu stellen, das nicht, aber weil der Aufwand für Holzbeschaffung, Anheizen, das Feuer bei gleichbleibend ziemlich hoher Temperatur über Stunden halten und hüten, für einen Einzelhaushalt einfach viel zu hoch gewesen wäre. Also bauten sie etwas größer, schoben gleich mehrere Brote hinein, versammelten sich um das Feuer, plauderten, ließen es sich gut gehen, legten ab und an ein paar Scheite nach und warteten, bis sich die braune Kruste hob, der Duft den Verzehr ankündigte und alles fertig war. Dann nahm sich jeder seinen Anteil, ging heim und setzte sich zu Tisch. So verbanden sie das Angenehme mit dem Nützlichen: Brotbacken, Holz sparen, den Wald schonen, sich Ausruhen und Essen – alles in einem.

Desgleichen verhielt es sich mit dem Badehaus. Übrigens, diese ausgeprägte Badekultur hatten die Römer in unsere Gegend mitgebracht. Zum Zwecke der wöchentlich einmal fälligen Ganzkörperreinigung schafften unsere Bauern Holz ins gemeinsame Badehaus, heizten den Kessel an, füllten die Wasserkübel auf, fingen ihre Kinder ein und los ging’s: erst die Frauen mit den Kindern und dann die Männer oder in umgekehrter Reihenfolge, aber immer alle zusammen. Abgesehen von dem geselligen Nebeneffekt, war wieder Holz gespart, Arbeit gespart, Zeit gespart – eine perfekt funktionierende Gemeinschaft. Wenn alle so denken und weil alle so dachten und handelten, vollbrachte das Mittelalter derart bewunderungswürdige Leistungen auf den Gebieten der Kunst, des Handwerks und der Architektur und hielt sehr lange, immerhin runde 800 Jahre.

Und auch die Obrigkeit ward angehalten, immer schön langsam und vorausschauend zu wirtschaften. Kirchenbauten, diese riesigen Tempel und Paläste, die brauchten dann schon mal ein oder zwei oder drei Generationen, um fertig zu werden. Technisch und organisatorisch wären die Bauten innerhalb von zehn, zwanzig Jahren durchaus realisierbar gewesen, wie die blitzschnelle Errichtung der mittelalterlichen Stadt beweist. Diese Stadt ist nämlich wie das Dorf als Bastion nach militärischen Gesichtspunkten innerhalb kürzester Frist hochgezogen und fertiggestellt worden. Den Eroberern folgten die Baumeister, zumeist Kämpfer und Handwerker in einer Person, breiteten die Pläne aus, legten los und flugs war so eine Festung errichtet. Eine unglaubliche Leistung und von hoher strategischer Bedeutung. Später folgten die bombastischen Kirchenbauten und Paläste, für die man sich Zeit lassen konnte und Zeit ließ, weil man sich wirtschaftlich nicht übernehmen wollte. Auf der einen Seite also zielgerichtete Eroberung und auf der anderen Seite Bedachtsamkeit und Vorsicht. Dann malten sie sämtliche Gebäude mit ihren Idealen aus: zufriedene, glückliche Menschen, in einem farbigen, naturnahen, freundlichen Umfeld.