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Warum singen Vögel? Was versuchen sie zu sagen? Warum bedeutet es uns so viel, ihren Gesang zu hören und zu verstehen? Vom Rotkehlchen bis zur Nachtigall, von Frühjahr bis Winter, vom Unterschied zwischen Gesang und Ruf? – dieses Buch bietet einen wunderbaren Einstieg in die Welt der Vogelstimmen und die Kunst, sie zu erkennen – und damit auch die Welt ein bisschen besser zu verstehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Copyright © 2011 Simon Barnes
Copyright © 2019 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg, www.edelbooks.com
Projektkoordination: Dr. Marten Brandt
Lektorat: Caroline Katzianka, Dr. Marten Brandt
Übersetzung der Gedichte: Silvia Paetz
Layout: schaefermueller publishing GmbH | Nina Maria Küchler
Satz: Datagrafix GSP GmbH
Illustrationen (Cover und Innenteil): Christopher Schmidt | www.naturillustrationen.de
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de
ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
eISBN 978-3-8419-0666-3
Musik in meinen Ohren
Lieder für das Überleben
Das Rotkehlchen
Im zweistelligen Bereich
Das eigene Revier
Der Zaunkönig
Sprechende Vögel
Pii-uu!
Wie man um die Ecke blicken kann
Die Heckenbraunelle
Zeit und Raum
Vogelgesang als Lebensretter
Die Schwanzmeise
Wie sich der Frühling verlängern lässt
Die Kohlmeise
Halten Sie es einfach
Die Singdrossel
Welch ein Repertoire!
Der Buchfink
Den eigenen Namen rufen
Die Blaumeise
Der Buntspecht
Wie wir die Musik gestohlen haben
Die Amsel
Als der Gesang anfing
Der Grünfink
Wie ich die Musik erfand
Die Feldlerche
Ein Hauch frischer Luft
Munterer Geist
Der Zilpzalp
Umsiedlung in Krisenzeiten
Der Kuckuck
Der letzte Kuckuck?
Die Schwalben
Chauvinismus der Wirbeltiere
Die Tauben
Wieso die Sänger?
Die Mönchsgrasmücke
Das Ende eines Phantoms
Der Fitis
Hören und sich darauf einlassen
Die Möwen
Der Mauersegler
Noch ein Bonus
Die Watvögel der Küste
Hallo!
Die Krähen
Binsenweisheiten
Zwei weitere Krähen
Weltmeisterschaft der Vogelbeobachter
Die Süßwasservögel
Zählt das wirklich?
Die Gänse
Lied des Schmetterlings
Die Greifvögel
Stille
Die Eulen und Kauze
Die Winterdrossel
Venedig
Die Misteldrossel
Der Star
Lernen
Mozarts Star
Das Wintergoldhähnchen
Der Grünspecht
Porträt eines Künstlers
Der Stieglitz
Die Goldammer
Der Rhythmiker
Der Kleiber
Die Tannenmeise
Die Rhythmusgruppe
Die Bachstelze
Der Wiesenpieper
Der Fasan und das Rebhuhn
Freut euch!
Die Mehlschwalbe
Die Gartengrasmücke
Die Dorngrasmücke
Die Nachtigall
Herzschmerz
Liebliche Musik
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café und im Hintergrund läuft Musik. Sie hören nicht, welche Musik es ist, welches Lied, Sie registrieren nicht einmal, dass überhaupt Musik läuft. Die Musik bildet eine Art Hintergrundrauschen.
Sie lesen vielleicht Zeitung, warten auf jemanden, mit dem Sie verabredet sind, oder unterhalten sich mit Ihrem Gegenüber. Wegen des Geräuschpegels und der Musik erheben Sie unbewusst Ihre Stimme.
Und auf einmal hören Sie das Lied. Ein Lied, das Ihnen persönlich etwas bedeutet, Sie an Ihre erste Liebe erinnert oder an einen besonderen Moment. Das Lied dringt in Ihr Bewusstsein, und Sie sind wie elektrisiert. Die Gefühle von damals sind schlagartig wieder da.
Die Musik ist aus dem Hintergrundrauschen herausgetreten, wie eine wichtige Botschaft, sie hat jetzt eine Bedeutung und mit ihr auch der Ort und die Zeit. Und auf einmal sind die Sinne hellwach, zählt jede Note, jedes Instrument, jedes Wort. Wie eine persönliche Nachricht, wenngleich Sie wissen, dass die Musikauswahl aus den Lautsprechern dem Zufallsprinzip folgt. Plötzlich lebt der Ort. Plötzlich leben Sie.
Was ich Ihnen mit diesem Buch vermitteln möchte, ist diese besondere Musik, die aufhorchen lässt – nicht für die Dauer eines Liedes, sondern für den Rest Ihres Lebens. Jedes Mal, wenn Sie einen Waldspaziergang machen, jedes Mal, wenn Sie auf dem Weg zur Arbeit einen Park durchqueren, jedes Mal, wenn Sie im Garten oder auf dem Balkon sitzen und einen Vogel singen hören, wünsche ich Ihnen, dass diese Töne für Sie eine Bedeutung erhalten. Denn der Vogel wird Ihr Lied singen.
Vögel singen. Für uns mag das interessant, bereichernd, bezaubernd sein. Für den Vogel geht es um Leben und Tod. Jeder Vogel singt sein ganz eigenes Lied. Seine wichtigste Botschaft dabei ist zu zeigen, welcher Art er angehört. Denn was nutzt es einer Amsel, einem Zaunkönig ein Liebeslied zu trällern? Für eine Amsel ist wichtig, dass sie wie eine Amsel klingt.
Fitisse und Zilpzalps sind optisch kaum voneinander zu unterscheiden. Ein Zilpzalp hat meist dunklere Beine, aber das ist nur aus der Nähe zu erkennen – für Vogel und Mensch gleichermaßen. Doch, und das macht das Ganze kompliziert, diese Regel gilt nicht immer. Wer schon einmal Vögel beringt und einen Fitis in seinem Vogelnetz gefangen hat, der weiß, dass es noch einen weiteren Unterschied gibt: Fitisse haben längere Flügel. Der Grund ist, dass Fitisse in Afrika überwintern, und sie benötigen deshalb größere Flügel als Zilpzalps, die ihr Winterquartier in Südeuropa aufschlagen. Fitisse fangen ihre Artgenossen nicht mit einem Vogelnetz und vermessen auch nicht die Flügel. Um zu zeigen, dass sie ein Fitis sind, singen sie.
So ähnlich sich die beiden Vogelarten rein äußerlich sind, so verschieden ist ihr Gesang. Man muss sie also nicht einmal sehen, um sie zu unterscheiden. Erfahrene Vogelbeobachter wissen das, ihnen genügt es, den Vogel zu hören. Und den Vögeln genügt das auch.
Wir Menschen unterscheiden uns von den meisten Säugetieren. Ein Großteil der Säugetiere hat einen hochentwickelten Geruchssinn, Hunde sind ein gutes Beispiel. Sie können eine breite Palette von unterschiedlichen Duftnuancen wahrnehmen, es ist ihre Art Nachrichten auszutauschen, zu kommunizieren. Die meisten Vögel riechen wie wir Menschen, und das heißt: nicht besonders gut. Manche Geier können Aas per Geruch aufspüren, und Albatrosse entdecken dank ihrer feinen Nase Fische. Auch Nachtschwalben und Mauersegler haben einen ausgeprägten Geruchssinn, doch dieser hat bei Vögeln gemeinhin nicht annähernd die Bedeutung wie bei Hunden. Sie brauchen ihn auch nicht, denn sie kommunizieren anders als Hunde: Sie schnüffeln nicht, sie singen. Und der Vogelgesang berührt unser Herz.
Wie für die Vögel ist auch für uns Menschen das Sehen und Hören wichtig. Es ist sogar überlebenswichtig. Vögel bringen Farbe in unser Leben, und mit dem Schönsten, das sie besitzen, ihrem Gesang, betören sie uns.
Wer lernt, Vogelstimmen zu erkennen, wird nicht nur ein besserer Vogelbeobachter. Er bekommt auch die Chance, den vielfältigen Soundtrack unseres Planeten Erde zu verstehen.
Vögel singen vor allem im Frühling, und daher ist der Winter die beste Zeit, sich dem Phänomen zu nähern. Vögel singen, um ein Revier abzustecken, eine Partnerin zu gewinnen und gegen Konkurrenten zu verteidigen. Mit anderen Worten: Die meisten Sänger sind Männchen, und ihr Gesang steht im Zusammenhang mit der Fortpflanzung, die im Frühling geschieht.
Ob Wald, Park oder Garten, im Frühjahr ertönt eine herrliche Symphonie an Vogelstimmen. Bei Tagesanbruch hebt sie an, wie von einem unsichtbaren Dirigenten gesteuert, in einer genau festgelegten Abfolge, dessen Prinzip uns jetzt, am Beginn unserer Beschäftigung mit Vogelgesang, noch weitestgehend verschlossen ist. Das Frühlings-Morgenkonzert ist einfach großartig und lässt einem das Herz aufgehen. Für Anfänger ist jedoch kaum nachvollziehbar, wer da wann und wie singt. Wer die einzelnen Instrumente eines Orchesters heraushören möchte, sollte nicht gleich mit dem letzten Satz von Beethovens „Neunter“ beginnen. Aber es ist auf jeden Fall ein lohnendes Ziel, das zu einem tieferen Verständnis und letztendlich noch einer größeren Freude an der „Ode an die Freude“ führt.
Beschränken wir uns also auf einige Solisten, um nicht völlig durcheinander zu geraten. Wenn Sie an einem windstillen, klaren Wintertag in einem Garten, einem Park, einem Waldstück spazieren gehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie ein Rotkehlchen hören. Schon deshalb, weil es der einzige Vogel ist, der den ganzen Winter hindurch singt. Rotkehlchen singen sogar die meiste Zeit des Jahres, während fast alle Arten ihren Gesang nach der Brutzeit einstellen. Zwar verstummen auch die Rotkehlchen im Hochsommer für kurze Zeit, wenn sie in der Mauser sind. Dann ist Aufmerksamkeit das Letzte, was sie brauchen. Aber bereits im Herbst legen sie wieder los, und sobald der Frühling auch nur zu erahnen ist, bilden Rotkehlchen wieder Pärchen, häufig mit dem gleichen Partner wie im vorangegangenen Jahr. Frühmorgens beginnen sie als Erste und verstummen abends als Letzte. Übrigens singen beide Geschlechter, um ihr Revier zu verteidigen.
Hören Sie sich an einem solchen Wintertag einmal in Ruhe den Gesang der Rotkehlchen an. Am besten lernen Sie durch Hören, Hören, Hören. Es ist schwer, den Klang eines Cellos oder eines Cellostückes von Bach zu beschreiben, aber in einem Bereich unseres Gehirns können wir Klänge auch ohne verbale Zuordnung speichern. Dieser Bereich lässt sich durch Zuhören aktivieren. Am Anfang muss man sich ziemlich anstrengen, aber relativ schnell ist das Gehörte verinnerlicht. Bald werden Sie ein Rotkehlchen ohne große Mühe erkennen.
Der Haken ist, dass Rotkehlchen nicht nur ein einziges Lied haben. Lassen Sie sich aber nicht entmutigen. Auch wenn Rotkehlchen gerne variieren und einen großen Liedschatz in ihrem Repertoire haben, der Klang ihrer Stimme ist doch immer der gleiche. Ob Sie Bach oder ein irisches Tanzlied auf einer Geige spielen, es ist und bleibt eine Geige. Und so klingt ein Rotkehlchen immer wie ein Rotkehlchen: Es hat eine dezente, schöne, etwas gequetschte, aber glasklare Stimme. Als ich anfing, Vogelstimmen zu lernen, habe ich das Lied des Rotkehlchens mit seinem feinen Schnabel assoziiert, der dazu geschaffen ist, Insekten aufzusammeln.
So niedlich Rotkehlchen aussehen und so schön sie singen, so aggressiv können sie sein. Die rote Brust signalisiert: Ich bin stark, legt euch nicht mit mir an. Während der Balz plustern männliche Rotkehlchen ihre roten Brustfedern auf, sobald sie andere Rotkehlchen mit roten Brustfedern sehen – auf dem Höhepunkt der Balz sogar, wenn sie irgendetwas Rotes sehen. Dieses Aufplustern geht nicht selten in einen Angriff über, wenn der Gegner ein Rivale ist, der nicht klein beigeben will. In unseren Ohren klingt der Gesang freilich keineswegs kriegerisch, sondern eher lieblich, ja sogar ein wenig melancholisch. Manche behaupten, der Gesang klänge immer melancholischer, je näher der Winter rückt.
Hören Sie dem Rotkehlchen zu, wann immer es Ihnen möglich ist. Halten Sie inne und lauschen Sie. Bald schon werden Sie seine Stimme verinnerlicht haben und von Stimmen anderer Arten unterscheiden können. Stellen Sie Ihr Gehör darauf ein, lernen Sie Schritt für Schritt.
Und freuen Sie sich darauf.
Vögel singen, um ihre Revier zu verteidigen. Das ist sogar einer der Hauptgründe, warum sie singen – was unserem Gefühl von ergreifender Schönheit vielleicht widerspricht. Den Begriff „Revier“ sollten wir jedoch nicht nach menschlichem Verständnis im Sinne von Eigentum begreifen. Ein Revier ist kein Eigentum. Und genauso wenig ist der Vogelgesang gleichzusetzen mit der traditionellen Begrüßungsformel: „Was zum Teufel machst du auf meinem Grundstück?“
Revier ist Leben. Mehr nicht. Es ist ein Bereich, den ein Vogel braucht, um Nachwuchs aufzuziehen, ein Bereich, den er verteidigen will und muss. Bei den meisten bekannten Sängern ist dieses Verteidigungssystem dreistufig. Die erste Stufe ist Gesang. Lässt die Bedrohung nicht nach, folgt die zweite Stufe: Aufplustern. So wie zum Beispiel ein Rotkehlchen seine roten Brustfedern aufplustert. Manche Vögel senken den Kopf und strecken den Schnabel heraus, andere richten ihre Schnäbel nach oben und zeigen ihr Brustgefieder. Die Bedeutung ist klar: „Leg dich nicht mit mir an! Sonst hast du ein Problem.“ Der Sinn von Gesang und Aufplustern besteht also darin, eine Auseinandersetzung zu vermeiden. Und damit wären wir bei der dritten Stufe: der Auseinandersetzung, bei der der Heimvorteil große Bedeutung hat.
Ein Revier ist eine variable Größe. Für viele Seevögel ist der Raum, den sie verteidigen, nur einen Quadratmeter groß – der aktuelle Nistplatz. Kein Vogel beansprucht einen Teil des Ozeans nur für sich. Das wäre auch sinnlos, denn Fischschwärme halten sich niemals an einem festen Platz auf. Ein Waldkauz aber bleibt zeit seines Lebens in seinem Revier, wenn er es einmal gefunden hat.
Zahlreiche Singvögel haben ein saisonales Territorium, das als Brut- und Nahrungsrevier dient. Die Größe eines solchen Reviers wechselt oftmals stark: Ist das Nahrungsangebot groß, begnügen sich die Vögel mit kleineren Revieren, ohne dass es zu wechselseitigen Spannungen oder gar Revierverletzungen kommt. Grasmücken etwa haben nur ein sehr schwach ausgeprägtes Revierverhalten. Sie verteidigen meist nur den Bereich, in dem sie gerade auf Nahrungssuche sind.
Wenn ein Vogel zur Verteidigung seines Reviers singt, dann sollte das Revier so geartet sein, dass seine Stimme auch die äußersten Ränder erreicht und es rundherum ausreichend Artgenossen gibt, gegen die er sein Territorium verteidigt. Rivalen sind immer Artgenossen – unterschiedliche Arten stehen in der Regel nicht in Nahrungskonkurrenz zueinander. Eine Blaumeise hält Ausschau nach kleinen Raupen auf den Enden von Ästen, während Kohlmeisen größere Beutetiere in Stammnähe bevorzugen und Amseln am liebsten am Boden auf Nahrungssuche gehen. Für die Amsel sind andere Amseln das Problem – Meisen, ob Blaumeisen oder Kohlmeisen, interessieren sie nicht im Geringsten.
Singen hilft. Schon der Gesang an sich genügt in der Regel, um das Revier erfolgreich zu schützen. In einem Experiment konnte nachgewiesen werden, dass Artgenossen die Reviergrenzen einer Kohlmeise weiterhin respektierten, obwohl diese nicht mehr dort lebte und das Lied des Männchens aus Lautsprechern kam.
Reviere sind wichtig, um dort Nahrung zu finden, eine Partnerin anzulocken oder zu behalten und um sich vor Räubern zu verstecken. Letzten Endes ist das Ziel für einen Vogel immer, Nachwuchs zu zeugen oder, wie Richard Dawkins es ausdrücken würde1, seine unvergänglichen Gene weiterzureichen.
Bei Revieren geht es jedoch nicht um Angeben oder um Eigentum oder um die Frage, wer das größere hat. Reviere sind wichtig für das Überleben, und somit ist auch das Lied, mit dem der Vogel sein Revier verteidigt, ein Lied des (Über)Lebens. Wir sind Menschen und gehören zur Klasse der Säugetiere; Vögel gehören der Klasse der Vögel an. Wie Vögel reagieren wir Menschen sehr stark auf Geräusche. Hören wir das Lied des Lebens, dann registrieren wir das. Wir reagieren mit unserem Bauch und mit unseren Emotionen auf den Gesang, der die Gemüter der jeweiligen Artgenossen bewegt. Gesang, der bei den männlichen Zuhörern Rivalität, Respekt und auch Furcht auslöst – wenn er denn gut ist. Der Gesang erregt jedoch auch die Gefühle von Weibchen – das aber ebenfalls nur, wenn er gut ist. Wie wir Menschen sind auch Vögel anspruchsvolle Hörer.
1Richard Dawkins: Geschichyten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren, Berlin 2008.
Ein milder Wintertag. Die Sonne hat noch kaum Kraft, es zeigen sich aber schon Schatten am Boden. Sie sind gut gelaunt, denn dieser Tag verheißt das Ende des Winters. Sie hören ein Rotkehlchen mit schöner Stimme, das genauso euphorisch auf das herrliche Wetter zu reagieren scheint wie Sie. Und dann hören Sie noch einen anderen Gesang. Erstaunlich laut und ungefähr auf Kniehöhe.
Das ist ein Zaunkönig. Eine schnelle Abfolge unterschiedlicher Töne, auf die immer wieder ein lauter, heftiger Triller folgt. Wenn Sie Ihre Zunge von hinten gegen die Zähne schnalzen lassen, als wollten Sie einen Presslufthammer imitieren – dann wissen Sie, wie der Zaunkönig ruft. Der Zaunkönig gehört zwar zu den kleinsten Vögeln unseres Landes – in Ihre Handflächen passen locker ein Dutzend oder mehr –, aber wenn er singt, wird er richtig laut. Wer schon mal einen Zaunkönig mit aufgestelltem Schwanzgefieder hat singen sehen, der hat sich sicher gewundert, dass all die Energie, die er in seinen Gesang steckt und die seinen ganzen Körper und die Flügel erzittern lässt, ihn nicht zerreißt.
Den Triller am Ende des Liedes sollte man sich gut merken. Wer ihn einmal wahrgenommen hat, wird ihn immer wieder erkennen. Das Problem daran ist nur, dass der Zaunkönig ihn nicht immer vollführt. Vor allem in den Wintermonaten, wenn er also nicht gerade dabei ist, ein Revier zu gründen, lässt er ihn gerne weg. Dafür fängt er schon früh im Jahr an zu singen und reagiert auf die verheißungsvollen Luftveränderungen.
Wenn Sie also im Winter ein lautes und schrilles Lied hören, das nicht von einem Rotkehlchen stammt, dann halten Sie kurz inne und hören Sie genau hin. Wahrscheinlich wird bald der Triller folgen und spätestens dann wissen Sie, wer der Urheber ist. In der Folge werden Sie das Lied schon bei den ersten Tönen erkennen, nicht zuletzt auch daran, woher diese kommen: Kniehöhe plus laut macht Zaunkönig.
Wer dem Zaunkönig gelauscht und sich dessen Gesang eingeprägt hat, wird ihn vermutlich etwas, sagen wir mal, eintönig finden. Zumindest nicht so, dass es einen umwirft. Ein paar schwingende Töne, dann der Triller – und … ja … das war’s. Mechanisch, monoton, fantasielos. Dennoch steckt hinter diesem kurzen explosiven Lied ein großes Mysterium.
Nimmt man den Gesang des Zaunkönigs auf und spielt ihn deutlich verlangsamt ab, dann stellt man fest, dass er anders klingt und auch deutlich komplexer ist, als man zunächst meinte. In ornithologischen Kreisen hat die verlangsamte Wiedergabe von Vogelgesang in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Es ist, als würde man das Lied unter ein Mikroskop legen. So entdeckt man, dass ein Vogellied viel mehr enthält, als man meinen würde oder herausgehört hat. Ich habe ein Zaunköniglied, das ursprünglich 8,25 Sekunden dauerte, in einer verlangsamten Wiedergabe von 66 Sekunden gehört. Die Veränderung war verblüffend: Inmitten der schnellen Töne offenbarte sich ein süßes, gemächliches melodiöses Muster. In jenem Lied sang der Zaunkönig unglaubliche 103 Töne oder anders gesagt: Er sang mit einer Geschwindigkeit von 740 Noten pro Minute. Für einen Menschen absolut unerreichbar. Kein Wunder, dass der Mensch all diese verschiedenen Töne auf die Schnelle nicht unterscheiden kann. So fein ist unser Gehörsinn dann doch nicht.
Aber kann ein Vogel diese vielen Töne unterscheiden? Wahrscheinlich schon. Was sollten wir sonst auch annehmen, denn irgendeinen Grund muss dieser Wasserfall an Tönen ja haben. Die Schwarzkehl-Nachtschwalbe, ein in Amerika beheimateter Vogel, ist berühmt für ihren weit tragenden Ruf, der aus drei Tönen besteht. Vermeintlich, denn bei der verlangsamten Wiedergabe ihres Liedes stellte man fest, dass der Vogel in Wahrheit fünf Töne singt.