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Die Jagderzählungen des Ludwig Benedikt Freiherr von Cramer-Klett (1906-1985) zählen zu den echten Jagdklassikern. Wollte man aus seinem ohnehin herausragenden schriftstellerischen Vermächtnis ein besonderes Werk hervorheben, so hätten "Die Heuraffler" diese Ehre zweifellos verdient. Ein besonderes Lesevergnügen für alle Liebhaber kunstvoll geschriebener Jagdliteratur in einer hochwertigen, bibliophil gestalteten Ausgabe. Dieses Buch schmückt jede waidmännische Bibliothek.
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Seitenzahl: 481
Der Autor im Frühjahr 1985 nach einem Gemälde von Rudolph Distler
LUDWIG B. FREIHERR VON CRAMER-KLETT
Vom Jagen in den Bergen
DIE HEURAFFLER
Kosmos
Zweien, die gegeben
Immer mir im Leben,
Sei aufs Grab ein Reis
Junger Zeiten Preis.
Wie der Ahn mich lehrte,
Wie der Vater wehrte,
Richtung ward und Rat
Meinem grünen Pfad.
Neu erblühten Knaben
Formen reiche Gaben,
Bleibenden Gewinn
Ahn und Vaters Sinn.
Neue Kettenglieder
Schmiedet immer wieder
Schon ergraut der Sohn
Vorderen zum Lohn.
Ludwig Freiherrn von Würtzburg
Theodor Freiherrn von Cramer-Klett
zum Gedächtnis
Ludwig Benedikt Freiherr von
Cramer-Klett
Hohenaschau, im Oktober 1950
Inhalt
Vorwort
Die Heuraffler
Eine Jagderzählung
Der Rucksack
Um die Wildleite
Grobwetter im Mai
Eine Geschichte vom Schneidhahn
Auf der Niederalm
Die Titelgeschichte dieses Buches hat mich vor etwa einem halben Jahrhundert in die Jagdliteratur eingeführt. Damals war Otto Freiherr von Dungern Schriftleiter der »Deutschen Jäger-Zeitung«. Er war als ritterlicher Mann und Offizier eine Idealgestalt seiner Zeit, vor allem der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Mit ihm verband die Familie meiner Mutter eine alte, enge Freundschaft. Meine Hemmungen überwindend, brachte ich ihm in Berlin einmal ein paar Jagdgeschichten, die ich während meiner ersten Studienjahre geschrieben hatte. Sie fanden seine Zustimmung. Er hat die »Heuraffler« damals in der zur »Grünen Woche« erscheinenden Ausgabe der »Deutschen Jäger-Zeitung« veröffentlicht, deren Umfang er sogar erweitern mußte, weil er die Erzählung nicht kürzen mochte. Nach manchen Enttäuschungen mit meinen schriftstellerischen Arbeiten auf anderen, nichtjagdlichen Gebieten war dieser Erfolg in der Jagdpresse für mich richtunggebend und ein Anlaß, weiter bei Stoffen zu bleiben, die meinem Herzen näherstanden als andere aus dem täglichen Leben.
Auch das viel später unter dem Titel »Die Heuraffler« entstandene Jagdbuch war erfolgreich und hat mir manche wohlwollende Beurteilung eingebracht. Auf dieser Basis baute ich dann weiter, wobei nicht zuletzt das stete Entgegenkommen des Verlages Paul Parey und die besondere Anteilnahme von Dr. phil. Arthur Georgi dazu beitrugen, daß im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren sechs weitere Bücher von mir veröffentlicht und fast durchweg in mehreren Auflagen verbreitet wurden.
Das »Heuraffler«-Buch, als einziges in einem anderen Verlag erschienen, sollte dort, obwohl es nach wie vor mit der Sympathie und dem Interesse der Leser rechnen durfte, nicht wieder aufgelegt werden. Und wieder ist es dem Verlag Paul Parey zu danken, wenn »Die Heuraffler« jetzt eine Wiedererweckung gefunden und die Reihe meiner Bücher geschlossen haben. Mein Dank für diese Entwicklung gilt aber auch vielen meiner Leser, die sich im Lauf der letzten Jahre immer wieder mit Anfragen an mich gewandt und die Wiederkehr der »Heuraffler« gewünscht haben.
Mit ihr ist die heilige Sieben meiner Jägerbücher erreicht bzw. bewahrt worden, was für mich nicht nur eine Autorengenugtuung, sondern weit mehr noch im Rückblick auf meine jungen Jahre eine Freude ist, denn nur der Jugend scheint eine so vorbehaltlose Hingegebenheit an die von ihr ergriffenen Stoffe, hier also an das jagdliche Erleben und das Leben der Wälder, vergönnt zu sein.
Wahrscheinlich hat es Jahre gedauert, bis die Erzählung von den »Heurafflern« sich langsam und unbewußt immer wieder von neuen Begebnissen befeuert, in mir aufgebaut hat. Vielleicht bringt sie jetzt nach so vielen verändernden, zerstörenden, auslöschenden und von schlimmem Erleben gezeichneten Jahren denen, die mit mir alt geworden sind, Stunden erfreulicher Rückschau und den Jungen, die trotz aller bösen Eingriffe des Schicksals und Anfeindungen von der Umwelt her noch mit Liebe am Waidwerk hängen, eine Belebung ihres guten Bemühens, Verbliebenes zu erhalten und möglichst viel des guten Alten neu aufleben zu lassen.
Neben dem Verlag, der die »Heuraffler« und alle anderen Geschichten dieses Buches vor der Vergessenheit gerettet hat, danke ich allen, die durch Jahrzehnte den »Heurafflern« ihr Wohlwollen bewahrt haben.
Danken möchte ich auch in alter Verbundenheit dem verehrten Freund und Mitkämpfer für die Schönheiten unserer Landschaft, dem Fotografen Max Baur, von dem die in diesem Buch wiedergegebenen Aufnahmen stammen.
Hohenaschau, 1982
Ludwig Benedikt Frhr. von Cramer-Klett
»Heuraffel …« Wenn ich mir dieses Wort vorsage, dann taucht die Gestalt eines breitspurig dasitzenden Riesen vor mir auf. Eine unförmige Felsspitze ragt in den herbstlich lichtblauen Himmel, auf der einen Seite schroff und felsig abstürzend, auf der anderen bis zum Scheitel hinauf von Lahnern und Laublatschen überzogen. Das ist der Kopf des Riesen, »Heuraffelkopf« nennt ihn der Volksmund. Zu seiner Rechten fällt die Linie der Schulter und des Armes bis zum Knie in einem zerklüfteten Felsgrat ab, den alte Rauhfichten krönen. Das Bein verschwindet in vielen herbstbunt leuchtenden Buchenkronen. Sein linker Arm verliert sich auf der Schneid zwischen der Grubalm in seinem Rücken und der ihm zu Füßen liegenden Elandalm, während sein linkes Knie sich in einem breiten Streifen Fichtenwaldes darstellt und den südlichen Rand der eben genannten Elandalm bildet. Zwischen diesen beiden Heuraffel-Knien, die in kraftvollem Behagen weit auseinanderstehen, fällt, wie der Lederschurz eines ausruhenden Schmiedes, eine steile, ziemlich breite Mulde zur Elandalm ab.
Jedem erfahrenen Bergjäger schlägt beim Anblick des Heuraffel das Herz höher, denn gerade in dieser Mulde, die von der undurchdringlichsten Buchenjugend bestockt und von unzähligen Rillen und Rinnen, Wänden, Felsköpfen und Geröllfeldern durchzogen ist, hat alles Wild, Gams, Reh und insbesondere das Rotwild, einen kaum je gestörten, einen ganz sicheren Einstand. Zu sicher nur! Die Hirsche im Heuraffel sterben steinalt den Schneetod, ohne daß je ein menschliches Auge ihren Hauptschmuck geschaut hat.
Kein Steig quert die Mulde oder dringt auch nur ein Stück weit in die Buchendickung ein zu irgendeiner der kleinen Blößen oder einem der Ausblick gewährenden Felsköpfe. Es widerstrebt dem Waidmann, durch seine stillsten, heimlichsten Revierteile noch so versteckte Menschenpfade und damit Unruhe und Unbehagen zu leiten. Irgendwo auf dieser, Gott sei’s geklagt, so bevölkerten Erde muß doch ein bißchen Wildnis, ein bißchen unentweihtes Gebiet erhalten werden! Ob außerdem so ein Steig drei Jahre, nachdem er angelegt wurde, noch gangbar wäre, ist sehr zweifelhaft, denn in dem unerforschten Buchenhang steinelt es in einem fort, bald leise rieselnd und klappernd, bald mit lautem Knall und schwerem Krachen, wenn ein Felsbrocken von den Wänden niederstürzt, eine steinerne Träne aus dem Antlitz des Heuraffel-Riesen, geweint über aller Dinge, auch des härtesten Felsens Vergänglichkeit.
Die Elandalm ist wohl der beste Brunftplatz des Reviers. Rings Dickungen und Hochwälder. Das Rotwild zieht am Abend von allen Seiten in den langgestreckten, ernst anmutenden Almkessel herunter, nach allen Richtungen am Morgen in die umliegenden Wälder hinauf. Weither kommen alljährlich im Oktober die Hirsche, um auf Eland Brautschau zu halten. Da wird es nachts lebendig in dem sonst so stillen Kessel, überall tönt sehnsüchtig, verliebt oder zornig der Hirschschrei. Geröll rieselt, Steine poltern, harte Fluchten trommeln über den Almgrund hin, bis es gegen Morgen stiller wird, der Harem verteilt ist und auf getrennten Wechseln kleine Rudel mit ihren Gebietern ins Waldesdunkel einziehen. Fünf, sechs, sogar sieben Hälse habe ich in manchen Nächten schon unterschieden auf der Alm, die kaum hundert Tagwerk Fläche hat.
Der Heuraffel bietet wenig Äsung in seinem felsigen Teil, nur Lahnergras, das im Herbst schon dürr ist und modrig riecht, »stinkt«, wie der Bergler sagt. So muß im Oktober das Heuraffel-Wild auf die Alm herunter, und wo das Wildbret hinzieht, dahin zieht in der Brunft auch der Hirsch. Aber so oft es auch gelingen mag, an einem der vielen anderen Aus- und Einwechsel den verfrühten oder verspäteten Hirsch zu erwarten oder abzufangen, an den zahlreichen Wechseln des Heuraffels gelingt dies fast nie. Weshalb, darüber hat sich schon mancher hirschgerechte Waidmann in langen Hüttennächten den Kopf zerbrochen, darüber ward mancher Kriegsrat am verglimmenden Herdfeuer gehalten, herausgebracht haben wir’s nie. Teilweise läßt sich’s ja erklären: Der Almboden reicht weit hinein unter den Gürtel alter Fichten, der als breiter, dunkelbrandender Wipfelwall die Buchenjugend umgürtet, weshalb das Wild, obwohl schon eingezogen, noch lange ruhig sich fortäsen kann. Auch ist die Alm am Rand der Heuraffel-Dickung besonders schmal, so daß ein Rudel, wenn es in der Mitte des Kessels steht, bei Anbruch der Dämmerung kaum einen Büchsenschuß weit bis zum schützenden Wald zu ziehen hat. Aber es ist dies an den übrigen Seiten nicht viel anders, und das Wild zieht auch nicht nur der Äsung halber auf die Alm, sondern weil es einmal am Tag eine freie Fläche betreten will. Jedes Schalenwild sucht des Nachts freie Flächen auf, wohl des weiteren Ausblicks und der größeren Sicherheit wegen, vielleicht auch, weil ein natürlicher Drang es veranlaßt, die Beengung des geschlossenen Waldes zu verlassen. Und wie gern erwartet es so im Freien die ersten Sonnenstrahlen!
Es wurden gewiß ab und zu Hirsche an jenen Wechseln geschossen, doch – man wird mich auslachen – es waren dies keine echten »Heuraffler«, wie sie, lange bevor ich den ersten Schuß getan, schon mein Großvater taufte. Das waren andere Hirsche von irgendwoher, vom Weißenberg, von den Zeller Wänden, vom Schoßbachgraben, die, einer Laune ihres Kahlwildes folgend, gerade einmal eine kurze Gastrolle im Heuraffel gaben oder durch seine weiten Buchenjugenden hindurchzogen, fernen Brunftplänen zu oder von solchen her. Auch das waren gute Hirsche, andere schoß man nicht, mit oft sehr ansehnlichem Hauptschmuck. Aber »Heuraffler« waren es nicht, Söhne des steinernen Riesen mit gewaltigen, knorrigen Geweihen, so wie der Großvater eines in seinem Zimmer hängen hatte von einem Zwölfer, stark zurückgesetzt, doch astig und schwarz bis in die Spitzen der knuffigen Enden.
Von den meisten Hirschen, die in seinen Zimmern hingen, hatte mir der Großvater die Geschichte erzählt. Von dem Vierzehnender in der Schreck, den er bei Schnee und Mondschein aus dem Hüttenfenster geschossen, von dem alten Sechser und dem Zwölfer, die in der Grub miteinander gekämpft hatten, von dem kapitalen Kronenzehner am Hochboden, der plötzlich auf dem Steig vor ihm stand und mit den rauhen Stangen zornig in einen Ameisenhaufen schlug. So hatte jedes Geweih seine mehr oder minder eigenartige Legende, die ich mit eiserner Beharrlichkeit dem Großvater abrang, und deren Erzählung ich dann mit angehaltenem Atem lauschte. Die Geschichte jenes Heuraffel-Zwölfers aber habe ich nie aus ihm herausgebracht, obwohl er einer seiner allerbesten Hirsche war. Stets, wenn ich ihn danach fragte, ging er darüber hinweg – »ein andermal«, und nur einmal hat er ein wenig mehr darüber angedeutet.
Das erste Revier, in dem ich auf den Brunfthirsch waidwerken durfte, lag weitab vom Heuraffel und der Elandalm. An diesen Hauptplätzen jagten zu der Zeit nur würdige alte Waidgenossen des Großvaters oder er selbst. Es war auch gut so, denn wo der Tisch nicht so reich gedeckt, da ist die Birscharbeit härter, und dabei lernt ein junger Jäger mehr. Erst als die Zahl guter Geweihe die Wände meiner kleinen Turmzimmer beinahe schon ausfüllte, durfte ich den Großvater zum erstenmal auf die Elandhütte begleiten. Zwei seiner alten Freunde waren gestorben, den dritten hielt die Gicht auf dem Krankenlager. Ein sonniger Michaelitag stand über der dunstigen Berglandschaft. Auf die Flanken der Buchenhänge hatte der Herbst das erste gilbende Rot gehaucht, da und dort flammte schon in eitlem Gold ein Ahorn. Am Morgen war das Vieh von den Almen heruntergekommen. Wirr durcheinander klangen die vielen Glocken und die Rufe der Knechte und Sennerinnen das Tal entlang. Die Laute drangen durch die kleinen Fenster in meine Turmstube, in der ich gerade zusammenpackte für den Aufstieg in mein gewohntes Revier. Da ließ der Großvater mich rufen. Als wäre es gestern gewesen, seh’ ich ihn noch vor mir inmitten seines langgestreckten Arbeitszimmers, ein Telegramm in Händen: »Clemens hat abgesagt, wenn du willst, kannst du auf Eland mitkommen.«
Besonders still und nachdenklich stieg der hochgewachsene, sehnige Mann, dem man nicht ansah, daß er über Siebzig war, an dem Tag vor mir her, den steinigen Viehweg erst steil hinauf und dann, links abbiegend, fast eben zur Alm hinüber. Schon lugte unter rauhzottigen Fichtenarmen der Giebel der Jagdhütte hervor, in der uns Balthasar, der Förster, der wohl schon zur fünfundzwanzigsten Hirschbrunft hier heraufgestiegen war, erwartete. Da blieben wir beide stehen und horchten auf. Der erste Brunftschrei! Tief, ernst, beinah traurig kam das kurze Knören aus dem Heuraffel-Dickicht. Der Großvater nickte hinauf, als habe ihn ein alter Freund begrüßt: »Er ist wieder da heuer.«
Es folgten glückliche Tage. Ich schoß bald einen guten Hirsch, kurz darauf der Großvater einen noch besseren, dann wanderte auf Eland ein alter Sechser zu, ein Raufbold, wie er in den Wäldern zwar selten vorkommt, dafür aber in den meisten Jagdromanen beschrieben wird. Dem opferte von da ab der Großvater seine Birschen, während ich mit dem wackeren Balthasar entferntere Plätze aufsuchte. Hirsche gab’s zu jener Zeit noch überall.
Des Heurafflers ward selten Erwähnung getan. Hie und da, wenn wir uns vor der Hütte sonnten und ein kurzer Brummer aus dem lohenden Buchendickicht ertönte, sahen der Großvater und der Balthasar sich wie in bedeutungsvollem Einverständnis an, und ich wagte längere Zeit nicht zu fragen. Wenn sie aber beide vormittags schliefen, saß ich hinter der Hütte, brachte das Glas nicht mehr von den Augen und suchte jede winzige Lücke, jede Rinne, jeden Graben immer und immer wieder ab, ob ich des geheimnisvollen Hirsches nicht ansichtig werden könnte. Kaum ein Stuck bekam ich zu Gesicht. Aber etwas brachte ich doch heraus – zwei Hirsche schrieen im Heuraffel! Der eine ganz oben unter den Wänden, wo die Dickung in die Latschen überging, der andere in aller Mitte der Buchenjugend. Der obere war wohl der jüngere, sein Hals war tief genug, aber dennoch heller als der des anderen, ein wenig markiger, wilder, doch auch er gab selten an. Der untere brummte nur abgrundtief und rostig. Ein Heldenbariton und ein dramatischer Baß, Kurwenal und Marke im Wagnerischen Tristan, das bezeichnet am besten den Unterschied dieser beiden Hälse. Sie schrieen sich niemals gegenseitig an, keiner kam dem andern je zu nahe, und selbst wenn es geschehen wäre, so glaubte ich, hätten sie es beide vornehm übergangen. Wie zwei alte Bekannte waren sie, die durch viele Jahre einander achten gelernt. Vielleicht zogen sie während der Feistzeit gemeinsam ihre Wechsel. Das alles schloß ich aus ihrem seltenen Brummen, das fast nie zu einem offenen Schrei wurde. Jeder Nichtjäger wird lachen und mich für einen Narren erklären. Aber trotzdem: Arm ist, wer sich nicht in die Geheimnisse der Wälder hineinzuträumen vermag.
Wenn es auf den anderen Hängen noch so lebhaft zuging, im Heuraffel herrschte stets so etwas wie Zurückhaltung. Um die Mittagszeit gab der obere kurz und rauh an, eine halbe Minute später brummte der untere seinen Gruß zurück. Dann störte bis gegen Abend kein Ton mehr die herbstlich sonnige Stille über dem Heuraffel-Dickicht.
Einmal ertappte mich der Balthasar bei meinem heimlichen Spekulieren.
»Da derseh’n S’ koan …«, ertönte es plötzlich ein wenig spöttisch hinter mir. Er setzte sich neben mich. »Was i da scho spekuliert hab und gangen drauf, der Exlenz und i!«
»Warum geht Ihr denn heuer nicht drauf?«
»Bedeut’t nix«, gab er gleichmütig zur Antwort. »Die Heuraffler san net zum krieg’n.«
»Warum nicht, sind doch auch nicht verhext?!«
»Ja, mei, was kann mer sag’n? Alt san s’ halt, ganz alt und ganz guate Hirsch, und die san halt fast net zum derschau’n. An oanzigen hat der Exlenz g’schossen, und da war i noch net da.«
»Achtzehnhunderteinundachtzig!« ergänzte ich. Das stand auf der graugelben Hirnschale des Zwölfers. »13. Oktober 1881, im Heuraffel.« Auswendig wußte ich es. »Im Heuraffel«, merkwürdig, also nicht auf der Alm?
»Heuraffel«, wenn ich mir dieses Wort vorsage…
»Und sonst ist nie einer geschossen worden?« fragte ich den Balthasar weiter.
»An oanzigen woaß i, vor viele Jahr …« Er erzählte mir die Geschichte. Ein alter Sechser war’s gewesen mit enggestellten endshohen Stangen, der hatte – etwas Seltenes bei den Heurafflern – einen Abstecher zum Weißenberg hinübergemacht, gut zwei Wegstunden von hier. Als er nach dreitägiger Abwesenheit und gehörigem Umtreiben auf allen Schlägen und Almlichten dort im ersten trüben Morgenschummer wohlverrichteter Dinge heimwechselte, verriet ihn sein tiefes, befriedigtes Brummen dem Adolf, dem Jagdgehilfen des dortigen Revierteils. Ende der Brunft, der Adolf hatte einen Deputathirsch frei. »Werd z’ guat sein für mi, aber nachschau’n kost’t nix«, dachte er. Er erriet die Richtung, in welcher der Hirsch zog und – rennen konnte er ja wie ein Bergesel – schnitt ihm an der Rafenschneid den Wechsel ab. – Dunkel war’s noch, verflucht dunkel, aber der Hirsch mußte über die kahle Schneid, und dabei sah der Adolf die erschreckend hohen Sechserstangen, nur einen Augenblick, aber doch genau genug, um das Herz bis in die Hand, bis in den Kolbenhals und den Lauf hinein schlagen zu fühlen. Als endlich der Schuß brach, machte der Hirsch eine riesige Flucht, schlug um über die Schneid zurück, und dabei sah der Adolf, daß ein Vorderlauf nicht mittat. Hoher Laufschuß! Die Dickungen des Weißenbergs schlugen über dem Hochgeweihten zusammen. Es kam der Tag, und aus den Tiefen kroch langsam der Nebel herauf. Der Adolf rannte ins Tal und meldete sehr betreten dem gestrengen Forstverwalter sein Mißgeschick.
Der hatte auf laufkranke Hirsche seine eigene Methode. »A solcher laßt si zum Teufel hetzen, wann mer’n net glei scharf anpackt«, pflegte er zu sagen. Und so trommelte er zunächst sämtliche verfügbaren Jäger und Hunde zusammen, stellte, so gut sich’s machen ließ, die Hauptwechsel ab, und setzte eine der roten Schweißbracken nach der andern nebst einigen Dackeln vom Anschuß weg auf die dünne Rotfährte. Bald war der Hirsch hoch, die Hunde, hitzig durch Neid und Ehrgeiz, hinter ihm her. Aber da wogte auch der Nebel wieder empor, und als die wilde Jagd mit Jiff und Jaff auf dreißig Schritt ausgerechnet am Adolf vorbeikam, fehlte der, wegen des Nebels wohl und vielleicht auch wegen des einem bedächtigen Gebirgsschützen ungewohnten Tempos. Das Geläut der Hunde hielt aber jetzt stichgerade auf Eland zu, auf das Leibgehege des »Exlenz«. Der Forstverwalter fluchte, der Adolf zitterte im Innersten, und die anderen hatten lange Gesichter. Aber nach mußte man jetzt, sonst war alles vergebens.
Vor der Elandhütte, die am Morgen der letzte Gast verlassen hatte, spülte der Balthasar gerade die Kaffeetassen am Brunnen, da meinte er plötzlich weit unten Hunde jagen zu hören. Er horchte genauer hin. Richtig, das war mehrstimmiger Hetzlaut! Aber was tun? Gleich unter der Alm, die in strahlender Herbstsonne dalag, begann der Nebel. Es war zwecklos, hinunterzusteigen! Jedenfalls holte er seinen Stutzen aus der Hütte, und als er, um besseren Ausblick zu haben, ein kleines Köpferl oberhalb der Rauhfichten erklommen hatte, kam das helle Geläut schon direkt auf ihn zu, und dann preschte plötzlich der kranke Kapitalhirsch auf die freie, mittagssonnige Alm heraus, gefolgt von fünf gierig halsgebenden roten und schwarzen Hunden. Der Balthasar war ganz starr, meinte zu träumen. So was gab’s doch heutzutag gar nicht mehr! Schon hatte die Hetzjagd die Alm beinah überquert, da stellte sich der Hirsch, vom steinernen Almzaun aufgehalten. Die wehrhaften Sechserstangen dräuten den Verfolgern böse entgegen. Im selben Moment krachte es, der Heuraffler sank lautlos in sich zusammen, und über ihn her fiel in rotschwarzem Knäuel die Meute. Zu Füßen des steinernen Heuraffel-Riesen, kaum zehn Schritt vor der alten Heimat, welcher der Hirsch in Todesangst und höchster Not zugestrebt, lag er nun, von Balthasars Kugel gefällt.
»Hat mi g’reut der«, schloß er seine Geschichte »mit samt sein’n Mörderg’weih. Und des is der oanzige Heuraffel-Hirsch, wo g’schossen is word’n, seitdem, daß i da bin.«
Nun war ich natürlich erst recht darauf erpicht, die Geschichte von des Großvaters Zwölfer zu erfahren. Doch am Abend war der Großvater sehr ernst. Er war wiederum vergeblich auf seinen Schadhirsch gegangen. In solchen Fällen war er nie verstimmt, auch diesmal war er’s nicht, aber doch ernster als gewöhnlich.
»Ich hätte noch rasch zur oberen Mulde hinauflaufen sollen, um auch dort hineinzuschauen, aber da hinauf ist’s steil«, sagte er, und nach einer Weile mit einem schwachen Lächeln: »So wie vor zwanzig Jahren geht es halt jetzt auch nimmer.«
»Ah«, meinte der Balthasar, der dem Großvater viel sagen durfte, »wenn a jeder Jager mit Siebazge noch a so beinand war wie der Exlenz, nachan wurden d’ Hirsch bald weniger auf der Welt.«
»Schon recht, Balthasar, sogar wenn’s wahr wäre, was du sagst. Altwerden ist eine traurige Geschichte!«
Am nächsten Morgen ließ ich einen recht guten ungeraden Zehner ziehen, der mir auf dem Heimweg zur Hütte faul brummend über einen freien Schlag kam, denn es hatte auf der Alm in der Früh wieder nicht gekracht. Der Großvater schlief schon, als ich ankam.
»Wieder nix«, brummte der Balthasar, als er die große Kaffeetasse vor mich hinstellte, »heut war’s überhaupt’s ganz stad. Und hätt si soviel plagt, der Exlenz.«
Ich saß den Vormittag wieder hinter der Hütte und suchte mit dem Glas den Heuraffel ab. Es war wirklich merkwürdig still heute. Der sechste Jagdtag, die Sonne meinte es gut, kein Wunder, daß ich einschlief. Ich träumte von den Hirschen, wildes, unzusammenhängendes Zeug: Kapitale Geweihe, darunter weit aufgerissene Äser, die mir ins Gesicht schrieen, laut und immer lauter, so daß ich plötzlich ganz benommen auffuhr. Die Hirsche hörten aber nicht auf zu schreien. Unter den Zeller Wänden war ein wildes Konzert im Gang, zwei oder drei Hirsche schienen da aneinandergeraten zu sein. Trotz der Mittagsstunde röhrten sie aus vollem Hals.
Ich kannte mich noch gar nicht recht aus, da stand auf einmal der Förster neben mir. Er hatte sein messingnes Spektiv ausgezogen in der Hand: »Schau’n S’ umi auf d’ Ries!« Ich riß das Glas an die Augen: Da stand in einem breiten Lawinenfeld des Großvaters Sechser ganz frei und von der Sonne voll beschienen, daß die dunklen Lichter bei jeder Wendung des Hauptes blitzten. Das Geweih war niedrig, nicht gut, nur die Augsprossen waren ungewöhnlich lang.
»An Zehner hat er ausg’holzt, der scho seit a halben Stund s’ Stuck trieben hat da drüben«, raunte mir Balthasar zu. Die Stimme des Vertriebenen ward immer ferner und in immer längeren Pausen hörbar, während der Sechser unaufhörlich tief und zornig orgelte. Er schlug ingrimmig an einem Fichtenbusch, trat unruhig hin und her, voll reizbarer Kampfeslust, und tat sich endlich, immer noch grollend, in einer Mulde nieder, so daß nur noch das schwere Haupt sichtbar war. – Von uns weg betrug die Entfernung an die fünfhundert Meter. Es war unmöglich, über die freie Alm ungesehen an den jenseitigen Waldrand zu gelangen, also ließen wir den Großvater schlafen.
Es mußte gerade Mittag sein, denn im Heuraffel, wo bis dahin alles still gewesen, brummte der obere Hirsch träg seinen Mittagsschrei, eine halbe Minute später antwortete der untere abgrundtief.
Da war der Sechser drüben plötzlich wieder auf den Läufen. Die faulen Brummer schien er, gereizt wie er nun einmal war, für eine Herausforderung zu halten, mit einem kurzen, wütenden Schrei setzte er sich in jenen eigentümlichen schnellen Troll, der an alten Hirschen stets etwas befremdend wirkt, weil er nicht zu der Majestät ihrer Erscheinung paßt, und verschwand im Wald gegen den Heuraffel zu.
»Der geht in ’n Heuraffel«, sagte jetzt sehr aufgeregt der Balthasar, »da wird er glei wieder herausd sein.« Und mit einigen Sätzen war er in der Hütte, den Großvater zu wecken. Ich blieb und beobachtete. Nach wenigen Minuten erschien der Sechser am Rand der Almlichte, verhielt überlegend ein wenig, brummte drohend und überquerte die Alm blitzschnell an der schmälsten Stelle, dann tauchte er in die schwarzen Randfichten des Heuraffels, der in stiller Sonnenruhe dalag.
Wenn nur der Großvater käme! – Da kam er endlich.
»Dort oben, Großvater, dort am Wassertrog ist er hinüber, an der schmalen Stelle!« Der Großvater sah kurz hinauf, dann ging er schnell über die Alm und stieg den steilen Hang hinauf. Wir blieben, damit kein unnützer Lärm entstünde.
Wird’s gelingen? Wird’s gelingen? Mir schlug das Herz wie selten auf der Jagd. Wenn die Heuraffler den Sechser ausjagten, dann kehrte er wohl auf demselben Wechsel zurück, und war der Großvater dann schon bei dem alten Ahorn oben, zweihundert Schritt vom Wassertrog, vierhundert Schritt von uns, dann war des alten Schadhirsches Schicksal besiegelt.
Zunächst war noch alles still. Nur der Balthasar an meiner Seite redete.
»Wie der Moo steigt, mit siabazg Jahr, schau’n S’ nur grad auffi. Beten kannt i, beten, daß er den Hirsch kriegt.«
Ich schaute schon hinauf, hätt’s auch ohne Balthasars Worte getan, kein Auge ließ ich von der lieben hohen Gestalt, die überlegt und berggewandt dem Ahorn immer näherkam.
Jetzt tat der Sechser schon ziemlich tief im Heuraffel einen herrischen kampfgelaunten Schrei. Unheimliche Stille folgte, abermals schrie der Eindringling, diesmal in voller, dumpfgrollender Wut, aber an derselben Stelle, wie es schien. Lange Stille, da endlich ein kaum hörbarer, sehr tiefer Brummer des unteren Heuraffel-Hirsches. Fast verächtlich klang es.
Mit rasselndem Sprengruf, jegliche Fassung vor Zorn verlierend, stürmte der Sechser darauf zu. Steine polterten und krachten, deutlich hörte man’s herunter, aber dann war es plötzlich ganz still. Einmal vermeinte ich, einen fahlgelben, mächtigen Wildkörper sich über eine Rinne schieben zu sehen. Stille, lautlose Stille.
Was, zum Teufel, war denn los?!
Inzwischen hatte der Großvater den Ahorn wirklich erreicht und saß, vom Stamm gedeckt, schußfertig da. Jetzt kam es nur darauf an, wer der Stärkere war da drinnen! Da stieß mich der Förster schon in die Seite: Oben am Wassertrog tauchte ein Hirsch aus den Fichten, der Sechser. Er zog langsam ein paar Schritte auf die Lichte heraus, dann drehte er sich plötzlich wieder gegen den Heuraffel hin, blieb stehen und senkte das Haupt. Da erklang dicht am Waldrand, höchstens sechzig Schritt von ihm entfernt, ein sonderbar böser, langgezogener Schrei und zweihundert Schritt höher stieß rauh und mächtig ein anderer Hals an. Es war, als drücke eine unsichtbare Kraft dem Sechser das Haupt zur Seite. Er wendete und zog ohne einen Laut langsam weiter zu den Zeller Wänden zurück. Plötzlich aber schnellte er mit allen Vieren empor, raste ein Stück bergab, da hörten wir erst des Großvaters Schuß, und gleich danach wankte der Hirsch über die steile Lehne herunter, bis er in einer Sinke liegenblieb.
»Eine rätselhafte Sippe, die Heuraffler, das haben sie heute wieder bewiesen«, sagte der Großvater, als wir wenige Stunden später den Kaffee auf der kleinen Hüttenterrasse tranken. »Und sie haben sich nicht geändert seit mehr als dreißig Jahren, die ältesten, die vorsichtigsten und wohl auch die besten Hirsche, die wir haben. Ich habe mich an sie gewöhnt wie an alte Freunde, habe ihnen jedes Jahr Birschen gewidmet, kenne ihre Eigenschaften, ihre Gewohnheiten, habe sie oft zum Teufel gewünscht und möchte sie doch in der Erinnerung meines Jägerlebens nicht missen. Bekommen habe ich nur einen, den Zwölfer, weißt du, dessen Geschichte ich dir nie erzählt habe. Ich erzähl sie dir auch heute nicht.«
Er lächelte belustigt über mein gespanntes Gesicht. »Du wirst nicht glücklicher dadurch. Weißt du, es gibt Erfahrungen, die immer wieder nur durch Erfahrung gewonnen werden können, die kein noch so kluger Erfahrener einem noch so gutgewillten Unerfahrenen übermitteln kann. Ich bin durch jenen Zwölfer damals nicht glücklicher geworden, als er endlich vor mir lag. Im Gegenteil, ärmer war ich, wie man’s so oft wird durch Erfüllung. Die Heuraffler sind der größte Reichtum dieser schönen Elandalm, weil sie ihr Geheimnis sind, das Verborgene, Unerreichte. Und um dieses Geheimnis würde ich dich ärmer machen, wenn ich dir verriete, wie ich zu meinem einzigen Heuraffler kam. Ich kann dich, der du mir in vielem so ähnlich bist, nicht davor schützen, einmal auf eigene Faust die Erfahrung zu machen, die ich gemacht habe. Das Leben würde sehr langweilig werden, könnte man das. Aber dir den Weg weisen, den ich vor dreißig Jahren schon einmal gegangen bin und den ich – für mich – als falsch erkannte, das will ich auch wieder nicht. Ich sage dir das alles, nicht weil ich im großen Rahmen des Lebens die Heuraffler, so sehr ich sie respektiere, für etwas allzu Gewichtiges halte, sondern weil ich dich doch schließlich auch auf anderen Gebieten als auf dem der Jagd erzogen habe und stets davon absah, dir meine Meinung aufzunötigen. Denk später nicht, ich hätte versäumt, dir Erfahrungen mitzuteilen, die dir nützen konnten. Ich habe das oft mit vollem Bewußtsein unterlassen, aber nur aus der Erwägung heraus, daß du, wenn du einmal dieselben bitteren oder schönen Dinge erfährst, sie allein und auf dich gestellt erleben sollst. Das gilt vor allem dann, wenn du unterlassen solltest. Die Jugend unterläßt nichts, weil das Alter es ihr abrät, und wie ich schon sagte, es ist gut so, das Leben würde ärmer dadurch an Schmerz, an Enttäuschung, aber auch an Freude, an Hoffnung und Gläubigkeit. Salomo hatte recht, als er im reifen Mannesalter sagte: ›Vanitas‹, und er war deshalb nicht bedauernswert. Hätte er es als Jüngling gesagt, dann hätte er ebenso recht gehabt, er wäre aber bedauernswert gewesen, bedauernswert, weil arm. – Du bist sehr eigenwillig und selbständig. Ich war früher genau so. Lebe, wie du willst und mußt, mach deine Erfahrungen, jeder muß sie machen! Du wirst irren und enttäuscht werden und als warmherziger Mensch darunter leiden, aber du sollst dann nicht noch das beschämende Gefühl haben: Der alte Großvater hatte doch recht, als er mich warnte. Warum habe ich ihm nicht gefolgt!? Und ich bin froh, dir zu keiner Enttäuschung warnend den Weg gewiesen zu haben, und lege – alle Eitelkeit in Ehren – wahrhaftig keinen Wert auf solch ein Zugeständnis, ob ich’s noch höre oder nicht.«
Der Großvater schwieg lange und sah, ein wenig bewegt, wollte mir scheinen, dem Rauch seiner Zigarre nach, der wie ein leichter, blauer Schleier über dem Almgrund talab zog, bis er sich in schwarzgrünen Fichtenästen verfing und verlor.
Von fern her klang das Röhren eines Hirsches, der wohl eben aus nachmittäglichem Hindämmern erwacht war, und in der Hütte begannen des Balthasars schwer benagelte Sohlen zu poltern.
»Wir müssen uns fertig machen«, sagte der Großvater, »diesen guten Abend wollen wir nicht versäumen. Die schöne Zeit, in der die Hirsche schreien, geht ohnedies so schnell vorbei.«
Einen Monat später traf den Großvater der Herzschlag, als er mit dem Balthasar nach erfolgreicher Gamsbirsch talwärts stieg. Am Rand der Hofalm rasteten die beiden nochmals. Balthasar legte den Rucksack mit dem guten Gamsbock vor den Großvater hin, wie dieser es immer haben wollte. Im rotgoldenen Licht der sinkenden Novembersonne saßen sie da.
»Schön war’s«, sagte der alte Mann, »trotz aller Plage schön …!«
Als der Förster nach einer Weile zum Weitergehen mahnen wollte, sah er, daß sein Herr zur Seite gesunken war. In den halboffenen Augen glitzerte der letzte Sonnenstrahl, so lange, bis die derben Finger des Jägers sie behutsam schlossen.
Einsam und voll wehmütigen Erinnerns hielt ich im Oktober des folgenden Jahres Einzug auf Eland. Ein ernster, langgezogener Schrei kam vom Heuraffel herunter, dessen Felsenhaupt in dichten Nebeln lag. Ich zog den Hut und grüßte hinauf.
Die Brunft war flau in jenem Jahr. Viel Nebel, und die Hirsche schrieen schlecht. Nur die Heuraffler waren manchmal ein wenig lebhafter. Es waren ihrer wieder zwei. An manchen Tagen schrie auch ein dritter, der sich aber nicht weit in die Dickung hineinwagte und seinen Tageseinstand im Schatten des südlichen Geschröffs etwa da hatte, wo Wald und Laublatschen sich berührten. Sein Hals war markig, aber doch etwas jugendfrisch im Vergleich zu den alterstiefen Stimmen der beiden anderen. Merkwürdig war, daß er, auch wenn er gut meldete, von den Alten ruhig geduldet oder, besser gesagt, vollkommen wie Luft behandelt wurde.
Obwohl mir’s nicht ganz leicht fiel, beschloß ich, im Gedenken an den Großvater, den Heurafflern ein Jahr vollkommener Ruhe zu lassen. Ich birschte und schoß an anderen Plätzen, wenn kein Nebel war. Nebel aber war oft und zwang uns, den rotbärtigen Balthasar und mich, zu tagelangem Herumsitzen in der Hütte. Da packte ich nun gar bald einen dicken Band aus, der in dunkles Pergament gebunden war und das Superexlibris des Großvaters trug. »Elandhüttenbuch« stand auf der ersten Seite in hohen gotischen Schriftzügen, darunter, zierlich wie von Mönchshand, Umstände und Jahrzahl seines Beginnens. Dann folgte ein Bild der Hütte, von einem längst verstorbenen Freund des Großvaters gemalt. Als ich ein Knabe war, hatte ich ihn noch gekannt. Er muß ein großer Meister gewesen sein in seinem Reich, das nicht allzu vielen Menschen zugänglich war. Immer wieder schaue ich das kleine Bild im Hüttenbuch an, seh’ den zarten Silberhauch auf den Schindeln, seh’ die Kupferpfanne am Brunnen blinken und den blauen Rauchschleier über dem Dach, der sich im satten, tiefen Grün der alten Fichten verliert. Wär’ man weit weg und wär’ es tiefster Winter, beim Anblick dieses Bildes glaubte man sonnenwarmen Waldesduft zu verspüren. Mehr Glück, Dankbarkeit und Erhobenheit hab ich vor dieser kleinen Seite Büttenpapier empfunden als vor mancher Leinwandriesenfläche, die irgendwo in internationaler Berühmtheit thront. Was sind die Ursprünge, was die nährenden Quellen und was die Aufgaben der Kunst? Darüber dachte ich manchmal nach beim Genießen dieses Titelbildes in der rauchdurchsponnenen Stube der alten Elandhütte, wenn der Nebel vor ihren Fenstern lagerte, aber schließlich kehrten meine Gedanken immer wieder zu den Heurafflern zurück.
»Heuraffel« stand fast auf jeder Seite der Hüttenchronik, in je nach Veranlagung knappen oder ausführlichen, spannenden oder recht nüchternen Berichten: »Der alte Herr im Heuraffel«, »Die Geheimräte oben im Heuraffel« oder romantischer »Der Niegeschaute vom Heuraffel«, »Der Sagenhirsch« und dergleichen mehr. Nur einer wußte etwas Genaueres, er berichtete in einem jener mir recht unlieben dilettantisch-humoristischen Gästebuch-Gedichte von einer »Vierzehnspitze«, auf die sich »Felsenritze«, »schlechte Witze« und noch manches andere reimte. Immerhin mußte dieser Dichter einmal einen zu Gesicht bekommen haben. Wie man die Hirsche des Heuraffels aber auch benamt und besungen haben mochte, Endergebnis blieb immer: »Leider nicht bekommen.«
Trotzdem entnahm ich dem alten Buch manche dienliche Neuigkeit, deren aufregendste wohl die war, daß die Hirsche vom Heuraffel zu später Nachtzeit häufig in nächster Nähe der Hütte meldeten. Als ich das zum zweiten Mal las, und zwar von einem sehr ernst zu nehmenden Jäger, befragte ich prompt den Balthasar.
»Dees stimmt scho«, sagte der, »jede Nacht brummt er um d’ Hütten umma und ganz nah’, weil’s Heuraffel-Wildbret allweil im Almgartl drin is.«
»Almgartl«, auch »Anger« genannt, das ist ein von einer Mauer umfriedeter Fleck Almgrund, den kein Vieh betreten und abweiden soll, weil die Sennen darauf heuen, um bei etwaigen sommerlichen Schneefällen ein wenig Trockenfutter auf der Alm zu haben. Da dort auch gut gedüngt wird, und eine kaum meterhoch aus losen Steinen geschichtete Mauer den Hirschläufen kein Hindernis bedeutet, so ist auf allen Almen das »Gartl« ein Hauptanziehungspunkt für das so genäschige Rotwild.
Daß des Nachts Hirsche um die Hütte schreien, das wußte ich natürlich. Oft hatte ich sie im Vorjahr in meine Träume hinein gehört, oder wenn wir am Abend noch beisammen saßen, klang durch die Hüttenwand gedämpft ein dunkler Grohner an unser Ohr, so daß wir eine Weile das halblaute Gespräch stocken ließen und, uns bedeutungsvoll ansehend, in die Stille hineinlauschten. Aber daß ausgerechnet die Heuraffler das Almgartl und seine Umgebung zum Brunftplan erkoren hätten, das wagte ich selbst in den Oktobernächten auf Eland nach ausgiebigstem Schlaftrunk nicht zu träumen.
In der folgenden Nacht regnete es schwer und kalt. Ich erwachte oft, drehte mich auf der rostig ächzenden Matratze um und horchte viertelstundenlang in die Schwärze der kleinen Stube hinein, in die kaum sichtbar die mattgrauen Quadrate der Fenster geschnitten waren. Aber kein Laut störte die Stille, außer dem Klatschen und Klopfen des Regens, dem Rieseln der Dachrinnen und dem Sprudeln des angeschwollenen Brunnens draußen.
Endlich, es mochte schon gegen drei Uhr sein, fuhr ich aus unruhigem Traum empor. Das war der Hirsch! Herrgott ja, keine zwanzig Gänge von der Hütte mußte er stehen, und so abgrundtief, mürrisch und kurz gab nur der Heuraffler an. Alle zehn Minuten grollte der Hals des alten Hirsches irgendwo ganz nahe vor den kleinen Fenstern. Ich hatte lautlos das eine, welches zum Almanger hinschaute, geöffnet, die kühle Luft schlug mir ins Gesicht, und ich stand da mit einem ganz eigentümlich heimlichen Gefühl, lauschte und lauschte dem Heuraffler, der mir zum erstenmal so nahe war.
Gegen Morgen verloren sich die wunderbaren Laute nach der oberen Alm.
Es war gut, daß diese Brunft nicht mehr lange dauerte, sonst wäre ich noch, wie ein chinesischer Sträfling, an Schlaflosigkeit zugrunde gegangen. Denn Nacht für Nacht lag ich wach oder saß am Fenster, um die Stimme des Hirsches zu hören, der stets um zwei, drei Uhr früh in nächster Nähe der Hütte sein geheimnisvolles Wesen trieb. Es wurde mir auch täglich schwerer, die den Heurafflern zugesicherte Waffenruhe zu halten, aber ich hielt sie treu bis zum vorletzten Tag der Schußzeit, an dem mich die Umstände allzu stark nötigten, sie zwar nicht im vollen Umfang, aber dennoch zu brechen.
Es mochte gegen zwei Uhr nachmittags sein, da stand plötzlich der Balthasar an meinem Feldbett, auf dem ich rauchend und lesend lag, machte mir ein Zeichen, schnell nachzukommen, und verschwand alsogleich wieder lautlos durch die Hüttentür. In einem Hui hatte ich Schuhe und Joppe an und folgte, ebenso lautlos wie er, seinen Spuren. Noch eh’ ich die Hütte richtig verlassen hatte, hörte ich die Buchenhänge von mächtigen Schreien erhallen, und als ich endlich neben dem Jäger stand, merkte ich, daß im Heuraffel hellichter Aufruhr war. Der schon erwähnte dritte und neue Heuraffel-Hirsch, der tagsüber stets am Rand der großen Buchenjugend gemeldet hatte, schien in wildester Empörung zu sein. Unablässig schrie er vom selben Fleck aus; wütend, ja haßerfüllt klang es. Der untere Heuraffler, derselbe, der nachts bei der Hütte schrie, brummte in seiner nächsten Nähe gefährlich und böse. Er schien erregt, denn auch er meldete gegen seine Gewohnheit beinah’ unausgesetzt. Von diesem Lärm roglig gemacht, kam auch der obere Hirsch langsam abwärts gezogen und tat hie und da einen rauhen, gereizten Schrei.
»Passen S’ auf, da gibt’s noch was heut’«, prophezeite erregt der Förster und er hatte recht. Etwa fünf Minuten noch dauerte der grollende Lärm. Ich suchte mir die Lage klarzumachen: Der Alte hatte dem Neuling wohl die Braut geraubt, und dieser wollte nicht gutwillig das Feld räumen. Anzugreifen wagte er zwar nicht, aber auch dem Alten schien ein Kampf unerwünscht. Deshalb dies böse, oft wutentbrannte gegenseitige Anschreien aus nächster Nähe, ohne daß sich ein Waffengang daraus entwickelte.
Aber einmal mußte das doch ein Ende haben, und so kam es, daß der schnöd Beraubte und Verlassene allmählich heuraffeleinwärts zu ziehen begann. Immerfort Drohungen hervorstoßend, räumte er das Feld. Der Alte unten brummte eine Weile ingrimmig weiter, und nach einiger Zeit ward es wieder still in der großen Dickung.
Da stupste mich der Balthasar plötzlich und deutete zu den Wänden am Heuraffelkopf hinauf:
»Seh’n S’n am Bändl oben?«
Ich schaute durchs Zeißglas hinauf und erkannte sofort einen sehr guten Hirsch, der verdrossen und ziemlich schnell in die Wände einstieg.
»Den schau’n S’ amal g’nau an«, sagte der Förster und reichte mir sein großes Spektiv.
»Heiliger Hubertus!« Zum erstenmal rief ich damals beim Anblick eines Hirsches des grünen Heiligen Namen an. Ich sah ein ziemlich enges, aber ungeheuer hohes Geweih von vierzehn Enden mit Kronen, die so lang waren, daß man, wenn man ihre weißen Spitzen zuweilen bei raschen Wendungen anderthalb Hand hoch über den dicken Becheransätzen aufblitzen sah, immer wieder an eine Täuschung glaubte. Der Hirsch zog ohne Aufenthalt, ab und zu röhrend, immer höher in die Wände hinauf, auf einem uns lang bekannten Zwangswechsel, der einem recht guten, aber schwer zu bejagenden Brunftplatz, der Abergalm zuführte. Jetzt verschwand er in einer tiefen Rinne und ward bald darauf an der Schneid noch einmal gegen den lichtgrauen Himmel sichtbar. Die ganze Herrlichkeit seines Geweihs zeigend, blieb er stehen, äugte eine Weile in den Heuraffel-Kessel zurück und tauchte dann über die Schneid.
Benommen gab ich dem Balthasar das Spektiv zurück. Der lächelte sonderbar feierlich, als wollte er sagen: »Ja, so was gibt’s!«
Das also war ein Heuraffler gewesen, ein Erbprinz des ehrwürdigen Geschlechts, der vor der Willkür des regierenden Herrn trotz prachtvoller Veranlagung nicht aufzukommen vermochte. Es war so ziemlich der beste Hirsch, den ich bis dahin in unseren Bergen gesehen hatte. Jedenfalls war mir solche Höhe der Stangen noch nie begegnet. – Ich schaute wieder zu dem Sattel hinauf, über den der Erbprinz das Reich seiner Väter soeben verlassen hatte und baute fieberhaft an einem Plan.
»Balthasar, wenn der Hirsch da oben nicht auf brunftiges Kahlwild stößt und darüber seinen Kummer vergißt, dann steigt er morgen früh durch denselben Sattel wieder herein, durch den er gerade ausgewechselt ist. Und wenn wir ums Tagwerden am Sattel sitzen, dann kommt er uns.«
»War’ net ausg’schlossen«, meinte der Wackere, »aber wenn S’ morgen früh da oben sitzen wollen, nachher müss’ mer heut noch auf d’ Laubenstoahütten, da ham mer den halben Weg in der Früh und verderben uns da herunt’ nix beim Weggeh’n.«
Zwei Stunden später saß ich, an den rauhen Stamm einer Wetterfichte gelehnt, am Rand der Abergalm. Es war still, nirgends ein Hirschschrei zu hören, der Himmel wie von angelaufenem Zinn, und außer dem Pfeifen der Bergfinken war kein Laut ringsum. Ein toter Abend, wie er in jeder Brunft ein paarmal vorkommt. Ich schaute zu den zwei Almkasern hinunter, die auf etwa vierzig Schritt Tür gegen Tür einander anschauen. Vor ein paar Jahren saß ich einmal im Sommer auf einen Rehbock hier oben an und war Zeuge eines für mich sehr ergötzlichen Streites der beiden alten Abergsennerinnen. Seit vielen Sommern stehen sie bei den zwei Almbauern im Dienst und teilen den einsamen, ein wenig düsteren Almkessel bald in Freundschaft, bald in bitterster Fehde. Beide tragen sie blaue Pumphosen, beide rauchen sie lange Pfeifen und spucken den braunen Sudel in weitem Bogen von sich. Beide nähen sie ihre eisengrauen Zöpfe in schwarzes Tuch ein, wenn sie Anfang Juni auftreiben und belassen den Schmuck ihrer Weiblichkeit in dieser sonderbaren, allmählich ein wenig spiegelnden Umhüllung, bis sie an St. Michael mit hochgeschürzten Feiertagskleidern über roten Unterröcken, Stöcke schwingend und mit viel Geschrei talwärts ziehen, wo sie den Winter über durch die selten gewordene Kunst des Spinnens bei den Großbauern ihren Unterhalt verdienen. Beide sind sie allem Mannsvolk abhold, es sei denn, es verstehe sich einer darauf, sie durch allerhand schnurrige Geschichten zu erheitern oder gar ihrer Vorliebe für Nikotin mit häufigen Spenden aus der »Tabaksbladern« freigebig Rechnung zu tragen.
Selten hat mich etwas so erheitert wie damals das Gefecht jener beiden Almhexen: Jede, wie verteidigend, breitspurig vor der Schwelle ihrer Hütte stehend, die Fäuste in die Seiten gestemmt, in ihrer vielfach geflickten männlichen Almkluft geradezu malerisch wirkend, versuchte die andere an Geschrei zu überbieten. Teils geordnet in Rede und Widerrede, teils ineinander übergehend und sich überschlagend, hob und senkte sich das Wortgefecht aus entrüsteter, heiserer Tiefe in empörten, aufkreischenden Diskant. Ab und zu ein hohnvolles Auflachen oder ein Nachäffen der Gegnerin, und dazu bogen sich die Oberkörper bald vor, bald zurück und bald zur Seite, bis endlich die Geschlagene weinerlich keifend in die Hütte flüchtete und die niedere Tür dumpf knallend hinter sich zuwarf, welchem Beispiel nach einigen, der Feindin triumphierend nachgeschleuderten Schmähungen auch die Siegerin folgte.
Ob die darauf eintretende sommerliche Stille lange gewährt hätte, weiß ich nicht. Ich vermute, die Abergerinnen schöpften nur neuen Kampfesatem hinter den Toren ihrer Burgen, und es hätte nach kurzer Pause wieder ein fröhliches Duett die Hänge erhallen machen, wenn nicht gerade in diese Stille hinein mein Bock, kaum dreihundert Schritt oberhalb des Schlachtfeldes, auf die Almlichte ausgezogen wäre, ganz vertraut mit den Lauschern den Fliegen wehrend und mit den weitgestellten, sehr guten Sechserstangen im Abendsonnenschein nickend und prahlend. Er schien an solche Zwischenfälle so sehr gewöhnt, daß er gar keine Notiz davon nahm. Mein Schuß rollte durch den Kessel, und ein halbes Stündchen später tauchte ich mit meiner Beute zwischen den beiden einander anglotzenden Almhütten auf, aus denen alsogleich hie die Gretin und dort die Waben neugierig erschien, des Jägers Beute zu begaffen. Beide machten sie einen etwas betretenen Eindruck: Ich hatte, da es so schnell darauf »getuscht«, wohl einen Teil ihrer erregten Debatte mit angehört, und das war den beiden, die sich unbelauscht geglaubt und wie Unbelauschte ausgesprochen hatten, nicht recht. Sie hatten im Lauf der Jahre das Gespött der Täler fürchten gelernt. Ich aber erzählte, ich wäre gerade über die Schneid hereingekommen, da sei der Bock vor mir gestanden. Ein Meisterschuß, da lag er – und so weiter. Da hellten sich die beiden Runzelgesichter auf, ich bot Tabak an nach beiden Seiten, und dann stiegen die blauen Wolken aus drei Friedenspfeifen in den klaren Abendhimmel hinauf. Dieses Geschichtchen zog mir durch den Sinn, während ich so dasaß und wartete, was wohl heute auf die Alm herausziehen werde.
Noch bevor es zu dämmern begann, kamen zwei einzelne Stuck aus dem Hochwald unterhalb der Hütten auf die Alm gezogen, denen alsbald ein leidlicher Gabelzehner folgte mit auffallend schön gestellten hellbraunen, also spät verschlagenen Stangen. Nichts für die Kugel. Ohne einen Laut zog er den beiden Tieren nach, deren eines mit lässiger Flucht über die Steinmauer des Almangers setzte und dort in dem kurzen, frühlingsgrünen Gras zu äsen anfing. Das andere begann der Zehner nach einer Weile ohne sonderlichen Eifer zu treiben. Er brummte dazu kaum hörbar und verhielt gleich seiner Umworbenen zur rechten Zeit, um rasch ein paar Kräuter zu rupfen. In meiner nächsten Nähe meldete mehrmals ein Schneider, wagte sich aber nicht auf die Lichte heraus, und als es schon recht dunkel geworden war, traten am oberen Almrand, mir schräg gegenüber, einige Stück Wildbret aus den Randfichten eines Alpenwaldbestandes, und noch später, man hätte Stuck und Hirsch nicht mehr voneinander unterscheiden können, meldete in dieser Richtung auch eine recht gute Stimme. War das der Erbprinz?
Vorsichtig schlich ich zur Laubensteinhütte zurück, wo mich der Förster erwartete. Auch er hatte nichts von dem Vierzehnender wahrgenommen. Wohin er nur gezogen sein mochte? Voll tiefsten Ingrimms weiter und immer weiter, bis nach Tirol hinüber? Oder gar gegen den Inn zu, von dem sich unsere Jäger erzählen, daß ihn zu Beginn und Ende der Brunft so mancher gute Hirsch durchrinnt? Von Stätten beschaulicher Feiste in undurchdringlicher Auwildnis herüber zu den heißbewegten Nächten unserer Brunftpläne und von diesen wieder weg nach irgendwelchen entlegenen Wäldern der Vorberge, wo kein Weibergezücht mit Unrast und Nachbrunft die wohlverdiente so notwendige Wintervorruhe stört. Und überall lauern um diese Zeit dem Wanderhirsch gierige Mündungen auf, von rostigen Bauernflinten angefangen bis hinauf zu den mehr oder minder gepflegten Repetiergewehren der Staatsförster. Ernste Sorgen um unseren Kapitalen waren Gegenstand des spärlichen Gesprächs unter Teetrinken und Herumsäbeln an Speck und Brot. Ernste Sorgen ließen unsere Dämmerpfeifen in mächtigen Dampfwolken aufgehen und verzögerten um ein paar Minuten das Einschlafen zweier Hirschjäger, die schon seit vierzehn Tagen keine Birschzeit ungenutzt hatten verstreichen lassen. Der Kundige mag daraus ermessen, wie ernst die Sorgen gewesen sind.
In der Nacht kam Südwind, und am Morgen war der Himmel voller Sterne. Noch vor dem ersten Frühdämmer saßen wir wohlgedeckt am bewußten Sattel, entschlossen, wenn es sein müßte, bis zum Nachmittag da hocken zu bleiben. Weshalb der zurückwechselnde Hirsch vom Talwärtsziehen des Windes ab kaum mehr zu erwarten war, darüber möge der Waidgenosse sich nur selbst den Kopf zerbrechen.
Die Dämmerung kam, es kam der Morgen, es kam eine strahlende Sonne herauf. Auf Eland – tief unter uns – schrieen die Hirsche lebhaft, bei uns blieb es totenstill, und kein Wild zeigte sich auf dem Wechsel, der sehr gut betreten schien, denn er zog sich, von vielen Schalen wie aufgeackert, schwarz durch das vergoldete Grün des Almgrundes.
Es wurde acht Uhr, neun Uhr, halb zehn Uhr, die Sonne schien warm wie im Sommer, durch die Luft sirrten und summten Insekten, und als einziges Lebewesen zeigte sich zweimal ein Wanderfalk vor dem uns plötzlich so nahegerückten Felsenantlitz des Heuraffel-Riesen. – Da plötzlich tauchte wie ein Sonnengespenst ein Hirsch aus den Wetterfichten an der Schneid und zog langsam auf dem Wechsel in die Mulde herein. Am ganzen Körper klebte ihm der lehmige Schmutz der Suhle, und schwer trug das Haupt an der Last des hohen Geweihs. Es war der Vierzehnender. Ich erkannte ihn sogleich auf die knappen dreißig Schritt. Jetzt verhielt er, sicherte ein wenig mißtrauisch zu uns her, ich konnte mir genau den Todesfleck mit dem Silberkorn suchen, und im Knall brach der Hirsch jäh zusammen. Zwei-, dreimal noch hob und senkte sich das schwere Haupt mit eigentümlichem Schütteln, dann war’s zu Ende. Der erste Sohn des Heuraffels war mein.
Mit dem Großvater
»Sohn des Heuraffels« – so durfte man ihn getrost nennen, aber als ein eigentlicher Heuraffler im Sinn des Großvaters, als ein richtiger Altkapitaler konnte dieser sehr gute Hirsch, der wohl der beste unter meinen bis dahin Erlegten war, nicht angesprochen werden.
Vom achten Kopf etwa trug er eines jener Vollkraftgeweihe, bei denen der Überschuß an Säften in die Kronen geht, während die untere Partie der Stangen, insbesondere die Augsprossen, über solch wildem Inskrautschießen ein wenig zu kurz kommt. Es waren denn auch die sehr gleichmäßig gewachsenen vierfachen Kronen meines Erbprinzen, man kann ruhig sagen, kapital. Sehr stark auch die dichtgeperlten Stangen bis zum prachtvoll ausladenden langen Mittelsproß. Von da weg wurden die Ausmaße durchschnittlich, die Perlung lückig; nur mittelstarke Augsprossen bildeten einen zweifellos zu schwachen Unterbau. Im ganzen betrachtet, war dies Geweih durch seine Höhe und die mächtigen Kronen immer noch etwas Ungewöhnliches und besonders Gutes, aber »Heuraffler« – den Titel bekam dieser Hirsch nicht verliehen. Er hatte das Alter nicht.
Immerhin, er hatte unter Heurafflern sein Wesen getrieben, er hätte erzählen können vom Hauptschmuck, vom Alter und von der Lebensführung seiner Oheime, die da unten der rotlohende Buchenhang barg. Irgendwie kam durch seine Erlegung ein wenig Licht in dieses undurchdringliche Dickicht.
Der ganzen Stellung und dem Aufbau der Stangen nach schien dieser Hirsch ein Abkömmling des alten Sechsers zu sein – ich hatte mir inzwischen sein Geweih sehr genau angeschaut –, dem vor zwölf Jahren der Jagdgehilfe Adolf einen Vorderlauf abgeschossen hatte. Nur mochte der damals etwa sein fünfzehntes Geweih getragen haben, während mein Vierzehnender sein achtes, höchstens sein zehntes trug. Beide hatten sie die gleichen, ziemlich engen und ungewöhnlich hohen Stangen, und zeigten beide besonders gute Perlung. Mit dem weit ausgelegten, zapfenendigen Heuraffel-Zwölfer des Großvaters, bei dem die Breite der Stangen auffallend war, hatte er dagegen nichts gemein.
Diese der Wahrscheinlichkeit sehr nahekommende Vermutung einer direkten Heuraffel-Abstammung meines Vierzehnenders verlieh seiner Erlegung noch einen ganz eigenartigen Reiz. Wer weiß, in drei, vier Jahren, wenn einer der jetzigen Machthaber von Altersschwäche beseitigt gewesen, ob nicht er, ohne daß man es merkte, tief brummend an dessen Stelle getreten und durch ein Jahrzehnt Ziel ungestillter Jägersehnsucht geworden wäre! Und, weiß der Teufel, sein Geweih, wenn ihm nur zwei, drei Jahre noch die gehörige Basis verliehen hätten, wäre würdigster Preis jahrelangen jägerischen Mühens geworden.
Als wir den Hirsch aufbrachen, war der Pansen fast leer. Wahrscheinlich war der Vertriebene die ganze Zeit über suchend umhergezogen und hatte an fremden Platzhirschen seinen Mut kühlen wollen – da es aber eine stille Nacht war, fand er keine Gelegenheit dazu. So suchte er denn Lehte in der Suhle, vergebens. Jetzt kehrte er zurück, zur äußersten Rache entschlossen, und da erreichte ihn das allmächtige Schicksal.
Ganz ähnlich hatte ich es mir gestern vorgestellt, als ich meinen Plan baute. Wie tückisch der Jäger doch manchmal ist, mit welcher Berechnung er seine Netze spannt! Und dabei empört er selbst sich gegen das Schicksal, wenn es ihm auflauert, wo immer er am wehrlosesten, am wenigsten gefaßt, am sichersten zu treffen ist.
Wir stiegen stolz und zufrieden gen Eland ab, während am Tore zur Heuraffel-Heimat in mittäglicher Sonnenruhe der Hirsch, von leichtem Südwind gestreichelt, im letzten Schlaf lag.
Am andern Tag um die Mittagszeit rollte der Hirschkarren, jener sonderbare Hörnerschlitten, durch dessen Kufen eine Radachse läuft, so daß man ihn nach Belieben als Schlitten oder als Karren benutzen kann, klappernd und in den schlecht geölten Rädern gleichmäßig quiekend, durch Eland talwärts. Der Rieder Lenz, ein kleiner, eisensehniger Holzarbeiter, der aussah, als sei er aus lauter Wurzeln zusammengesetzt, hing ziehend in den Schlittenhörnern mit einer Art von Leidenschaft vorwärtsstrebend, das schwarzbebartete Kinn gegen die offene, schwarzzottige Brust gestemmt. Auf dem Karren lag der Hirsch. Das Haupt war derart festgebunden, daß es wie rückwärts äugend auf dem Blatt ruhte. Im Äser steckte ein breiter Fichtenbruch, und das stolze Geweih nickte mit den prachtvollen Kronen immer und immer wieder gegen den Heuraffel hin einen ergreifenden, unerbittlichen Abschied.
Um diese Zeit gab bei den Wänden der obere Hirsch kurz und mürrisch an, und einige Sekunden später brummte abgrundtief der untere zurück. Wie ein ernster Gegengruß klang es herunter. Der Balthasar und ich hörten es, während wir langsam dem Rieder Lenz ins Tal folgten.
Und abermals ward es Herbst. Abermals begannen die Buchenkronen rot aufzuglimmen, und unter ihrem Schatten in der feuchtschwarzen Erde kreuzten sich die Fährten der starken Hirsche, die in beginnender Brunftunruhe, noch von keinem gesehen, mehr geahnt als bestätigt, in langsamer und bedächtiger Suche die alten Brunftpläne betraten.
Die Hirsche begannen in diesem Jahr so früh zu schreien, daß ich die Almbauern veranlaßte, drei Tage eher abzutreiben, und schon zwei Tage vor »Micheli« meinen Einzug auf Eland hielt, diesmal fest entschlossen, einen erbitterten Birschkrieg gegen die Heuraffler zu führen und auf keinen anderen Hirsch das Rohr zu heben, geschweige denn einen anderen Brunftplatz aufzusuchen, eh’ einer der alten Recken gefällt wäre.
Zunächst regnete und schneite es lustig durcheinander, als ich die Alm betrat. Aus dem nebelumwallten Heuraffel-Kessel drang das tiefe Brummen lebhafter als sonst, und trotz Sturm und angeschwollenen Wassern hörte man klappernd und knallend die Steine gehen. In der Nacht begann es leise und dicht zu schneien, ganz nah um die Hütte schrie der Hirsch in langen Pausen bis gegen Morgen. Als ich zur Birsch aufbrechen wollte, braute dichtester Nebel, und eine Hand hoch lag nasser Schnee.
An eine Frühbirsch war nicht zu denken, und so begnügte ich mich damit, ein wenig abzuspüren, als es heller Tag geworden war. Im Almgartl waren verschiedentlich grüne Flecke freigeschlagen. Nach den frischen Betten schätzte ich das Heuraffel-Rudel auf etwa sieben Stück, was mich ein wenig enttäuschte. Ganz alte Hirsche pflegen selten mehr als zwei bis drei Tiere mit sich zu führen. Je stärker das Rudel, desto zeugungsfähiger, desto vollkräftiger ist der Hirsch. Hirsche in der Vollkraft aber sind nicht das, was abzuschießen man erstreben soll. Sie mögen jagdbar sein, richtig reif für die Kugel sind sie nicht.
Dann aber stieß ich auf die Fährte des Hirsches. Der Anblick beruhigte mich. Dieser nicht allzu lange, mächtig breite Tritt, der beim Sprengen stellenweise durch die handhohe Schneeschicht hindurch noch den Almgrund aufgerissen hatte, gehörte, dazu brauchte man kein Meister der Fährtenkunde zu sein, einem Hirsch, der sein zwölftes Geweih sicher schon abgeworfen hatte. Bei einem Berghirsch, und es war ein ganz echter – nur ein Berghirsch hat so kurze, vom scharfen Gestein rundgeschliffene Schalen –, konnte man diese Fährte kapital nennen. Daß er sich beim Treiben in der Hauptsache nicht übereilt hatte, sondern größtenteils gezogen war, sprach auch für die hohe Zahl seiner Jahre. Und das Weibsvolk ist gar eigen und manchmal haufenweise hinter einem Alten her, dessen gewaltige Kräfte es erprobt und dessen Zorn es fürchten gelernt.
Das winterliche Wetter hielt drei Tage an, alles Wild nahm in tieferen Lagen seinen Einstand. Auf der Elandalm ward es ganz still, nur die Fährten guter Hirsche, die am Morgen sich vom Rudel trennten, um oben unter den Wänden den Tag der Äsung und einsamer Ruhe zu widmen, und am Abend sich wieder dem Kahlwild zugesellten, kreuzten in gerader Doppelschnur die weiße Almfläche. Sehr aussichtsreich wäre der Ansitz an diesen verräterischen Wechseln gewesen, doch die beiden Heuraffler waren oben geblieben. Sie brummten und trenzten Tag und Nacht in langen Pausen inmitten der schneeverhangenen Buchendickung, ohne die Alm mehr zu betreten, und somit gingen mich die Wechsel zu den unteren Regionen nichts an.
Fluchend und der Aussichtslosigkeit meines Beginnens wohl bewußt, birschte ich früh und abends rund um den Bezirk des Heuraffels herum, erregt und andächtig jedem Brunftlaut lauschend, der daraus zu mir drang. Einmal stieg ich sogar über gefährlich glitschige Lahner auf den Heuraffelkopf hinauf, um vielleicht von den Wänden herunter des oberen Hirsches ansichtig zu werden. Aber ich schaute nur drei Stunden lang in beschneites Buchendickicht, aus dem immer wieder tiefrauher Brunfthals erklang, bis mir die Augen flimmerten und der umschlagende Wind mich zum Abzug zwang. Es wäre auch ein arg zäher Schuß geworden bis da hinunter in die Laublatschen.
Bei diesem Abstieg fand meine Beharrlichkeit in ganz unerwarteter Weise eine Belohnung. Ich schoß einen sehr guten, abnormen Gamsbock, der in sorgloser Abendsiesta grauschwarz auf der freien Schneefläche der Abergalm niedergetan war. Der linke Schlauch seiner Krücke war früher einmal in der Mitte abgebrochen, und der »Hackel« stand deshalb wie die Spielhahnfeder auf dem Hut eines rauflustigen Berglers waagerecht nach vorn.
Dieser hocherfreulichen Beute, die ich, ohne meinen Kriegseid zu verletzen, mit gutem Gewissen und nicht ganz einfachem Schuß machen konnte, gesellte sich zwei Tage darauf eine weitere, auch nicht zu verachtende hinzu. – Ich hatte mich zu einem Daueransitz an einer Suhle entschlossen, die mehrere hundert Meter unterhalb der Stelle lag, an der ich im Vorjahr den Vierzehnender geschossen hatte. Ein Wechsel nach den Baumgartenalmen führte an ihr vorüber, und bei einer meiner ziemlich hoffnungslosen Birschen hatte ich gesehen, daß sie stark angenommen war. Von neun Uhr früh bis viereinhalb Uhr nachmittags saß ich, wohlgedeckt und mit Speise, Tee und Tabak versehen, geduldig im knorrigen Wurzelnest einer Jahrhundertfichte, von wo aus ich die Suhle und einen schmalen, sich den Berg hinabziehenden Schlag gut übersehen konnte. Drei Gamsmütter kamen mit vier Kindern und machten sich längere Zeit an einem der eingesalzenen Stöcke neben der Suhle zu schaffen. Zwei graue Stücke betraten mittags den Schlag und ästen eine Weile, dann zogen sie langsam in den Heuraffel zurück.
Endlich um ein Uhr erschien ein Hirsch lautlos aus der entgegengesetzten Richtung, ein Zwölfer; er trug mit sichtlichem Selbstbewußtsein ein hübsches, blutjunges Geweih, ganz regelmäßig und blitzblank bis auf die ein wenig brandigen Enden in den kleinen Kronen. Vorsichtig, ab und zu nässend, untersuchte er die nächste Umgebung der Suhle, trat dann bis an die Knie in das rotbraune Naß, rieb eine Stange heftig am lehmigen Ufer und verließ rückwärts tretend die Suhle wieder. Mit leisem Brummen und Knören zog er schließlich, das reine Weiß bei jedem Schritt beschmutzend, aufwärts an mir vorüber gen Aberg.