Vom Leichtgewicht zum Gleichgewicht -  - E-Book

Vom Leichtgewicht zum Gleichgewicht E-Book

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Beschreibung

Lebensthema Essstörung Menschen mit langfristiger anorektischer Belastung geben Einblick in ihr Leben mit einer Essstörung: Das Thema ist nicht die perfekte Heilung, sondern der persönliche Weg zur Genesung: Der offene Umgang mit der Krankheit, die Akzeptanz ihrer Bedeutung für das eigene Leben und die Entdeckung der eigenen Ressourcen sind ermutigende Ansatzpunkte für andere Betroffene und Unterstützer*innen. Die Autor*innen im Alter von 20 bis 65 Jahren leben schon längere Zeit mit ihrer Erkrankung. Sie gehen auf schwierige, aber auch hoffnungsvolle Zeiten ein, berichten gleichermaßen über Verzweiflung wie Glück. Nach und nach haben sie Gleichgewichte für sich wiederhergestellt, die Erkrankung in ihre Lebensgeschichte integriert und so zu Nachsichtigkeit mit sich selbst und einer gesunden Einstellung zu ihrem eigenen Körper gefunden. Jede Geschichte endet mit einer Aufzählung an Dingen, aus denen die Autor*innen im Alltag Kraft schöpfen. Ein Ermutigungsbuch, das anderen Betroffenen Kraft gibt und Verständnis vermittelt. Ein Serviceteil mit Buchtipps und hilfreichen Links sowie Adressen rundet das Buch ab.

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Seitenzahl: 256

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Lebensthema Essstörung

»Magersucht ist für mich eine Strategie, mit unaushaltbaren Dingen umzugehen. Sie hat lange ihre Aufgabe gut erfüllt, in Zeiten, in denen es keine andere Option gab. Sie darf aber guten Gewissens durch gesündere Alternativen ersetzt werden, sobald man die Chance hat, sich diese zu erarbeiten.«

Eckhard Klein, Christiane Tilly (Hg.)

Vom Leichtgewicht zum Gleichgewicht

Mit Magersucht leben

Inhalt

Hoffnung Gewicht geben

Über dieses Buch |Christiane Tilly und Eckhard Klein

Magersucht – und ihre Gesichter

Es ist okay, anders zu sein |Anke Euler

Einen Weg aus dem Teufelskreisverkehr finden |Sandra

Ich suchte stets ein Alibi |Eckhard Klein

Die große Angst vor der Wahrheit |Jana

Mit der Erkrankung leben

Momente sammeln, in denen die Stimme ruhig ist |Marie *

Die Richtung ändern |Mandy van der Heusen

Ein bisschen Essstörung gibt es nicht |Leah

Wenn zu viel Yang zur Lebensgefahr wird |Lilly Hoffmann

Der »schwarze Schleier« wiegt schwer |Svenja Bärwalde

Von Hilfen und Selbstakzeptanz

Ich habe Frieden mit mir geschlossen |Christiane Klimt-Nolden

Auf einmal spielte die Anorexie gar keine große Rolle mehr |Lu *

Mut – dreimal täglich einzunehmen |Charlotte

Mein Hund holte mich ins Leben zurück |Sophie Nonn

Heimatlieder – manchmal sagen Texte mehr als tausend Worte |Ralf

Sich wehren können! |Maria Winter *

Der gekidnappte Wille und seine wunderbare Rückeroberung |Mirijam Buschmann

Hoffnung vermitteln – Therapie als Chance

Behandlungsangebote und Recovery |Anna Westermair und Ulrich Schweiger

Stabilität und Veränderung auf dem Teller – Einblicke in die Ernährungsberatung |Judith Bernitt

Gleichgewicht öffnet Perspektiven

Zum Schluss |Eckhard Klein und Christiane Tilly

Serviceteil

* Diese Autorinnen und Autoren verwenden nicht ihren richtigen Vornamen bzw. schreiben unter einem Pseudonym.

Hoffnung Gewicht geben

Über dieses Buch

Christiane Tilly und Eckhard Klein

Wie ergeht es Betroffenen mit Magersucht im Alltag? Was gibt ihnen Hoffnung? Welche Bedeutung hat die Erkrankung für ihr Leben? Darüber wollten wir mehr erfahren. Magersucht, das wussten wir aus eigener Erfahrung, ist doch viel mehr als die Beschäftigung mit Essen, Nichtessen, Kalorienzählen oder Gewicht.

Wir waren uns vor einigen Jahren im therapeutischen Rahmen begegnet und vielleicht hätten sich unsere Wege ohne die Anorexie nie gekreuzt. Zu unterschiedlich schienen unsere Alltage auf den ersten Blick. So waren wir umso verblüffter, festzustellen, dass es erstaunlich viele Gemeinsamkeiten gab, von denen wir angenommen hatten, dass sie wohl jeweils nur exklusiv für uns persönlich galten. Es gab gute Gründe für die Erkrankung – bei jedem von uns – und gleichermaßen gab es bei uns beiden auch (unter-)gewichtige Argumente, die gegen ein »Weiter so« sprachen. Wir gehörten zu den Älteren im Behandlungssetting, und manche Angebote waren für uns einfach aufgrund einer ganz anderen Lebensphase eher unpassend. Viele Gespräche in und zwischen Therapiestunden mit anderen älteren, aber auch jüngeren Betroffenen hatten uns jedoch übereinstimmend deutlich gemacht: Wegen eines landläufig mit Magersucht assoziierten Schlankheitswahns war niemand in der Behandlung gelandet. Es ging nicht darum, attraktiver wirken zu wollen, sondern vielmehr darum, nicht fühlen, nicht denken oder nicht weiter funktionieren zu müssen – oder, oder … Gründe gab es viele. Magersucht war für alle ein unerbittlicher Kampf mit sich selbst. Bei nicht wenigen bereits über Jahre und Jahrzehnte. Die Magersucht war für viele ein schon fast lebenslanger Begleiter.

Sucht, das klingt nach dem Klischeebild eines betrunkenen Menschen, der jede Kontrolle über sich selbst verloren hat. Magersucht, das klingt nach »Sich-dünne-Machen« und Verschwinden. Ein Schwanken scheint jeder Sucht in irgendeiner Weise innezuwohnen, unser Gleichgewicht hatten wir durch die Essstörung beide irgendwie verloren, den anderen Betroffenen schien es ähnlich zu gehen. Im Spannungsfeld zwischen den inneren Stimmen – bisweilen von Behandelnden fast liebevoll anmutend als »Engelchen« (pro Gesundheit) und »Teufelchen« (pro Magersucht) bezeichnet – galt es also im Rahmen der Therapie herauszufinden, wie, wo und wer man selbst eigentlich war und sein wollte. Die Sucht also auch eine Suche nach Lösungen, nicht selten ein Versuch, zu überleben. Dies schien in den Gesprächen durch, wurde mal mehr, mal weniger klar ausgesprochen.

Und dann gab es die anderen Momente in der Therapie, in denen wir gemeinsam lachen konnten, in denen es wieder gelang, nach vorne zu schauen. Momente »ansteckender Gesundheit« und Hoffnung. – »Darüber machen wir irgendwann mal ein Buch«, so nahmen wir uns in einem dieser Momente vor.

Anfang 2020 starteten wir einen Schreibaufruf. Wir wollten hören, welche Erfahrungen Menschen mit Magersucht in der Darstellung ihrer Krankheits- und Genesungswege wichtig sind. Da wir uns mit dem Schreibaufruf an erwachsene Betroffene wandten, gingen wir davon aus, dass einige von ihnen von schwerer und anhaltender Anorexie betroffenen sein würden. Menschen also, die ihre Magersucht überdauernd als mächtigen Gegner erfahren, der den Alltag beeinflusst und dem man mit Respekt begegnen sollte

In Deutschland gilt die Magersucht als eine der Essstörungen, die am weitesten verbreitet ist. Frauen sind wesentlich häufiger betroffen, aber auch Männer erkranken an Magersucht. Immer öfter brechen auch sie ihr Schweigen und berichten von ihren Erfahrungen. Hinter statistischen Daten stehen immer individuelle Geschichten. Einige davon finden sich in diesem Buch, in dem 16 Erfahrungsberichte in das Erleben der Einzelnen hineinzoomen. Alle Erzählungen beginnen mit einem vorangestellten Satz, in dem jede und jeder die Magersucht für sich persönlich definiert. Jede Geschichte endet mit einer Aufzählung von Dingen, aus denen die Schreibenden im Alltag Kraft schöpfen.

Im Gesamtüberblick über die von den Autorinnen und Autoren verfassten Geschichten kristallisierten sich drei Schwerpunkte heraus, nach denen wir die Erzählungen im Buch angeordnet haben. Im ersten Teil finden sich Beschreibungen über die Gesichter der Magersucht – dabei geht es um zentrale Themen wie Struktur, Sicherheit und Kontrolle, die Dinge, die sich in der Stimme des »Teufelchens« zeigen können und nicht selten hilflose Selbsthilfeversuche sind. Im zweiten Teil schließen daran Erfahrungsberichte über das Leben mit der Erkrankung im Alltag an. Erfahrungen darüber, wie der stetige Kampf gegen die Erkrankung und für das Leben sich anfühlen kann und was hinter dem vermeintlichen Schlankheitswahn steht, wie etwa das Ringen um Identität. Es finden sich aber auch eine Reihe von Dingen, die den Alltag erleichtern können. Im dritten Teil geht es um Hilfen und Selbstakzeptanz – Betroffene beschreiben, wie es ihnen gelungen ist, Frieden mit sich und der Welt um sich herum zu schließen, wie Magersucht auch in Gesundungswege münden kann.

Wie bedeutsam Unterstützung von außen für Menschen mit Anorexia nervosa ist, wurde immer wieder in den Berichten der Autorinnen und Autoren sichtbar. Daher haben wir uns entschieden, neben den individuellen Erfahrungen der Betroffenen zwei Fachbeiträge mit aufzunehmen: zu Recovery und Therapieansätzen sowie zum Konzept der Ernährungsberatung. Therapie kann auch nach jahrelanger Erkrankung eine Chance sein, diese Überzeugung von Fachleuten macht Mut und zeigt, wie wichtig es ist, dass Hoffnung ebenso von professionellen Helfenden thematisiert wird. Eine Ergänzung zu den Fachperspektiven findet sich bei den Informationen zu Literatur, Adressen und Anlaufstellen im Serviceteil, am Ende des Buches.

Als wir den Schreibaufruf starteten, ahnten wir nicht, wie sehr sich die Pandemie auf uns alle und unsere Gesellschaft auswirken würde und dass durch sie auch das Thema Magersucht in den Fokus gerückt würde. In den Medien wurde darüber berichtet, dass Kinder und Jugendliche in Zeiten der Kontaktbeschränkungen häufiger an Essstörungen erkrankten. Auch in einigen Texten in diesem Buch spielen die Auswirkungen der Pandemie auf den Umgang mit der Magersucht eine Rolle. Es zeigt sich, dass die Pandemiezeit ebenfalls eine Destabilisierung für Menschen, die bereits lange Zeit erkrankt waren, erzeugt hat. Wir haben überlegt, wie bedeutsam dieser Aspekt vor dem Hintergrund einer – wie wir alle hoffen – zeitlich begrenzten gesellschaftlichen Ausnahmesituation ist. Wichtig scheinen uns darin vor allem zwei Botschaften: Zum einen wurden die gesamten Texte in der Zeit der Pandemie verfasst und es ist allen Schreibenden gelungen, davon zu erzählen, wie sie ihren Alltag bewältigen. Alle hatten außerdem Zugriff auf die Dinge, aus denen sie Kraft schöpfen. Selbst wenn es vielleicht in der Pandemiezeit nicht oder nur eingeschränkt möglich gewesen sein mag, bestimmte Sachen, die helfen, das innere Gleichgewicht herzustellen, tatsächlich tun zu können, so ist es umso ermutigender, dass diese nicht in Vergessenheit geraten waren und aufgeschrieben wurden. Und alle Geschichten erzählen davon, dass die Erkrankung Teil des Lebens ist. Lebensgeschichte und Krankheitsgeschichte sind eng miteinander verwoben. Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte ebenso. Bisweilen bedingt eines das andere, manchmal stehen alle drei scheinbar unverbunden nebeneinander. Immer sind sie aber Teil der gesamten Erfahrungen eines Menschen. Manchmal hilft dieses Wissen dann auch, Dinge rückblickend zu verstehen und sich der eigenen Person freundlicher, geduldiger und mitfühlender zuzuwenden.

Für die großartige Unterstützung aller, die unseren Schreibaufruf weitergeleitet haben, und der Fachleute, die unser Buch durch ihre Beiträge bereichert haben, bedanken wir uns herzlich. Unser ganz besonderer Dank gilt den Betroffenen, die ihre Geschichten aufgeschrieben haben. Wie mutig dies vor dem Hintergrund der leider noch immer bestehenden Stigmatisierung psychischer Erkrankung ist, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Geschichten sind teilweise unter Pseudonym verfasst, weil das Risiko von Nachteilen im Alltag für manche zu groß gewesen wäre. Bis heute gilt also leider immer noch, dass sich über Magersucht – selbst, wenn die akute Erkrankungsphase lange zurückliegt – nicht wie über einen Fahrradunfall in der Pubertät berichten lässt. Vom Leichtgewicht zum Gleichgewicht ist auch ein Weg vom »Sich-dünne-Machen« zum »Sichtbar-Werden«. Selbst wenn die Erkrankung nicht mehr körperlich sichtbar sein mag, fordert sie von vielen Betroffenen dennoch weiterhin ein Unsichtbarmachen des Erlebten. Ermutigend ist jedoch, dass immer wieder neu entschieden werden kann, wo und wem gegenüber jede und jeder Einzelne über Erfahrungen mit der Erkrankung, aber auch mit ihrer Bewältigung sprechen möchte.

Hier ist es nun also, das fertige Buch. Es ist in erster Linie ein Buch von Betroffenen für Betroffene. Aber natürlich freuen wir uns auch über Fachleute und Angehörige als Lesende, die in die Geschichten von Hoffnung und Wegen zum Gleichgewicht eintauchen mögen. Die Erstellung dieses Buches war ein intensiver Prozess, für den wir insbesondere auch dem Lektorat danken. Für uns selbst hat er noch einmal eine Auseinandersetzung mit der Suche nach dem ganz persönlichen Gleichgewicht im Hinblick auf die Magersucht gefordert. Die Geschichten der Autorinnen und Autoren haben uns bewegt und etwas in Bewegung gesetzt. Aus dieser Erfahrung heraus empfehlen wir: Lasst euch Zeit beim Lesen, gönnt euch Pausen. Legt das Buch zwischendurch auch mal zur Seite. Die Überschrift von Charlottes Text scheint uns auch für das Lesen dieser Sammlung von Geschichten ein gutes Motto zu sein: »Mut – dreimal täglich einzunehmen«.

Magersucht – und ihre Gesichter

Es ist okay, anders zu sein

Anke Euler

Magersucht ist für mich ein verzweifelter Versuch,

Struktur und Sicherheit zu erlangen

und die schlimmen Dinge auf der Welt zu vergessen.

Mein Name ist Anke und ich bin 25 Jahre alt. Seit Anfang 2014 habe ich Magersucht. Damals war ich 17 Jahre alt und gerade mit der Realschule fertig. Seitdem habe ich mehrere Klinikaufenthalte hinter mir und in einer Wohngruppe gelebt, doch inzwischen bin ich so stabil, dass ich nur noch ambulante Hilfe brauche. Die Magersucht ist zwar immer noch ein recht großes Thema in meinem Alltag, aber die Kontrolle über mein Leben hat nicht mehr sie, sondern ich.

Das zu schaffen, war sehr schwer, aber jetzt bin ich froh, dass ich diesen Kampf begonnen habe.

Mein Alltag heute

Beep-Beep! Beep-Beep! Mein Wecker klingelt. Ich schlage die Augen auf und sehe, wie das Sonnenlicht helle Streifen in die Dunkelheit meines Zimmers zaubert. Ein paar Minuten schaue ich mir das an und genieße die Wärme und Geborgenheit meines Bettes. Was steht heute an? Um elf Uhr habe ich einen Termin mit meiner Therapeutin, heute Nachmittag kommt mein Freund und wir können etwas Schönes unternehmen. Ich kann den Tag also ruhiger angehen lassen. Im Schlafanzug trotte ich in die Küche, ganz wach bin ich noch nicht. Mit einer Schüssel Müsli und einem heißen Tee setze ich mich vor den Fernseher. Wenn ich mal etwas Zeit habe, dann kann ich auch faul sein. Ich schaue die Fernsehprogramme durch und freue mich, dass meine Lieblingsserie aus der Kindheit läuft. Mir ist es nicht mehr peinlich, dass ich in meinem Alter immer noch solche Sendungen gucke, denn es tut mir einfach gut. Wieso sollte ich mich am frühen Morgen schon mit Nachrichten über Krieg, Pandemie und Katastrophen belasten? Alles zu seiner Zeit.

Nach dem Frühstück, Waschen und Zähneputzen muss ich mich auch schon fast auf den Weg zu meiner Therapeutin machen. Noch schnell eine Ladung Wäsche in die Waschmaschine gesteckt und die Tasche geschnappt. Draußen ist es sehr schön heute. Nicht zu kalt und nicht zu warm, gerade richtig für einen Spaziergang. Ein paar Schäfchenwolken ziehen am Himmel vorüber und die Blätter an den Bäumen rauschen im leichten Sommerwind. Es ist nicht weit, schon bin ich bei der Praxis angekommen. Nachdem wir uns begrüßt und es uns auf den Stühlen bequem gemacht haben, beginnt unser wöchentliches Gespräch. Die erste Frage ist immer gleich: »Wie geht es Ihnen heute?« »Heute richtig gut«, antworte ich. »Das hört man immer gerne, gerade deshalb, weil es nicht selbstverständlich ist!«, freut sich die Therapeutin. Von diesen guten Tagen versuche ich mir etwas für schlechte Tage aufzuheben. Gemeinsam sortieren wir: Was habe ich heute gemacht, dass es mir so gut geht? Was davon kann ich an schlechten Tagen machen, damit es mir dann besser geht? Das sind die praktischen Hilfen.

Sich selbst treu bleiben

Aber wie habe ich es geschafft, dass ich solche Dinge wahrnehmen kann? Das konnte ich in einer Klinik lernen. Dort habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben getraut, mich nicht dauernd zu verstellen. Es ist okay, anders als alle anderen zu sein, solange ich mir selbst treu bleibe. Mein ganzes Leben lang wollte ich jemand anderes werden, weil ich mich einfach für so unausstehlich hielt. Es hat lange gedauert, bis ich glauben konnte, dass ich gut bin, wie ich bin, aber vor allem, dass ich gut bin, auch wenn mich nicht jeder mag. Es ist viel wichtiger, dass ich mit mir selbst in Einklang bin, dann werden auch die passenden Menschen in mein Leben kommen.

Dass ich solche Therapieerfolge nicht vergesse, dabei helfen mir die wöchentlichen Gespräche. Nachdem wir uns noch ein bisschen über dieses Thema und die nächsten Tage unterhalten haben, ist die Stunde auch schon wieder vorbei. Ich gehe zurück in meine kleine Wohnung und koche mir etwas zum Mittagessen. Darüber denke ich gar nicht besonders viel nach, denn einmal in der Woche habe ich Ernährungstherapie und kann dort ich in Ruhe besprechen, wie ich mich am besten ernähre und wie ich mit Problemen zurechtkomme, die das Essen betreffen. Ich nehme mir immer ein paar Minuten, um einen Einkaufszettel für die nächsten Tage zu schreiben, so kann ich die Gedanken ans Essen oft einfach ruhen lassen, weil ich schon weiß, was ich wann esse. Das nimmt dem ganzen Thema etwas von seiner Größe.

Nachdem ich gegessen und den Abwasch erledigt habe, hänge ich die Wäsche auf und lege mich kurz aufs Bett. Gegen drei Uhr klingelt mein Freund an der Tür. Mit einem großen Lächeln mache ich ihm auf. Ich höre ihn fröhlich »Hallo!« rufen und die Stufen hinaufeilen. An meiner Wohnung angekommen gibt es zuerst einen Begrüßungskuss. Ich platze sofort heraus: »Sollen wir heute einen Spaziergang durch den Wald machen? Das Wetter ist so schön!« Mein Freund findet die Idee gut – wir packen schnell noch Wasser ein und los geht es. Als wir im Wald sind, schlendern wir einen Weg unter einem dichten Blätterdach entlang, begleitet von dem Gesang der Vögel. Mein Freund fragt mich, wie mein Tag war. Ich erzähle ihm, was ich heute gemacht habe und wie mein Gespräch mit meiner Therapeutin verlaufen ist. Mit ihm kann ich immer über alles reden; er hört mir zu und versucht, meine Krankheit zu verstehen. Das ist nicht selbstverständlich, denn bei vielen Leuten stößt man auf Unverständnis. Mein Freund verurteilt mich nicht, auch wenn ich es ihm manchmal nicht leicht mache; gerade, wenn es mir mal schlecht geht.

Im Wald unterhalten wir uns über alles Mögliche, die meiste Zeit reden wir einfach über irgendwelchen lustigen Blödsinn, beispielsweise wie wir meine Eltern überzeugen können, eine Ziege zu kaufen. Nach einer Weile fragt mein Freund, was ich am Abend essen und ob ich noch in unsere Stamm-Eisdiele gehen will. Denn auch wenn es mir heute gut geht, das Thema Essen hat leider nie ganz Pause. Wir überlegen gemeinsam, wie ich mich fühle, und entschließen uns für das Eis. Bei ihm muss ich mich nicht verstellen. Er möchte nur, dass ich mich wohlfühle, und deshalb zwingt er mich zu nichts, er muss aber wegen mir auch auf nichts verzichten.

Abends schauen wir uns noch gemütlich einen Film an und kuscheln uns ins Bett. Dabei malen wir uns aus, wie unsere Zukunft aussehen wird. Ziemlich kitschig zwar, aber wir freuen uns auf die gemeinsame Zeit, weil wir uns sicher sind, dass wir trotz Magersucht das Leben genießen können; ohne Kliniken und Vorgaben durch irgendwelche Ärzte. Denn das Leben ist viel zu schön, um es nicht zu genießen.

Ein Tag in der Zukunft

Wenn ich darüber nachdenke, wie ich mir meine Zukunft vorstelle, habe ich ein sehr klares Bild im Kopf. Das hilft mir dabei, mich auf das zu freuen, was kommt, und nimmt mir gleichzeitig die Angst vor dem Ungewissen. Das Leben, das ich mir wünsche, sieht dann so aus:

Tapp, tapp, tapp! Kletter! Plumps! Noch ein wenig benommen schaue ich auf meinen Wecker. 7 Uhr 08 erst. Na ja, das Leben als Eltern beginnt eben nicht zu einer geplanten Uhrzeit. Mein vierjähriger Sohn ist schon munter und hüpft auf mir herum. Meinem Mann neben mir ergeht es nicht anders, denn unsere zweijährige Tochter tut es ihm gleich. Natürlich, was der große Bruder vormacht, ist ja immer das Coolste. Auch wenn ich viel lieber noch schlafen würde – für diese zwei Quatschköpfe stehe ich gerne auf. »Frühstück, Frühstück!«, rufen die beiden im Chor. Ich tausche mit meinem Mann einen Blick aus und weiß sofort, was er vorhat! Wir schnappen uns beide eins der Kinder und tun übertrieben laut so, als würden wir sie fressen. Die zwei quietschen vor Vergnügen und sind bald ganz außer Atem. »Jetzt brauchen wir aber was Richtiges zu essen. Wer geht mit Brötchen holen?«, klatscht mein Mann in die Hände. »Ich, ich!«, ruft unser Sohn. Die beiden ziehen sich die Jacken an und stiefeln los.

Während ich den Tisch decke, Kaffee koche und Saft hinstelle, spricht die Kleine vergnügt mit ihrem Teddy und spielt Bäckerin. Eine Viertelstunde später sind wir wieder komplett. Mein Sohn stürmt auf mich zu und ruft begeistert: »Mama, beim Bäcker war eine Frau und ein Hund, der war so groß!« Dabei hält er sich die Hand an die Schulter. »Der war aber ganz lieb und ich durfte ihn streicheln.« »Das ist ja toll! Dann fängt der Tag schon richtig schön an«, freue ich mich mit ihm.

Nach dem Frühstück gehen wir einkaufen. Samstags dürfen sich die Kinder immer eine kleine Süßigkeit aussuchen. Das ist natürlich das große Highlight beim Wocheneinkauf, dicht gefolgt von den frischen Brötchen auf die Hand beim Bäcker. Zu Hause stürmen die Kinder direkt zum Nachbarhaus, denn mein Vater bringt gerade den Müll weg. »Opa, guck mal, was ich kann!«, ruft unser Sohn und hüpft auf einem Bein zu ihm rüber. Die Kleine hüpft auf zwei Beinen hinterher. »Ihr könnt ja super springen«, lobt mein Vater die beiden. »Ich muss wieder rein, aber heute Nachmittag gehen wir ja alle zusammen in den Wald und füttern die Tiere im Wildgehege.«

Zeit für uns

Die Kinder kommen wieder zu uns rüber und spielen im Garten, bis es Mittagessen gibt. Danach dürfen sie eine Stunde fernsehen; mein Mann und ich räumen in der Zeit die Küche auf und machen es uns noch eine halbe Stunde auf dem Sofa bequem. Pünktlich um drei Uhr klingeln meine Eltern. Als alle angezogen sind, geht es los in den Wald. Am Wildgehege füttern die Kinder die Rehe, die recht zutraulich sind. Die beiden sind ganz leise und vorsichtig bei den Tieren, denn sie wissen schon gut, wie man mit Tieren umgehen muss. Alles, was mit Tieren zu tun hat, steht bei ihnen im Moment ganz hoch im Kurs. Meine Mutter zeigt ihrer Enkelin gerade, wie sie die Hand beim Füttern am besten hält. Als die Tiere alles aufgefressen haben, spazieren wir noch eine halbe Stunde durch den Wald und fahren dann wieder nach Hause zurück.

Von Samstag auf Sonntag übernachten die Kinder immer bei Oma und Opa; dann haben mein Mann und ich Zeit für uns, was wir gerne annehmen. Unter der Woche ist die Zeit wegen der Arbeit und weil die Kleine noch nicht in den Kindergarten geht, begrenzt. Aber der Samstagabend gehört uns allein. Wir liegen zusammen auf dem Sofa und ich kuschele mich ganz fest an meinen Mann. »Ist es nicht herrlich, wie sich alles entwickelt hat? Dafür hat sich der Kampf gegen die Magersucht mehr als gelohnt«, sage ich glücklich. »Ein schöneres Leben kann ich mir gar nicht vorstellen«, antwortet er und gibt mir einen Kuss. Später im Bett, kurz vor dem Einschlafen, flüstern wir uns noch »Ich liebe dich!« zu.

Merken, wo der Schuh drückt

Mir einen Tag in der Zukunft vorzustellen, motiviert mich sehr, durchzuhalten. In meinem Alltag helfen mir die verschiedenen Ansätze, die ich im Laufe meiner Therapie kennengelernt habe. Vieles davon, z. B. die Körperarbeit, die Achtsamkeitsübungen, aber auch die wöchentlichen Gespräche haben mir geholfen, mich besser kennenzulernen. Dadurch kann ich im Alltag schneller merken, wo der Schuh drückt und wie ich für mich in dem Moment sorgen kann.

Meine Familie hat mich immer unterstützt, auch in den schweren Zeiten. Auf sie kann ich mich verlassen, das erleichtert mir den Tag insofern, als dass ich dann weniger Angst vor ungeplanten Situationen habe, denn im Notfall kann ich immer auf ihre Hilfe zählen. Mein Freund ist mir eine riesige Stütze im Alltag. Wenn ich an ihn denke, weiß ich ganz genau, wofür ich kämpfe. Er ist die beste Motivation, die ich mir vorstellen kann.

Inzwischen komme ich gut durch den Alltag, weil ich die Gründe für meine Erkrankung kenne und gelernt habe, mich von meinen Erinnerungen abzugrenzen. Ich weiß jetzt, dass dieses Gefühl, nicht liebenswert zu sein, noch aus der Schulzeit kommt. Damals hatte ich kaum Freunde und wurde gehänselt. Das hat mich sehr verletzt und ich habe nicht verstanden, weshalb die anderen Kinder so gemein zu mir sind. Ich dachte, sie hätten recht und ich wäre blöd und hässlich. Heute weiß ich es besser. Noch nicht jeden Tag, aber immer öfter kann ich mich selbst liebevoll behandeln und so auch mein inneres Kind trösten. Mit den positiven Erfahrungen der letzten Jahre im Kopf kann ich den Alltag wieder fast ganz normal schaffen und mein Leben die meiste Zeit mit gutem Gewissen genießen.

Was mir im Alltag hilft

•Mir Kleinigkeiten, die mich glücklich machen, merken, damit ich sie in schlechten Phasen erinnern kann.

•Mit Menschen reden, damit ich nicht allein mit meinen Gedanken sein muss.

•Einen Plan für meinen Tag haben, damit ich mich nicht so verloren fühle.

•Mit meinem Freund und auch allein schöne Dinge unternehmen, damit ich merke, wofür sich Gesundwerden lohnt.

•Mir vor Augen führen, dass ich mich nicht verstellen muss, um geliebt zu werden, damit ich mich auch selbst mehr lieben kann.

Anke Eulerist 25 Jahre alt und macht eine Umschulung zur Kauffrau für Büromanagement. Sie wohnt mit ihrem Freund zusammen und verbringt gerne Zeit in der Natur.

Einen Weg aus dem Teufelskreisverkehr finden

Sandra

Magersucht ist für mich ein Sog, gegen den ich jeden Tag ankämpfe.

Und ein Geheimnis, das ich (so gut es geht) zu hüten versuche.

Sieben Jahre ist es her, dass ich die Akutpsychosomatik betrat. Ich erinnere mich noch gut an die letzten Tage davor zu Hause, an Weihnachten, Silvester. Gemeinsames Feiern mit Familie und Freunden – und wie alle Jahre wieder drehte es sich ums Essen, Essen, Essen. Beklemmend, diese Zeit.

Noch mehr in diesem Jahr 2014, weil ich mir sicher war, dass ich mir den Klinikaufenthalt wirklich verdient haben müsste, also kurz vor dem Aufnahmetermin noch einmal alles dafür tat, weiter abzunehmen. Nur wenn ich annähernd untergewichtig genug wäre, dann wäre der Aufenthalt gerechtfertigt, nur dann würde ich niemandem den Platz wegnehmen, der ihn womöglich dringender bräuchte, da war ich mir sicher. Eine gefährliche Überlegung, aber – wie sich später in Gesprächen mit anderen Patientinnen und Patienten herausstellte – nicht nur meine. Auch diese hatten in der Wartezeit noch einmal Gewicht verloren, nicht selten aus Angst, nicht ernst genommen zu werden. Und als hätte ich es schon vor dem Aufenthalt geahnt, trug die Oberärztin mit merkwürdiger Faszination, fast Stolz, den Fall einer Patientin vor, die sie »durchbekommen« hätte; trotz eines derartig niedrigen Body-Mass-Index, dass er eigentlich nicht mehr mit Leben vereinbar gewesen sei. Es war klar, dass alle Anwesenden diese »Rekordhalterin« nicht würden unterbieten können – und es waren hier nicht wenige Mitpatientinnen in besorgniserregendem Zustand in Behandlung. Das aber wusste ich alles noch nicht, als ich Anfang Januar in mein Auto stieg, um 600 Kilometer weiter, mitten im Nirgendwo, auf dem Parkplatz der Fachklinik auszusteigen.

Irgendwann, wenn ich genügend geleistet hätte …

Ein zähes Ringen bis zu diesem Tag. Ärztinnen und Therapeutin hatten über Monate große Besorgnis signalisiert, mir stets gut zugeredet, dringend zum Klinikaufenthalt geraten, nachdrücklich an meine Vernunft appelliert, immer wieder geworben, stationäre Unterstützung anzunehmen, und die Grenzen ambulanter Hilfe deutlich markiert. Lange habe ich mit mir und ihnen gerungen, immer gab es Gründe, die Aufnahme aufzuschieben. Ich war mir sicher, die Kontrolle über die Situation zu haben, einschätzen zu können, ab wann es wirklich gefährlich sein würde. Es fühlte sich eben einfach nicht gefährlich an.

Ich nahm meinen Körper nur in Ausschnitten wahr und suchte Vergleiche. Der Bauch nicht flach genug, ganz anders als bei meiner Freundin. Die Oberschenkel meiner Ansicht nach viel zu voluminös und die Wangen zu dick, verglichen mit einer Kollegin. Unglücklicherweise war keines meiner Vergleichsobjekte gesund und beide hätten wahrscheinlich sofort einen Behandlungsplatz in der Akutpsychosomatik bekommen. Aus meiner Perspektive schienen sie mir zwar durchaus krank, aber trotzdem stärker, selbstdisziplinierter und durchhaltefähiger als ich selbst zu sein.

Ich schämte mich indes für meinen mir unförmig scheinenden Körper, meine ständige Müdigkeit, die Zahl auf der Waage, das Frieren und den Haarausfall. Am meisten aber quälte mich die Scham über meine mangelnde Selbstdisziplin, wenn ich doch schwach geworden war und ohne Drängen von außen etwas gegessen hatte. Mein innerer Zensor konnte Essen nur noch dann tolerieren, wenn es sich in sozialen Situationen nicht umgehen ließ. Jedes Mal empfand ich gemeinsames Essen mit anderen als etwas, das diese mir antaten, obwohl ich paradoxerweise auf eben diese Situationen hinfieberte, weil der Hunger mich quälte. In meinem Kopf rotierte eine Alarmleuchte, in mir schrie der innere Zensor »Gefahr! Gefahr!«, gleichzeitig flehte etwas in mir um Nahrung zum Überleben. So machte ich gute Miene zum – sicher nicht einmal böse gemeinten – Spiel, schluckte, hasste und empfand das Essen als Zumutung und Verrat an mir selbst.

Einerseits war ich erleichtert und andererseits fühlte ich mich zu etwas gedrängt. Anpassung an die Rituale anderer und keine Probleme zu machen bei dem, was ihnen – aus mir (bis heute) unerfindlichen Gründen – Freude und Wohlbefinden bereitete, das war mein Auftrag. Irgendwann, wenn ich es mir verdient hätte, wenn ich genügend geleistet hätte, dann würde es anders werden, versprach ich mir. Das würde schon bald so sein, stellte ich mir immer wieder in Aussicht, nur noch ein Kilo weniger oder zwei oder drei … Einfach, um einen »Puffer« zu haben, um dann mit einem sichereren Gefühl essen zu können.

Essen war mir nie wichtig gewesen

Dieser Mechanismus war durchaus nicht neu. Seit meinem 16. Lebensjahr begleitet mich die Magersucht. Gehört hatte ich das Wort erstmals bei einem Gespräch meiner Eltern über die Tochter von Bekannten. Mysteriös und geheimnisvoll schien mir das Phänomen. Genaueres wusste ich nicht. Später las ich »Die Suppenkasperin« und war beeindruckt von den Schilderungen. Eine Verbindung zu meinem Leben zog ich nicht. Essen war mir nie wichtig gewesen, es fand irgendwie statt, mehr nicht. Für mich bedeutete es in aller Regel eine unwillkommene Unterbrechung anderer Aktivitäten, die ich wichtiger fand.

Erst Jahre später verstand ich, dass Zusammenkünfte am Esstisch nicht notwendigerweise mit Spannung und Stress verbunden sein müssen, wie ich es von zu Hause kannte. Auch essen gehen schienen andere Menschen sich nicht durch Leistung erarbeiten zu müssen – sie taten es einfach. Nicht nur, wie in unserer Familie, zu besonderen Gelegenheiten und mit der Maßgabe, »bloß ein Getränk« bestellen zu dürfen. Dabei war die Haushaltskasse nicht so knapp. Generell wurde zu Hause am Essen gespart, so günstig wie möglich eingekauft und auf »Außer der Reihe«-Ausgaben im Lebensmittelbereich verzichtet. Unsere Eltern lebten uns Verzicht und Sparsamkeit vor. Sie waren Kriegskinder. So setzte sich in mir die Erkenntnis fest, dass Essen vor allem günstig sein sollte und Essengehen einen wirklichen Anlass braucht. Für mich ist auswärts essen noch heute eine Verschwendung von Geld, eine doppelte Selbstbestrafung, einerseits essen zu müssen, andererseits dafür auch noch Geld auszugeben. Geld, das ich für nützlichere Dinge einsetzen könnte. Auch wenn ich die soziale Komponente des gemeinsamen Essens durchaus zu schätzen gelernt habe, interessiert dies meinen inneren Zensor nicht. So bleibt das Spannungsfeld an der Freude über das Zusammensein mit anderen und der Herausforderung zu essen.

Meine Selbstdisziplin

Mein Problem mit dem Essen fiel irgendwann in der Schule auf. Gesunde Ernährung war Bestandteil des Unterrichts. Das Fach Ernährungslehre vermittelte uns Wissenswertes über den Grund- und Leistungsumsatz und einmal die Woche wurden alle gewogen. Ein absurdes Ritual. Hohes Gewicht war ein Anlass zum Tadel und mit dem Hinweis auf gesundheitsförderliche Maßnahmen und mehr Selbstdisziplin verbunden.

Zwar fiel ich keinesfalls in die Gruppe der Schülerinnen, denen diese Ansagen galten, aber ich hatte verstanden, dass Gewichtsreduktion belohnt werden würde. Meine Selbstdisziplin war daraufhin hervorragend. Ich begann, Sport zu treiben, und half mit Abführmitteln nach. Die Nächte verbrachte ich fortan auf der Toilette, tagsüber versuchte ich, das Essen bestmöglich zu umgehen. Neben dem körperlichen Training, »trainierte« ich außerdem täglich, anderen zu versichern, dass ich schon immer sehr schlank gewesen sei, es keinen Grund zur Beunruhigung gebe und nicht meine Wahrnehmung, sondern allenfalls die der anderen etwas verzerrt sei. Bis heute gelingt es mir, in Gesprächen abzulenken, wenn es um meinen körperlichen Zustand geht. Inständig hoffe ich aber, dass ich nicht ebenfalls so abgehärmt aussehe, wie manche anderen Betroffenen, die mir begegnet sind. Mich selbst wirklich zu sehen, gelingt mir nach wie vor nicht.



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